Archiv für den Monat: Dezember 2020

Melodie & Rhythmus

Iran – Südindien

(Vorweg: lassen Sie sich nicht irreführen durch die Mimik des Protagonisten auf den Videos weiter unten, es handelt sich nicht um einen Komödianten, sondern um einen kenntnisreichen Rhythmiker…)

Um einzelne Parameter aus dem Gesamtblock der musikalischen Möglichkeiten herauszuarbeiten – was können wir da tun? Bescheiden bleiben, Pausen einlegen, sich nicht überfordern? Nein, man muss anfangen, an jedem Tag, ab Neujahr und bis Silvester – nicht zu bescheiden, vor allem nicht kleinmütig, aufs Ganze gehen, ziemlich hoch pokern, ja, nach den Sternen greifen, ich sage: alles was ich will ist alles! Ich will teilhaben an allem, was ich greifen (begreifen) kann, ein Stück Holz bearbeiten, einen Fußball auf der Zehenspitze jonglieren, und alles amalgamieren, was Menschen kreativ hervorbringen. Und jeden beobachten, der etwas Unbegreifbares lernt. Ich sage das, aber es gilt für alle.

In etwa dies. Und morgen etwas anderes. Ich erinnere mich zum Beispiel, wie es mich enthusiasmiert hat, als ich die folgende Sammlung entdeckte, das war 1996. Konnte ich ihr als Mensch genügen? Nein, aber immer wieder werde ich darauf zurückkommen, werde mich begeistern für alles, was es in der Musik gibt und was mir etwas gibt. Bis an mein Lebensende, sage ich ohne Übertreibung. Oder soll ich etwa sagen: nein, jetzt ist zu spät? Oder: (noch viel schlimmer): kenn ich schon…

französisch

englisch

Kürzel unter den Artikeln: J.D.= Jean During, J.L.= Jean Lambert

Habe ich an dieser Stelle (Anmerkg. Libanon) nicht damals doch gesagt: kenn ich schon? Gottseidank! Mein gutes Jahr 1969! (Es begann eigentlich 1967.) Das hätte also sein können, – der Name, der da unten in roter Schrift steht, findet nähere Erklärung in dem Blog-Artikel „Arabisches Melisma“ hier.

Ginge es um iranische Musik, hätte ich sicher den Ausdruck „Tahrir“ darübergesetzt, der lexikalisch immer nach Kairo führt, für mich aber vor allem den unvergesslichen iranischen (fast gejodelten) Triller bezeichnet, der also gesungen wird. Ich schreibe es hierher, um mich daran zu erinnern (und an Ali Attar, der vor vielen Jahren eine WDR-Sendung darüber gemacht hat). Merkwürdig, dass diese sehr auffällige und ausdrucksvolle Technik oft sehr beiläufig behandelt wird, wie hier bei dem besten westlichen Kenner iranischer Musik Jean During:

Wichtig: die Ornamentation gehört zum wesentlichen Bestandteil der traditionellen iranischen Kunstmusik. Man kann sie nicht auf punktuell definierte Melodien reduzieren, selbst wenn jeder einzelne Ton manuell angerissen wird, wie bei den Langhalslauten TAR (zwei Klangkörper) und SETAR (ein Klangkörper).

Quelle Jean During: La Musique Iranienne. Tradition et Evolution / ISBN 2 86538-087-4  Institut Français d’Iranologie de Téhéran Bibliothèque Iranienne No.29 [den Autor kennenlernen? Radiosendung in frz. Sprache hier]

Dank für die Links an Manfred Bartmann!

Noch nicht alles verstanden? Vielleicht zuviel verpasst? Also: weiter zurückgehen!

Zur Entspannung:

Die Krone der Schöpfung

Aber nichts von Förster Wohlleben

Ich weiß: da ich selber ihm gern zugehört habe (hier), tat mir diese Gegenmedizin gut. Die Naturschwärmerei führt nicht weit, ebensowenig wie Musikschwärmerei; jedes konkret benannte Detail ist interessanter als das bloß mit heißem Herzen gefühlte. Es war ein netter Zug, wenn er davon sprach, dass er den Vorwurf der „Vermenschlichung“ gern auf sich nehme, da er nunmal nicht „bäumisch“ zu reden vermag. Aber wer verlangt das denn?

Dies ist eine schmucklose DVD, die ich gern konsumiert habe. Da sprechen redliche Leute, die uns nicht mit ihrer naturreinen Güte überrumpeln. (Vorsicht: Dies habe ich nach dem ersten Hören niedergeschrieben…) Sie sprechen sehr ausführlich, und das bedeutet nebenbei, dass ich es vielleicht nur einmal hören möchte, für später jedoch gern ein Stichwort-Verzeichnis hätte. Oder einige Kernsätze. Daher dieser Merkzettel, der vielleicht noch etwas anwächst, zumal durch Infos aus Wikipedia und ähnlichen Quellen, die den ersten Eindruck – vorsichtig gesagt – relativieren.

Übrigens ist auch der Titel dieses Beitrag nicht so emphatisch gedacht wie er auf den ersten Blick aussieht. Ich denke zugleich an den Menschen und die Abwandlung seines rühmenden Beinamens in Gottfried Benns Version („…der Mensch, das Schwein“), dann wieder an die ironische Rehabilitierung selbst dieses letztgenannten Tieres in moderner Sicht. (Einen Hinweis aus der Neuen Bücherliste der ZEIT ist nachgetragen…)

Ein Film von Holger Douglas. (Die Musik ist wie so oft in Naturfilmen für Musiker schwer erträglich. Der Sprecher ist in Ordnung, für den Vortrag der Gedichte (Kapitel 2: Eichendorff, Dauthendey) allerdings weniger geeignet. Musik ist etwas anderes. Und Lyrik auch.

(Ich meine das mittlere! 😇)

Was ist der Wald für mich? (Ein individuelles, auf mich zugeschnittenes Produkt? Ein altes Wort lautet: „Glotzt nicht so romantisch!“ Und ich zitiere noch ein ironisches, aber sehr wahres Wort:)

Die Kritik der Massenkultur basierte traditionell auf der Differenz zwischen einem wahren, authentischen Geschmack und dem Massengeschmack. Doch genau diese Differenz funktioniert nicht mehr. Heute ist der Massengeschmack ein Forschungsfeld für professionelle Beobachter geworden. Produktforscher suchen im Firmenaufrag mittels Testvorführungen, Werbepsychologie und statistischen Erhebungen nach individuellen Merkmalen des Massengeschmacks, die für die Entwicklung und Platzierung ihrer Produkte verwendet werden können. Mittlerweile wird gerade der individuelle Geschmack mithilfe von Datenmassen erfasst. Jede Konsumwahl wird vom Subjekt als individuelle aufgefasst: Jedes Ich hat seinen persönlichen Geschmack. Meine selbständige Wahl, von meinen Geschmackspräferenzen zielsicher und ohne äußere Manipulation aus einem riesigen Angebot gesteuert, ist genau auf mich zugeschnitten und kann von mir zusätzlich verfeinert werden. Im Endeffekt aber finde ich mich als Mitglied einer intern höchst differenzierten Konsum-Masse wieder. Ich habe diese Masse nicht gewählt. Es stellt sich aber heraus, dass mein Geschmack, mein individuelles Präferenzsystem, weitgehend ähnlich funktioniert wie das der anderen Mitglieder »meiner« Konsum-Masse. Meine Geschmackswahl ist von mir selbst bestimmt – ebenso wie bei den vielen anderen. Wir haben alle unabhängig voneinander ein sehr ähnliches Bewertungs- und Entscheidungssystem (mimetisch) ausgebildet. Am Ende meiner Kaufentscheidung im Internet sagt mir das System des Online-Händlers: »Kunden, die diesen Artikel kauften, wählten auch…« Als im April 2018 der Musik-Streaming-Dienst Spotify an die Börse ging, schrieb die Süddeutsche Zeitung anerkennend, dass es ihm mit seinen Algorithmen gelänge, den  »individuellen Massengeschmack« von Millionen Hörern präzise zu erfassen.

Meine subjektiven Entscheidungen vollziehen sich in einem Netz ähnlicher Präferenzen. Die Masse, zu der ich gehöre, handelt nicht als homogener Verbund; jeder entscheidet für sich.

Quelle Gunter Gebauer / Sven Rücker: Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen. / Deutsche Verlags-Anstalt München 2019 (Zitat Seite 245f)

P.S. Ich hoffe nur, dass ich der menschlichen Masse nicht im Wald begegne.

Die Fachleute, die zu Wort kommen: Prof. Ulrich Kutschera (Info vorsichtshalber nachzulesen hier) , Prof. Christian Ammer (Wikipedia hier), – es gibt einen lesenswerten Briefwechsel zu Waldfragen mit Prof. Ammer, nachzulesen hier ,

und Ernst Jungk vom Arboretum (nicht Arboreum, siehe Cover) Alzey, das er zwiefach vertritt: siehe hier und mit seinen eigenen Worten:

„Ich möchte damit ausgleichen, dass wir auf der anderen Seite unseres Werkes in die Natur eingreifen müssen, um den Ton für unsere Ziegelproduktion abzubauen“, erklärt der passionierte Baumfreund und -kenner, dem diese Versöhnung zwischen Technik und der Natur sehr wichtig ist. (Quelle hier).

Preisfrage: welcher Fachmann spricht hier von einer „Aurakarie“ statt einer Araukarie?

(Preis geht in jedem Fall an mich! Und dieser Beitrag entgeht nur um ein Haar der Löschung!)

