Archiv der Kategorie: Barock

2 DVDs, die mich begeistern

Lebendige Geschichte – Geschichten des Lebens – Heute

Der König tanzt (2000)

Die Eiche – Mein Zuhause (2023) jpc hier

Eichelbohrer – Was? Wie bitte? Was haben beide Themenblöcke miteinander zu tun? Nichts. Außer dass sie in meinem täglichen Leben und Denken eng miteinander kooperieren.

Über die Tatsache hinaus, dass die beiden Filme schön und unterhaltsam sind, – den ersten kenne ich seit 20 Jahren -, sind sie Paradigmen übergreifender Konstruktionen, die ich erst allmählich begreife und kurz andeuten möchte. Meine Stichworte wären „Historische Strukturen“ und „Biotope“ . Wobei sie leicht zu modifizieren wären: mir hat Carl Friedrich von Weizsäckers Buchtitel einst gut gefallen: „Der Garten des Menschlichen“ (1977), wo ich allerdings im letzten, theologischen Teil ausgestiegen bin; zugleich Julian Huxley mit „Die Entfaltung des Lebens“ (1954), wo ich im letzten, evolutionistischen Teil am liebsten jede Zeile unterstrichen hätte. „Geschichte im Überblick“ von Immanuel Geiss (1986) und Christopher Clark „Von Zeit und Macht“ (2018). Und nie aus den Augen verlieren: Johann Sebastian Bach mit seinen Weltverbindungen. „Französische Suiten“ und über das „Musikalische Opfer“ Friedrich II., nebst Sohn Carl Philipp Emanuel (bei Clark ab Seite 85 mit Blick auf die Rolle von Quantz). Bei Geiss die machtpolitische Einordnung des „Sonnenkönigs“: als er in Frankreich gewaltsam die ökonomische Grundlage für ein „Goldenes Zeitalter“ ausrichtete, Vorbild Europas.

In meinem Handy die Nachricht, dass es weitere Forschung über Bachs Witwe Anna Magdalena gibt, Auskunft über das Private in jener Zeit siehe Eberhard Spree. Beiträge in seinem Blog hier.

Zur Bedeutung der französischen Musik (Wikipedia):

[Bach in Lüneburg/Celle! 1700] Von 1665 bis 1705 erlebte Celle eine kulturelle Blüte als Residenz unter Herzog Georg Wilhelm mit einem Aus- und Umbau des noch mittelalterlich geprägten Schlosses zum vierflügeligen Barockschloss. Kulturell einflussreich war Georg Wilhelms französische Gattin, Eleonore d’Olbreuse, die hugenottische Glaubensgenossen und italienische Baumeister nach Celle holte.

[Bach in Köthen] Am 9. Oktober 1710 begann Leopold seine Kavalierstour. […] Seine Reise führte ihn im Winter 1710/11 nach Den Haag, wo er in nur vier Monaten insgesamt zwölf Mal die Oper besuchte und damit seine Vorliebe für die Musik offenbarte. Vor allem die Werke von Jean-Baptiste Lully beeindruckten ihn, und er erwarb eine „rare Opera des Herrn Lully die Musik gedruckt“. Leopold selbst spielte Cembalo und Violine.

 Am Köthener Hof wirkte seit 1717 Johann Sebastian Bach als Capellmeister, dessen Ehefrau im Juli 1720 verstorben war. Am 3. Dezember 1721 ging Anna Magdalena Wilcke mit ihm die Ehe ein.

Zeitschrift „das Orchester“, Dezemberheft, nachschauen Buffardin (Johann Jacob Bach!), Türkei, Vierteltöne …

Damit soll es beginnen, sobald ich mich über die Koordinierung der kulturellen Kräfte in Frankreich kundig gemacht habe.

das – aus dem Film – eindrucksvollste Stück stammt von – Purcell / siehe auch hier

(Fortsetzung folgt)

Beim Stöbern in meiner DVD-Sammlung habe ich auch die fast vergessene wiedergefunden, die meinen eingangs präsentierten Film in einen großen wissenschaftlichen Zusammenhang stellt:

Douglas-Film GmbH (2018). Nicht vergessen! Das Wissen erhält sich nur durch regelmäßig erneuerte Versorgung mit lebendigem „Stoff“, der auch den nächsten Gang in den botanischen Garten Solingen bereichert.

Die berühmte Toccata und der junge Bach

Neues aus der Alten Musik

Soeben auf den Tisch gekommen, – teilweise schwierig (für Fachmusiker gedacht), aber bei genauem Studium absolut faszinierend!

Inhaltsverzeichnis

Haben Sie sich gut orientiert? Auch ab Ziffer 3.? Ich erinnerte mich sofort an die entsprechenden Passagen in „Bachs Welt“, dem Buch von Volker Hagedorn, das mich vor einigen Jahre über Monate gefesselt hat. Die Stelle vom Aufbruch aus Ohrdruf stand mir sogleich wieder vor Augen. Die Musik, die ich damals im Internet recherchiert hatte. Unvergesslich die Atmospäre, die sich aus alldem zusammensetzte.

Quelle hier

Und hier müssen wir unbedingt zur Hochzeitskantate 1679 und zur Trauermusik um 1710 kommen. Ausklang: A propos „Wendel Bach“.

Recht uninformiert bleibt, wer da glaubt, die Musik sei erst mit Johann Sebastian Bach zum wahren Leben erwacht und mit ihm allein für uns „Moderne“ von Relevanz. Glücklich, wer weiß, dass Bach Vorfahren und Verwandte hatte, deren Gedächtnis er selbst glühend bewahrte. „Meine Freundin, du bist schön“ von  Johann Christoph Bach (1642-1703, Stammbaum Nr.13) oder gar „Meine Bande sind zurissen“ von Johann Ludwig Bach (1677-1731) – aus dem kleineren Nebenstamm der Bache, zurückgehend auf Hans B. in Wechmar, der vielleicht ein Bruder des Stammvaters Veit d. Ä.war.

Zurück zu dem oben abgebildeten Werk über den komponierenden Organisten: man sollte vielleicht erwähnen, dass es über 50 Seiten wirkt wie eine Harmonielehre für Anfänger: nur dass diesmal alles neu benannt ist, nach Maßgabe der alten Moduslehre: lauter einfache Kadenzen, mit oder ohne Vorhalt in einer Stimme, auf verschiedenen Stufen, mit Trugschluss oder ohne usw., – man kann die Geduld verlieren.

Aber man darf nicht aus den Augen lassen: es geht um BACH, – und dann noch etwas: es gibt eine Vorbedingung, ohne deren Erfüllung vieles von Bach uns heute verschlossen bleibt: man muss den protestantischen Choral kennen – auch wenn man Katholik oder Moslem oder Agnostiker ist -, von innen her kennen, mehr: man muss ihn lieben (es ist leicht!).

Ohne Liebe zum Choral bleiben uns die größten Kunstwerke des Abendlandes verschlossen, sagen wir: die Matthäuspassion. Und darum sind auch Bachs Choralvorspiele kein Nebenschauplatz . Das heißt auch: auf den folgenden Seiten des Buches bekommt die Begeisterung neue Nahrung, wenn das innere Ohr wach ist. Andernfalls – sei für klingende Musik gesorgt…

Quelle (s.o.): hier

Buch-Beispiel 84 Choral 2) (ist transponiert, steht an Ort und Stelle in F-dur) siehe und höre übernächstes Youtube-Beispiel Matthäuspassion „O Haupt voll Blut und Wunden“. Buch-Beispiel 84 Choral 1) im folgenden Video ab 16:02 (melodisch als Cantus firmus im Bass schon ab 0:15, also vom ersten Takt an!) – Es geht in den Buch-Beispielen nur um die Kadenz des Chorales, genauer: um die beiden Schlusstakte. Aber im Hintergrund steht – natürlich – die ganze Musik, die davor gewesen ist!!! Hören Sie doch einfach alles! (Information zu dieser Kantate BWV 135 in Wikipedia hier.)

zu Buch-Beispiel 84 1) u. 2)

Ich kann nicht verhehlen, dass dieses Buch für musikalische Normalverbraucher auch eine Zumutung ist. Zweifellos gehört zur Lektüre, dass man imstande ist, sich die Musikbeispiele selbst zu erschließen: am Klavier, an einem Tasteninstrument. sogar am Keyboard; dass man sie vielleicht in Bachs sämtlichen Orgelwerken nachschlagen kann, usw., dass man eine CD-Sammlung aktivieren kann, sich auf Youtube einiges zusammensucht… Das Papierwissen ist unersetzlich, bedeutet aber für die praktische Hörerfahrung nur eine erste Motivierung, sonst landet es im Vergessen. Deshalb kopiere ich auch noch zwei Seiten des Buches, die mir immer wieder Auftrieb gegeben haben: den jungen Bach hat es wirklich gegeben! Wir können ihn uns in Ohrdruf und in Lüneburg real vorstellen! Nur die detektivische Arbeit, die Andreas Weil zur Auflösung des Rätsels um die berühmte Toccata geleist hat, will ich hier nicht kurz zusammenfassen; das findet man an Ort und Stelle.

