Im Gespräch über diesen Film fällt unweigerlich sehr bald der Name Sisyphos. Ein Mythos von der Vergeblichkeit aller menschlichen Anstrengungen. „Eine Odyssee im Alltäglichen“ – alltäglich in einer für uns unvorstellbaren Welt. Die Zerstörung der kargen Umwelt des Dorfes, dargestellt an einem einzigen Beispiel: Ein mittelloser Mensch mit Familie draußen in der „Pampa“ baut eine Hütte, ist angewiesen auf die Umwandlung von naturgegebener Ware und eigener Arbeitskraft in Geld, er braucht z.B. Medikamente für ein krankes Kind. Man sieht, wie seine Frau auf der Feuerstelle eine Ratte zubereitet. Elend und Zerstörung der Umwelt. Das Fällen eines Baumes, die Umwandlung des Holzes in Holzkohle, der lange Weg zum Ort der Verwertung, wo man die Kohle zum Kochen braucht; wo es keine anderen Energiequellen gibt. Befremdend und erschütternd: die Größe dieses Lebens. 30 km, 50 km von der nächsten Stadt, Kolwesi, Walemba in der Provinz Katanga im Süden der Demokratischen Republik Kongo (früher einmal Belgisch-Kongo). Und dann fällt der Satz: „hier gibt es keinen funktionierenden Staat“ .
Ich würde zuerst 40 Minuten Film sehen, dann ein Pause machen und das Gespräch mit dem Filmemacher Emmanuel Gras anhören, um dann zurückzukehren und den Rest des Filmes wahrzunehmen. Bis er gegen Schluss in eine Art Gottesdienst mündet, einen Gemeindegesang, zum Weinen hoffnungslos. Aber auch die Musik, die den ganzen Film begleitet, sparsam, rätselhaft – ist es ein Cello, elektronisch aufgesplittert, auf der Suche nach dem Innenraum der Töne?
Emmanuel Gras begleitet im Kongo einen jungen Mann, der in einem Dorf im Süden des Landes ein größeres Haus für seine Frau und seine beiden Kinder bauen möchte. Die Kamera begleitet ihn auf seinem Weg und fängt die Landschaft und die wunderschöne Naturkulisse ein. Die Zuschauerinnen und Zuschauer erleben jeden Schritt, jede Begegnung hautnah mit. Die Botschaft der Dokumentation ist eindeutig: Sie prangert die soziale Ungerechtigkeit an. Der klare Aufbau der Dokumentation lässt viel Raum für ausdrucksstarke Aufnahmen. Sei es in ästhetischer, emotionaler und politischer Hinsicht – „Makala“ ist der Beweis, dass man auch mit einfachsten Mitteln einen ausgezeichneten Film drehen kann.
(Der Pressetext gefällt mir nicht. Es geht nicht um diesen Beweis. Hier wird auch nichts angeprangert, es wird gezeigt. JR)
Interview mit dem Filmemacher Emmanuel Gras hier (bis 31.05.2027)
Musik: Gaspar Claus (hier) Frappierend für mich: plötzlich wird mir klar, dass ich zwar ihm, dem Cellisten, nie begegnet bin, wohl aber mehrfach seinem Vater, dem Flamenco-Gitarristen Pedro Soler, seit Anfang der 80er Jahre (WDR-Matinee u -Festival?). Frage: Hieß dessen Manager nicht mit Nachnamen Claus? War dessen Schwester etwa … (schon wieder eine Recherche-Aufgabe)?
Dieser Text verwunderte mich, – die Künstlerin war ja 2004 zur Zeit der Aufnahme erst 21, und sie spricht von prägenden Eindrücken, die noch 7 oder sogar 10 Jahre zurückliegen. Menuhin war ein Meister des Wortes, und das, was der weise alte Mann als Lehrer sagte, hat eben das Kind begeistert. Andere, die zugehört haben, waren ganz anderer Meinung, – und das war übrigens schon in meinen 1960er Jahren so –, sie aber sagt: „Nun, das bleibt Geschmacksache.“ Bei allem Respekt, das darf man heute (und auch 2004) so nicht in den Raum stellen. Jeder kann doch ohne weiteres anhand seiner vorliegenden Bach-Aufnahmen heraushören, was er gesagt haben könnte: und das ist keine Geschmacksache, sondern sehr altmodisch; er spielt Bach, wie eben ein großer Geiger spielt, mit großem Ton, konsistent, mal laut, mal leise. Ich habe ihn 1985 persönlich getroffen, es war eine nette Begegnung; ich schätzte ihn vor allem, weil ich eine unglaublich musikalische Platte aus seiner frühen Zeit kannte. Und: weil er die indische Musik so gefördert hat.
Und bei Glenn Gould gehen und gingen die Meinungen aus ganz anderen Gründen auseinander, ich ertrage ihn schwer. Auch er wird erwähnt, als gelte seine Auffassung heute wie damals. „Es war, als erwache Bach zu neuem Leben, als ob Gould alles neu entdeckt.“ Könnte doch sein!? Ja, sicher… „Sein Mut, neue Wege zu gehen“. Genau. Und so weiter: Die „Ciaccona“ in Busoni-Fassung gehört ohnehin zwei Zeiten (mindestens) an. Spielt Kissin sie wesentlich anders als Hamelin? Natürlich, aber das ist nicht wesentlich….
(Schnittfehler: 3 Töne am Anfang fehlen) Produzent: Paul Gordon / The film, entitled Concert Magic, and featuring other artists besides Menuhin, was shot in the last months of 1947 at the studio formerly used by the comedian Charles Chaplin. Released about a year later, it was reasonably well received, but never caught on. Television was beginning to take over this sort of territory, and as a medium it was better able to present musical performances with immediacy and flair. Concert Magic has been virtually unseen for many years.
Anfang und Ende des allzu umfangreichen Blattes ZEIT
Der Tag begann heute also mit einer Schätzfrage:
Weltweit werden jedes Jahr knapp 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid emittiert – wie groß ist der deutsche Anteil daran? Zehn Milliarden? Fünf Miliarden? Drei Milliarden? Antwort: Es sind 750 Millionen Tonnen. Das entspricht knapp zwei Prozent des Gesamtvolumens.
Damit ist das zentrale Dilemma der deutschen Klimapolitik beschrieben.
* * *
Dranbleiben!? Lange Pause, Nachdenken, und das Blättern beginnt, die mehrfache sporadische Rückkehr – wie war das noch? China, Europa, Klima-Zoll – oder einfach ins Zeit-Magazin, Martenstein etwa, er redet vom Geld, das passt, heute ist Eigentümerversammlung, ach, oder lieber gleich auf die letzte Seite springen, Zitat:
Aber sollten Kinder nicht lernen, bei Entscheidungen zu bleiben und auch weiterzumachen, wenn es mal keinen Spaß macht?
Und dann:
Aber was macht man, wenn die Kinder zum Beispiel partout nicht Geige üben wollen?
Später:
Aus Ihrer Erfahrung – wollen Eltern tatsächlich das Beste für ihre Kinder, wenn Sie sie beim Klavierunterricht oder beim Tennis anmelden, oder haben die Eltern auch eine eigene Agenda?