„Werk ohne Autor“ (bis 4.1.2021)

Autor: Florian Henckel von Donnersmarck

Biographie bei Wikipedia Hier

Seit gestern: einer der besten (kunstbezogenen) Filme, die ich je gesehen habe. Es gibt ihn schon seit 2018. Warum grenze ich mit dem Adjektiv „kunstbezogen“ die Reichweite meiner Begeisterung ein? Genauso wie mit der Floskel „die ich je“ – weil ich kein Cineast bin, der unendlich viele Filme professionell erlebt hat und somit auf ein umfangreiches Repertoire zurückschaut, das er ständig reflektiert. Mit andern Worten: ohne jede Autorität. Aber ich denke nicht nur an Filme wie die über Vincent van Gogh (1956) oder Toulouse-Lautrec (1952), die mich früh beeindruckt haben und die ich heute als im besten Sinne dilettantisch bezeichnen würde. Sondern solche, die selber Kunst sind (sein wollen). Ich lasse mich nicht beeindrucken durch professionell destruierende Urteile, wie sie z.B. im Wikipedia-Artikel hier auftauchen, – was geht mich das an, wenn ich begeistert bin? Natürlich benutze ich dieses Wort „begeistert“ nicht als Argument, wenn jemand, mir widersprechend, als erstes an die Gaskammer erinnert, die nicht inszeniert werden dürfe. Das Entsetzen dürfe nicht instrumentalisiert werden, um den kritischen Abstand des „Konsumenten“ zu brechen. (Kurz: darüber rede ich nicht.)

Über Gerhard Richter und sein Urteil über den Film: hier. Ich erinnere an Schönberg und die Kontroverse über Thomas Manns „Doktor Faustus“

Keine Nebensache: der Film umspannt auch den größten Teil meines eigenen Lebens. Ein Mitschüler aus Bielefeld studierte an derselben Kunstakademie. Mit dem realen Hintergrund (der ersten Frau des realen Malers Richter) in Düsseldorf hatten wir in den 80/90er Jahren eine äußere Verbindung.

Was erinnere ich seltsamerweise als erstes? Das wogende Kornfeld. (Kindheit, vielleicht deswegen: hier)

Wichtiger Punkt: der gute Einsatz der Musik (überwältigend: Bach BWV208 am Klavier), was mich nach dem Autor dieses Parameters fragen lässt, Max Richter.

DER FILM

HIER

Nur noch bis zum 4. Januar abrufbar. Montag. Hier noch der Trailer, mit dem man nicht einverstanden sein muss:

Und in diesem Moment liegt wieder ein Buch auf dem Tisch, das ich im Dezember 2005 von lieben Kollegen zum Abschied geschenkt bekommen habe: eine geniale Geschichte der Unschärfe. Daraus nur 1 Zitat.

ISBN 9783803151698

Auch hier bestätigt sich die Vermutung, dass interessante Bücher interessante Kritiken produzieren, vgl. hier. (Samt genauer Quellenangabe, falls man dem Buch nähertreten will.) Bemerkenswert besonders diese Sätze zur Rezension von Elke Buhr (FR):

Sie hebt hervor, dass es Ullrich gelingt, die gängige These, wonach die Fotografie der Malerei die Naturnachahmung abnahm und letztere sich darum der Abstraktion zuwenden musste, zu modifizieren. „Auch die Fotografen folgten dem Trend zur Autonomisierung von Fläche und Form, auch sie sahen die entscheidende Herausforderung darin, das reine Abbild der Realität zu transzendieren“, erklärt die Rezensentin. Bedauerlich findet sie nur, dass Ulrich am Ende seines Buches die aktuelle Unschärfeästhetik mit dem Label der „postmodernen Beliebigkeit“ kritisiert, und mit diesem Pauschalurteil seine so sorgfältig entwickelte Differenzierungsfähigkeit wieder zerstört.

Was mir noch dazu einfällt, stammt vom Filmemacher Edgar Reitz. Der Zeitungsausschnitt hängt am nächstgelegenen Bücherregal. Aber man kann ihn auch im Netz-Archiv der Süddeutschen Zeitung abrufen:

Seit ich Filme mache, beschäftigt mich, wie unser Sehsinn funktioniert. Sind unsere Augen kleine biologische Kameras und ist das Gehirn ein Bilderarchiv, in dem optische Wahrnehmungen ähnlich wie in einem Videorekorder gespeichert werden? Diese Annahme erweist sich als rettungslos naiv, wenn man als Filmemacher erlebt, wie unterschiedlich ein Film wahrgenommen wird. Man muss sich damit abfinden, dass der Zuschauer nicht objektiv wahrnimmt, was wir ihm auf der Leinwand erzählen, sondern dass jeder nur sieht, was er mit eigenen Erfahrungen bestätigen kann. Der Satz, dass ein Film im Kopf des Zusehers entsteht, dass also jeder seinen eigenen Film sieht, bewahrheitet sich in immer neuen Formen des Missverstehens. [weiter hier]

Ein ganz anderes Buch habe ich wieder hervorgesucht, das vor 60 Jahren vielleicht ein Meilenstein des Erinnerns war. Vom Gymnasium Bielefeld aus, Fach Religion, hatten wir aber auch schon im Oktober 1956 die Betheler Anstalten besucht und in der Vorbereitung vom Euthanasie-Programm der Nazis erfahren.

  dazu Wikipedia hier

Nachtrag 3. Januar 2021 (Geburtstag meines Großvaters mütterlicherseits)

Es könnte ja sein, dass mich vielleicht eine allzuschnelle Begeisterung über schöne Bilder und Töne hingerissen hat, den oben genannten Film so herauszustellen, auch die „letzte“ Möglichkeit, ihn bis morgen noch einmal abzurufen. Ich muss zur Ergänzung die Meinung eines Freundes zitieren, dessen Perspektive ich schätze, ohne sie deshalb zu übernehmen. (A propos: Kann man Perspektiven überhaupt einfach übernehmen, wie eine fremde Brille beim Lesen?)

Ich war am Anfang von der Introduktion des Films begeistert, fasziniert, angezogen von dieser unglaublichen Geschichte – auch durch die guten Schauspieler! Sebastian Koch eindrucksvoll, der brutale Vollzug der Euthanasie (über die ich später nochmal im Wikipedia-Artikel über Gerhard Richter einiges erfuhr) gut inszeniert, der Werdegang des jungen Künstlers in der frühen DDR … alles durchaus glaubwürdig!

Aber dann: Mit dem Eintritt der Hauptfigur in den Westen und in die Düsseldorfer Kunstakademie leistet sich der Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck einen Schnitzer nach dem anderen. 

X.Y., die/der sich intensiv mit der Zeit (ZERO-Künstler), Günther Ücker u.a. befasst hatte, fand das genauso unglaubwürdig und klischeehaft wie ich (dieser aufgebläht „mystische“ Beuys … hab so viel von Beuys auch durch Dokumentarfilme begriffen, zu denen ich in einem Fall die Musik komponierte), dieser lächerliche „Kraftprotz“ von Ücker, die „Fontana“-Leinwandschnitte usw. usf.) 

Es herrschte ein ganz anderer Geist zu dieser Zeit in der Kunst und in der D’dorfer Kunstakademie … Von Donnersmarck bringt es fertig, die dümmsten Klischees zu reproduzieren, die auch noch die dümmsten Vorurteile gegenüber diesen Künstlern mobilisieren (u.a. das Fett & Filz-Klischee bei Beuys).

Es war nur konsequent, dass sich Gerhard Richter von diesem Film distanzierte, der es geschafft hat, meine Biografie zu missbrauchen und übel zu verzerren.“  Aber darüberhinaus eine ganze Künstlergeneration in eine unglaubwürdige Atmosphäre versetzt, um daraus eine „spannende Kinogeschichte“ zu machen 

So schreibt jemand in der Kunstzeitschrift MONOPOL m.E. zu recht:

„… Oliver Masucci als Joseph-Beuys-Verschnitt spachtelt riesige Fettecken und erzählt nochmal die beliebte – bei Donnersmarck nun wieder wahre – Tataren-Legende, während sein Student nach einer schlimmen Schaffenskrise endlich zur fotorealistischen Malerei findet. Zum Heureka erklingt Max Richters wabernde „Rheingold“-Musik. Wenn Kurt schließlich ein Bild malt, mit dem er den Schwiegervater-Schurken entlarvt, ist die Rosamunde-Pilcher-Höchstmarke erreicht. Das Ergebnis zählt? Mit „Werk ohne Autor“ verliert Florian Henckel von Donnersmarck nach Punkten.

Nun ja, es sind wahrscheinlich – Du hast es angedeutet in Deinem Blog – ganz andere Assoziationen, die Dich über diese Schwächen des Films hinwegsehen ließen … Aber was Du geschrieben hast, wollte ich so nicht ohne Kommentar stehenlassen. 

*    *    *

Was sage ich dazu? Bitte, ohne – weil das letzte Wort – damit recht behalten zu wollen! Ich erinnere nur daran, dass es nicht um die empirische Person Gerhard Richter ging. Auch die andern Künstler waren nicht mit „Echt-Namen“ versehen. Deshalb habe ich an die Auseinandersetzung Arnold Schönberg / Thomas Mann betreffend „Doktor Faustus“ erinnert. Niemand kann sich einen wirklichen Künstler mit allen biographischen und werkimmanenten Details in der bloßen Phantasie ausmalen… Nicht einmal Goethe.

*    *    *

Heinrich Arnhölter, geb. 3. Januar 1882 zu Solterwisch, Krs. Exter, gest. 14. Januar 1966, Lohe bei Bad Oeynhausen.