 

Und ich kopiere das passende Booklet, ich will ja wissen, was Kenner sagen. Immer wieder gilt es: lesen und HÖREN! Und zwar fokussiert. Zum Beispiel Harald Vogel

 

Dabringhaus und Grimm, Musikproduktion, Kataloge hier

Es hat aber keinen Zweck, die Musik von Tr.1  bis Tr. 24 zu hören und zu sagen: Ach, eine Kirche, der Klangraum, die Vielfalt und die Farben der Pfeifen, – eher das Gegenständliche: wie die tönenden  Gebilde sich aufbauen, angefangen mit dem Praeludium (stile fantastico), die Fuge mit dem Oktavsprungthema (hört man es immer?), später: höre ich den Choral? – auch in der „Partita diverse“ – wie verändert er sich?

Eine kleine Panik entsteht, wenn man die Orientierung verliert, – wie hier, mit dieser wunderschönen CD in der Hand. Der Booklettext folgt einer freier gewählten Reihenfolge des Vortragenden: wenn ich demnach seinen Worten als getreuer Schüler mit dem Blick auf die richtige Musik folgen wollte, müsste ich eine vertrackte Trackfolge wählen, nämlich:

1   2   3   4   6   10   5   7   8   9   11   21   24   26   27   25   22    23   28 –  die Choräle werden pauschal abgehandelt, auch wenn sie an verschiedenen Stellen auftauchen, außerdem sind da noch andere Lücken, wie zwischen 11 und 21, da gibt es noch die Untertracks zu Partita 2-10, all das ist tückisch. In einer ansonsten kostbaren Aufnahme.

Zum Schluss ein kurzer Rückblick in die Zeit, die für mein Bach-Erlebnis prägend war, das Jahr etwa vor meiner Konfirmation. Die Entdeckung des vielseitigen Geistes Albert Schweitzer.

Nicht einmal die rüde Behandlung der Katze hätte meine Zuneignung mindern können; ich wusste, was er mit Blick auf alle Tiere über den Begriff „Ehrfurcht vor dem Leben“ geschrieben hatte. Der Beruf „Urwaldarzt“ erschien mir eine Zeit lang verlockend, aber ich entlieh mir aus der Bielefelder Stadtbibliothek auch sein Bach-Buch und war von dieser ersten Begegnung mit rhetorischen Figuren fasziniert. Die französische Ausgabe allerdings von 1904, aus der ich zwei Seiten wiedergebe, stammt aus dem Nachlass von Prof. Dr. Michael Schneider, der Mitte der 50er Jahre ein ganz ähnlichers Konzert in Bielefeld zur Einweihung der neuen Orgel in der Pauluskirche gab. Wir wohnten gegenüber, ich war für einige Monate Orgelschüler von Kantor Eberhard Eßrich, und dieser kam ebenso wie Michael Schneider aus der Schule des berühmten Karl Straube , dessen Lebenslauf mich heute besonders betr. der Zeit nach 1933 interessiert.

Das Konzertprogramm, das ich in dem Buch fand, spiegelt etwa vom Geist dieser Jahre, zitiert auch Albert Schweitzer und weiß sogar von der Gläubigkeit des Interpreten: „Die Größe des Orgelspiels Prof. Schneiders liegt neben der selbstverständlichen Virtuosität in der beseelten, gläubigen Wiedergabe vor allem der Orgelwerke J. S. Bachs“.

Und das Konzert endete mit – welchem Werk????

    Ja, auch ich erlebte in jenem Jahr meiner Konfirmation eine Phase intensiver Frömmigkeit, die wohl mit Bach zu tun hatte, mit seinem Stellvertreter auf Erden, dem Kantor, und – dem Vorbild Albert Schweitzers. Auch mit der abenteuerlichen Tatsache, dass er nun in Afrika lebte…

Aber nicht mit meinen Eltern.

nach der Konfirmation Pauluskirche Bielefeld. Mein Vater war skeptisch, meine Mutter grübelte gern. Zu Albert Schweitzer sagt sie „Was für ein Kopf!“, wie später nur noch über Richard von Weizsäcker.

*   *   *

Ausblick

Das Buch von Andreas Weil enthält ein wichtiges Kapitel über den Stile fantastico, allerdings auf eine spätere Entwicklung bezogen, während Andrew Manze bei Athanasius Kircher im17. Jahrhundert ansetzt. Unglaublich schön. Hören Sie auf niemanden, der Ihnen erzählt, das sei eintönig und langweilig (natürlich immer knapp instrumentiert, damit die freie Tempoentfaltung des Einzelnen fantasievoll ausgekostet werden kann), und wer gleich zu Anfang mit Einwürfen wie „zu tief!“ oder „unsauber!“ kommt, sei zur Geduld vermahnt: in die Tiefe hören, vielleicht auch die scheinbar „falschen“ Töne als Reiz der alten Stimmung zu begreifen…

(Manze-Text inzwischen nachlesbar hier)

Andreas Weil zitiert aus einer Arbeit von Matthias Schneider, die Geschichte des Stylus phantasticus sei eine „Verwirrung mit Geschichte“. „Das liegt auch darin begründet, weil sich die den Stil kennzeichnenden Merkmale allmählich verändern. War zunächst die Verwendung von kontrapunktischen Techniken kennzeichnend für den Stylus phantasticus , so verkehrte er sich im Laufe des 17. Jahrhundert ins Gegenteil, indem kontrapunktische Abschitte unerwünscht waren. (S.84) Er setzt zwar auch bei Michael Praetorius und Athanasius Kircher an, kommt dann ab mit Johann Mattheson zum Wandel der Entwicklung, wobei die nordeutsche Toccata eine entscheidende Rolle spielt.

weiter in Andreas Weil a.a.O. Seite 86

Die Brandenburgischen

Wem gewidmet?

näher bitte! noch näher!!

Wer ist dieser Herr? Kein Mensch, der sich was sagen lässt. Wenn man Wikipedia vertraut, findet man ihn hier : Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt.

Wenn man allerdings wie ich in Bielefeld aufgewachsen ist, fragt man als erstes: Brandenburg??? Der große Kurfürst, – hat er mit dem zu tun, ist vielleicht sogar identisch…? Leider nein, dieser lebte viel früher (1620-1688), hieß Friedrich Wilhelm und ist berühmt aus anderen Gründen. Nicht etwa wegen irgendwelcher Musikstücke, einer Sammlung, über welche man heutzutage als Krönung des eigenen Musikerlebens ein kluges Buch schreiben kann. Und dort stoßen dann die wirklich neugierig Lesenden auf eine Art Stammbaum, auf dem links oben sich der große Kurfürst, rechts unten der Widmungsträger der Bachschen „Brandenburgischen Konzerte“ befindet. Und dann kann man versuchen einzuordnen, was einem wirklich am Herzen liegt, z.B. Johann Sebastian Bach (1685-1750). Welch eine Klarheit umgibt uns!

(Tafel nach Goebel)

Zugegeben: Stammbaum ist etwas zuviel gesagt. Die beiden Zweige besagen nichts anderes als: des Großen Kurfürsten erste Ehe samt 6 Kindern und des Großen Kurfürsten zweite Ehe samt 7 Kindern, von denen das letzte – in der Erbtitelfolge ganz unbedeutend – als Widmungsträger der Bachschen Concerti für die musikalische Welt eine zentrale Stellung eingenommen hat: Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt.

Der Vater erhielt sein Ehren-Epitheton „groß“, weil er im Jahre 1675 die Schweden in der Schlacht bei Fehrbellin besiegt hat. Ja, und der andere, der jüngste Sohn, was wurde über ihn aktenkundig? Immerhin gibt es einen Vermerk im Braunschweiger Botschafter am 13. Oktober 1731 (zitiert nach Goebel):

Der Markgraf Christian ist am vergangenen Montag von dem Lust-Schloße Malchau nach dem 6 Meilen von dannen gelegenen Jagdorte Liepe abgegangen, sich auch daselbst mit dem Jagen ein Plaisir zu machen.

Sicherlich kein herausragendes Ereignis in der Biographie des Markgrafen, sondern Normalität des höfischen Vergnügens hier und anderswo, so dass Bach, gerade als er noch in höfischen Diensten stand – also vor seiner Leipziger Zeit – mit dem diesbezüglichen musikalischen Bedarf von Grund auf vertraut war. Jagdsignale, Jagdinstrumente und die zugehörigen Musiker gehörten zu seiner verfügbaren Ausstattung, selbst wenn es um eine Kirchenkantate oder ein offizielles Geburtstagsständchen ging.

