Nur eine Kleinigkeit?
Bei Musikern geht es nun mal so: sie unterbrechen nicht gern und lassen sich nicht gern unterbrechen. Bei mir ist es nicht anders: sobald ich ein Instrument greifbar habe, spiele ich lieber als dass ich lese. Auch die Noten vor mir spiele ich so, wie es dasteht und will mir lieber nichts erzählen lassen oder ein Vorwort lesen. Aber wenn mir ein Instrument fehlt, lese ich gern, auch Noten. Und erst recht Texte mit Noten drin. So auch den übernächsten (die hier folgende handschriftliche Eintragung am Rande der Noten stammt erst von gestern):
Andererseits kommt es eben zuweilen vor, dass ein Musiker unterbricht und ruft: „da stimmt was nicht!“, ein leises Erschrecken geht durch die Gruppe („Herr, bin ich’s“?), meist geht es um einen Ton, der zum Akkord nicht passt, Druckfehler, man sucht, bis das Problem offenliegt, und korrigiert. So kann es auch gehen, wenn man bloß hört, ein Solostück z.B., von dem man jeden Ton kennt und geübt hat. „Stopp! Das kann doch nicht wahr sein!“ So ging es mir aber erst, als ich gestern in ein altbekanntes Buch schaute und auf der folgenden Seite die letzte Bemerkung las: „Das ist doch… das kann doch nicht wahr sein!“
Quelle Erwin Grützbach: Stil- und Spielprobleme bei der Interpretation der 6 Suiten für Violoncello Solo von J.S.Bach / Verlag der Musikalienhandlung Karl Dieter Wagner Hamburg 1981
Jetzt erst schaute ich in den Anhang der Notenausgabe, aus der ich übe und der ich immer noch blind vertraut habe. (Bärenreiter, August Wenzinger 1950): Da steht hinten im Kritischen Bericht zur Suite I u.a. die Zeile:
T. 26, 3.Viertel Ms, Ke cis, h a b, BG cis, b a b
MS bedeutet: Abschrift der Anna Magdalena Bach, Ke: Abschrift von J.P. Kellner, BG J.S.Bach, Werke, herausgegeben von der Bach-Gesellschaft, Leipzig, X X L, II.1
Das heißt wohl: Wenzinger hat in diesem Punkt einfach dem Herausgeber der Alten Bach-Gesamtausgabe vertraut, und die meisten historisch interessierten Musiker vertrauten Wenzinger und der Neuen Bach-Gesamtausgabe. Erst 31 Jahre später hätte man lesen können, dass Grützbach in seinem von Cellisten vielgelesenen Buch eine dezidiert andere Meinung propagierte:
Die Linie verläuft hier chromatisch. Das gefühlsbetonte cis‘ b a b einiger Herausgeber ist durch nichts gerechtfertigt.
Eine Kleinigkeit? Ich dachte, mich rührt der Schlag. Und genau aus diesen „gefühlsbetonten“ Gründen hing ich doch an der gedruckten Tonfolge. Beim Spiel auf der Bratsche habe ich sie sogar leicht jammernd herausgehoben. Wer weiß, ob mir da nicht die Erfahrung mit arabischer Musik einen Streich gespielt hat…
Das b kann in dem Takt nicht rückwirkend gelten, auch wenn man Anna Magdalena manche Flüchtigkeiten zutraut. In Kellners Abschrift ist alles undeutlicher, meint aber wohl nichts anderes:
Wieder ein anderer Abschreiber (Schober? Westphal?) schreibt wohl viel später, aber sehr deutlich:
Ich kann also nicht – mit Wenzinger – auf einem anderen Ton beharren!
Zur Sicherheit vergleiche ich einige youtube Aufnahmen: die ganz großen Cellisten spielen so wie ich bisher (haha! ein schwacher Trost), selbst der frühe Harnoncourt hat sich offenbar nicht die ältesten Skripte angeschaut. Anner Bylsma und Sigiswald Kuijken (mit V. da spalla) spielen „korrekt“, Jean-Guihen Queyras „nicht“ (siehe hier bei 1:43), ohne an der cis-Stelle besonders „gefühlsbetont“ zu agieren. Da mir ansonsten Pieter Wispelwey in der Freiheit des Vortrags besonders zusagt, – wie hält er’s mit dem besagten „arabischen“ Intervall? Was sagen Sie? Hören Sie hier bei 1:24, er spielt alte Stimmung – für unser Ohr in diesem Zusammenhang eine Umstellung – aber: er spielt den kritischen Ton so beiläufig, dass es nicht leicht zu entscheiden ist. (Man kann es „zurechthören“… ich vermute, er spielt b – aber so, dass es nichts weiter bedeutet.)