Quellen DIE ZEIT 26. August 2021 Seite 1 / Sanfter Zwang Deutschland ist zu klein, um allein das Weltklima zu retten, deshalb muss es auf ganz andere Mittel setzen / Von Mark Schieritz / ZEITMAGAZIN 26. August 2021 Seite 46 HILFE! Wie bringe ich meinen Kindern bei, an einer Sache dranzubleiben? Die Therapeutin Maria Neophytou antwortet (Das Gespräch führt Annabel Wahba)
Sie wollten garantiert Genaueres wissen… Ich kann nur sagen, dass diese einfachen Fragen mich seit gestern Morgen – offen oder unterschwellig – ständig beschäftigt haben. Und nicht zum ersten Mal. Warum soll es Ihnen besser gehen? Denn die verwertbaren Ergebnisse stehen gerade nicht im gedruckten Text. Am ehesten im erstgenannten
(Fortsetzung folgt:)
Der ganze ZEIT-Artikel ist hier zu lesen. / Für das Gespräch im Zeit-Magazin gilt es eine Hürde zu überwinden: hier. Aber man kann es leicht auf eigene Faust versuchen:
Ich finde die Musik ohnehin unter Wert gehandelt, wenn man sie gewissermaßen alternativ zu Reitunterricht, Taekwondo, Tennis und überhaupt zum Sport anbietet. Entscheidend ist zu sehen, ob es ein Zeitfenster des Lernens gibt, dessen Beachtung z.B. entscheidend beeinflusst, ob das Kind ein befriedigendes Niveau in der jeweiligen Tätigkeit erreicht. Warum hört ein offensichtlich musikalisches Kind auf, Musik zu machen? Was kann denn stärker sein als Musik? (fragt sich der Erwachsene, der ohne Musik nicht leben kann). Im frühen Kindesalter sicher die Verlockung des Spiels, der Spieltrieb, und später wird die Pubertät ein entscheidender (Stör-) Faktor. Beides steht jedoch eigentlich nicht im Widerspruch zur Musikausübung, – man spielt ein Instrument, man erfährt in der Pubertät ebenso wie in der Musik die Wirkung beflügelnder Emotionen. Im Tanz ist die unmittelbare Verbindung offensichtlich.
Auch im besagten Artikel wird die Problematik angesprochen, allerdings recht oberflächlich. So mit Bezug auf die Schule, die ihr Bewertungsschema in sich selbst erfülle. Und dann heißt es:
Aber bei Sport geht es ja um etwas anderes: Gerade wenn die Kinder in die Pubertät kommen, passiert viel innen drin, alles schaltet sich neu, da ist Bewegung, an die frische Luft zu gehen, sich in der eigenen Kraft zu spüren total wichtig. Und auch die Vereine spielen eine große Rolle: Die Jugendlichen erleben sich in dem sozialen Gefüge anders, entwickeln auch einen Gemeinschaftssinn, einer für alle, alle für einen. Da geht es für mich nicht darum, dass am Ende ein Profifußballer rauskommt.
Das ist eine gute Denk- und Gesprächsanregung, und das soll hier als Ergebnis eines Artikels genügen.
Es gibt wirklich blumenreiche, filmreife, wahre Details aus Anna Magdalena Bachs Leben, aber die hätte ich damals für erfunden gehalten, andere, die ich heute, wären sie wahr, für etwas skandalös hielte, aber auch spannend; nur dass sie einige der besten Werke ihres Gatten nicht nur abgeschrieben, sondern sogar selbst komponiert haben könnte, dass hätte ich im Leben nicht geglaubt, – das stand ja nicht mal in der erfundenen kleinen Chronik, an die ich damals für kurze Zeit geglaubt habe. Und ob sie in Köthen zuerst eine Mätresse des Fürsten gewesen sein könnte, das werde ich erst ganz zum Schluss in Betracht ziehen … vielleicht auch nicht.
So hat es bei mir begonnen: am Tag der Konfirmation erhielt ich dieses Buch, das ich für eine authentische Chronik hielt, die mich nun dem Alltag meines Idols Bach näher bringen konnte. Und ich habe das Buch verschlungen. Es war auch die Zeit, als ich aufrichtig versuchte, fromm zu sein oder zu werden. Mindestens so wie Albert Schweitzer. Der Kantor der Pauluskirche Bielefeld, Eberhard Essrich (Stellvertreter Bachs auf Erden, dessen Frau, wie ich fand, nicht zufällig auch Magdalena hieß) schrieb mir in einem persönlichen Brief, er wünsche mir, dass ich als Geiger ein rechter Spielmann Gottes werde. Er werde mir in Kürze auch Orgelstunden geben, wenn ich Lust habe. Ich war begeistert. Ihm verdankte ich auch das Schlüsselerlebnis einer Bach-Kantate (live!) „Jauchzet Gott in allen Landen“, deren Partitur ich mir selbst anschaffte. Sopran, Solo-Trompete, Solo-Geigen, Choral! Meine Mutter war Zeuge und führte Buch („Chronik“):
20. März 1955
Es wurden nur 10 Stunden 31.4. bis 17.9.55, dann folgte erstmal Harmonielehre, Choräle mit sinnvollen Bass-Linien zu versehen, bezifferte Bach-Choräle auszusetzen.
Enttäuschung: ein Freund meines Vaters, Dr. Peter Schmidt, enthüllte bald, dass die besagte Chronik eine Fiktion aus der Feder der englischen Schriftstellerin Esther Meynell sei (siehe hier). Es gab keinen Zweifel, der Mann hatte musikwissenschaftliche Arbeiten verfasst (im ersten MGG über Forchhammer, Mühling, Ritter, Schwencke, Willing) und gab mir kleine, angestrengt lustige Lehrstunden, das Lispeln loszuwerden). Ich hielt mich jetzt an Albert Schweitzers Bach-Buch (aus der Stadtbibliothek). Brauchte ich einen Bach-Bogen? (Nein!)
eine Auswahl!
Daraus hatten wir alle gespielt, wohlwissend, dass auf der zweiten Seite stand „Die leichtesten Stücke ausgewählt und bezeichnet von Franz Ludwig“ und: dass unsere Lieblingsstücke eventuell gar nicht von Bach sind, sondern u.a. von Petzoldt. Am Klavier wollte unsereins sowieso lieber – nach fast durchgestandenem Stimmbruch – mindestens den Anfang der „Pathétique“ interpretieren.
Die rührenden, filmreifen Details aus Anna Magdalenas Alltag las ich erst 1975 in den Bach-Dokumenten und jetzt wieder im Bach-Jahrbuch 2020 (Talle S.296):
dass sie eine passionierte Gärtnerin war und den Vetter und Privatsekretät ihres Mannes, Johann Elias Bach, bat, ihr aus seiner fränkischen Heimat gelbe und ‚Himmel blaue‘ Nelken zu besorgen, eine dort erhältliche botanische Rarität. Als diese eintrafen, soll sie sie höher geschätzt haben „als ihre Kinder ihren Christ Beschehr“ , und sich sorgsam um sie gekümmert haben, „wie man kleine Kinder zu warten pflegte, damit ja keines von ihnen eingehen möge.“ Während eines Besuches in Glaucha im Jahr 1740 war J.S.Bach von den Fähigkeiten eines abgerichteten Hänflings angetan und sorgte dafür, dass er seiner Frau zugesandt wurde, die anscheinend „eine große Freundin von dergleichen Vögeln“ war.