Aus der Wikipedia-Biographie:

Seinem [des Königs] Onkel Christian Ludwig, der ein großes Interesse an Musik und den Künsten hatte, gestattete der König jedoch die Beibehaltung einer eigenen Kapelle im Berliner Stadtschloss und übertrug ihm die Herrschaften Malchow und Heinersdorf – diese brachten Christian Ludwig, zusammen mit seinen Einkünften aus dem mütterlichen Erbe, seinem Offizierspatent als Generalmajor (seit 1695) und später Generalleutnant in Stettin und als Regimentschef des Regiments zu Fuß (1806: No. 7) sowie seinem Amt als Kommendator der Kommende Lagow und Administrator und evangelischer Dompropst von Halberstadt allein für das Jahr 1734 konkret 48.945 Taler ein.

Er war zudem der vierte Empfänger des Preußischen Ordens vom Schwarzen Adler. Im Winter 1718/19 besuchte Johann Sebastian Bach die Stadt Berlin und beeindruckte den musikbegeisterten Christian Ludwig mit seinem Können. Christian Ludwig bat Bach um einige seiner Kompositionen und erhielt im Frühling 1721 eine Partitur mit dem Titel Six Concerts avec plusieurs instruments, die heute unter dem Namen Brandenburgische Konzerte bekannt ist.

Vergeblich suche ich in Goebels stoffreichem Historienteil nach einer solchen – vielleicht nur phantasievollen – Ausschmückung der Brandenburgischen Begegnung und halte mich daher weiterhin an Christoph Wolffs knappe Darstellung, s.u.1). Bei Reinhard Goebel führt der Name Mietke zu einem Anhaltspunkt, aber es bleibt doch im Graubereich, ob Bach bei dieser Gelegenheit dem Widmungsträger persönlich begegnet ist, – was aber doch sehr wahrscheinlich ist. Was sonst könnte ihn denn zu einer solchen Riesenarbeit motiviert haben? s.u. 2).

1) 2)

Quelle 1) Christoph Wolff: Johann Sebastian BACH / S.Fischer Frankfurt a. M. 2000 (S.229) 2) Reinhard Goebel: Johann Sebastian Bachs „Brandenburgische Konzerte“ / Verlag Dohr Köln 2023 (S.13)

Fest steht, dass Bach selbst die persönliche Begegnung in seiner Widmung aktenkundig gemacht hat:

Damit verlasse ich die biographische Vorgeschichte und folge den Suggestionen, die Bach mit dem Werk selbst hat geben wollen. Wobei ich mich auf das erste Konzert beschränke und letzlich allen Anregungen folge, die ich Goebel verdanke und die ich anhand von klingender Musik nachzuvollziehen suche. Wenn sich hier und da ein kritischer Ansatz zeigt, mindert das nicht die Leistung seines Buches. Es animiert zu Widerspruch, weil es so prägnant die physischen und materialgebundenen Anteile der Werke in die Analyse einbezieht, während wir an ihnen vielleicht ein Ideal Bachscher Instrumentalmusik verinnerlicht haben.

Dass die Jagd an sich einen hohen Stellenwert hatte für die hohen Herren in jener Zeit, liegt auf der Hand, und es ist nicht meine Aufgabe, daran Kritik zu üben. Wenn Bach ein Werk schreibt, das dem begeisternden Tumult und vielstimmigen Treiben dieses Sports ein musikalisches Äquivalent an die Seite stellt, habe ich nur alle Komponenten wahrzunehmen, die er zu diesem Zweck hervorhebt. Ganz wichtig: wenn es einen Text gibt, der es erlaubt, sie bestimmten Bedeutungen zuzuordnen.

1713 / 1715 Jagdkantate Was mir behagt, das ist die munt’re Jagd BWV 208  Text hier und hier

Zitat aus Wikipedia hier:

1713 aus Anlass des 31. Geburtstags von Christian von Sachsen-Weißenfels als festliche Tafelmusik komponiert, die am Abend nach einer ausgedehnten Jagdveranstaltung des Fürsten von Schloss Neuenburg, im Jägerhof in Weißenfels erklang.

Hat diese große Tafelmusik wirklich mit einem so unscheinbaren Rezitativ begonnen?  Nein, erfährt man von Goebel, es gab „eine aus Allegro – Adagio – Menuet bestehende Komposition (…), die man heute allgemein als die Sinfonia zu der (…) Jagdkantate BWV 208 aus dem Jahr 1715 apostrophiert. Diese (…) überlieferte dreisätzige Werkgestalt ergänzte Bach für die brandenburgische Version bei der Niederschrift 1720/21 um einen zwischen Adagio und Menuet interpolierten Konzertsatz und einen kleinen, aber bedeutenden Zusatz im Menuet-Finale.“ (Goebel S.34) Aber das Textbuch von damals könnte doch bedeutende inhaltliche Hinweise auch zu der vorher gespielten Musik gegeben haben? Goebel hatte immerhin angekündigt: „Die emblematisch-allegorische Aussage dieses Eröffnungswerkes lässt sich umstandslos mit den Worten das Eingangsrezitativs zu Bachs für den Hof in Weißenfels bestimmten  Jagd-Kantate BWV 208 fassen: Was mir behagt, ist nur die munt’re Jagd.“ (Seite 33)

1721 Brandenburgisches Konzert No. 1 hier

1726 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten BWV 207 (1726), weltliche Kantate, siehe   hier (Wiki), Text hier, zu Ehren des Prof. Gottlieb Kortte: Glück, Dankbarkeit, Fleiß, Ehre / vorangestellt ein Chor, der den „lüster[n]en Hörer herbeilocken soll, um zu erfahren, was der Lohn der Tugend sei“. Der Chor beruht auf dem Material des 1. Satzes Brandenburgisches Konzert  Nr.1  / 1726 Chor = „Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten“ = Rückparodie einer verschollenen Sopranarie nach dem Muster des genannten Konzerts. Zitat Wikipedia:

Bach strukturierte die Kantate in zehn Sätzen, beginnend mit einem instrumentalen Marsch. Er schrieb sie für vier Solisten, die allegorischen Figuren repräsentieren: Glück (Sopran), Dankbarkeit (Alt), Fleiß (Tenor) und Ehre (Bass).

*     *     *

Und wissen Sie, was mir nun fehlt, – nach all den Hinweisen auf emblematisch-allegorische Aussagen (die sogar expressis verbis vorliegen)? Dass ein großer Name genannt wird, der all diese angedeuteten Freuden und Tugenden überragt, und sei es, dass er schließlich durch Abwesenheit geradezu intensiv glänzt und so nur noch den „lüsternen Hörer herbeilocken soll“: DIANA.

Was die maßgebliche Version des Konzertes angeht, fordert Goebel uns heraus: „Warum aber war Bach die Präsentation dieses Instruments [der Piccolo-Violine] so wichtig? Welchen Symbol-Charakter hatte in diesem Zusammenhang dieses Instrument, welchen allegorischen Mehrwert? Nescimus!“

Ja, ist es denn wohl zu verwegen herauszuplatzen und zu entgegnen: doch! wir wissen es, das  kann doch nur Diana selbst sein! Betrachten Sie es recht (mit dem Hirsch):

Diane chasseresse et ses nymphes, huile sur toile de Pierre Paul Rubens réalisée (1636-1639)

Der Ton trügt: so sicher bin ich meiner Sache nicht, schließlich komme ich nicht ganz allein auf solch eine Idee. Oder weil ich das Textbuch der Jagdkantate gelesen habe! Ich höre auch ganz unterschiedliche Aufnahmen und nicht alle mit gleicher Zustimmung, selbst im Falle einer Nachfolge von Nikolaus Harnoncourt…

Concentus Musicus Wien, Festspiele Styriarte 2019, Konzert 20.07.2019 in Schloss Eggenberg, s.a. hier, Einführungstext beginnt bei 1:05, Leitung, Cembalo und Moderation: Stefan Gottfried (Textverschriftlichung JR). Musik ab 5:30