Es ist nie zu spät (24.-26. Dez. 2020)

Kurze Musiklehre für Anfänger

(Kleine Voraussetzung: Sie sollten schon Noten lesen können!) Ich gebe zu und bedauere, dass die alte „deutsche Schrift“ den Zugang zum wiedergegebenen Text erschwert. Zu „meiner“ Zeit (Kindheit vor 1950) las man selbst Grimms Märchen in dieser Schrift (ich verstand sie wie das Westfälische Platt meiner Großeltern, nämlich ohne recht zu merken, dass es anders war.)

Meine Vorgeschichte heute: Ich suchte den alten Tonsatz zu „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ von Michael Praetorius: ich glaubte, beim Anhören der Heidelberger CD eine Zwischen-Dominante vermisst zu haben und wollte nachschauen, ob sie überhaupt original sei. (Ich irrte mich, hatte mich verhört, falsch fixiert.) Dann aber faszinierte mich das alte Liederbuch, das aus der Schulzeit meiner Mutter stammt. Also um 1925.

 

Der alte vierstimmige Satz von Praetorius ist reduziert auf drei Frauenstimmen, aber das, was ich meinte – der Akkord auf der zweiten Silbe des Wortes „Winter“ (drittletzter Takt) -, ist klar: diese Takte entsprechen denen des Anfangs – bis auf diesen Akkord: F-dur statt f-moll. Was bewirkt das? Über solche Varianten sollte man auch mit Laien reden können. Wer den letzten Teil dieses Liederbuches in der Schule durchgearbeitet hat, sollte das können. Meine Mutter hat es nicht gelernt. Wer weiß, ob der bemerkenswerte Anhang überhaupt zum Lernstoff gehörte. – Ich habe es, als ich es gebrauchen konnte, nicht ernst genommen; es war ja für Mädchen!

             

Der Satz vom Notenlesen am Anfang sollte eigentlich nur darauf hinweisen, dass das Zeit kostet. Es geht nicht einfach darum, die Buchstaben zu wissen, sondern sich auch die Töne vorstellen zu können. Die erste Hürde für das Gedächtnis: jeder Notenkopf ist gleich wichtig, ob er nun auf der Linie steht oder zwischen zwei Linien. Das sagt noch nichts aus über Halbtonschritte und Ganztonschritte. Der Schritt von der ersten Linie zum ersten Zwischenraum ist ein Halbton-, von diesem Zwischenraum zur zweiten Linie ein Ganztonschritt. Für mich als Kind war es ein Problem, das einzusehen. Unlogisch! Ebenso die Tonreihenfolge: A – H – C, oder aber: die Basistonreihe gerade mit C – D – E zu beginnen. Man kann das historisch begründen, – aber man hat nichts davon; einfach nur lernen. Sehr wichtig: die Versetzungszeichen Seite 203, und Seite 205 die gleich geformten „Tetrachorde“ der Tonleiter. Das muss man singen können, ohne die Tasten des Klaviers zuhilfe zu nehmen. Jedenfalls nach einer gewissen Einübung. Danach ist alles leicht. Man könnte sogar mit arabischer Musik beginnen (kleiner Scherz).

Eine rhythmische Tabelle wie die auf Seite 199 befand sich auch am Anfang meiner ersten Violinschule von Hohmann-Heim. Irgendetwas leuchtete mir da nicht ein, und ich fragte meinen Vater, dessen Erklärung ich aber nicht ganz einsah, so dass er in plötzlichem Wutausbruch den Bleistift griff und in Riesenlettern und schreiend drüberkritzelte: 1 2 3 4. Ich weiß nicht, was ich da nicht kapierte, abgesehen von seinem Jähzorn wahrscheinlich die Tatsache, dass die sehr schnellen Noten soviel gewichtiger aussahen als die eine ganze Note, die bescheiden am Anfang der ersten Zeile stand. Mein Vater war aus einem Kapellmeister ein Studienrat geworden, und diesen Beruf hätte ich auch Dr. Hugo Löbmann zugeschrieben, wenn er nicht sogar zum Oberschulrat aufgestiegen ist. Aus den Lexika ist er verschwunden, nur in dem von Moser (1935) und dem alten sowie dem neuen von Hugo Riemann habe ich ihn gefunden, vielleicht weil er dessen Schüler war. Der letzte Titel „Fröhlicher Kontrapunkt“ stimmt mich nicht erwartungsfroh. Dass er für das anfangs zitierte Kirchenlied das Wort Reis statt Ros wählt, hat sicher eine lokale Geschichte; in dem wichtigsten katholischen Liederbuch, dem Speyerer Gesangbuch von 1599, steht jedenfalls schwarz auf weiß „Ros“.  Siehe auch hier. Außerdem bei Wikipedia noch der Satz:

Das Buch zeichnet sich gegenüber den gleichzeitig erschienenen Gesangbüchern dadurch aus, dass auf jede anti-protestantische Polemik verzichtet wurde. Auch Martin Luthers Vom Himmel hoch ist hier enthalten.

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Sie müssen keine Noten lesen!

Liebe Leserinnen und Leser,

wenn Sie bis hierher durchgehalten und vielleicht schon gute Vorsätze für das Neue Jahr und den Rest der Corona-Zeit gefasst haben, möchte ich Ihnen doch noch etwas irgendwie Weihnachtlicheres bieten, was auch geistig-seelische Nahrung für die Zukunft verspricht: eine schöne SWR-Sendung meines Freundes Wolfgang Hamm. Sie brauchen dafür eine ungestörte Mußezeit von etwa einer Stunde. Sie ist zwar schon gestern Nacht ausgestrahlt worden, aber – wie schon im Blog-Artikel angekündigt: Es ist nie zu spät!

SWR2 „KULTUR NEU ENTDECKEN“

Zum Hören klicken Sie bitte HIER

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Soweit der Ernst des Lebens und des lebenslangen Lernens, dann die Schönheit und das Wunder, – höchste Zeit also, uns gegenseitig auch noch eine fröhliche Weichnacht zu wünschen! Sic! Ich tue es in Gestalt der Erinnerung an eine Konzertreise des Collegium Aureum mit dem Tölzer Knabenchor durch Norditalien. Hier ein Ausschnitt des Plakates, das uns in Venedig erfreute:

So könnte ein Roman beginnen: „Nie werde ich die weichen Nächte von Venedig vergessen!“ In Wahrheit denke ich an eine frühe Lektüre zurück, ich glaube, von Dostojewski: „Weiße Nächte“ (es ging um erste Liebe, der Vater spielte eine Rolle, ich finde das Buch schnell wieder, meine ganze „russische Zeit“ nach 1957, es begann mit dem Film „Krieg und Frieden“, mit Tolstoj, aber auch mit dem Taschenbuch „Der Tod des Iwan Iljitsch“, denn genau so starb mein Vater, beim Lesen hatte er gesagt: „das bin doch ich!“). Vor allem Turgenjew! Bald darauf entdeckten wir – so hochgestochen das klingt – Goethes Faust, konnten vieles auswendig mitsprechen. Mein älterer Bruder und seine Freunde standen vor dem Abitur, einer hatte ein großes Grundiggerät und den „Faust“ unter Gründgens darauf überspielt. Und das wirkte auf alle beflügelnd. Mich befremdete und faszinierte die Musik von Mark Lothar. So dachte ich beim „Weichnachts-Oratorium“ in Venedig unversehens an die große Oster-Szene, an die „weichen Menschen“, an die Glocken und Engelschöre, die den lebensmüden Faust in die Wirklichkeit zurückrufen :

Was sucht ihr, mächtig und gelind,

Ihr Himmelstöne mich am Staube?

Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind.

Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube

Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.

Zu jenen Sphären wag’ ich nicht zu streben,

Woher die holde Nachricht tönt;

Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,

Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.

(Siehe hier bei V.762)

Blick in die Hörzu (auch schon seit 1954)

Und was jetzt von den Feiertagen Dezember 2020 zurückbleibt, wird der Film über die Kathedralen und insbesondere den Bau des Strassburger Münsters sein, nein mehr: siehe bei ARTE hier. Also wieder einmal etwas über das Wunder der Gotik? (S.a. hier oder hier). Und über einen Höhepunkt der – Technik. Vielleicht auch, aber vor allem eine aufrührerische Geschichte vom Kampf um die Macht zwischen Kirche und Bürgertum. Andererseits – war es nicht die ganz große Epoche des Christentums? Es war eine schlimme Zeit. Und so ist uns bei allem Erinnern und Staunen leider doch noch das Lachen vergangen. Wie auch hier:

  1958

Die Turgenjew-Geschichte war es, die lange nachklang. Später noch „Väter und Söhne“. Soll ich alles noch einmal lesen? Es ist wie neu – und doch nicht ganz. Ich stecke unweigerlich drin. Wie auch mein Vater.

Wie auch die Schülerin, die damals um 1925 die Musiklehre im letzten Teil des Liederbuchs für Lyceen und Höhere Mädchenschulen nicht ernst genommen hat. Sie wurde Kinderkrankenschwester und hat 1938 trotz mangelnder Kenntnisse diesen Musiker geheiratet:

Und das war gut so!