Anna Magdalena begegnete ich erst wieder, als ich schon im Collegium Aureum mitspielte und Dr. Alfred Krings kennenlernte, aus dessen Nachlass dieses sehr gebrauchte Büchlein stammte. Der Film, dessen bedeutende „Darsteller“ im Laufe der 60er Jahre sämtlich in Schloss Kirchheim/Bayrisch Schwaben auftauchten, wurde uns als den üblichen musikalisch Verdächtigen flugs zum Begriff (auch zum Gespött):
Jean-Marie Straub, im Oktober 1968 in einem Gespräch mit Redakteuren der Zeitschrift Filmkritik auf die Frage, warum er diesen Titel behalten habe, obwohl doch der Film nichts mit dem Buch der englischen Autorin zu tun habe: „Aus Dank. Wenn ich das Buch nicht gelesen hätte, wäre ich vielleicht nie auf den Film gekommen. Und weil mir der Titel gefällt, wegen des Wortes Chronik.“
Der ganze Film (mit spanischen Untertiteln):
Ich habe versucht, hier noch etwas persönliche Archäologie zu betreiben, aber die eigentliche Motivation stammt aus dem erwähnten Beitrag des Bach-Jahrbuches 2020, dessen Lektüre mir Reinhard Goebel kürzlich so dringend empfahl. Siehe hier. Jetzt also zum Thema… Stopp! Zunächst noch der Aufreger HIER! …und hier (auf deutsch) die Anpreisung.
Dann die leicht fertigzustellende Recherche anhand meiner neuesten Anschaffung:
Über das Clavier-Büchlein 1722 und das Notenbuch 1725 siehe hier bei Wikipedia. Ein sehr merkwürdiger Satz steht darin:
Die Bach-Forschung hat sich für das erste Notenbuch kaum interessiert. Es gilt im Allgemeinen nur als Quelle für die älteste Fassung der Französischen Suiten.
Und ich habe diese Merkwürdigkeit auch an mir selbst festgestellt und auf die oben angedeuteten Jugenderinnerungen bezogen: als ich in den 60er Jahren im Schloss Kirchheim – quasi im Vorübergehen – bemerkte, dass das Technikteam (um Krings) eine Schallplatte nach dem „Notenbüchlein“ vorbereitete, blieb ich uninteressiert, ich witterte ein Weihnachtsvorhaben, und obwohl der bekannte Flötist Hans-Martin Linde eins der Liederchen mit seiner recht schönen Baritonstimme vortrug, hielt ich das Ganze doch für etwas „handgestrickt“. Das mag an einer leichten Aversion gegen den Habitus des schon arrivierten Interpreten gelegen haben. Als dagegen jetzt vor zwei oder drei Jahren die CD „Bach privat“ (mit Andreas Staier, Georg Nigl und Anna Lucia Richter) herauskam, war ich so begeistert, dass ich sie dreimal gekauft und verschenkt habe, nun aber selber nicht mehr besitze.
Heute – nach der Lektüre des neuen Bach-Jahrbuches – sehe ich das oben abgebildete Titelblatt mit Erstaunen: Sehen Sie unter dem Großbuchstaben B die dreizeilige Eintragung? da hat sich Vater Bach doch tatsächlich die Buchtitel eines theologischen Autors notiert, offenbar in Ermangelung eines Merkzettels… eine grobe Respektlosigkeit seiner Frau gegenüber??? Ein Wink mit dem Zaunpfahl?? Und schon fängt es an, in mir zu arbeiten, die Mythenbildung beginnt aufs neue… hat sie ihm eine Szene gemacht? Das Wort „offenbar“ verrät es, die Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Möglicherweise hatten die Buchtitel für beide etwas zu bedeuten. Ein wichtiger Punkt noch (Christoph Wolff 2000, S. 239):
Leider ist das Album in entsetzlich verstümmelter Form überliefert, denn von den ursprünglich 70 bis 75 Seiten sind nur 25 erhalten. Und so gibt das kostbare Dokument mehr andeutungsweise als erschöpfend Auskunft über die enge und tiefe musikalische Gemeinschaft der Eheleute.
Das prägt sich ein. Am hartnäckigsten aber wirkt nicht das Edle nach, sondern – wie bei Nietzsche – „Menschliches, Allzumenschliches“ : Z.B. dieser unmögliche Wissenschaftler, dessen Konstrukte man schnell wieder vergessen muss, ehe jemand sagt: vielleicht ist ja doch was Wahres dran? Es ist so wie mit der sprichwörtlichen Schwangerschaft. Entweder ist das kleine Etwas wahr oder nicht, aber was nur etwas wahr ist, gilt für nichts. Alle Produkte des „Wissenschaftlers“ Martin Jarvis sind null und nichtig.
Was ich als erstes erzählen würde: Anna Magdalena hat nicht nur für ihren Mann Noten kopiert, sondern auch für Geld. Also: da kommt z.B. ein Musikstudent und sagt: „Ihr Mann soll so interessante Übungen für Cello geschrieben haben, die brauche ich ganz dringend und zwar bis zu meiner Abreise, das heißt: bis übermorgen früh! Mein Vater zahlt in bar.“ (Ich habe mir das ausgedacht, aber so kann es gewesen sein, und zumindest das mit der Eile und dem psychologischen Druck, das stimmt…) Das Ergebnis ist entsprechend. Und da kommt nun heute ein tüchtiger moderner Wissenschaftler daher wie Andrew Talle und fragt: Hat sie von den Originalnoten ihres Mannes abgeschrieben? (Nein!) Hat sie das, was sie geschrieben hat, innerlich gehört und sozusagen mitvollzogen? (Nein!)
Andererseits ist das, was da von Weltklassemusikern herausgelesen werden kann, so unbeschreiblich genial, dass sie konsterniert sagen: ich werde an diesem Schriftstück keinen Fliegenschiss bereinigen, es ist ein heiliges Dokument! – dann kann man das auch verstehen. So ging es vielleicht dem wunderbaren Cellisten Anner Bylsma, als er im Alter das Werk nicht mehr spielen, sondern nur noch mit Worten vermitteln konnte. Sein Buch über die ersten drei Suiten, Bach. The Fencingmaster, wurde ein Kompendium an Anregungen über die Weisen, sich dieser Musik adäquat zu nähern, – so hieß es in einem Nachruf (SZ 28.07.2019).
Siehe im oben hervorgehobenen Artikel von Andrew Talle, Bach-Jahrbuch 2020, Seite 301, Anmerkung 24. Und für Violinisten sei erwähnt, dass im eben gegebenen Bylsma-Link ein sehr lesenswerter Essay über die Violinpartita in h-moll zu finden ist!
Eine extreme Version ist die zuletzt erschienene Ausgabe von Hans-Christian Schweiker bei Ries & Erler, ohne kritischen Apparat und ohne hinreichende Rücksicht auf Wendemöglichkeiten. In dem Vorwort erklärt er seine Absicht: „Die hier vorliegende Ausgabe orientiert sich sehr viel strenger als bisher erschienene Ausgaben an der Abschrift Anna Magdalena Bachs. Der Herausgeber hat nicht versucht, wie sonst üblich, scheinbare Unstimmigkeiten, Inkonsequenzen und ungewöhnliche Artikulationsmuster zu glätten, sondern sie musikalisch sinnvoll im Dienst der plastischen Struktur dieser Werke wiederzugeben.“ Obwohl diese Auffassung wieder zunehmend auch prominente Anhänger (zum Beispiel Anner Bylsma 1998) findet, so ist sie doch in quellenkritischer Hinsicht und in Anbetracht der Artikulationsgewohnheiten Bachs rundweg abzulehnen. Natürlich ergibt auch die perfekte Übertragung der Ungenauigkeiten unter Umständen ein interessantes und für sich gesehen gelungenes künstlerisches Ergebnis, jedoch verdient eine solche keine öffentliche Verbreitung.