Diese Götter der Antike stehen hier nicht für sich selbst, sondern für Eigenschaften, die man im Barock für Tugenden des Fürsten empfand, sie erzählen sozusagen vom idealen Fürsten. Dasselbe hatte vielleicht auch J S Bach im Sinn, als er seine 6 Brandenburgischen Konzerte komponierte. Sie heißen deswegen Brandenburgische Konzerte, weil er sie 1721 dem Markgraf von Brandenburg widmete und ihm ins Berliner Schloss schickte. Dort residierte der Markgraf in Räumen wie diesem: über und über bedeckt mit Göttern der Antike. Bach selbst hat seine Brandenburgischen Konzerte im Köthener Schloss aufgeführt, dort diente die Gemäldegalerie als Konzertsaal, ebenfalls ein Raum wie dieser, voll von antiken Gottheiten. Hat sich Bach von diesen Bildern inspirieren lassen, als er die Konzerte komponierte, – wir glauben ja, und das hat natürlich etwas mit dem Styriarte-Thema des heurigen Jahres zutun, mit den Metamorphosen des Ovid. Im ersten Brandenburgischen Konzert geht es um die Jagd und die Jagdgöttin Diana. Bach hat diese Musik ursprünglich als Vorspiel zu seiner Jagdkantate komponiert: Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd. So singt Diana am Anfang der Kantate, und unter dieses Motto hat Bach auch sein Konzert gestellt. Zu munterem Treiben des Orchesters (SPIELT) gesellen sich zwei Jäger mit ihren Hörnern und schmettern ihre Signale, die zur Jagd aufrufen. (SPIELT) Zwei Gruppen nehmen Aufstellung, hier die lieblichen Nymphen der Diana, im Orchester durch die Streichinstrumente verkörpert, dort die wackren Schäfer, die auf ihren Instrumenten, Oboe und Fagott, spielen. Und über allem thront ein Violino piccolo, eine kleine Geige, die eine Terz höher gestimmt ist als normal: die Jagdgöttin selbst. Der erste Satz beschwört prachtvoll das Jagdrevier der Diana. Man kann sehr schön hören, wie die drei Gruppen, die Nymphen, die Schäfer, die hornspielenden Jäger sich ständig einander die Motive zuspielen. Im Mittelsatz wird die Musik langsam, leise, träumerisch, die Geige spielt eine ausdrucksvolle Melodie in Moll, die von der Oboe aufgegriffen wird, während sich die anderen Instrumente schlafen legen. Wenn die Geige Diana verkörpert, dann muss die Oboe ihr Geliebter sein, der Schäfer Endymion. Ihr Schäferstündchen spielt sich in der Nacht ab. Denn Diana ist ja auch die Mondgöttin, man hört es am silbrigen Glanz dieses Satzes. Am nächsten Morgen blasen die Hörner dann endlich zur Jagd. Das merkt man am galoppierenden Rhythmus des Themas und an den schmetternden Signalen der Hörner, allen voran die virtuose Piccologeige der Diana. Zur Feier der gelungenen Jagd findet dann noch ein Ball statt, viermal spielen alle ein festliches Menuett, dazwischen hat jede der drei Jagdgruppen ihren Auftritt. Die Schäfer mit ihren Oboen tanzen ein Menuett, die Nymphen wagen sich mit ihren Streichinstrumenten an eine kesse Polonaise, und die Jäger schmettern zur Begleitung der Oboen einen Marsch. (MUSIK ganz)

Nun? Was soll man weiter sagen? Scheint doch absolut o.k., abgesehen von einer Kleinigkeit – denn eins ist wohl ebenso klar: Protest ab „Endymion“!!! Von einem Schäferstündchen kann wohl keine Rede sein, einfach absurd! Hören Sie nur einmal das Adagio! Die Oboe, offenbar piano wie alle anderen. Und dann die Piccolovioline im Takt 5 forte (!), ich denke: durchdringend, scharf… Was sind das für ungeheure Affekte, ich sehe da nichts, nein, nichts vom silbrigen Glanz einer stillen mondhellen Nacht. Wohl höre ich etwas vom schweren Tod eines menschenähnlichen, fühlenden Wesens, und sei es in Gestalt eines Hirsches! Schauen Sie noch einmal genau auf das Rubensbild der Diana und auf die Tiere vor ihr.

Ja, eine andere Möglichkeit gäbe es tatsächlich: hier – und damit die andere Form des Diana-Mythos. Ist es deutlich, wie die Melodien – piano in Oboe, forte in Violino piccolo (Diana) – aufeinander verweisen, wie sie sich „spiegeln“, wie sie einander ins Auge fassen? Was für eine Schönheit, was für eine abgrundtiefe Trauer! Und im Takt 35 – ein dumpfer Schlag – ist alles vorbei, die V.piccolo hat sich schon seit Takt 30 unter die Tutti-Violinen gemischt, sie holt Atem, der Hirsch ist tot.

Natürlich kennt auch Lateinlehrer Bach seinen Ovid, sieht auch die entsprechenden Bilder an den Wänden der Jagdschlösser, ist in der Lage, völlig verschiedene (oder auch in der Struktur ähnliche!) Musiken dazu zu schreiben… Nicht Endymion schläft, Actaeon – als Hirsch – stirbt, und – allegro – WEITER GEHT DIE JAGD, Diana allen voran. Ausgesungen hat es sich, auf der Violino piccolo gebrochen Akkorde reden ein ruppige Sprache!

*    *    *

Man höre – „unbefangen“ – die Anfänge der folgenden Aufnahmen (es geht um die Musik, nicht um die Beurteilung der Interpretation, auch sehr kurze Ausschnitte, z.B. die ersten30 Sekunden):

Und was soll diese letzte Musik? Nein, es ist nicht dasselbe Thema … aber man könnte es verbessert haben, wenn man es zufällig nach 1717 aus Dresden vernommen hätte, wo Heinichen sein Hofamt angetreten hatte. …man? nur einer hätte es so tun können, wie wir es nun kennen.

Ja, wenn das stimmt, was ich oben von Goebel abgeschrieben: „Diese (…) überlieferte dreisätzige Werkgestalt ergänzte Bach für die brandenburgische Version bei der Niederschrift 1720/21 um einen zwischen Adagio und Menuet interpolierten Konzertsatz und…“), dann wäre es genau der dritte Bachsche Satz, der bisher fehlte, und er ist soviel besser als der Kopfsatz von Heinichen, schon in der Weiterkonstruktion des Themas, dass man nicht mehr von Imitat sprechen könnte, eher von einer dezenten Dresden-Kritik aus der Leipziger Werkstatt, nebst Verbeugung in Richtung Brandenburg…

Das Thema Dresden beschäftigt Goebel auf einigen Seiten seines Buches, zumal die Hochzeit König August des Starken im September 1719, die „sich als eines der großen Hoffeste des frühen 18. Jahrhunderts lange im kollektiven Bewusstsein als schlicht ‚unnachahmlich‘ hielt.“ Und man wisse, „dass vor allem die kurz gehaltenen Berliner Königskinder neidisch auf Dresden und seine joviale Festkultur waren“ (Goebel a.a.O.Seite 39). Warum – das ist dabei eine schwer zu lösende Frage – warum fügt Bach in seine abschließende Tanzfolge für den Brandenburger eine „Poloineße“ ein, seit Polens Eingemeindung das Markenzeichen der Dresdner Musikszene, – ist das nun ein Scherz, dieser etwas duckmäuserischer Satz mit einem plötzlich dreinfahrenden forte-Aufbegehren, wohlgemerkt ein Satz, zu dem die Violino piccolo (stellvertretend für des Fürsten Diana-Nähe) ausdrücklich zum Schweigen aufgefordert wird. Scherzhaft gemeint ist ganz sicher im höfischen Menuet das Jagdsignal der Hörner, das von Anfang bis Ende etwas ungebührlich präsent ist und sicherlich auch mal dynamisch witzig auftrumpfen darf. Das Trio II für die 2 Hörner und mit allen Oboen unisono ist von so hinreißender Wirkung, dass ich die Gruppe nicht selten erlebt habe, wie sie in der Körpergestik trabende Pferde suggerierten. Goebel verweist mit Recht darauf, dass das Menuet in seiner frühen Phase recht schnell genommen wurde, – die Tanzfolge bot hier gewiss keinen besinnlichen Ausklang, sondern auch allerhand Gelegenheit zu fürstlichem Entertainment, wenn nicht sogar vom Hörnerklang gestützte Späße.

Selbst wenn die großartigen Heinichen-Concerti heute hinter Bachs Brandenburgischen vollständig verblassen, lohnt es sich, sie gerade im Blick auf diese neu zu hören und mit Hilfe von Goebels Booklet zu erschließen, auch hinsichtlich der Atmosphäre der Zeit und – wie gehabt – der Festkultur, ob Jagd, Hochzeit, Universitätsfeier, prominenter Geburtstag. Wenn es um Bachs Musik geht, können wir nicht sagen: Ach, das Lob der Tugenden eines Professors namens Gottlieb Kortte ist mir gar zu bieder, hatte Bach denn kein größeres Thema?

Nein, er hatte auch nicht die Wahl in einer anderen Zeit zu leben, und wenn er einen Anlass sah, einen Chor umzubauen oder neu zu erfinden wie „Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten“, eine geniale Jagdmusik in einem neuen Zusammenhang wiederzuerwecken, dann dürfen wir ihm ewig dankbar sei, ihm und den Zeitumständen! Zurück zu Heinichen:

… die Concerti »per l’orchestra di Dresda« – man kann sie augenblicklich nur so bezeichnen, da jeder herkömmliche Gattungsbegriff unzutreffend ist -, die hier erstmals komplett vorgelegt werden.

Ein Großteil dieser Konzerte erklang hinter streng verschlossenen Türen (das unverkennbare Jagdkolorit deutet auf das bei Dresden gelegene Wasserschloß Moritzburg*) und verschwand nach Heinichens Tod hinter ebensolchen: Schon der äußerst mitteilsame Heinichen-Artikel in E. L. Gerbers »historisch-biographischem Lexikon« von 1790 erwähnt die Concerti mit keinem Wort.