ABER: Pablo Casals spielt 1954 genau was dasteht! Hören Sie hier bei 2:11.
Eine Entdeckung nebenbei: Rachel Podger hat die Cello-Suiten (um eine Quinte + Oktave raufgesetzt) mit Geige eingespielt (siehe jpc hier), verständlicherweise befindet sich diese CD jetzt auf dem Weg zu mir.
Zwei kritische Bemerkungen muss ich bei dieser Gelegenheit hinzufügen:
Wenn ich Cello-Suiten höre (ich spreche jetzt nicht von Pieter Wispelwey!), habe ich oft ein mulmiges Gefühl, besonders am frühen Morgen: ich finde alles ziemlich unsauber. Und dieses Gefühl verlässt mich nicht nach – sagen wir – einer Viertelstunde (wie beim Erlebnis eines Schülervorspiels), sondern es gehört offenbar zum Obertongemisch der tiefen Töne…
Noch etwas: Man schaue bitte nochmal in den Artikel „Viola!“ (hier), – damals war mir noch nichts aufgegangen bezüglich des übermäßigen Schrittes cis-b, der mir eigentlich schon hätte „fragwürdig“ erscheinen müssen (ein Klage-Intervall so aus dem Nichts).
An dieser Stelle auch noch ein Hinweis in Sachen Bratsche: es gibt einen sehr lesenswerten Essay von Björn Gottstein über das Instrument, Titel „Tonschönheit Nebensache? Die Geburt der Bratsche aus dem Geist der Neuen Musik“, ab Seite 142 in dem Buch: Kammermusik der Gegenwart, das ich hier präsentiert habe.
A propos Rachel Podger (Nachtrag 4.7.2019 – die CD ist da!!!)
… und den fraglichen Ton spielt sie natürlich „wie es sich gehört“.
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Die CD der Trauermusik von Johann Ludwig Bach ist eingetroffen, – wunderbar, großartig! Schöne Idee, das Cover mit dem berühmten Selbstbildnis von Albrecht Dürer zu schmücken, das wie ein Christusbild wirkt (dem nur die Dornenkrone fehlt). ABER: der Text des Oratoriums, den man ja neugierig nun auch mitlesen oder separat studieren will, dieser Text, den der Herzog zu Lebzeiten (natürlich, wann sonst? allerdings ziemlich früh) selbst verfasst hat, ist furchtbar, so farblos wie eine Sammlung von Aktennotizen. Ein Rätsel, wie man dazu eine solche Musik erfinden konnte. Mit Liebe erinnert man sich an die Picander-Texte der Matthäus-Passion, an unvergessliche Sprachgebilde: „Am Abend, da es kühle war, ward Adams Fallen offenbar, am Abend drücket ihn der Heiland nieder, am Abend kam die Taube wieder und trug ein Ölblatt in dem Munde. O schöne Zeit! O Abendstunde!“ Wie gern vermisst man das prosaisch-korrekte Wort Schnabel, wenn das Reimwort Abendstunde sich entfalten kann.
Dürer Selbstbildnis Wikipedia
A propos Bach
Habe heute erst beim Bayrischen Rundfunk ein Skript zur Solosonate C-dur mit Christian Tetzlaff gelesen. Sicher ist seine Aufnahme der Sonaten & Partiten ein Nonplusultra, aber die Story dazu, die auf seinen Gedanken beruht, ist mehr als zweifelhaft: als sei das Ganze ein Erlebniswerk, das unter dem Eindruck des plötzlichen Todes seiner ersten Frau geschrieben wurde, quasi aus einem Guss, Reinschrift 1720. Unmöglich! (Bach war am 7. Juli 1720 von einer Dienstreise zurückgekehrt, und Maria Barbara war bereits beerdigt worden.) Zitat:
Bach sucht Trost in der Musik. So entstehen seine Sonaten und Partiten für Violine Solo, der Autograph ist auf das Jahr 1720 datiert. Der Geiger Christian Tetzlaff sieht in dieser Komposition eine Art Grabstein für Bachs Frau.
„Da kommt zum Beispiel noch das schöne Indiz hinzu, dass Bach diese Stücke bezeichnet mit ’sei solo‘, also was grob übersetzt heißt ’sechs Solo für Geige‘, oder es heißt tatsächlich ’sei solo“ – ‚du bist allein‘ – wäre damit so ein Titel für dieses Werk.“ (Christian Tetzlaff)
Bach wechselt in seinem Zyklus Sonaten und Partiten einander ab. Die Sonate in C-Dur steht im Gesamtwerk an fünfter Stelle und ist für Christian Tetzlaff im dramaturgischen Aufbau eine Art Wendepunkt. Hier beginnt Bach seinen Schmerz langsam zu überwinden, der die ersten vier Werke, die bezeichnenderweise alle in Moll stehen, überschattet.