Ich war beim Allzumenschlichen und zitiere eine Passage, die nicht nur mich bewegen wird, zumal sie jenseits aller Musikfragen liegt:
2016 teilte Peter Wollny den eigenwilligen Fall eines 13jährigen Bewerbers namens Christoph Friedrich Meißner (geb. 1716) um Aufnahme in die Thomasschule mit: In dem nach dessen Vorsingen angefertigten Protokoll vom Mai 1729 lobte J.S.Bach seine „gute Stimme und feine profectus“, doch nur ein Jahr später zählte Meißner zu den schlechtesten Sängern der gesamten Schule. Wollnys Erklärung für diese überraschende Diskrepanz ist,daß es sich bei dem Jungen um Anna Magdalena Bachs Neffen handelte. Die Probleme, die Meißner verursachte, beschränkten sich jedoch nicht auf die Musik. 1731 wurde er wegen Fehlverhaltens von der Schule verwiesen. Selbst nach dieser Kalamität erlaubte Bach dem Jungen, weiterhin bei der Familie zu leben, und beschäftigte ihn neben Anna Magdalena und Carl Philipp Emanuel als Schreiber – unter anderem ist er einer der Kopisten im Originalstimmensatz der Kaffeekantate. Man spürt hier, daß A.M.Bach erheblichen Einfluß auf ihren Mann hatte – sie bewegte ihn dazu, einen Prüfungsbericht zu beschönigen und einen alles andere als vielversprechenden Kandidaten mit Vollstipendium in die Thomasschule aufzunehmen, nur weil er der Sohn ihrer Schwester war.
Verlässliches zur Quellenlage der Cello-Suiten siehe hier / zur Frage: für wen Anna Magdalena Bach die einzige vollständig erhaltene und als authentisch geltende Abschrift angefertigt hat, deren Vorlage ebenfalls eine Kopie war (also kein Autograph J.S.Bachs): siehe hier. Als Schwanenberger bezeichnet bei Andrew Talle (2020 Seite 297f) und z.B. bei Christoph Wolff (2000, Seite 404), Schreibweise „Schwanberg“ bei Sackmann (2007, Seite 16). Bei letzterem steht, leicht irreführend, die Vorlage sei „zweifellos die autographe Reinschrift ihres Mannes“ gewesen. Was wohl nur für die Violinwerke gilt. Siehe im eben gegebenen Link:
No Longer Existing Sources: [F]: The autograph from which A. M. Bach prepared her copy. This autograph was probably already a clean copy. It is very likely that there were several autographs (composing, clean copy, and perhaps even another later clean copy).
Die Frage nach der Vorlage ist nicht müßig, und so macht es durchaus Sinn, eine Liste der Schreib- oder Denkfehler Anna Magdalenas aufzustellen (siehe Andrew Talle 2020, Seite 299). Es geht nicht um eine Verunglimpfung der bewundernswerten Schreiberin, sondern darum, eine Fortschreibung oder Sakrifizierung der in ihrer Situation unvermeidlichen Fehler zu vermeiden, wie sie übrigens auch bei J.S.Bach selbst vorkommen und dann selbstverständlich auch zu korrigieren sind.
ZITAT Andrew Talle (a.a.O. Seite 299)
Um einen einzelnen Fall herauszugreifen: „Wie könnte sie ganze Schläge einer Allemande (Suite III, T.21) … übersprungen haben?“ (Im folgenden Beispiel nach dem ersten Taktstrich, auf Zählzeit 2 – es fehlt eine Zählzeit.)
Wie es lauten muss:
Nebenbei: Anner Bylsma ergänzt natürlich auch solche Stellen! (Vgl. seine ergreifende späte Aufnahme hier, bei 7:18)
Sechs Suiten: Das Original der Abschrift von Anna Magdalena Bach HIER
Und in der Abschrift des Bach-Schülers Johann Peter Kellner HIER
Die verschiedenen Quellen im Vergleich (Marianne Dumas) HIER
* * *
Was ich mir 1955 in meinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können: die Wissenschaft hat doch einen Weg gefunden, einiges über Bachs privateste Situation herauszubringen, und zumindest indirekt sogar mit Anna Magdalenas Hilfe, ohne ihr allzuviel anzudichten. So rigoros Andrew Talle die Phantasien des australischen Forschers Martin Jarvis zerlegt, so wohlwollend verfährt er mit dem Buch von David Yearsley, dessen Thema ein konservatives Publikum möglicherweise erschrecken könnte: „Sex, Death, and Minuets“. Ich zitiere mit Sympathie, ohne richtig rot zu werden:
Yearsleys Plädoyer für Anna Magdalena Bachs sexuelles Selbstvewußtsein stützt sich zum Teil auf den Umstand, daß sie in den 1740er Jahren ein Hochzeitsgedicht kopiert hat, das einige gewagte Zweideutigkeiten enthält. Während andere Wissenschaftler vor ihm diese Anzüglichkeiten herunterspielten, geht Yearsley bereitwillig auf sie ein: „Daß Anna Magdalena Bach sich in ihrem musikalischen Notenbüchlein von 1725 Witze über Penisgröße erlaubt, ist eine Tatsache, die ebenso unwiderlegbar ist wie sie den Hütern des Bachschen Erbes peinlich war“ (S.43). Als Kontext bietet er eine Tour durch gedruckte Hochzeitsgedichte und stellt fest, daß das Vergnügen seiner Protagonistin an derlei Texten für ihre Zeit und ihr Umfeld durchaus typisch war. Indirekte Belege für A.M. Bachs musikalisches Selbstvertrauen kommen von aufschlußreichen Analysen verschiedener Kantaten, die ihr Mann vermutlich für sie komponierte, darunter besonders „Vergnügte Pleißenstadt“ BWV 216 (1728) und „O angenehme Melodei!“ BWV 210a (1729). Yearsley bespricht diese Werke auf eindrucksvolle Weise. In suggestiver Sprache vermittelt er den verführerischen Charakter von Bachs Musik und spekuliert fundiert über Anna Magdalenas Bühnenpersönlichkeit. Die Anforderungen, die der Komponist offenbar an sie stellte, lassen vermuten, daß sie in der Tat eine große Virtuosin war – offensichtlich konnte er sich darauf verlassen, daß sie ihre Partie mit der gefragten Koketterie präsentieren konnte. In seiner charakteristischen Ausdrucksweise malt Yearsley sich auch gleich die begleitende Gestik aus, zum Beispiel „eine elegante Hand, die sie auf die Brust legt, ein Senken des Kopfes oder eine Neigung zur Seite, um eine beginnende Ohnmacht anzudeuten, ein Lächeln, ein Zwinkern und andere bereitwillige Bekundungen von Freude und Verzückung“ (S.80). Indem er seine Diskussion auf textlichen wie musikalischen Details aufbaut, gelingt es dem Autor, ein stimmiges Bild von Anna Magdalena Bachs Bühnenpräsenz zu entwickeln; zugleich relativiert er die traditionelle Meinung, daß Bachs Musik viel Frömmigkeit enthält, aber die Freuden des Fleisches weitgehend ignoriert.
Quelle Andrew Talle a.a.O. Seite 304
O angenehme Melodei!
Kein Anmut, kein Vergnügen
Kommt deiner süßen Zauberei
Und deinen Zärtlichkeiten bei.
Die Wissenschaften andrer Künste
Sind irdnen Witzes kluge Dünste:
Du aber bist allein
Vom Himmel zu uns abgestiegen,
So musst du auch recht himmlisch sein.
Spielet, ihr beseelten Lieder,
Werfet die entzückte Brust
In die Ohnmacht sanfte nieder;
Aber durch der Saiten Lust
Stärket und erholt sie wieder.