Wie wir aus späterer Korrespondenz zwischen Telemann und Pisendel erahnen können,  betrachteten höfische Auftraggeber, besonders aber die sächsischen Kurfürsten, die kompositorischen Leistungen ihrer Dichter als Privatbesitz; das kompositorsche Vermächtnis eines Zelenka jedenfalls wurde wie ein Augapfel  und auch mit Argusaugen gehütet. Wurden solche »geschützten« Kompositionen unter der Hand zwischen Interessenten weitergereicht und verbreitet, so bemühte man sich zumindest, die Provenienz zu verschleiern: Entweder veränderte man den Satzbestand oder man fügte sogar gravierende, sinnentstellende Fehler ein, mit denen wir heute bisweilen unsere liebe Last haben.

Quelle ©Reinhard Goebel: Johann David Heinichen: Zwölf Concerti Grossi / Booklet Archiv Produktion

* Moritzburg: Es lohnt sich, diesen Wiki-Artikel zu studieren, z.b. betreffend der Sammlung Rothirschgeweihe im Speisesaal – oder anderswo:

Im Monströsensaal befinden sich 39 krankhaft veränderte Geweihe, darunter auch der berühmte 66-Ender, der 1696 von Friedrich III. Markgraf von Brandenburg erlegt worden war. Während die auf holzgeschnitzten Tierköpfen montierten Trophäen im Speise- und Steinsaal im Vordergrund stehen, ergänzen sie im Monströsensaal die hier vorherrschenden Ledertapeten mit deren Darstellungen aus der antiken Mythologie.

Vielleicht gehen Sie auch dem hier gegebenen Link nach und positionieren den Markgrafen auf unserem oben wiedergegebenen Stammbaum zwischen Großem Kurfürst und kleinstem Halbbruder. Ja, man kannte sich.

Jetzt fehlt mir noch, was Goebel Schönes über das „unnachahmliche“ Hochzeitsfest in Dresden im September 1719 in seinem Buch über  Bachs Brandenburgische Konzerte referiert:

Die musikalischen Beiträge zu diesem vierwöchigen Fest stammen aus der Feder von Johann David Heinichen, Johann Christoph Schmidt und Antonio Lotti und waren derart vielversprechend und spektakulär modern, dass Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann sich als lauschende Zaungäste bei den „Dresdner Herzensfreunden“ [so Telemann & Pisendel] einfanden, ja, vielleicht auch hier und dan selbst musizierend Hand anlegten [wichtige Anmerkung hierzu S.39].

So lange wie das ungefähre Dutzend der Concerti grossi „per l’orchestra di Dresda“ von Johann David Heinichen oder auch eine so meisterhafte Kreation wie Telemanns Suiten-Konzert F-Dur TWV 51: F 4 unbekannt und ungehört waren, so lange löste auch das dem ersten der Bach’schen Six Concerts angehängte Menuet-Rondo Befremdem, Ratlosigkeit und Erklärungs-Notstand aus.

Das typisch Dresdnerische mancher Concerti Heinichens ist – neben prominenter Verwendung der Zeichen setzenden Hörner und von Satz zu Satz wechselnden Solisten – ein nahtloses auslaufen des Concerto über angehängte Suiten – auch wieder mit buntester Kombination der vorhandenen Orchester-Instrumente –  in das höfische Fest.

Quelle Reinhard Goebel: Johann Sebastian Bachs „Brandenburgische Konzerte“ / Verlag Dohr Köln 2023 (Seite 39)

Musica Antiqua Köln unter der Leitung von Reinhard Goebel bei einer Aufnahme in Hamburg (etwa 1985). Produkt: J.S.Bach (Ouverture) Suite Nr. 4 D-Dur BWV 1069 [Goebel wendet sich gerade zurück, spricht mit dem Geiger schräg hinter ihm, und der bin ich.)

*     *     *

Zitat (zum Brandenburg I, bzw. „Vereinigte Zwietracht“:

Gewisse Redundanzen dieses Satzes lassen sich nur aus der Form der Devisen-Arie erklären: Im einer solchen wird die musikalische Motivik eines Arien-Textes im Ritornell emblematisch präfiguriert, beim Entritt der Stimme rückwirkend durch den Text erklärt, im Orchester dann (wortfrei – nun aber mit Kenntnis des Textes) erneut aufgegriffen und danach erst mit der Vertonung neuer Textteile weitergeführt. Die Devise ist in diesem Satz aber bereits drei Mal (bei einer reinen Instrumentalmusik damit das entscheidende Mal zu viel und überflüssig!) erklungen, bevor in Takt 24 endlich Bewegung in den Satz kommt.

Quelle Goebel a.a.O. Seite 37f

Aha, … „endlich Bewegung in den Satz kommt“, ich war eigentlich schon ganz zufrieden…

Eins fehlt also noch: ich möchte mir probeweise Goebels Hörweise aneignen, da wo sie in seinen Bemerkungen durchschimmert. Er hört im Brandenburgischen Concerto innerlich den Chor (oder das Sopran-Solo) mit, aus dem es rückübertragen worden ist. Er hört im Violino-Piccolo-Part also den verborgenen Text – und spürt so Unregelmäßigkeiten auf, die uns vielleicht entgehen, falls wir nicht kleinkrämerisch Takte nachzählen und vergleichen. Aber ein bisschen würde es schon stören, wenn man genauer hinhörte, statt sich davontragen zu lassen. Man muss also zumindest wissen, wo welche Textzeilen behandelt waren und wie oft sie wiederholt werden, bevor es weitergeht. Beginn in den Brandenburg-Noten Takt 17:

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten,
Der rollenden Pauken durchdringender Knall!
Locket den lüsteren Hörer herbei,
Saget mit euren frohlockenden Tönen
Und doppelt vermehretem Schall
Denen mir emsig ergebenen Söhnen,
Was hier der Lohn der Tugend sei.

Aber kann es wirklich etwas bedeuten, ob eine Wiederholung mehr oder nicht durch den Text motiviert ist oder nicht?  welcher in jedem Fall unzählige Male dasselbe sagt? Ein mir noch ungelöstes Rätsel.

Und seither grübele ich (unten), was Goebel (s.o.) gemeint hat (Stichwort Devisen-Arie). Für mich geschieht im Brandenburg I Satz 3 am Anfang folgendes:

Takt 1-4 Aufsteigendes Thema in öffnende Geste hineinlaufend 0:07

Takt 5-7 Absteigende Antwort / Takt 8-11 Abwartende Haltung 0:20

Takt 12-16+ Zusammenfassende und abschließende Geste 0:29

Takt 16-20 Solo V. Piccolo Schein-Wiederholung mit anders öffnender Geste 0:36

Takt 21-24 Tutti wie zu Anfang (auch öffnende Geste), aber pianissimo! 0:43

Takt 25-30 Absteig. Antwort mit massiver V.P., modulierender Halbschluss 0:54

Takt 31-34 V.P. weiter aufsteigend, die Modulation festigend 1:02

Takt 35-38 Tutti Thema C-dur mit Halbschluss 1:09

TAKT 38-40 V.P. Soloabschluss C-dur (im Chor der Kantate steht hier der letzte „durchdringend[e] Knall“. )* 1:13

Wenn Sie diesen Abschnitt hören wollen (orchestral), dann bewusst oben ab Anfang bis genau 1:13, nur bis da, – obwohl es ja unmittelbar weitergeht; in der Chorkantate folgt nach diesem angehängten Zwischenspiel die Strophe „Locket den lüsteren Hörer“.

Aber da ist nichts, was musikalisch zuviel ist und nach einer Erklärung durch die Devisen-Arie ruft, – tut mir leid.

*diese beiden Takte der Solo-V.P. (bzw. des Chores) sind Zusatz, denn „eigentlich“ würde auf Takt 38 direkt Takt 41ff folgen: analog „Takt 5-7 Absteigende Antwort / Takt 8-11 Abwartende Haltung“ sowie „Takt 12-16+ Zusammenfassende und abschließende Geste“ / so dass wir erst Ende Takt 52 ans überzeugende Ende des ersten Hauptteils gelangt sind. [Zeitpunkt:1:35] Etwas ganz Neues beginnt… das sonderbare Kurzgespräch des Violino Piccolo mit der Oboe (im Chor: „Locket den lüsteren Hörer herbei“), Zwischenkadenz A-moll Takt 63. [1:55]

Und der Zusatz: nach dem Muster „Takt 8-11 Abwartende Haltung“ sowie „Takt 12-16+ Zusammenfassende und abschließende Geste“, denn es soll wieder – etwas ganz Neues beginnen… [2:07] nämlich ab Takt 70 das nächste sonderbare Kurzgespräch des Violino Piccolo mit den Gefährten der 1. Geige und: die Große Adagio-Kadenz! Beruhigung. Da-capo ist willkommen. [2:41]

Ich würde sagen: dieses zweimal erwähnte ganz Neue bezeichnet man in der Rhetorik als „Perturbatio“ (s.a. hier)