Orgelpunkt

Oder: Stimmen hören

Es ist immer interessant, an sich selbst zu beobachten, wieviele Stimmen man gleichzeitig im Auge (im Ohr) halten kann. Meine These: es gibt Leute, die immer nur auf die Oberstimme hören: sie achten auf die Melodie – so es eine gibt – und nehmen ansonsten etwas Ungewisses im Untergrund wahr, wenn überhaupt. Bei einer Mitschülerin, die einst (vor Äonen!) in der Cellogruppe eines Laienorchester mitgespielt hatte, fiel mir beim gemeinsamen Konzertbesuch auf, dass sie fortwährend den Bassverlauf beobachtete, jedenfalls bei Stücken, die sie früher einmal mit einstudiert hatte. Sie wusste wenig über die Geigen zu sagen, während ich sozusagen die Celli kaum gehört hatte. Dieses selektive Hören ist leicht erklärbar, obwohl man doch immer schon wusste, dass die ganze Musik aus dem Zusammenwirken von Unterbau und Oberstimmen besteht. Es entwickelt sich eine erstaunlich unterschiedliche Perspektive, je nachdem wo und wie und als wer man im Konzert sitzt, und man muss sich erst motivieren, alle Schichten wahrzunehmen, die ein Werk wirklich aus der Sicht des Komponisten ausmachen sollen. Daher hat es mich auch kürzlich so verwundert, beim Studium einer Bartók-Analyse festzustellen, dass mir die Bedeutung der „Parallelen Stimmführung“ bei diesem Komponisten bisher entgangen war. Ich hatte das Wort nicht! Wenn man das Phänomen aber erst einmal erfasst und benannt hat, folgt man der Musik mit einer erneuten Wachsamkeit. – Das ist der Hintergrund der Akzentuierung des heutigen Blogbeitrags. Das folgende Orgelstück von Bach fesselt mich zunächst einmal durch das Thema, das man auch in der Handschrift verfolgen kann: es ist die Umkehrung des Finale-Themas des dritten Brandenburgischen, dort in G-dur, mit Kanon-Technik, auf der Orgel nach Fugen-Art:

 

Hier die Orgel-Version (extern hier) als 4. Satz der Pastorella BWV 590, und die Fangfrage: wieviel Stimmen sind das? (Achtung: Musik beginnt erst bei 0:15, also Geduld!)

Sie werden vielleicht schnell herausbekommen, dass es sich um eine dreistimmige Fuge handelt, zumal die Einsätze sehr deutlich kommen, deutlich auch, wenn man die Hände genau beobachtet. Nun macht der Orgelspieler obendrein eine kleine, aber doch auffällige Luftpause bei jedem neuen Einsatz, eine Abphrasierung. Aber da gibt es auch eine irritierende Erscheinung: es läuft noch eine weitere Stimme mit, eine hohe, flötenartige, und zwar in einer anderen Tonart, statt in F-dur in hoch C-dur. Das liegt am Register, – ich habe es neulich schon zu beschreiben versucht (siehe hier am Ende des Artikels). Da ist also die Stimme gekoppelt „mit sich selbst im Abstand einer Duodezime (Oktave plus Quint), und zwar mittels eines Registers, das Aliquotregister genannt wird. Eigentlich sehr merkwürdig, dass man diese dissonant wirkende Extrastimme überhaupt duldet (trotz der Verteufelung der Quintparallelen im strengen Satz). Man geht offenbar davon aus, dass man sie „zurechthört“ und als Oberton(schatten)linie der auffälligeren Hauptstimme subsumiert. Man höre nur mehrfach ab 2:20, dann wird man begreifen, dass der flötenartige hohe Melodieverlauf absolut synchron der linken Hand des Organisten entsprechend verläuft bzw. geschaltet ist.

Wenn wir als unsere Höraufgabe begreifen, die drei Hauptstimmen des Fugen-„Gewebes“ zu verfolgen, müssten wir also imstande sein, diesen automatisierten Parallelverlauf gedanklich wegzufiltern…

Falls aber Ihr Wissendurst damit noch nicht gestillt ist, sollten sie (im externen Fenster!) auch noch den Erläuterungstext unter dem Youtube-Video studieren. Oder später hierher zurückkehren: nur um zur Kenntnis nehmen, dass von „Dudelsack-Borduntönen“ die Rede ist. Wo befinden sie sich in diesem Satz? – – – Wirklich sehr zweifelhaft, was Peter Williams da dem Fugenthema selbst abgelauscht haben will. Aber gut zu wissen, was ein Bordunton (auch: „Orgelpunkt“) ist: hören Sie einfach vorweg den Anfang des letzten Orgel-Beispiels, den Beginn der Pastorella (die ja aus 4 Sätzen besteht), und beachten Sie nur den im Orgelpedal gehaltenen Basston. Ein Tonwechsel erfolgt erst nach 32 Sekunden, und der neu angeschlagene Basston dauert von 0:32 bis 1:07. Ein schönes Erlebnis, das dem vermuteten ewigen Frieden des Hirtenlebens entspricht. Die Harmonie der Welt.

Wenn es im christlichen Abendland um die pastorale (Unterschicht-)Musik geht, so ist sie immer friedlich gestimmt (siehe Bethlehem und die Hirten auf dem Felde), selbst der Bordun hat in der Kunstmusik meist ein absehbares Ende, die Fortbewegung der Hamonik und so auch vor allem des Basses, ist unabdingbar. Dafür hat die frühe Kirche gesorgt, indem sie alles Heidnische in ihrem Bannkreis unter Strafe stellte. „Wo die Auleten sind, da ist Christus nie und nimmer!“

In einer Welt der Götter und Dämonen war das ganz anders, die Basis lag nicht außerhalb, sondern überall gleichermaßen. Ich vereinfache sehr, aber von diesem Phänomen nicht zu wissen, ist ein massives Hindernis, die Differenziertheit der indischen Musik wahrzunehmen. Sie erscheint uns ohne Maß und Ziel, gerade weil sie die ewige Gegenwart des Grundtons braucht, um sich in 1000 Farben und Gestalten aufzufächern und in Erscheinung zu treten. Und für unsere bassfixierte Welt bedarf es zunächst nur dieses einen Schrittes: das Ohr für ein anderes Spektrum zu öffnen, als jenes aus Schwarz und Weiß, aus Dur und Moll, in einem quadratisch geordneten Zeitablauf, wie wir es gewohnt sind (ich vereinfache schon wieder). Aber hören Sie doch, was uns dieser Meister mit schönsten Linienspiel lehren und bescheren will. Einfach nur liebenswürdig. Mit ein paar Modernismen (Oktavspiel).

(Fortsetzung folgt)

Die Präsenz des einen Tons: SA (der Grundton) hier Achtung falls es mit Reklame beginnt, Ton weg und 27 Sekunden warten, dann steht dort: überspringen, fertig, nicht ärgern! im externen Fernster gibt es ansonsten nichts weiter zu sehen: Sie können die Augen schließen und dem Sänger Pandit Jasraj zuhören… oder den Grundton mitsummen, der am Anfang allein erklingt.

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https://www.bachs-orgelwerke.de/index.php/werkverzeichnis/68-bwv590 HIER

Schola Heidelberg Weihnachtskonzert

Eine Empfehlung

HIER  um die Ton- und Bild-Aufnahme digital abzurufen

hier um das Programmheft während des Konzertes oder vorher zu lesen / darin gibt es auch Zeitangaben, wann was im Gesamtablauf zu finden ist, also z.B. Johann Hermann Schein „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ ab 27:55

Musik, Physik, Politik

Lockdowngedanken

Manchmal frage ich mich, warum gewisse Werke, die mich erschüttern oder begeistern, im öffentlichen Bewusstsein keinerlei Brisanz zu haben scheinen. Ich spreche von Musikwerken und ihrer Aufführung, – es ist halt nur Musik. Das gilt aber ganz ähnlich von gedanklichen Leistungen, sagen wir von den Konfessionen des Augustinus oder von Immanuel Kants kleinster Schrift „Zum ewigen Frieden“ oder von Thomas Nagels grundlegender Einführung „Was bedeutet das alles?“ Warum kann man diese bedeutenden und dabei relativ kurzen Werke nicht in öffentlichen Diskussionen als bekannt voraussetzen? Ach, das ist doch klar! sage ich , – aber nur, um hier keine Zeit zu verlieren. Der Artikel, über den ich schreiben will, ist lang genug, gehört aber zu denen, die mich mal wieder sagen lassen: „Dafür allein hat sich der Preis der ganzen Zeitung gelohnt!“ (5,70 € : DIE ZEIT 17. Dezember 2020 Dossier Seite 15-17). Dabei wäre die Essenz relativ schnell erzählt, aber gerade die Tatsache, dass ihr unwesentliches Drumherum so ausführlich dargestellt ist, macht den Artikel so wertvoll und – ja! – lebensnah. Niemand kann den Kampf gegen Corona ungestraft ignorieren. Man nimmt also zur Kenntnis, wenn es jemandem gelingt, eine wissenschaftliche Leistung in ihrem Bedeutungshorizont vor Augen zu führen, deutlicher als es der persönliche Auftritt der Wissenschaftlerin in der meistbeachteten Fernseh-Talkshow  zu tun vermöchte. Es geht uns alle an, ob wir es zulassen oder nicht, wir haben den Lockdown, schlimm genug. Eine Katastrophe dieses Ausmaßes, so heißt es,  gab es noch nie in der Menschheitsgeschichte. Ja, es ist ein Lehrstück, und ich lerne daraus auch, warum große Musik kein Tagesthema sein kann, – es sei denn, sie wird in einem künstlichen Hype, der ihr auf Dauer schadet, auf die Schaubühne geholt und mit magischen Wunderkräften aufgeladen („Mozarteffekt“). Da gibt es keine zwingende Notwendigkeit.