Die hier avisierte Bühnenkunst findet man heute nicht ohne weiteres in der Alten Musik, obwohl alle wissen: es darf natürlich nicht antiquiert oder gar angestrengt klingen, aber doch nicht gleich kabarettistisch. Etwa so, wie die Gemälde von Gerrit van Honthorst es schon rund 100 Jahre früher ahnen ließen… (Wenn Sie mehr über die Interpreten der folgenden Aufnahme wissen wollen, gehen Sie bitte gleich auf „Ansehen auf Youtube“).
Ich gebe zu: dieser Blog-Artikel müsste allmählich ein Ende finden, aber etwas fehlt noch, fast möchte ich sagen: ein langgestreckter Höhepunkt der biographischen Ausführungen. Einmal die Aufklärung, dass zumindest das zweite Notenbüchlein 1725 „vor Anna Magdalena“ gedacht war, oder vielleicht gedacht, aber dann auch von anderen genutzt worden ist… “ Anzunehmen, daß sie auch für alle anderen Einträge auf irgendeine Weise verantwortlich war, hieße, die Beteiligung der übrigen involvierten Figuren zu mißachten“. (Seite 305)
Dann aber vor allem Andrew Talles Idee, nicht länger nur in A.M.Bachs unmittelbaren Lebenszeugnissen nach biographischen Auskünften zu suchen (es gibt keine), sondern in parallelen Lebensläufen anderer Frauen dieser Zeit. Es gibt z.B. Drei Autobiographien von Frauen des 18. Jahrhunderts. Von der Sängerin Angelika Rosa sogar eine Serie von eigenhändigen Briefen, deren Original allerdings bei einem Bombenangriff auf Magdeburg zerstört wurde. Und es klingt wie ein Märchen:
Eines Tages, als sie von einem benachbarten Dorf zurückkehrte, wo sie sich als Hauslehrerin vorgestellt hatte, begegnete sie auf dem Heimweg Fürst August Ludwig von Anhalt-Köthen (1697-1755), dem jüngeren Bruder und Nachfolger Fürst Leopolds. August Ludwig war mit ihrer skandalösen Familiengeschichte vertraut, und nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, bot er ihr an, sie für eine Anstellung bei Hofe in Betracht zu ziehen. Am darauffolgenden Tag schickte er ihr um 10 Uhr morgens einen „Läufer“, der sie aufforderte, sich noch am selben Tag um 2 Uhr vorzustellen. Nach ihrem Eintreffen bei Hofe wurde sie aufgefordert, auf dem Cembalo zu spielen, zur Begleitung ihres Lehrers zu singen und einige Stücke eines blinden Komponisten (…) vom Blatt zu spielen. „Das gelang mir denn auch so, daß ich vom Fürsten mit 200 Thalern Gehalt unter die Hofmusici aufgenommen wurde.“
Undsoweiter. Ich breche ab, und wenn Sie fragen „aber wie geht’s weiter?“ – so habe ich mein Ziel erreicht. Es steht ja alles im Bach-Jahrbuch 2020. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn sich ein zweiter australischer Spurensucher, Phantast und Filmemacher findet und daraus ein Drehbuch macht, das vom Mythos Anna Magdalena profitiert und um die Welt geht.
Nachtrag 4.12.2021 Die Geschichte ist noch nicht zuende:
Ein neues Buch ist da, ein Zeitbild unter dem Titel „Die Frau Capellmeisterin Anna Magdalena“, Autor: Eberhard Spree. Offenbar sehr empfehlenswert. Ich werde mich dieses Themas mit Sicherheit noch einmal annehmen, gerade weil es auch ein Zeitbild bietet. Einstweilen halte ich den Bericht der FAZ vom 17.11.21 für völlig glaubwürdig. Nachlesbar bei Perlentaucher hier oder bei bücher.de hier.
Der folgende Text stammt von Yogendra (Jens Eckert), veröffentlicht in seinem Newsletter India Instruments (es ist nur der Anfang, Fortsetzung zum Weiterlesen am Ende dieses Artikels). Ich habe lediglich einige Links eingefügt und ein paar farbige Markierungen vorgenommen. (JR)
Ideal und Wirklichkeit – The Disciple
– Eine Filmbesprechung von Yogendra –
International erfolgreiche Spielfilme, in denen klassische indische Musik eine zentrale Rolle spielt, gibt es nur alle paar Jahrzehnte. In Jalsaghar (Das Musikzimmer) zeigte Oscarpreisträger Satyajit Ray 1958 einen elegischen Abgesang auf die untergehende indische Aristokratie als Patronin von Musik und Tanz [Musikauswahl: Vilayat Khan]. Die klassisch indische Musiktradition selbst war dagegen schon erfolgreich den Weg vom höfischen Patronat in die demokratische Öffentlichkeit gegangen und stand in hoher Blüte. Mit Begum Akhtar, Roshan Kumari, Wahid Khan und Bismillah Khan waren herausragende Künstler*innen dieser Zeit in Jalsaghar in phänomenalen Performances zu sehen und zu hören.
Szenen des Filmes hier Mehrere Einzelszenen hier – auch hier (Junge singt + Esraj)
Als 1997 Rajan Khosas Film Dance of the Wind erschien, hatte die klassische indische Musik einen atemberaubenden Höhenflug der Instrumentalstile erlebt und gleichzeitig eine erstaunliche weltweite Popularität gewonnen. In Dance of the Wind weigert sich eine junge klassisch indische Sängerin rituell Schülerin ihrer Mutter und Lehrerin im Sinn der alten Guru-Shishya-Parampara Tradition zu werden. Nach dem Tod ihrer Mutter verliert die junge Sängerin ihre Stimme – und findet sie wieder, indem sie für ein Straßenmädchen selbst zur Gesangslehrerin wird. Der Film erzählte indische klassische Musik als Medium seelischer und spiritueller Heilung durch die erneuerte Anbindung an die alte Tradition.
In The Disciple, seit April 2021 auf Netflix und davor auf internationalen Filmfestivals zu sehen, schildert Chaitanya Tamhane jetzt in 4 ineinander verschachtelten Zeitebenen über etwa 30 Jahre den Lebensweg des fiktiven Khyal-Sängers Sharad Nerulkar. Als kleiner Junge wird Sharad von seinem Vater genötigt, Gesangskompositionen zu lernen statt draußen mit seinen Freunden zu spielen. Mit Anfang 20 ist er einer von drei Schülern eines renommierten Gesangsgurus. Einige Jahre später schlägt er sich als Gesangslehrer und mit kleinen Konzerten durch. Und am Ende sehen wir ihn als Familienvater und Pressesprecher eines Musikverlags. In Sharads Ringen mit sich selbst, mit seinem familiären Umfeld und mit den hehren alten Idealen der klassischen Musiktradition und schließlich in seinem Scheitern an den Bedingungen des kommerziellen Konzertbetriebs zeichnet der Film ein gnadenlos realistisches Bild der klassischen nordindischen Musiktradition im modernen Indien.
Weiterlesenhier (India Instruments Newsletter Übersicht Punkt 5.) Siehe dort auch den Link „Raga-Player“ zum Einhören (oder gleich hier.)
The Disciple ist außer bei Netflix auch bei mega.nz abrufbar.
Wo? Beim Körper. Beim physiologischen Körper also, kombiniert mit dem dinghaften Geigenkörper. Ich setze voraus, die Geige „sitzt“ (bei Anfängern kostet das natürlich Geduld und Zeit – Kinder kann man damit verrückt machen – dies nur im Hinterkopf – es wären Lektionen für sich). Wie funktioniert eigentlich das „Streichen“? Also, – nicht irgendwie, sondern eine Gerade ziehen, statt eines Kreises. Keine Ausrede („mein Englisch ist nicht gut genug“, auch das kommt). Das Auge genügt (und der gute Wille, der da ist, aber dich nicht unter Druck setzt). Sag nicht: dieser Lehrer gefällt mir nicht. Tu was er meint – und gefalle dir selbst. (No „unnecessary tension“!)
