Meine „fixe Idee“
Quelle: hier
Dies nur als Appetizer. Man könnte nachforschen, ob etwa zu Bachs Zeit schon Tiroler Musikgruppen in Sachsen unterwegs waren… aber man kann sich auch mit der Vorstellung zufriedengeben, dass Bach ein besonders heiteres Thema verwenden wollte, das nicht gerade nach der Fugenform schrie… da kam er auf den Sextsprung aufwärts.
Ein Charakteristikum sollte einem bei der Betrachtung des Thema bewusst werden: wo liegt eigentlich der natürliche Akzent? Der höchste Ton exponiert den schwächsten Punkt des Taktes, und der Rückfall auf den Ausgangston gis wirkt durch die Stellung am Taktanfang weder geadelt, noch durch Wiederkehr gewichtiger. Entscheidend ist, wie dieser Ton behandelt wird, wenn es mehrstimmig weitergeht: die andere Stimme bildet immer mit ihm eine Dissonanz, die weitertreibt. Man sehe den Anfang des Taktes 4 (eis zu dis) oder der Takte 6, 11 oder 15 – genau genommen immer, und doch ist man selbst als Spieler zuweilen überrascht, weil die Sekundreibung durch einen Sprung erreicht wird: eine kühne Kontrapunkt-Idee! Mein Gott, auf dieser Basis kann man nicht jodeln!
Wir dürfen gespannt sein. In Cis-dur, eine Tonart mit 7 Kreuzen, – absurd genug? Ich erinnere mich, dass ich mich mit dieser Tonart schon einmal auseinandergesetzt und befreundet habe: hier. Und nun dies: Erster Band, BWV 848. (Zum „Wohltemperierten Klavier“ überhaupt folgt ein Link weiter unten im heutigen Text).
Allerdings möchte ich bei analytischen Betrachtungen ungern Leser/inner, Hörer/innen ausschließen, die im Notenlesen nicht zuhause sind, aber denen doch jeder Jodelanklang ein wissendes Lächeln ins Gesicht zaubert. Also hören Sie doch den Fugenbeginn, bis Sie entsprechend heiter gestimmt sind, bereit, es in jedem Versteck aufzuspüren. (Das folgende Titelbild mit dem Crucifix führt in die Irre. Nebenbei: das Porträt auch.)
I ab 0:10 (Sopran) (Alt) (Bass) (überz.) II ab 0:49 (Bass) III ab 1:21 (Sopran) IV (Sopran) ab 2:16 ⇑ Oder lieber mitsamt Praeludium? 0:00 bis 1:32 dann Fuge bis 4:01 im folgenden Beispiel:⇓
Übrigens würde ich niemandem, der das „Wohltemperierte Klavier“ noch nicht gut kennt, raten, eine Gesamtaufnahme aufzulegen und sie von Anfang bis Ende durchzuhören. Man wird von der Fülle erschlagen und leicht sagen: „Auf die Dauer etwas eintönig“. Nichts falscher als das! Zur ersten Übersicht orientiere man sich hier.
Noch einmal von vorn:
Gekennzeichnet sind die Anfänge der einzelnen Teile („Durchführung“ genannt), hier erkennt man vielleicht (violett eingekreist) I, II und III, die weiteren regulären Themeneinsätze innerhalb dieser Teile an den runden Halbkreisen vor ihrem ersten Ton. Der unscheinbare Buchstabe ü heißt überzähliger Einsatz (dazu nichts weiter! wohlgemerkt: nicht „überflüssiger Einsatz“ ), Z bedeutet Zwischenspiel. Damit wären Sie analytisch vollständig ausgerüstet. – Auf der nächsten Notenseite (s.o.) gibt es nur noch die Durchführung IV, und die ist – o Wunder! man hört es nicht auf Anhieb! – praktisch fast identisch mit der Durchführung I.
Ein Blick in die Noten zeigt, dass man den Zwischenspielen eine wesentliche Rolle zubilligen muss, sie nehmen nicht nur viel Platz ein, sie bilden auch musikalisch einen wunderbaren Kontrast, indem sie Elemente des Haupthemas hin- und herwenden oder sequenzenartig aneinanderreihen.
Wer mit dem Notentext Lese-Probleme hat, halte sich an die genauen Zeitangaben für die Youtube-Klangbeispiele, – man kann alles, wovon ich rede, hören: es ist keine Papiermusik, so wenig wie der Jodler, von dem wir ausgingen.