Aber es kann doch nicht wahr sein, dass es so schwer ist, bei führenden Politikern mit einer physikalischen Wahrheit durchzudringen!? Ich sehe es erst ein bei der Beobachtung, dass es auch nur durch Zufall gelang, mich dazu zu bringen, diesen Artikel von Anfang bis Ende, Wort für Wort durchzulesen, 3 oder (Bilder abgerechnet) 2 voll bedruckte ZEIT-Großformatseiten, und zwischendurch immer wieder staunend auf den Namen des Autors zu schauen (Malte Henk), nie vorher gelesen, und auf den der Hauptfigur und ihr Foto, nie gesehen — oder doch? bei Markus Lanz? und doch nicht wiedererkannt? Ich – als typischer Konsument auf der Nachrichten-Wildbahn, wo bleibt er als erstes hängen? Bei der Vorstellung eines Zebras! Das ist doch Kalkül, aber eben auch interessant!

ZITAT

(…) Sie könnte auf diesem Kennenlern-Spaziergang gleich über die Dinge reden, mit denen sie sich seit acht Monaten beschäftigt, Ansteckungsraten, Kontaktnachverfolgungsraten, Dunkelziffern.

Sie fragt: »Wie kommt es, dass Zebras schwarze und weiße Streifen haben?« Ähm. Weil das genetisch so festgelegt ist? »Das erklärt noch nicht, wie die Natur es schafft, diese regelmäßigen Muster zu bilden.«

Die Lösung des Streifen-Rätsels, die Priesemann aus dem Ärmel schüttelt, ist auf eine merkwürdige und für ihr Denken typische Weise beides auf einmal, verwickelt und simpel. Die Muster gibt es, weil es im Körper des Zebras zwei chemische Stoffe gibt. Der eine regt die Produktion schwarzer Farbpigmente an, der andere versucht sie zu unterdrücken. Wie diese beiden Gegenspieler pingpongmäßhg aufeinander reagieren, wie die Zunahme des einen eine Zunahme des anderen zur Folge hat, was wiederum den ersten zu einer Reaktion veranlasst – all das kann man mit Gleichungen berechnen. Es war kein Serengeti-Forscher, der das Streifen-Rätsel in den 1950er Jahren löste, kein Tierarzt im Gehege und auch kein Zoologe mit seinem Sezierbesteck. Es war ein Mathematiker an seinem Schreibtisch.

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Es gibt einen Begriff, den Viola Priesemann gern benutzt. Er ist nicht neu, man hört ihn oft, wenn es um das Theme Klimawandel geht. Kipppunkt. Erwärmt sich die Erde, dann schmelzen zum Beispiel die Gletscher, und dadurch gerät vieles aus dem Gleichgewicht. Die Oberfläche der Erde reflektiert weniger Sonnenlicht, es wird noch wärmer, wodurch noch mehr Eis verschwindet, und so weiter. Priesemann hat das Konzept in die Covid-10-Forschung übertragen. In der Pandemie sind die Gletscher die Gesundheitsämter.

Beim Zoom-Treffen beschließen sie, über das Diagramm noch ein Symbolbild zu stellen. Damit es wirklich jeder verstehen kann. »Was nehmen wir?«, fragt Priesemann. Niemand hat eine Idee. Einer erklärt sich bereit, darüber nachzudenken.

Nach dem Mittagessen schalten sie sich wieder zusammen, wieder die Debatten, sehr lang und sehr basisdemokratisch, wieder die Kurven. Einer aus der Gruppe hat sie grafisch verbessert. Der Kipppunkt ist jetzt klarer erkennbar.

Priesemann: »Peng!«

»Was bedeutet das hier?«, fragt jemand. »Ah, die Testkapazität bricht zusammen.«

»In the end, it’s Fleißarbeit«, verkündet Priesemann und möchte wissen, was ein Symbolbild ist. »Ja, ähm…«, sagt ihr Mitarbeiter. »Man kann nur einmal im Monat ein Genie sein«, sagt sie tröstend. Gelächter. Sie einigen sich schnell auf eine simple Metapher für ein metastabiles System, eine Waage mit zwei Schalen. Die geraten auch leicht aus der Balance.

»Ich bekomme den berühmten Heinz Ehrhardt nicht aus dem Kopf«, sagt einer. »Ritter Fips.« Kunstpause. »Falls fallend du vom Dach verschwandest, so brems, bevor du unten landest.«

Legt man Priesemanns abstrakte Schaubilder in Gedanken über die deutsche Realität seit dem Ende des ersten Lockdowns, ist da ziemlich viel Übereinstimmung. Der virenarme Sommer, Monate mit trügerischer Sicherheit, Frieden im Sandkasten. Das Überschreiten des Kipppunktes im September, zunächst unbemerkt, dann der steile Anstieg im Oktober. Mit ihrer neuen Veröffentlichung will sie die große Frage dieses Winters beantworten, wie das System wieder ins Gleichgewicht zu bringen ist.

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Was war das mit dem Frieden im Sandkasten? Das war eine andere zwischendurch erzählte Geschichte, sie passte zu einem bestimmten Diagramm:

Es hat die Überschrift »Metastabil«. So nennen Physiker ein System, das zwar stabil ist, aber leicht aus dem Gleichgewicht gerät. Zwei Kleinkinder, die miteinander im Sandkasten spielen, bilden so etwas wie ein metastabiles System. Eigentlich ist alles friedlich. Entdeckt das eine Kind im Sand eine Schaufel und möchte das andere Kind auch unbedingt diese Schaufel haben, wird das System schnell instabil.

Dieses Diagramm fasst eine Erkenntnis zusammen, die Priesemann und ihre hoch spezialisierten Zahlenmenschen schon im September veröffentlicht haben. In der Mitte ist eine Linie eingezogen. Das ist die Grenze, ab der Ärzte, Labore und Gesundheitsämter nicht mehr mit dem Virus mithalten, sie können ja nicht unendlich viel testen und Kontakte ermitteln. Unterhalb der Grenze sind die Pfeile waagerecht, die Fallzahlen sind scheinbar stabil. Übersteigen sie die Grenze, wird das System instabil. Die Pfeile drehen sich nach oben. Immer mehr Menschen, die nicht wissen, dass sie infektiös sind, gehen jetzt arbeiten, besuchen Freunde, steigen in die Bahn. Sie stecken immer mehr andere Menschen an. Die Entwicklung verstärkt sich selbst. Exponentielles Wachstum. Kontrollverlust. Am Ende sind die Kliniken voll. Aber der Weg dahin beginnt viel früher.

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Der Text ist einfach gut gemacht. Was ich zitiert habe, ist natürlich nur ein Bruchteil, aber ich finde, es reicht, um die unglaublich lebendige Arbeit mit den toten statistischen Zahlen der Wissenschaft anzudeuten.

Nicht um Angst zu schüren. Sondern dazu anzuregen, die Arbeit der schöpferischen Menschen hochzuschätzen und auch in anderen Bereichen der Kunst und Wissenschaft zum Vorbild zu nehmen.

Und dann erst folgt die größte Arbeit, nämlich: diese Leistungen den Politikern, die am Hebel sitzen, und der weiten, breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Den Zuschauern, die vor dem Fernsehapparat sitzen und Talkshows verfolgen, um am Ende zu sagen: „der Lanz oder die Anne Will, das war ja wieder ganz unterhaltsam, nur diese eine Wissenschaftlerin da, die war mir doch etwas zu abstrakt. Wissenschaftler kommen einfach aus ihrem Elfenbeinturm nicht heraus, die sitzen in ihren Laboren und quälen weiße Mäuse, aber was da draußen los ist bei einem Lockdown, davon haben die keine Ahnung!“

Was tun, um Ignoranten die Ohren zu öffnen? Man kann sie ja nicht allesamt einsperren mit diesem ZEIT-Artikel und sich die ganze Geschichte Punkt für Punkt nacherzählen lassen.

Ich hätte es nicht abschreiben müssen, es ist keine Mühe, alles online nachzulesen, die Kosten sind minimal (hier). Was werde ich also tun, um meine Enkelin, die begeistert mit dem Physik-Studium begonnen hat, zusätzlich für ihr Studienfach – und den zugehörigen Journalismus zu begeistern? Ich fahre zum Bahnhof und kaufe für 5,70 €  DIE ZEIT und schicke dieses Dossier per Post zu der Kleinen (?) nach Hause, weil ich immer noch an die analoge Übermittlung selbst der digitalsten Stoffe glaube. Nicht am Telefon („ist nur der Opa!“), – auf Papier!

Wenn man aber nach der ZEIT-Lektüre noch etwas Zeit investieren will, findet man in manchen Talkshows noch genügend Denkstoff zur Relation von Wissenschaft, Politik und journalistischer Praxis. Oft erst beim zweiten, selektiven Zuhören. Genügend Anlass auch – sich aufzuregen. Hauptsache, es dient der Wahrheitsfindung.

Hier: LANZ ZDF 9.12.20 (etwa ab 19:10) und hier: ANNE WILL 30.11.2020 (etwa ab 11:50).

Screenshot LANZ 9.12.2020

ZITAT (Die Zeit)

Als der harte Lockdown kommt, denkt Viola Priesemann schon weiter.