Wer ist unser You-Tube-Tutor? Bio (zitiert von seiner Web-Seite hier):
Eddy Chen has appeared as a soloist with the Queensland Symphony, Queensland Conservatorium Symphony, Queensland Youth, and Corda Spiritus of St Andrews orchestras. In 2010 he was awarded top prize in the Queensland Young Instrumentalist Competition and was a finalist in the prestigious National Youth Concerto Competition. In 2014 he was the Queensland finalist of the National Young Virtuoso Award. Eddy received his Bachelor of Music at the Queensland Conservatorium in 2014, where he studied under the guidance of Michele Walsh. While there, he won several scholarship prizes, including the Brisbane Club Award and the Ronald Clifford, Basil Jones Sonata, Owen Fletcher and Paganini prizes. As an orchestral musician, Eddy has been a casual violinist with the Queensland Symphony Orchestra since 2011 and with the Melbourne Symphony Orchestra since 2014. He was concertmaster of the Queensland Conservatorium Opera Orchestra in 2012 and 2014. Eddy suffers from a severe fear of cockroaches*, also known as katsaridaphobia.
*Kakerlaken
Und nun? Wenn ich alles ordentlich geübt habe, mit Fingern, Armen und Verstand, – lege ich dann los?
Nein, ich habe mir vor einiger Zeit noch eine kniffelige Übung zurechtgelegt, die ich nur in Zeitlupe und mit sorgsamer Andacht ausführen mag. Und erst, wenn ich damit nach geraumer Zeit fertig bin, – das weiß ich – , gehe ich auch gern ans Klavier und übe dort nur die linke Hand, und zwar notengetreu (oktavversetzt) genau das, was ich vorher auf der Geige verinnerlicht habe. Es ist nämlich nicht mein anmaßendes Werk, sondern die Grundlage einer Etüde von Chopin, die ich faszinierend finde. Wenn ich die linke Hand endlich zufriedenstellend erfasst habe, kann ich mich der rechten zuwenden, und ich bin mit mir und der Welt EINS. Oder irgendsoetwas. Aber: wir sind bei der Violine! (Mir ging es bei der Bearbeitung auch darum zu lernen, wie vollkommen bei Chopins Etüde schon der bloße Begleitpart ist.)
Und erst wenn wir über unseren Schatten springen und die verschiedenen Übe- und Hörweisen studieren wollen, die sich am anderen Instrument ergeben, wenden wir uns dem folgenden Hörbeispiel zu – es kann auch notorischen Geiger(erinne)n nicht schaden. Irgendwann werden sie von einem Klavier begleitet, daran geht kein Weg vorbei. Man beginnt beide Parts zu bedenken, alle Stimmen, das Ineinander der Harmonien und Rhythmen.
Sollte ich vielleicht die rechte Hand auch einmal für Geige bearbeiten, als überfälliger Hummelflugersatz?
Linke Hand ab 8:30, nächste Stufe 9:27, nächste 10:36. Dann rechts dazu, ab 11:05…
Letzte Stufe: ab 15:34, links und rechts zusammen, alles im Tempo und auch noch musikalisch…
Warum ich als Geiger überhaupt lernfreudig auf Pianist(inn)en schaue? Ich habe das Thema ja schon früher einmal behandelt, auch dieselben Noten vorgezeigt (siehe hier). Weil ich unterstelle, dass Menschen am Klavier (notgedrungen) bewusster Musik machen. Sie haben kein Vibrato als musikalisches Allheilmittel. Z.B. habe ich mir kürzlich eine CD mit Aufnahmen von vorwiegend kleinen Stücken besorgt, gespielt vom Idol meiner frühen Geigenzeit, Christian Ferras. Und es gefällt mir fast nichts (abgesehen von „Tzigane“). So dahingesagt klingt das vielleicht arrogant, aber es tut eher weh, und ich möchte dieser Frage „cool“ nachgehen. Geiger haben nichts anderes als ihre eine Stimme, – warum kann das nicht vollkommen sein, wie etwa in vielen Gesangsinterpretationen, die uns doch auch immer als höchstes Vorbild melodischen Spiels empfohlen werden? All diese Titel, von denen ich einige schon kenne aus „Die goldene Geige“, dem geliebten Vortragswerk meiner frühen 50er Jahre, wer weiß, wie das gekratzt hat. Und heute? – natürlich erkennbar dürftiger als dieser zweifellos ganz große Geiger… das Meckern habe ich allerdings gut gelernt. Durch die Schule der Alten Musik. Und der Neuen, durch Rudolf Kolisch und sein böses Wort von der Religion der Streicher.
Wieviel Üben?
Die Mühelosigkeit des Spiels, die der Anblick virtuoser Geiger:innen suggeriert, ist nicht selbstverständlich, beruht nicht auf „Naturbegabung“ und ist nicht ein für allemal abrufbar. Julia Fischer erzählt (7.6.22 SAT1 Bayern 17.30 h):
Wenn man drei Tage nicht übt, dann merkt man das ja schon. Und – ich hab das nie genossen, die Zeit ohne Geige, ich hab das auch nie gemacht tatsächlich, weil mich das unfassbar nervt, wenn ich mich dann wieder in Form bringen muss. Dann übe ich lieber ne halbe Stunde in den Ferien, ich übe eigentlich immer.
„Wenn die Natur … eine Musik wäre … würde sie vielleicht … so klingen“: ?????
Und wo die Pünktchen stehen, hört man sie schon, eine Klimpermusik von glibberiger Zartheit, – denkt man. Es hängt alles davon ab, ob sie der Wiese wirklich Luft lässt oder uns gleich jede Lust vergällt. Wie so oft in Naturfilmen. Aber es war mein Fehler, als erstes auf die Vorschau unten zu gehen. Und es wäre ein weiterer Fehler gewesen, die schlampige Überschrift für ein böses Omen zu halten: Expedtionen…?
Es wird ein atemberaubender Film!
HIER zur NDR-Sendung heute Abend – und bis 25. August 2021 abrufbar.
Nein, der Film über die Wiese war vollkommen schön. Musikalisch hervorragend unterstützt und vor allem, ohne den Eigenwert der Naturgeräusche zu schmälern. Noch wichtiger als die Musik war das Maß der Zeit, in der die Musik NICHT bemüht wurde. So behielt sie ihre Wirkung in den Passagen, die sparsam untermalt wurden. Hervorragend! Den Namen JAN HAFT merke ich mir als einen der besten Naturfilmer, die ich kenne. HIER (Wikipedia). Mehr von und mit ihm (Gespräch 5:34) hier
Unmittelbar anschließend folgte sein ebenso eindrucksvoller Film: Der Bach. Die Musik scheint „ambitionierter“, aber ebenfalls mit erkennbarem Mut zur Stille.
Einen Teil der rund 700 Wiesen – wie jene rund um die Gemeinde St. Anna am Aigen im steirischen Thermen- und Vulkanland – hat der Naturschutzbund Steiermark geschenkt bekommen; von Menschen, die wollen, dass sie in ihrer Ursprünglichkeit erhalten bleiben und zur Arche Noah für bedrohte Arten werden. Denn jede Wiese ist durch das Gestein, die Zusammensetzung der Erde, der Höhenlage, der Neigung zur Sonne, der Tiefgründigkeit des Bodens, der Feuchtigkeit und vieler weiterer Faktoren anders. Jede ist einzigartig. Jede hat ihre Besonderheiten. Manche bringen ein Meer von prächtiger blauer Iris hervor, andere seltene, unscheinbare Orchideen. „Wer diesen Film sieht, wird die Bedeutung jedes einzelnen Quadratmeters naturnaher Wiese neu bemessen.“, so Produzentin Ursula Merzeder. Es ist eine geheimnisvolle Welt für sich, die Wiesenwelt in der Steiermark.