Die Solissimo-Werke für Violine – ungeachtet der Frühformen (seit 1708) und jahrelanger Vorarbeit – jetzt als eine Mischung aus Trauerarbeit und Tagebuch seit Juli 1720 zu lesen: psychologisch und biographisch ein Absurdum. Weder die liebe Frau noch das eigene Ego standen damals für einen gläubigen Christen wie Bach im Mittelpunkt des Denkens und Schaffens. Das müssen wir ihm zugestehen.
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A propos Trauermusik
Hier ist die erste Seite des Booklettextes von Peter Wollny, damit klar ist, wovon die Rede ist. Bei den Autofahrten mit dieser Trauermusik (Rias Kammerchor) elektrisierte mich gegen Schluss des ganzen Werkes (Tr. 26) eine Motivverkettung, die mir vertraut vorkam. (Die Noten – schon für die erste Aufnahme des Werkes mit der Rheinischen Kantorei – schrieb Christoph Lehmann, sie liegen im WDR und waren mir nicht zugänglich. Daher an dieser Stelle meine unzulängliche Notation nach dem Gehör:)
Der Text an dieser fugierten Stelle (eigener Formteil bis 2:04): „und mit entbundner Zung“.
Die Motivik ist „barockes Allgemeingut“, der Passus duriusculus und ebenfalls der Kontrapunkt dazu; Johann Ludwig Bach muss ihn 1724 also nicht aus der Fuga von Johann Sebastian Bach (Reinschrift 1720) entliehen haben. Aber interessant ist, dass hier von der „entbundenen Zunge“ die Rede ist, das Fugenthema der Sonata in C mit dem Pfingsthymnus in Zusammenhang gesehen wird und das „Zungenreden“ bekanntlich eine „Gnadengabe des Heiligen Geistes“ ist (siehe hier).
Der chromatische Passus bei Johann Ludwig auch in Umkehrung (in der Sonata nicht).
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Gestern habe ich einen Film über die Anden, der mich aufgrund der Naturaufnahmen interessiert hätte, ausgeschaltet, weil mich der Sound der Performance ärgerte. Die Musik vor allem, aber auch die Art wie der Text inszeniert war, der Duktus betulicher Zuwendung.
Die Musik macht mich wütend, was ist bloß los mit mir? Der Komponist meint es doch gut. Er beruft sich sogar auf Bach und lobt die Pause, die ich mir über die ganze Länge des Films ausgebreitet wünschte. Nein, ich übertreibe, und ich werde auch nie wieder eine Diskussion mit dem Sender anfangen, wie damals (siehe hier). Ein andermal war ich ganz glücklich, aber kein Filmkomponist hatte mir geholfen, sondern wer? Schauen Sie nur: hier.
Aber ich wollte ja den bzw. einen Filmkomponisten zitieren, den von gestern („Die Anden“ können Sie noch abrufen, bis Ende Juli 2019 hier) :
Es macht mich glücklich, gute Musik zu tollen Bildern zu komponieren. Das treibt mich an, dafür bin ich in Bewegung. Überhaupt Bewegung. Sie ist für mich Quelle der Inspiration. Auf dem Fahrrad und beim Laufen kommen mir häufig die besten Ideen. Oder am Klavier, mit der direkten Resonanz des Klangkörpers. Ich komme vom Instrument. Komponieren heisst spielen. Erst dann kommt der Computer, kommen die Sounds, Libraries und Effekte. Darüber hinaus inspiriert mich alles, was ich sehe und erfahre, sei es ein Bild von Caravaggio, ein Film von Almodóvar oder eine Partita von Bach. Er ist für mich die Quelle. Seine Werke sind logisch und emotional zugleich, wecken elementare Gefühle.
Musik sollte bewegen, mal vordergründig, mal subtil. Und manchmal sollte sie mit Pausen arbeiten. Denn Komposition ist auch eine Entscheidung darüber, wann ein Einsatz sich verzögert oder ein Bild keine Musik braucht – um desto stärker zu wirken. Ohne Pause ist Musik ein Irrtum. Denn es ist alles eine Frage von Timing und Rhythmus. Bewegung eben.
Quelle: Website Oliver Hess hier.