Ihr schwebt ein mathematisches Modell vor, mit dem man untersuchen könnte, wie das Virus zwischen den Ländern Europas zirkuliert und mal hier, mal dort für Ausbrüche sorgt. Irgendwann in der Zukunft, wenn das alles vorbei ist, könnte sie sich auch ein ganz neues Forschungsthema vorstellen. Sie würde gern die Machtkonzentration in der Gesellschaft analysieren, mit den Mitteln der Mathematik. Ein Zebra-Rätsel für unsere Zeit: Schwarz die Macht, Weiß die Ohnmacht, wie vermischen sie sich, welche Muster bilden sie? Wie formen sie eine Gesellschaft und die Entscheidungen, die in ihr getroffen werden?

(Autor: Malte Henk, Mitarbeit: Miriam Lau)

Und die Musik? Gab es da noch einen Vorsatz, als die Überschrift dieses Artikels entstand?

(Ja!)

Der Lockdown reagiert auf die blinde Notwendigkeit, die wir analysieren müssen. Oder in der Analyse mithilfe kluger Journalistik nachlesen dürfen. Die Musik (ob scheinbar oder nicht) lebt vom freien Spiel der Kräfte, ihre Notwendigkeit ist Freiheit. Man erfährt sie zum Beispiel, wenn man eine Bach-Fuge penibel geübt hat, als verlaufe sie in zwingender Notwendigkeit: am Ende ist es ein Spiel der freien Kräfte. (Die Politik dagegen ist kein Spiel.)

Bach Fuga in Cis (WTKII)

JR Achtung, ganz nebenbei: Physiologisches nicht vergessen (Physik privatissime), z.B. Geige üben. Zu bedenken: Mechanik ist wichtig, nicht allein der Musikalität vertrauen! Z.B.gutes Ricochet (ein langer Weg). Fühle dich nicht erhaben über die Grundübungen: Hier (ein kurzer Weg). Corona ist eine kreative Zeit für fleißige Eremiten!

  Der geigende Eremit (Böcklin)

(Nur ein Scherz zum Abschluss: es weihnachtet halt, und dieser alte Herr übt bestimmt kein Ricochet! Es sei denn, das Engelchen kommt zu Hilfe. Vielleicht würde es mit ihm zunächst etwas an der Haltung arbeiten.)

Ambivalenz

Imagination und Erinnerung

Ein (1) Begriff zeigt die umfassende Einstellung, 2 Begriffe sind viel, aber zu wenig, denn als 3. wäre mir die Materie wichtig, die eine Gegenwart bezeichnet. Hoffnung würde ich ausklammern. So etwa würde ich meine kleine Privat-Philosophie anfangen. Nachdem ich den Tag mit der mehrfach erwähnten Choral-CD begonnen (ich meine die mit den Text-Meditationen) und die letzten drei Tracks mehrfach wiederholt habe, wieder mit wachsender Begeisterung. Jetzt käme das andere Extrem: Das Lied von der Erde, die neue Aufnahme unter Vladimir Jurowski, die sogleich jene auf den Plan ruft, mit der ich das Werk kennen und lieben gelernt habe: 1963 unter Eugen Jochum (Ernst Häfliger, Nan Merriman). Dies wäre das Maximum an Kern-Text, auf das, auf den ich mich beschränken würde, wenn mir – am frühen Morgen – hochgestimmt – das Herz überquillt.

Ich würde mich an den Harmonielehre-Unterricht bei Kantor Eberhard Essrich erinnern, der frühzeitig mit der Bass-Linie zu einer Choralmelodie begann, nach dem Vorbild Bachs, während mein Vater die Methode der Harmonielehre von Louis-Thuille bevorzugte. Ambivalenz in allen Punkten. Wenn ich zum Beispiel mit der gleichen Andacht Bachs Matthäuspassion höre wie ich den Wälzer von Richard Dawkins studiere: „Geschichten vom Ursprung des Lebens, Eine Zeitreise auf Darwins Spuren“ (2004). Auch ohne jeden programmatischen Vorsatz: Gestern zum Beispiel die Erinnerungen des Malers Jürgen Giersch, der mir „zufällig“ eine seiner neuen Radierungen geschenkt hat, da ich zahlreiche Werke von ihm kenne und hochschätze, nun also das Nordseebild mit dem störrischen Pferd, das ich vor dem Hintergrund seiner früher gemalten fremdartigen Interieurs sehe. Vielleicht eher Albträume? Dann aber auch das neue Buch, das ich seit dem 6. Dezember verinnerliche; es verheißt eine Philosophie des Gärtnerns, ich konzentriere mich darin auf zwei Aufsätze (Dieter Wandschneider, Maximilian Probst). Der zuletzt genannte Autor spricht in meinem Sinne (ich wohl mehr in seinem), wenn da steht:

Zum grünen Daumen gehört die Faust! Gärten sind nicht der heilende, heilige Bezirk. Sie sind heillos ambivalent.

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Aktuell alternativ – ein Ausflug: Hierher (in den Irrgarten)

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ZITAT

Nach dem auf weltgeschichtlicher Bühne das Stück des Umschlags von emanzipativen Bestrebungen in Schreckensherrschaft und Restauration oft genug zu sehen war, meint man, mit der lokalen Utopie auf der sicheren Seite zu stehen. Wer seinen Garten bestellt, der kann doch nichts falsch machen, oder?

Leider doch! Leider ist auch hier keine Sicherheit, Zweifel leider auch hier. Denn manchmal – Brecht sagt es uns – kann schon ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen sein. Manchmal ruft der Weltgeist uns nach vorne auf die Bühne, manchmal ist es nötig, dass sich jeder von seinem Garten abwendet und nur und nichts anderes als die Sache des Globalen betreibt, der allergrößten Allgemeinheit, um die Bedingungen zu schaffen, unter denen sich der eigene Garten weiter pflegen lässt. Und immer, immer, immer läuft die Arbeit an der lokalen Utopie Gefahr, zum kleinen, umschlossenen Glück im Winkel zu verkommen.

Das Sinnbild dieses ausschließenden Glücks, das sich weltoffen gibt, sind die englischen Landschaftsgärten. Ihr Prinzip ist, nach gewachsener Landschaft mit einem gewissen Anteil an Wildwuchs auszusehen. Sie betreiben einen riesigen Aufwand, um Kultur wie Natur erscheinen zu lassen, in der Abkehr von den französischen Barockgärten, die nur eine Verlängerung der Architektur des Hauses oder Schlosses ins Freie waren, und in einer Zeit, in der England sich dank riesiger Kohlereserven bereits auf dem Weg zur ersten Industrienation der Welt gemacht hat.

Quelle Maximilian Probst: Zum grünen Daumen gehört die Faust. In der oben abgebildeten „Philosophie des Gärtnerns“, herausgegeben von Blanka Stolz, Suhrkamp 2019 (mairisch Verlag 2017) – Siehe auch hier (Heidelberg) und hier (Großer Garten) und hier (Herrenhausen).

ZITAT

Sobald aber jemand ein Stück Land beackert, ist das, was er erntet, die Frucht seiner Arbeit und damit sein Besitz. An diesem Punkt beginnt die Gartenkultur. Das hat Marie Luise Gothein, die bedeutendste Garten-Historikerin deutscher Sprache, klar beschrieben:

»Die Anfänge der Gartenkunst fallen mit der Seßhaftigkeit der Völker zusammen. Der Nomade treibt seine Herden auf die freie, nicht umzäunte Weide; sobald aber die erste Frucht, mit der Hacke bestellt, den Menschen zwingt, sich in festen Wohnplätzen anzusiedln, wird und muss er seinen Fruchtplatz mit einem Zaun umgeben, um ihn vor dem Einbruch der feindlichen Menschen und wilden Tiere zu schützen.«

Die Umzäunung des Gartens markiert also geschichtlich den Beginn des Privateigentums. Für [John] Locke ist dieses Eigentum ein Geschenk Gottes.

Probst a.a.O. Seite 212

Zaun am Rinderplatz Villanderer Alm Gemüsegarten Moarhof Völs

Und dann kommt naturgemäß Jean-Jacques Rousseau zum Thema Zaun! Ich fasse mich kurz. (Ich kann JJR nicht leiden!) ZITAT (nach Probst)

Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen: ›Das ist mein‹ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viele leiden und Schrecken hätte nicht derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen odert den Graben zugeschüttet hätte und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ›Hütet euch davor, auf diesen Betrüger zu hören. Ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte euch allen gehören und daß die Erde niemandem gehört‹.

Darin steckt nicht mal eine Ambivalenz, etwa in dem Sinne, dass die Zäune zugleich als abwehrend wie als einhegend gedeutet werden könntet. Es geht nicht um den Zaun, – der Garten selbst ist Segen und Plage, sagt Maximilian Probst, noch bis in seine alltägliche Nutzung.

Wer träumt nicht davon, einen ruhigen Sommertag im eigenen Garten zu verbringen, mit einem guten Buch, im Schatten eines Fliederbusches? Gibt es etwas Schöneres, Friedlicheres, etwas, das mehr dem Paradies gliche? Aber wer einen Garten hat, weiß, dass man sehr selten in ihm sitzt, sehr oft aber in ihm kniet, um hier ein Unkraut herauszurupfen, dort etwas zurückzuschneiden. Und mit welchem Recht rede ich hier eigentlich von Unkraut? Was ist das für eine merkwürdige Vorstellung von Frieden und Paradies, vom Guten, wenn das alles nur zustande kommt, dass ein Großteil der Pflanzenwelt unerbittlich verfolgt und bekämpft wird?

(Probst a.a.O. Seite 219)

Der für mich interessanteste Beitrag in diesem Buch stammt von Dieter Wandschneider: „Zur Metaphysik des Gartens“ Seite 111 bis 127. Gerade indem er gleich zu Anfang das Verhältnis zur Kunst anspricht und dabei vor allem die Frage, die in diesem Blog vor einiger Zeit behandelt wurde: die Rolle des Hässlichen.