Eine Dokumentation von Waltraud Paschinger. (Abrufbar bis 14.08.2024)
https://www.3sat.de/dokumentation/natur/geheimnisvolle-wiesenwelt-100.html hier
Dieser Beitrag ist und bleibt ein Provisorium, der auf Umwegen vielleicht einer Wahrheitsfindung persönlicher Art dient. Am Ende müsste ich alles neu fassen. Und die Arie am Anfang der beeindruckenden Gesamtaufführung des „Don Giovanni“ in Salzburg hatte mir nicht einmal besonders gefallen, – ich wollte nur einen philosophischen Text besser verstehen, als es mir in früheren Jahren möglich war. (Anknüpfend an den Salzburg-Artikel hier.)
Zum Hören als erstes dies hier einstellen 31:24 Szene V Elvira „A chi mi dice mai“ (38:05)
Zitate aus dem Buch“Don Giovanni / Texte, Materialien, Kommentare / mit einem Essay von Attila Csampai“ / rororo Opernbücher 1981/1986), darin der Text von Søren Kierkegaard über den inneren musikalischen Bau der Oper, aus „Entweder-Oder“ (1842):
Ich habe beim Wiederlesen des Artikels meine Notiz von einst (oben auf der wiedergegebenen Seite 238) sicherlich zu wichtig genommen, es war ja im Grunde nur ein Wort, über das ich stolperte. Das Wort Lauf, das in der Musik eben keinen Dreiklang meint, sondern ein Reihengebilde virtuosen Charakters aus nebenanderliegenden und aufeinanderfolgenden Töne. Am Ende der ersten Arie, die Donna Elvira singt, – „A chi mi dice mai“ – befindet sich jedoch kein „Lauf“, sondern eine Dreiklangsbrechung über drei Takte hinweg, nebst einer sofortigen Wiederholung, der eine ebenfalls doppelte Abschlusskadenz folgt.
Das Wort „Lauf“ ließ mich vermuten, dass der Autor die Abschlüsse der beiden Elvira-Arien verwechselt hat, denn die zweite – „Ah fuggi il traditor“ – endet tatsächlich mit Läufen, die dieselbe Funktion haben, nämlich den virtuosen Ausbau der abschließenden Kadenz. Eine Verwechslung hätte mich ermutigt, auch andere Unklarheiten des Textes dem schwächelnden Erinnerungsvermögen des Autors zuzuschreiben (der natürlich über keine Tonaufnahme verfügte, vielleicht aber auch nicht einmal über einen Notentext), andernfalls blieb der Schwarze Peter bei mir allein. Das war schwer zu ertragen. Ende der Szene X „Ah fuggi il traditor“:
Bliebe noch der Strohhalm eines Übersetzungsfehlers. Und in der Tat erweist sich die Stelle in einer anderen Übersetzung als anders gemeint (im folgenden rot markiert). Darüberhinaus gibt es neue Verständnisprobleme und Fehler der drucktechnischen Übertragung, z.B. Lust statt Luft, seiner statt feiner ebenfalls rot markiert).
Wiedergabe nach ZENO siehe hier. Erstdruck des Originaltextes: Kopenhagen 1843 (unter dem Pseudonym Victor Eremita). Es handelt sich um die erste deutsche Übersetzung durch Alexander Michelsen und Otto Gleiß von 1885. Dieselbe wie in Textlog.
Da die in der Oper auftretenden Personen nicht so durchdacht zu sein brauchen, daß sie als Charaktere durchsichtig werden, so folgt auch hieraus, was schon vorher hervorgehoben wurde, daß die Situation sich nicht vollkommen entfalten kann, sondern bis zu einem gewissen Grade von der Stimmung getragen wird. Dasselbe gilt von der Handlung in der Oper. Was man in strengerem Sinne so nennt, die mit Bewußtsein eines Zweckes ausgeführte Handlung, kann in der Musik ihren Ausdruck nicht finden, wohl aber, was man unmittelbare Handlung nennen darf. Beides ist im Don Juan der[118] Fall. Daß die Handlung hier durchweg eine unmittelbare ist, ergibt sich aus dem, was von ihm als Verführer gesagt ist. Daher ist es auch völlig in der Ordnung, daß in dieser Oper die Ironie so vorherrschend ist: denn die Ironie ist und bleibt der Zuchtmeister des unmittelbaren, gedankenlosen Lebens. So ist die Erscheinung des Kommodore eine ungeheure Ironie: denn Don Juan kann zwar jedes Hindernis besiegen, aber ein Totengespenst läßt sich bekanntlich nicht totschlagen. Zum Beweise, daß die Situation durchweg von der Stimmung beherrscht ist, darf ich an die Bedeutung erinnern, die Don Juan durchgehend für das Ganze hat, und an die nur relative Existenz der übrigen Personen im Verhältnis zu ihm. An einer einzelnen Situation will ich nachweisen, was ich meine. Ich wähle Elviras erste Arie. Das Orchester stimmt das Vorspiel an; Elvira tritt auf. Die in ihrer Brust wütende Leidenschaft muß sich Lust [Luft?] machen, und ihr Gesang hilft ihr dazu. Dies wäre je doch zu lyrisch, um eigentlich eine
Situation zu bilden; ihre Arie würde dann denselben Charakter tragen, wie ein Monolog im Drama. Der Unterschied bestände nur darin, daß der Monolog zunächst das Universelle in individueller Form gibt, die Arie aber das Individuelle in universeller Fassung. Dies würde, wie gesagt, für eine Situation zu wenig sein. Daher bleibt’s auch nicht dabei. Im Hintergrunde sieht man Don Juan und Leporello, voll gespannter Erwartung, das [daß] die Dame, welche sie schon durchs Fenster bemerkt hatten, ihnen vor Augen trete. Wäre es nun ein wirkliches Drama, was wir vor uns haben, so würde die Situation nicht darin liegen, daß Elvira auf der Bühne steht. [ , ] Don Juan im Hintergrunde, vielmehr in dem unerwarteten Zusammentreffen. Und das Interesse beruhte dann auf der Art und Weise, wie Don Juan sich heraushelfen würde. Auch in der Oper erhält das Zusammentreffen seine Bedeutung, aber eine sehr untergeordnete. Die Begegnung will gesehen, die Situation aber gehört werden. Die Einheit der letzteren ist nun die Harmonie, in welcher Elviras und Don Juans Stimmen ineinander tönen. Es ist daher auch ganz richtig, daß Don Juan sich so weit wie möglich zurückhält; denn er soll womöglich gar nicht gesehen werden, so wenig vom Publikum als von Elvira. Die Arie der letzteren[119] setzt sich fort. Ihre Leidenschaft weiß ich nur als Liebeshaß zu charakterisieren, eine gemischte, aber doch metallreiche, tönende Leidenschaft. Ihr Inneres ist in unruhiger Wallung. Nachdem sie sich Lust [Luft] gemacht hat, ermattet sie einen Augenblick, sowie jeder leidenschaftliche Ausbruch ermattet: es folgt in der Musik eine Pause. Aber ihre innere Bewegung läßt ahnen, daß ihre Leidenschaft sich noch nicht erschöpft hat: das Zwerchfell ihres Zornes muß noch stärker erschüttert werden. Wodurch aber, durch welches Incitament kann diese neue Erschütterung bewirkt werden? Hierzu kann mir eines dienen – Don Juans