Wesentlich für eine Bachsche Fuge ist, nicht nur die Themen-Wiederkehr wichtig zu nehmen (dies gilt übrigens auch für Interpreten), ihr Wiederauftauchen in den anderen Stimmen zu beobachten,
z.B. in Durchführung I in der Reihenfolge (Oberstimme), (Mittelstimme), (Unterstimme), (überz. in der Oberstimme), – überzählig? weil es in den 3 Stimmen dieser 3-stimmigen Fuge bereits „durch“ ist -,
sondern eben auch: die Zwischenspiele, die kurzen zwischen den einzelnen Einsätzen und die langen, die den einzelnen Durchführungen folgen oder vorangehen.
Nur eins erwartet man vergebens: Atempausen, die der Gliederung entsprechen – wie man sie aus der Klassik kennt, etwa bevor das 2. Thema einsetzt. Die Nahtstellen sind in die fließende Textur perfekt eingebettet.
Das alles klingt in Worten etwas verzwickt, in der Musik aber einfach und eher verspielt. Insbesondere, wenn Sie die Zwischenspiele nicht als nebensächlich, sondern als Witz der Fuge betrachten. Auch das Haupthema nicht als absoluten Herrscher hofieren, sondern seine starken „Gefährten“ erleben: z.B. gleich am Anfang, wenn das Thema allein (1-stimmig) in der Oberstimme zu hören war und in der Mittelstimme in etwa gleichlautend beantwortet wird, zugleich der hohen Stimme weiterhin lauschen, wie sie nun dazu die Gegenstimme, den Contrapunctus, etabliert. Und dann?
Es ist klar, dass man aufmerksam zuhört, aber mehr nicht, ein spezieller kontrapunktischer Scharfsinn ist nicht gefordert. Eher wird die helle Freude am kaleidoskopischen Austausch der Stimmen erwachen. Keine Prüfungsaufgabe – ich spreche von Freude, wünsche vor allem viel Vergnügen!
Ja, aber … wann habe ich denn nun diese Bach-Fuge wirklich verstanden?
Ach, wenn Sie noch mehr benennen wollen: Sie kennen ja nun die 4 Durchführungen, und das ist schon viel: zu wissen, dass die erste und vierte sich gleichen (jeweils drei Themenauftritte und ein „überzähliger“).
Die Durchführungen II und III haben aber auch etwas gemeinsam: jede hat nur zwei Themenauftritte, die II. in Unterstimme (Takt14f) und Mittelstimme (Takt 19f), die III. in Oberstimme (Takt 25 mit „Anlauf“) und Mittelstimme (Takt 27 mit Auftakt).
Dem nachfolgenden Zwischenspiel gilt dann unsere ganze Aufmerksamkeit: es vertieft sich a) in die verspielten Sequenzen aus den früheren Zwischenspielen, b) sie widmet sich dem Anfang des Haupthemas und lockert es durch die Kippfiguren der linken Hand, vertauscht dann die Rollen der beiden Hände (Takte 35-38 und Takte 39-42). Und schon sind wir unvermittelt (oder besser: mehrfach vermittelt) im Beginn der Durchführung IV (Takt 42).
Habe ich damit wenigstens den groben Formverlauf der Fuge verstanden? Allerdings ohne den Wechsel der Tonarten zu benennen. Ich vermute doch, den fühlen Sie schon von selbst ausreichend. Ansonsten genügt es, das kaleidoskopische Spiel der Themen und Zwischenspielmotive zu verfolgen: sie haben keine Bedeutung, die man verstehen muss. Vielleicht gehört noch die Wahrnehmung der Auflockerung und Verdichtung des Tonsatzes dazu, z.B. die ausgedehnte Zweistimmigkeit vor der Durchführung IV, die durchgehende Dreistimmigkeit dieser Durchführung und nach deren letztem („überzähligem“) Themenzitat in Takt 58 – in der kurzen Coda – das nahezu dramatische Zusammengehen der linken und der rechten Hand in 16teln (20 Noten!), bevor die bündige Schlusskadenz folgt.
Ich muss zugeben: Worte der Musikbeschreibung machen einen langweiligen Eindruck, so wie die Beschreibung einer Hügelkette nichts von der Schönheit der Landschaft verrät, an denen sich unsere Augen nicht sattsehen können. Wenn sie nicht vor uns liegt, kann ich nur versichern, dass die Wirkung sehr schön ist. Ja, beseligend. Und schweigen.
Ziehen Sie keine vorschnellen Folgerungen aus dem folgenden Titelbild, die Aufnahme ist einfach „bezaubernd“. Und danach fühlen Sie sich vielleicht ähnlich enthusiasmiert wie die Künstlerin.
I 0:00 – 0:29 II 0:30 – 0:53 III 0:54 – 1:33 IV 1:34 – 1:58 (+ Coda) 2:07.
Angela Hewitt ! Wir lächeln auch.