ZITAT

Wesensmäßig existiert der Garten in der Spannung von Natur und Gestaltung. Er ist nicht einfach Natur im Sinn von Wildnis, die von selbst da ist. Aber auch kultivierte Naturformen – Acker, Wiese, Wald etc. – sind nicht Gärten, weil ihnen das Moment künstlerischer Gestaltung fehlt. Gestaltung ist somit ein konstitutives Moment des Gartens. Doch ebenso wesentlich ist er Natur und damit den Bedingungen organischen Gedeihens unterworfen. Dieses Zusammenwirken von Natur und Gestaltung bildet im vorliegenden Zusammenhang die zentrale Perspektive.

Nun ist das angestrebte Gestaltungsideal seit jeher der schöne Garten. Christian Illies hat in einem inspirierenden Textbeitrag zur Bamberger Hegelwoche 2012 die Frage gestellt, warum die Gartengestaltung die Wendung der modernen Kunst zum Hässlichen nicht mitvollzogen hat: Auch heute werden Gärten und Parks nicht als Müllhalden oder visuelle Provokationen gestaltet, sondern weiterhin nach dem traditionellen Schönheitsideal – das der modernen Kunst und Kunstphilosophie freilich als harmonistisch und damit als obsolet gilt.

[Den Illies-Text „Das hässliche Gärtlein“ gibt es online über Uni-Bamberg-Publikationen hier. Sehr lesenswert!]

Wandschneider geht aus von Hegels Natur-Begriff, und da ist der logische Gott nicht weit:

Das Logisch-Ideelle aber ist das Absolute, das Göttliche, an dem die Natur somit teilhat. Dass die Natur ›von sich her da ist‹ (…), Formen aus sich hervorbringt, also schöpferische Natur, natura naturans, wird so überhaupt erst erklärbar, nämlich als Manifestation dieses Göttlichen in ihr. [Seite 120]

Ich erinnere mich an die wiederholte Lektüre des Büchleins von Hans Blumenberg, das man hier wieder anschließen könnte (siehe „Tiere sehen“ hier), möchte mir aber ganz besonders den von Wandschneider speziell eingeführten Begriff der „Atmosphäre“ vormerken. Ich zitiere aus dem Kapitel „Metaphysik des Gartens“ (Seite 121f); es beginnt mit der Erinnerung daran, dass der Garten als gestaltete Natur immer auch ein geistiges Moment enthält: „Tiere haben keine Gärten.“

Doch das, was uns an Gärten und Parks anspricht, berührt, vielleicht verzaubert, das eigentümlich Atmosphärische des Gartens, ist sicher nicht einfach nur die Formensymmetrie der framzösischen Variante oder das Wechselspiel der Landschaftsszenen im englischen Park oder die Komposition farbiger Blumenrabatten. Sicher, in solchen Gestaltungen begegnet sich der gestaltende Geist selbst, aber das Besondere darin ist die emphatisch empfundene Lebenskraft der Natur, die uns berührt.

Doch es ist auch nicht einfachhin ›die Natur‹, denn diese würde uns eher den Eindruck beliebigen Wucherns, von Wildnis oder auch Brache und Ödnis vermitteln. Natürlich gibt es auch Situationen, in denen uns die Gegenwart der freien Natur unmittelbar anspricht, vielleicht beim Anblick einer Gebirgslandschaft, eines lieblichen Tals, einer Sandwüste oder einer Pappelallee am Fluss – charakteristische atmosphärische Valeurs. Dieses ›Atmosphärische‹ ist freilich eine sehr flüchtige Qualität – was zum Fotografieren motivieren mag oder den Landschaftsmaler zu einem Gemälde. Nun ist das Bild ein Artefakt und als solches nicht mehr Natur, sondern eben Darstellung von Natur. Die Natur tritt hier im Medium der Kunst in Erscheinung und insofern denaturiert. Wir betrachten die dargestellte Natur, aber wir sind nicht selbst in sie eingelassen.

Sie ahnen, worauf ich hinauswill: Im Unterschied zur bildlichen Darstellung der Natur ist das Spezifische des Gartens die wirkliche, sinnliche Anwesenheit der Natur – und zwar nicht einfachhin der Natur, wie sie gelegentlich als Gebirgslandschaft, Ödnis, Sandwüste, Pappelallee begegnet, sondern Natur gleichsam als Inszenierung des Geheimnisses von Wachsen, Vergehen und Wiederkehr. Hier wird das Gestaltungsmoment wesentlich. Hortensische Gestaltung holt die Natur herein in den Lebenskreis des Menschen und präsentiert sie ihm als sprießendes, geheimnisvolles Gedeihen, als die sich selbst immer neu gebärende, lebendige, leuchtende Natur. Um dies darzustellen, verwendet die Gartenkunst, im Unterschied zu den ›schönen‹ Künsten, nicht Pigmente, Tonfrequenzen, Theaterkulissen, sondern lässt Lebendiges zu Lebendigem sprechen.

In dieser Atmosphäre emphatischer Lebendigkeit, wenn ich mi9ch einmal so ausdrücken darf, bin ich Teil der einen, großen Natur, ihrer All-Einheit. In diesem kosmischen Einvernehmen kann ich das Gejagte, Getriebene, die Bürde meiner endlichen Existenz für einen Moment abwerfen und vergessen. Innerhalb der Hausmauern ist das so nicht möglich. Was fehlt, ist das kosmische Moment, das in den häuslichen Wänden und im steinernen Kontext der Straßen nicht anzutreffen ist. Im Garten empfinden wir ein kosmisches Einvernehmen mit der Natur, und das tut gut.

Dann alo doch: ›Natur tut gut‹? Sicher, aber warum? Weil, und damit nehme ich auf, was in der Perspektive des skizzierten Hegelschen Naturbegriffs deutlich geworden ist: weil jenes Gefühl kosmischen Einvernehmens zuletzt über die Natur hinausweist auf etwas, das ihr zugrunde liegt, ihren Seinsgrund und Grund allen Seins. Was mir so aufgeht, ist gerade, dass ich selbst kein letzter Grund bin, sondern verwiesen bin auf ein onto-logisches Prinzip, das mir und der Natur gleichermaßen zugrunde liegt, einen letzten Grund und in diesem Sinn etwas Göttliches.

Quelle Dieter Wandschneider: Zur Metaphysik des Gartens / in: „Philosophie des Gärtnerns“, herausgegeben von Blanka Stolz, Suhrkamp 2019 (mairisch Verlag 2017)

Zwischenbemerkung 23.12.20 (die neue ZEIT ist da! betr. Weihnachten)

Sehr bemerkenswert gerade heute der Artikel von Maximilan Probst (noch zu verlinken), ich zitiere an dieser Stelle nur, was sich direkt mit dem Beginn dieses Blog-Artikels verbindet, zu verbinden scheint, o sancta coincidentia oppositorum!!!

Je älter die Menschen werden, heißt es, desto mehr leben sie in der Vergangenheit. Bei mir ist es umgekehrt. Mit jedem Jahr, das verstreicht, denke ich mehr an die Zukunft. Tag für Tag ertappe ich mich, wie ich mal wieder an 2030 denke. Oder an 2050. Weil wir laut der Wissenschaft ungefähr noch zehn Jahre Zeit haben, die Weichen zu stellen, um vor Mitte des Jahrhunderts als Gesellschaft  CO₂ -neutral zu leben. Wofür? Um das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen und den Temperaturanstieg unter 2 Grad zu halten oder, besser noch, bei 1,5 Grad zu stoppen – bis zum Ende des Jahrhunderts, an das ich gedanklich vorausspringe.

Das war einmal anders. Früher lebte ich eher in der Vergangenheit. In einem Elternhaus mit Ahnenportäts an der Wand und Möbeln aus dem 19. Jahrhundert. Auf dem Klavier – ich spitze gern ein bisschen zu – spielte ich Stücke aus dem 18. Jahrhundert (Bach). Und in der Schule lasen wir Autoren aus dem 17. Jahrhundert (Shakespeare), wenn nicht gleich aus der Antike (Ovid). Vor allem aber gab es ein geschichtliches Kapitel, auf das sich fast alles beziehen ließ: 1933 bis 1945, die zwölf Jahre des Nationalsozialismus.

Quelle DIE ZEIT 23. Dezember 2020 (Seite 29f) Blick ins Morgenland / Die Geschichte galt als Lehrmeisterin des Lebens. Doch die Pandemie und Klimawandel zeigen: Die Wissenschaft sagt die Zukunft oft präzise voraus. Wir sollten uns an ihr orientieren. Von Maximilian Probst

Fotos: E.Reichow

Bachs Vivaldi

Was nicht sein kann und doch geht

Hören Sie doch bitte das berühmte Vivaldi-Konzert so, wie es im Original geklungen haben könnte: HIER

Oder springen Sie in den rasanten letzten Satz und achten Sie dort ab 8:25 auf die Melodie der zweiten Solo-Geige. Wie deutlich soll sie sein? Und wie expressiv?

Und versenken Sie sich dann in Bachs Orgelfassung desselben Werkes:

Das Werk in der Orgelfassung hören Sie extern z.B. HIER

Oder wie folgt, – falls Sie lieber die schönen Bilder sehen und auch den Künstler bei der Arbeit beobachten wollen:

Mir geht es gleich um den Anfang, siehe oben in den Noten, in der zweiten Zeile im drittletzten Takt: nach den Sechzehnteln die Achtel in der Oberstimme, die lang gehaltenen Töne im „Unterbau“, – kann das denn so von Bach gemeint sein, dass man nur noch den Unterbau hört, aber kaum noch die einzig bewegte Oberstimme? Muss man sie nicht auf einem eigenen Manual / Register, wie auch immer, um jeden Preis herausheben? Hier und bei anderen Stellen.