*     *     *

Erster Versuch zur Textverteilung des Satzes in „Vergnügte Zwietracht“

RITORNELL

T.17 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

T.21 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Der rollenden Pauken durchdringender Knall! / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

T.41 RITORNELL

T.53 Locket den lüsteren Hörer herbei, / Saget mit euren frohlockenden Tönen /

Und doppelt vermehretem Schall / Denen mir emsig ergebenen Söhnen /

Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei. T.66

T.67 RITORNELL

T.73 Locket den lüsteren Hörer herbei, / Locket den lüsteren Hörer herbei, /

Saget mit euren frohlockenden Tönen / Und doppelt vermehretem Schall / Denen mir emsig ergebenen Söhnen / Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei.  / T. 88-89 ADAGIO (→folgt DACAPO)

T.90 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

T.115 RITORNELL

hier Noten dazu (Petrucci)

Neuer Versuch, die beiden Sätze nebeneinander zu sehen (Synopse): beide in externen Fenstern zum Abhören bereitstellen

n : Neues Material

HIER 1 Brandenburgisches I, 3

(0:00) bis 0:29/1:13 — 1:35 n1:48/1:55 n2:07/2:29 -Adagio- 2:41 (Dacapo) — 4:00 Ende

HIER 2 Vereinigte Zwietracht

(3:07) bis 3:22 — 4:01/4:21 n4:44/4:55 n5:16/5:21 -Adagio- 5:35 (Dacapo) — 6:45 Ende

Damit sind die erwähnten unterschiedlichen (Takt-)Längen noch nicht geklärt. Es muss also an dieser Stelle etwas präzisiert werden.

Ich betrachte jedoch im Prinzip die analytische Arbeit, die ich mir vorgenommen hatte, als erledigt. Jede/r andere hätte mit einer gewissen Hartnäckigkeit, die zum Frühling gehört, darauf kommen können. Dank an Reinhard Goebel, der mich mit seinem Buch auf gewisse Formprobleme aufmerksam gemacht hat! Der Tag passt auch: Ostermontag, 10. April 2023 / 21.30 Uhr / Bad Lippspringe / Cecilien-Klinik / JR

 

 

Musikalische Handwerkskunst

Peter Lamprecht ist ein Phänomen

Diese CD-Box mit allen Bach-Suiten

Man muss es genau lesen und verstehen: Nicht nur die Bach-Suiten, dieses zentrale Werk aller Cellisten in der Welt, wurden hier solistisch (Bass-Instrument ohne Begleitung) und in eigener Regie eingespielt, was ja bei Künstlern durchaus erwartet wird, aber auch die Instrumente wurden vom Interpreten selbst geschaffen, eine handwerkliche Meisterleistung: das Cello und die Viola da Gamba ganz und gar, das historische fünfsaitige Cello aus Ungarn (Suite VI) perfekt restauriert. Nicht genug: Die Tonaufnahmen wurden mit eigener Technik erstellt, realisiert und geschnitten, eine unglaubliche Arbeit (Toningenieur und Tonmeister in einer Person!), und schließlich auch noch Booklet und Box (letztere – zugegeben – als Fertigteil), die drei CDs umfasst.

Es ist kaum zu begreifen, wieviele verschiedene Begabungen hier ineinandergreifen und funktionieren müssen. Und am Ende ist es Musik, ein Dokument ganz großer Musik – von Johann Sebastian Bach.

Viele Jahre lang, als Peter Lamprecht noch Solocellist der Bergischen Symphoniker in Solingen war, sind wir hier mit barocken Programmen gemeinsam aufgetreten, ehe wir feststellten, dass wir praktisch am selben Tage des Jahres 1967 in der Kölner Musikhochschule Reifeprüfung gemacht haben. Während des Studiums sind wir uns – obwohl gleichaltrig – seltsamerweise nicht begegnet. Unter seinen Begabungen, die in den Jahren der Solinger Praxis hervortraten, ist eine noch nicht genannt: die pädagogische. Sein Sohn Christoph ist dank solider Ausbildung (zuhaus) ebenfalls ein renommierter Cellist und Kammermusiker geworden (hier).

Besonderen Dank schulde ich Peter Lamprecht, weil er meine kostbare afghanische Laute RUBAB, die vor ein paar Jahren durch einen Sturz vom Wohnzimmerschrank lädiert war, mit größter Sorgfalt restauriert hat: nun ruht sie dort auf dem schwarzen Eichenbrett, und kein Tag vergeht, an dem ich dort vorbeigehe, ohne dass ich an den Spieler des Instrumentes 1974 in Kabul  zurückdenke, Ustad Mohammad Omar, und zugleich an den liebevollen Rubab-Restaurator in Solingen, Peter Lamprecht.

Mohammad Omar 1974 (Foto JR)

Und da die heutige Präsenz des Internets es erlaubt, in jene Zeit zurückzukehren und dies gar im Zeichen des alten afghanischen Instrumentes, das nun wiederum mich und den außergewöhnlich vielseitigen Solinger Künstler auf besondere Weise verbindet, uns beide aber, ob wir es wissen oder nicht, auch mit jenem bedeutenden Musiker, den ich damals im fernen Kabul kennenlernen, hören und aufnehmen durfte: nicht ahnend, dass eine solche Zeit der freien Musik dort nie mehr wiederkehren würde… darum steht jener am Ende dieses Artikels – zu Ehren eines Solinger Interpreten.

Matthäuspassion in der Kritik

Das Musterbeispiel

… einer schlechten Rezension. Unbegreiflich eigentlich, dass dergleichen in einer großen Tageszeitung durchgeht. Da wird der Eindruck erweckt, es gehe um eine Neuaufnahme, nämlich die im Mittelpunkt abgebildete, in Wirklichkeit gilt ihr nur ein Bruchteil des Textes. Am meisten ist von Gillesberger die Rede, der nun wirklich einem glücklich überwundenen Zeitalter der Bach-Interpretation angehört.

Was hat die Zeit der frühen Wiederentdeckung Bachs, die ganze historische Ahnungslosigkeit jener Wendezeit (Respekt für Zelter, Goethe und andere große Geister!) mit der heutigen Zeit der Gesamtfassungen zu tun? Steht etwa Hans Gillesberger für die alte unbefangene Zeit der großen Gefühle und der kurzen Geduld? Und gibt es tatsächlich kein anderes diskutables Aufführungsereignis der vergangenen 60 Jahre als John Neumeyers Ballettfassung? Nichts von Ton Koopmann, J.E.Gardiner, René Jacobs, Peter Dijkstra? Und wenn man neue Interpretationen prinzipiell pars pro toto behandeln will, – warum diese dumme Rede von der angeblich „schwarzen Pädagogik“ des Bass-Rezitativs, das sich auf Bibelworte bezieht? Samt der anschließenden Gamben- Arie, wobei suggeriert wird, dass diese irgendwo auch mal von einem Knaben oder Kind gesungen worden sein könnte. Da wird in kryptischen Anspielungen eine nicht vorhandene Kennerschaft vorgespiegelt. Es ist ein Bass, und muss so sein.

Die beiden zitierten Texte haben offensichtlich mit den Stichworten des Evangelisten zu tun, wo vom „Kreuzigen“ die Rede ist und davon, dass die Leute einen Mann namens Simon ZWANGEN, das Kreuz zu tragen, was dann – im Kommentar – auf jedermann, jede/n von uns projiziert wird: „Ja! freilich, will in uns das Fleisch und Blut gezwungen sein, je mehr es unsrer Seele gut, je herber geht es ein“. Und das soll nur ein gestandener Bass singen dürfen und kein Kind, weil sich sonst die Gemeinde nicht identifizieren kann? Die Begründung ist absurd. Was für ein kindliches Denken! Tatsächlich ist es ja eine Bass-Partie, und der Rhythmus der Solo-Gambe in der nachfolgenden Arie spricht von Schlägen des Rohrs, von der Geißelung, die Jesus erlitten hat (s. vorvoriges Rezitativ). Ein Kind steht gar nicht zur Debatte, obwohl allen bekannt ist, dass wir sämtlich Kinder Gottes sind, erst recht Jesus selbst. Der übrigens auch kein „gestandener Bass“ gewesen sein müsste, obwohl seine Christus-Worte grundsätzlich dem Bass zugeteilt sind. – Wenn es heißt, dass von den „zween falschen Zeugen“ einer Falsettist singt (was erstens Bach nicht vorschreibt und zweitens schlechtes Deutsch ist), dann soll das gewiss nicht signalisieren, dass er „ein falscher Sopran“ ist, wie der Rezensent meint. Er oder sie ist Alto, wie es wohl in der Partitur steht.

Und noch ein anderes Detail, das hier zur Schlüsselszene erklärt wird (wobei zu bedenken ist, dass die Passionsgeschicht vor allem aus Schlüsselszenen besteht):

„Herr, bin ich’s?“ Das sind 5 schnelle Frage-Takte, die von der darauf folgenden Antwort des Chorals leben: „Ich bin’s, ich sollte büßen“. Soll man glauben, dass irgendein Chor der Welt oder einzelne Chorsolisten diese Frage jemals „herausbrüllen“ durften? Und dass nur in einer ängstlich verschüchterten Interpretation „der Schrecken seine tiefe Wirkung“ entfalten kann, eine Wirkung, die für jedes empathisch mitfühlende, mitbüßende Herz gewiss erst im Choral zutagetritt.

Da ist einerseits die vorgespiegelte Sensibilität der Detailkenntnis, andererseit ein unglaublich pauschales Denken: wer vergleicht denn schon Bach mit Schütz, wenn es um eine Matthäus-Passion geht!? Was für eine Taktlosigkeit! Was für ein Sprachverständnis, was für eine Spiegelfechterei, hier zwischen dem gesprochenen und dem vertonten Wortklang zu unterscheiden. Nichtmuttersprachler! Was für ein Dilettantismus, was für ein jämmerlicher Versuch, den Dilettanten zu imponieren! Und solch ein Schreiberling spricht von Einspielungen vergangener Jahrzehnte als einem Wettbewerb um „den originalsten Instrumentalklang oder die plakativste Dramatik, bis hin zum musikalischen Schmierentheater“.  Das Wort „Gehirnwäsche“ scheint ernst gemeint. Und da soll eine neue Unaufgeregtheit als Tugend ausgerufen werden??? Sind denn Blitz und Donner jetzt endgültig in Wolken verschwunden? Ich hoffe nicht. Und werde mir heute Nacht die „Pygmalion“-Aufnahme anhören. Hoffentlich nicht ohne die zugehörige Erschütterung, die mir durchaus ein bisschen wie Aufgeregtheit vorkommen darf. Es wäre nur angemessen.

Mit einer verkappten Unverschämtheit geht die Rezension zuende:

Und doch dienen alle kunstvollen Mittel hier nur einem Zweck: der Erhebung des Menschen, wie man das damals pathetisch sagte, durch die Kunst.

… Erhebung des Menschen??? Hybris statt Demut? Bach jedenfalls hat „als Finis und Endursache“ aller Musik immer „Gottes Ehre“ hervorgehoben und dann erst „die Recreation des Gemüts“. Sonst sei es ein „teuflisches Geplärr und Geleyer“. Aber vermutlich will der Rezensent nur eine zeitgemäße Anspielung unterbringen, – und will gleichzeitig nichts gesagt haben:

In Zeiten, in denen gute Kunst allerdings nur von guten Menschen hervorgebracht werden kann, wird das schwieriger. Gut, dass wir von Bachs Privatleben so gut wie nichts wissen.

*     *     *

A propos Gillesberger: Harnoncourt soll sich angeblich an dessen Stelle aufs Cover der CD-Fassung katapultiert haben? Rufmord. Mir schien, jener hat die Chorpartien einstudiert, dieser den Concentus Musicus geleitet. Wer hat vorn gestanden? Nun stehen sie wohl beide auf dem Cover, und es ist klar, welcher Name nach so vielen Jahren aus Sicht der Firma attraktiver war. Die optische Aufteilung entspricht halt der gefühlten Realität. Und da sollte man einfach nochmal gründlich recherchieren, wer von beiden die respektablere Lebensleistung präsentieren kann. Gerade im Blick auf Bach. Wie dem auch sei: man spürt eine latente Demagogik. Mit einer Korrektur beginnen könnte man z.B. hier. Aber es lohnt sich auch, eine Reihe von Aufnahmen durchzuschauen, in denen ein Chor mitwirkt, dessen Leiter einmal die Gesamtleitung innehat (z.B. Tölzer Knabenchor: Gerhard Schmidt-Gaden), während sie ein anderes Mal bei jemand anderem liegt (Gustav Leonhardt), ohne dass man eine listige Amtserschleichung argwöhnen muss. (Beispiele ganz unten)

Es folgt die Kostprobe einer Promo-Aufnahme mit „Pygmalion“ und Raphaël Pichon („Sind Blitze, sind Donner“):

Andere Ausschnitte gibt es bei dem Journalisten Manuel Brug, der es allerdings nicht einmal schafft – pars pro toto – den Namen des Bass-Solisten (Christian Immler, nicht Irmler!) in einer vorproduzierten Radiosendung korrekt auszusprechen, hier (bei 4:24)…

Beispiele einiger CD-Titel (soeben – fast wahllos – abfotografiert)

P.S. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass es mir nicht um Kritikerschelte überhaupt geht; eine gründliche Rezension ist für musikverständige Menschen eine nicht zu verachtende Entscheidungshilfe. Als sehr positives Beispiel kann die Besprechung zweier Neuaufnahmen – darunter ebenfalls die von Raphaël Pichon – gelten, ich gebe das Handyfoto wieder, das mir ein Freund zugeschickt hat. Ich merke mir den Namen des Kritikers und werde bei Gelegenheit gern die FAZ bevorzugen, wenn ich musikalischen Rat suche: Gerald Felber. Hier ist der Artikel – wie ich hoffe – abrufbar, zudem mit schönen Links versehen. Mustergültig! Ansonsten hier die etwas mühsamer lesbare Nachhilfe-Kopie für alle Fälle:

Zur Diskussion (bzw. Nach-Denken):

Nach der Lektüre einer Kritik (20.03.) in der Rheinischen Post Düsseldorf –

Johannes-Passion neu Gardiner, nachzuhören bis 10. Juli hier

Les Passions

Zu den Quellen

HIER weiterblättern… oder auch hier (auf deutsch, wie folgt:)

Anlass heute: die CD von Andreas Gilger, sein flexibles Spiel, die Mikro-Nuancen zwischen zwei Zählzeiten, die traumhaften Tempoabstufungen zwischen den Tanzsätzen, die sensible Verzögerung einzelner Akzente, die bezaubernden Fiorituren, das suggestive Tempo rubato der beiden Préludes (Tr. 1 und 29), die vom Künstler zielsicher intonierte Feinstimmung und überhaupt – der einfach wunderschöne Klang seines Instrumentes: einer Vaudry-Kopie von Matthias Griewisch. All dies hat mich beglückt, seit ich die Aufnahmen auf dem Handy mit Kopfhörern Track für Track verfolgte, ohne irgendetwas sonst darüber zu wissen. Es sollte eigentlich nur eine Hörübung sein. Ein Zeitvertreib, siehe hier. (Dank an JMR!)

Aber abgesehen von der Musik, deren Interpretation fasziniert – höchstes Lob für die konzise Gestaltung des Booklets: es bietet inhaltlich alles, was man an Rüstzeug braucht, auch wenn man noch nicht mit der Musik in Versailles um Ludwig XIV. vertraut ist. Oder auch von Rhetorik und deren Bedeutung für die Musik weniger gehört hat als von weitgespannten Melodiebögen und romantischer Ausdruckskunst. Man muss die Quellen, denen ich oben nachgegangen bin, nicht studiert haben – es genügt fürs erste dieses schmale, schön gegliederte und bebilderte Booklet.

mehr lesen: hier

ZITAT

Diese emotionale Verbindung zum Publikum versuche ich durch das Studium historischer Quellen und Befolgung ihrer Anweisungen aufzubauen. Die meisten musikalisch Kreativen sind keine mystischen Genies, sondern Normalsterbliche mit Emotionen, die sie mit ihrem Publikum kommunizieren wollen. Nicht, indem sie über ihre Gefühle sprechen, sondern sie beim Publikum direkt auslösen. Da Kunstschaffende des 17. Jahrhunderts ihre Werke als Werkzeuge schufen, um Affekte in anderen auszulösen, erscheint es mir nur logisch, herauszufinden, wie sie sich die Verwendung dieser Werkzeuge vorstellten. Offensichtliche Anhaltspunkte dazu sind historische Quellen zum Musizieren. Um dafür ein umfassendes Verständnis zu erlangen, muss allerdings in den Bereich der Rhetorik vorgedrungen werden. „Rhetorik“ ist ein Schlagwort in der Alten Musik, wobei nur wenige eine klare Vorstellung des Begriffs haben, geschweige denn davon, wie der Begriff im Barock verstanden wurde. Ja, den meisten ist klar, dass „Rhetorik“ die Kunst der Überzeugung mittels sorgfältig ausgewählter Wörter bezeichnet. Die Autoren des Barocks gehen allerdings deutlich weiter und beziehen die Ausführung des Texts, also Gestik, Mimik, Stimmmodulation etc. mit ein. Quasi alle Quellen halten die Ausführung sogar für wichtiger, als die tatsächliche Wortwahl. […]