Oder auch im letzten Satz ab etwa 9:40, wo uns im Original der Klangzauber der Violinen erfasste: die starke Melodie der zweiten Geige, eingewebt ins Tongeschwirre der ersten, aber doch durch legato gut hervortretend. Wo bleibt sie auf der Orgel?

Solche Probleme können einen durchs ganze Leben begleiten. Ich habe das Vivaldi-Konzert kennengelernt durch eine Aufführung, in der ich die zweite Sologeige spielte, vielleicht 1956 oder 57, bei Bielefeld, (jawohl!) in Jöllenbeck, die Leitung hatte ein netter Kantor namens Vollmer. Ich begriff, dass man in der Begeisterung für das schöne Thema höllisch aufpassen muss, es nicht expressiv zu dehnen, sondern haarscharf im Takt zu bleiben. Es war ein tüchtiges Laienensemble, aber vermutlich spielte man damals Barockmusik grundsätzlich etwas ruhig, und ganz besonders in Jöllenbeck. Als ich es Jahrzehnte später in Solingen an der Orgel hörte – von Konrad Burr, dem ich umblätterte – fand ich es viel zu langsam und war der Ansicht, dass man bei der oben wiedergegebenen Stelle den „Unterbau“ einfach nicht durchhalten dürfe, sondern in wenige Akzente auflösen müsse, um die Oberstimme hören zu lassen usw., ich hatte ein unbehagliches Gefühl, und habe es bis heute, wenn ich Bachs Orgelfassung höre. Kann man ihn denn kritisieren? Völlig klar war, dass es mindestens zwei Tempi für dieses Werk gab. Selbst sehr bedächtige Ostwestfalen würden als Streicher niemals ein auf der Orgel durchaus vernünftiges Tempo wählen. Und heute auch dynamisch flexibler spielen, in den 50er Jahren untergrub das Diktum der „barocken Terrassendynamik“ und die Vorstellung vom richtigen „Bachstrich“ so manche inspirierte Interpretation.

1975, JR 1985

Das ist grundlegend, lässt aber meinen recht neuen Scanner etwas alt aussehen. Einen deutlich neueren Stand haben wir, wenn wir ins MGG (neu) Personenteil BACH (1999 Werner Breig) schauen:

Jetzt würde ich mich noch im Internet kundig machen, was es über Vivaldis op.3 mitzuteilen gibt, etwa hier, merken wir uns also: Konzert Nr.8 a-moll, RV 522, es war die Vorlage für Bachs BWV 593. Und diesen hochbegabten Prinzen Johann Ernst sollte man gesondert zur Kenntnis nehmen: vielleicht erst einmal in lexikalischer Kürze hier, dann in netter journalistischer Form hier.

Da ich immer mal wieder von einem Bach-Fieber erfasst werde, und zusätzlich zu meinen Cis-Werken des Wohltemperierten Claviers, die ich seit Monaten übe, kamen heute von RG Vorlesungsunterlagen zu den Brandenburgischen Konzerten, und ohne direkten Zusammenhang fiel mir das Wort „Vivaldi-Fieber“ ein, das ich irgendwo gelesen hatte. Was bedeutete Vivaldi denn genau für Bach, was hat er da gelernt? Das war auch ausschlaggebend für die Brandenburgischen Konzerte! Und ich erinnerte mich an die eigene Dummheit, dass ich Vivaldi nicht begriffen habe, wann war das etwas? vielleicht 1965, als Franzjosef seine vier besten Schüler das Vivaldi-Konzert für 4 Geigen aufführen lassen wollte, an vielleicht 2 Proben erinnere ich mich: und ich habe mich unglaublich gesträubt, nicht recht geübt usw. weil ich die Musik so unbedeutend fand. Dieser dümmliche Umgang mit Vivaldi war damals noch weitverbreitet („V. hat nur 1 Konzert geschrieben und das 100mal!“). Damals hatte der Hype um die „Vier Jahreszeiten“ noch nicht eingesetzt (das begann erst mit Nigel Kennedy). Gut, ein massenpsychologisches Seminarthema. Also: jetzt kam ich auf das Buch von Geck, darin musste etwas stehen, was mir im Augenblick – auch „psychologisch“ – auf die Beine hilft. Auch: das aktuelle Bach-Fieber auszunutzen, und da sehe ich: die entscheidenden Stellen habe ich schon vor 15 Jahren bei Martin Geck rot vorgemerkt. Manche Wege muss man mehrmals im Leben entdecken.

Und genau dank des soeben genannten Namens „Ahnsehl“ bin ich per Internet überhaupt darauf gekommen, in den analogen eigenen Bücherschrank zugreifen. Was mich ermächtigt, Martin Geck weiter zu zitieren:

Peter Ahnsehl äußert dementsprechend die Vermutung, Bach müsse das „etwa 1712 oder früher einsetzende Vivaldi-Fieber“ aus einem „so weltoffenen Hof wie dem Weimarer unbedingt [von Anfang an] zur Kenntnis genommen haben“. Was die genannten Vivaldi-Übertragungen angeht, so ist deren hohes Maß an Souveränität für Klaus Hofmann Anlaß zu der Vermutung gewesen, Bach habe damals „wohl selbst bereits über kompositorische Erfahrungen auf diesem Gebiet verfügt oder sich zumindest mit der Gattung nicht zum ersten Mal auseinander[ge]setzt.“ Da diese Bearbeitungen augenscheinlich Auftragsarbeiten für einen der beiden Weimarer Dienstherren darstellen, sagt ihre Entstehungsgeschichte jedenfalls nichts über ihren inneren Stellenwert innerhalb des Bachschen Konzertschaffens aus.

Quelle Martin Geck: »Denn alles findet bei Bach statt« Erforschtes und Erfahrenes Metzler Musik Stuttgart Weimar 2000 (Anmerkungsziffern in meinem Zitat weggelassen)

Man darf es sich also nicht zu einfach machen und sagen, das Vivaldi-Fieber habe Bach auf einen neuen Weg gebracht, und das Datum 1713/14 sei als Wegscheide eines neuen Formgefühls anzusetzen. Ich will mich auch hüten, den anfangs hervorgehobenen starren Klang des „Unterbaus“ aufheben zu wollen, indem die bewegte Oberstimme registermäßig stärker beleuchtet wird. Ist nicht gerade dieser „fast“ ereignislos durchgehaltene Klang das Charakteristikum eines emphatisch betonten Formwillens, ein offensives „Stop and go“, das seine Antwort in der absteigenden Basschromatik und dem parallelen Oberstimmengang der nächsten Zeile bekommt?

Hinzu kommt, dass man in der Orgel kein unbeholfenes Orchester sehen sollte, dem dennoch nachzueifern sei. „Organum Plenum“ ist ein gutes Ideal und spielt im Barock eine Rolle, die einer späten Klangfarben-Ästhetik unbehaglich sein mag.

Noch etwas fiel mir heute morgen auf, als ich den neuen Beitrag der Orgelserie zum Advent aus der Ohligser Kirche St. Joseph (Sebastian) abrief. In unserm Laptop ergab der zweite Satz der Orgelsonate in G-dur eine unsäglich dissonante Kontrapunktik, die mich vermuten ließ, dass man den wirklichen Bass gar nicht hört, obwohl man die Fußarbeit des Organisten visuell deutlich erkennen konnte. Das Phänomen veranlasste mich, eilends zum Computer in meinem Zimmer hinaufzulaufen, der mit einem besseren Lautsprecher-Ensemble ausgestattet ist. Und meine Ahnung bestätigte sich. Das Pedal war mit einem Aliquot-Register gekoppelt, was besagt, dass parallel zu der tiefen Bass-Stimme eine Verdopplung im Abstand Oktav+Quint mitläuft, reine Quint-Parallelen, die also im Obertonbereich der tiefen Basstöne angesiedelt sind und normalerweise schwach wahrgenommen werden, als seien sie deren reale Bestandteile. In Wirklichkeit sind sie durch echte Pfeifen extern „angekoppelt“. In diesem Fall (den ich nicht vorführen kann, zumal ich auch nicht den Organisten denunzieren will, der es garantiert richtig hört) muss man sagen: vom Hörer aus misslingt es, denn er hört die Obertonlinie viel zu stark, zudem („natürlich“) in der falschen Tonart (nämlich in h-moll statt in e-moll), so dass sie mit einigen Tönen der Melodiestimme regelrecht kollidiert. Der reale Bass aber (in der richtigen Tonart) erscheint nur als dumpfes Stör- oder Brumm-Element. Sobald nun die wirkliche 2. Stimme erscheint, ist das tonale Chaos perfekt. In den folgenden Notenzeilen sehen Sie diese parallel zum Bass verlaufende „falsche Stimme“ in roter Farbe notiert und zwar bis genau zum Einsatz der 2. Stimme:

Sonate G-Dur BWV 530 2. Satz

Dies hat nicht mit unserm Thema zu tun, zeigt allerdings die Tücken des Orgelklangs, der im Raum (draußen) leicht etwas andere Wirkungen zeitigt als am Spieltisch, wo die wirklich mit den Füßen gespielte Basslinie auch psychologisch eine so dominierende Rolle spielt, dass man ihr Aliquotregister vollkommen wegblendet.