Beim Studium der Quellen zu öffentlichem Reden, Deklamationen und Schauspiel wird schnell klar, dass Gesten üblicherweise viel größer waren, die Stimme flexibler gestaltet wurde, und grundlegende Wandlungen im Charakter innerhalb eines Abschnittes, Monologs, etc., häufiger auftraten als heutzutage. Im ersten Moment scheint solch ein pompöser Stil modernen Geschmäckern hoffnungslos übertrieben. Aber wie man von einem Stummfilm berührt wird, wenn man die erste Konfrontation des fremden Schauspielstils überwunden hat, so bin ich davon überzeugt, dass Barockmusik in einem uns fremden Stil vorgetragen wird. Es mag verziehen werden, wenn man die Übertragung rhetorischer Prinzipien auf Musik zunächst als weit hergeholt empfindet, doch etliche historische Quellen ziehen Parallelen und Vergleiche zwischen Rhetorik und Musik. Damit wird offenkundig die Annahme widerlegt, dass Musik – sogar die, die auf Tanzformen basiert – ausschließlich unter der Tyrannei eines unerbittlichen Metrums aufzuführen sei, oder dass Zurückhaltung das herrschende Prinzip musikalischer Aufführungen des späten 17. Jahrhunderts war. Im Gegenteil: Wenn wir Zeichnungen und Gemälde le Bruns mit den verhaltenen Aufführungen vergleichen, die in der Alten Musik über Jahrzehnte usus waren, entdecken wir eine Inkongruenz, welche die Musizierweise, die ich und etliche Kolleg:innen propagieren, zu beseitigen sucht. Le Brun verlangt, dass die Affekte in all ihrer Schönheit, all ihrer Weichheit, all ihrer Gewalt gemalt werden. […]

Text: Andreas Gilger (aus dem Booklet, rote Markierungen JR)

Es beginnt mit einer erstaunlichen Reise, 13 Sätze in G-dur, deren Strukturen das Ohr angenehm beschäftigen können, wie die geometrische Gartenanlage des Schlossparks draußen das vergnügte Auge. Und es liegt nicht unbedingt auf der Hand, darin nach den Emotionen zu suchen, die von den beigegebenen Portraits aus Le Bruns Feder insinuiert werden: „Haine ou Jalousie“, „Veneration“ und „l’Effroy“, tatsächlich sind dies die Extreme, die der gleichmäßige Klang des Cembalos eher verschleiert als bloßlegt. Ähnlich wie die Etikette der höfischen Konversation, sie walten subkutan und vielleicht ganz offen in den Theateraufführungen, die in höfischen Causerien und Plaudereien von ferne reflektiert wurden. Man fühle nur den Übergang von G-dur nach D-moll (Track 13 nach 14), um zu ahnen, was eine Tonart bedeutet, in deren Rahmen all diese Nuancen eingebettet sind. (Man lese auch den interessanten Lebenslauf des Komponisten Henry Dumont oder du Mont, der – aus Lüttich und Maastricht stammend – den „Generalbass“ in die französische Musik eingeführt haben soll).

Vielleicht greift man sich auch mal die Chaconne Tr. 21 (Jean-Nicolas Geoffroy) heraus, um sie wie das Mienenspiel einer erzählenden Person zu studieren. Um sich danach dem rührenden Gesicht der „Allemande la Rare“ zuzuwenden (Tr.22), anschließend auch der koketten Courante usw. – man wird sich den Namen Jacques Champion de Chambonnières merken wollen, des Cembalisten, den man seinerzeit lobte  für „…die Schönheit seiner Werke, den schönen Anschlag, die Leichtigkeit und Geläufigkeit der Hände zusammen mit einem sehr feinen Ohr, so dass man sagen kann, dass dieses Instrument seinen letzten (größten) Meister gefunden hat.“ (Mersenne). Nein, nicht den letzten…

Hervorzuheben ist auch das viersätzige Kleinod von Louis Couperin,Tr. 29 bis 33 mit dem phantastischen Prélude, den resoluten „Rückungen“ am Ende der Allemande und der ebenso wild entschlossenen Passacaille, Zielpunkt der langen, bilderreichen Reise dieser CD.

Wer aber war Le Brun? Siehe Wikipedia HIER

Mehr vom Cembalo erfahren?

Eher speziell für mich als vielleicht für andere, die vorwiegend mit dem bloßen Gehör arbeiten oder überhaupt die Musik nicht als Arbeitsfeld betrachten, füge ich zwei Seiten aus einem musikanalytischen Werk bei, das mich mit meinen Schwächen konfrontiert hat, – denke ich jedenfalls. Sie beziehen sich hier noch nicht so auf Beethoven, wie die Seiten-Überschrift ankündigt. Und mich bewegt unterschwellig beim Hören dieser CD ohnehin die (kaum fühlbare) Nähe zu Bach (Französische Suiten), bzw. ihre Position zwischen Monteverdi und Bach:

Quelle Folker Froebe: Motivisch-thematische Analyse – Ludwig van Beethovens Klaviersonate op. 10 Nr. 1 / ins: Musikalische Analyse / Begriffe, Geschichten, Methoden / Herausgegeben von Felix Diergarten / Laaber-Verlag 2014 (S.95-140)

EILT  Mehr aus der Welt der französischen Rhetorik: Molière  EILT

HIER („eilt“ , weil nur noch bis  3. Mai 2022 abrufbar) Stop: HIER allerdings noch bis 1. Juni 2022

Anlässlich des 400. Jahrestages von Molières Taufe zeigt der Film einen Autor, Ensembleleiter und Schauspieler, der treu ergeben die Vergnügungen Ludwigs XIV. organisierte und gleichzeitig in seinen Stücken große Radikalität an den Tag legte, der sich auf der Bühne ebenso wohlfühlte wie in den Salons, der strategisch dachte und dabei frei war, der durch sein Genie und seine Komplexität fasziniert. Molière erweist sich als Erfinder eines Theaters, das seit beinahe vier Jahrhunderten eine unerschöpfliche Quelle von Inspiration und Bewunderung ist. (aus dem ARTE Pressetext)

ab 28:00 Le Brun, Le Vau, Le Nôtre, Schloss Vaux-le-Vicomte 1661

Unvergessen der Film „Molière“ (1978) von Ariane Mnouchkine

Rekapitulieren:

Detail aus dem Kommentar-Heft:

Bach-Trompeten und mehr

„Getrieben, gezogen, gelocht, gestopft“ – Den Geheimkünsten barocker Bläserzünfte auf der Spur

Eine Hörfunksendung im DLF HIER (anklicken, geduldig warten) Musikszene Sendung vom 02.11.2021 Kurztitel: Geheimkünste barocker Bläserzünfte / Autor: Bernd Heyder

Achtung: nicht durch das erste (sehr lange) Zitat abschrecken lassen (Johann Mattheson 1713), auch nicht durch den Sendungstitel, der auf abseitige Interessen zu spekulieren scheint, es geht um den differenzierten, alltäglichen Umgang mit den scheinbar problemlos strahlenden Blechinstrumenten.

Friedemann Immer: „Man kann mit einer Barocktrompete nie zu laut sein“. (39:31 rückwärts gezählt) F.I. spielt die Naturtonreihe.

Wolfgang Auhagen über Naturtonreihe (nochmal gespielt) Fr.Immer weiter Interview

Thema Joh.Seb. Bach 2.Brandenburgisches / Tonart F-dur (Fr. Immer:) Kammertöne / Hof in Köthen sehr französisch, F-dur = Klang Es-dur.

1950er Jahre Cappella Coloniensis + Concentus Musicus, erste Kopien der alten Instr. Clarintechnik wiedergewinnen, „unreine“ Töne der Nat.tonreihe? Wolfgang Auhagen… „Treiben“ (Hochtreiben der Naturtöne mit den Lippen) neben der optimalen Resonanz, etwas Leiser, mühsam lange zu halten. Seit 1960 zu Korrektur Löcher gebohrt, 1 zur Veränderung der absoluten Stimmlage, andere zur Erleichterung des Spiels im hohen Bereich. Die Löcher verhindern, dass man in eine falsche Schwingung gerät. Initiative von Otto Steinkopf

Friedemann Immer verwendet die Drei-Loch-Technik und führt sie vor. 31:27 Zunächst Tonhöhe nur durch Treiben korrigiert, dann (anderes Instr.) mit Hilfe der Korrekturlöcher. „Den Klang des Instrumentes macht aber wirklich das Mundstück! Nat. im Zusammenhang mit der Mensur usw.“D ie Dreilochtechnik ist erfunden worden durch Walter Holy zus. mit Steinkopf u. Helmut Winkel (?)“. Später: Michael Laird, London, 4-Loch-System erfunden, höchst interessante neue Quelle: Lorenz Christoph Mitzlaff ehemaliger Schüler J.S.Bachs, zitiert 1743 den Kantor Joseph Christoph Hille aus Glauchau (Halle a.d.Saale) 30:15 über die ungelöcherte, ohne Züge… „der Anfang der Trompete“, „wir wussten, nicht dass es damals schon die gelöcherte Trpt. gab!“ Bach-Zeit!

Jean-François Madeuf 29:03 spielt Beispiele chromatisch („es braucht viel Zeit“, neue Generation spielt ohne Grenzen im Kopf: ohne Löcher).  Thibaud Robinne in Köln, Don Smithers,

Musikbeispiele

(Fortsetzung folgt)