Spott. Mozart hat daher – möchte ich ein Grieche sein! denn alsdann würde ich sagen: ganz göttlich – die Pause benutzt, um den Spott des Kavaliers anzubringen. Jetzt lodert die Leidenschaft stärker auf; noch gewaltiger bricht sie in ihrer Brust, noch gewaltiger in Tönen hervor. Einmal noch wiederholt sie sich; dann erbebt ihr Inneres, dann ergießen sich ihr Zorn, ihr Schmerz, einem Lavastrome gleich, in jener bekannten, den Schluß der Arie bildenden, Kadenz (Triller). Hier sieht man, was ich mit den Worten sagen wollte: Don Juan wecke in der Elvira seinen Widerhall, und daß dies etwas andres ist als bloße Phrase. Der Besucher der Oper soll Don Juan nicht zusammen mit Elvira sehen noch hören, in der Einheit der Situation soll er ihn in der Elvira, aus der Elvira hören. Wohl singt Don Juan, aber so, daß es dem seiner [feiner] entwickelten Ohre klingt, als komme es von Elvira selbst. Sowie die Liebe ihren Gegenstand schafft, ebenso auch der bittere Groll. Sie ist von Don Juan besessen. Jene Pause und Don Juans Stimme machen die Situation dramatisch; aber durch die Leidenschaft Elviras, in welcher die des Don Juan widerhallt, wird die Situation erst musikalisch. Als solche beurteilt, ist sie unvergleichlich. Wird hingegen Don Juan als Charakter betrachtet, und Elvira ebenfalls, so muß die Situation für verfehlt gelten; dann ist es unrichtig, Elvira sich im Vordergrunde expektorieren [Gefühle aussprechen] und Don Juan im Hintergrunde spotten zu lassen; denn alsdann wird verlangt, daß ich sie zusammen hören soll, ohne daß doch das Mittel hierzu vorhanden ist, da sie beide Charaktere sind, die unmöglich einen solchen harmonischen Einklang herstellen können. Sind sie Charaktere, so bildet ihr Zusammenstoß die Situation.[120]
* * *
Allerdings sind die Verständnisprobleme noch nicht gelöst, im Gegenteil: es tauchen neue auf (abgesehen einmal von Übertragungsfehlern). Hört (sieht) Elvira den „spottenden“ Don Giovanni überhaupt, der zu Leporello spricht? Ist er für sie nicht erst vorhanden, wenn er sie mit „Signorina!“ anspricht? Auch er erkennt sie ja erst im nächsten Augenblick: „Himmel! Was seh ich!“ – und offenbar berücksichtigt der Philosoph nicht die Anwesenheit und Einbeziehung Leporellos in die Harmonie der Stimmen.
Dennoch sind Kierkegaards Anmerkungen viel hintergründiger als mir bisher aufgegangen war. Die Frage ist nur, ob er Ironie und Spott als gleichbedeutend behandelt. Wieso ist „die Erscheinung des Komturs eine ungeheure Ironie“ ? Was meint er mit dem Wort „Situation“? Offenbar meint er: „psychologische Situation“, nicht eine äußere Konstellation. Man muss die kleingedruckte Anmerkung dazu gründlich verstehen:
Er reflektiert also im Ernst, dass der „Zuschauer“ nicht darüber informiert sein könnte, dass Elvira seine Ehefrau ist. In der Salzburger Aufführung wird dies überdeutlich gemacht durch die Nacktheit einer „imago“, eines zweiten Elvira-Ichs, die sichtbare Schwangerschaft und durch das sichtbar herumwandernde Kind, die Frucht der „ehelichen“ Begegnung, wenn man es so nennen darf. Zudem hebt Elvira wenig später, Im Rezitativ, – beiläufig? für „den Zuschauer“ – sogar den gemeinsamen Wohnort Burgos hervor, „in casa mia“, wo er sie nach drei Tagen Ehe verlassen habe). Und Leporello meint abfällig: „sie redet wie ein Buch“. Man sollte genau beachten, wann die Personen einander real wahrnehmen, wann weiterhin beiseite gesprochen wird (in Klammern) und wo es heißt: (In der Zwischenzeit flieht Don Giovanni) und Elvira dennoch zu Don Giovanni spricht (den sie noch anwesend glaubt).
Das Wort Ironie gebraucht Kierkegaard offenbar im Bedeutungsumfang der deutschen „romantischen Ironie“, die ich erst in meiner „Germanistik-Zeit“ Anfang der 60er Jahre zu begreifen begann, als ich Kluckhohn studierte: es handelt sich eben nicht um Ironie als eine „mutwillige Zerstörung der Illusion“:
Quelle Paul Kluckhohn: Das Ideengut der deutschen Romantik / Max Niemeyer Verlag Tübingen 1961
So heißt es auch auf der Seite vorher: „Gerade aus dem Sinn für das Unendliche, das weit erhaben ist über jedes menschliche Werk und jede menschliche Liebe, erwächst die Ironie.“
Im „Lexikon der Grundbegriffe“ von Otto Bantel (Hirschgraben Verlag Frankfurt am Main 1962 eite 38) steht der treffende Hinweis:
Eine tragisch-ironische Situation ergibt sich häufig im Drama; dramaturgisch wird sie auch dadurch herbeigeführt, daß der Zuschauer »im Bilde « ist, die Figur auf der Bühne aber nicht.
Das gilt auch für den leidenschaftlichen Menschen, der leicht von hoher Warte aus gedemütigt werden kann, wenn er „außer sich“ gerät. Donna Elvira zum Beispiel. Daher verzeiht man der Darstellerin unwillkürlich auch das große Vibrato, die Kraft der Stimme, die gerade noch gebändigt wird, bis hinein in den „Lauf“, die Kadenz-Koloratur.
Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch der Essay „Tragische Ironie in Mozarts Don Giovanni“ von Ernst Lert, siehe rororo-Dokumentation S.246-250, wo insbesondere die Ironie der Komtur-Szene benannt wird, die Doppelbödigkeit in der Distanzierung zwischen Subjekt und Welt:
Heute ist es einfacher, die verschiedensten Kontexte der Ironie zu bedenken, indem man Wikipedia befragt und von einem Artikel zum nächst verlinkten übergeht. Ironie , romantische Ironie usw.
Exkurs I: Salzburg in der ZDF-Aspekte-Sendung 13.08.21 mit Jo Schück Hier
Betr. Don Giovanni-Produktion
Sonderthema Teodor Currentzis hier (6:45 min) ab 1:45 + Thema Trakl bzw. ab 3:41 über „Don Giovanni“, bei 5:24 „für die zahlreichen Vergewaltigungsopfer“? vgl. hierzu Attila Csampai über „das falsche Dogma vom gewaltsamen Verführer“ (rororo 1981/1986 Seite 12). Heute, unter dem Eindruck der „Me-too“-Debatte, neigt man dazu, auch Darstellungen der Vergangenheit anachronistisch zu beurteilen. Aber seit Erfindung des Theaters stehen auf der Bühne Verbrecher und sie werden so behandelt, wie es dem jeweiligen Stück entspricht, nicht nach einem Normenkatalog. Im wirklichen Leben bestehen wir auf dem Unterschied zwischen Mord und Totschlag, ob es Shakespeare recht ist oder nicht. Aber es wäre auch verständlich, wenn es uns womöglich mehr um Shakespeare und Mozart geht als um die Auslegung des Bürgerlichen Gesetzbuches.
ZDF Mediathek – abrufbar bis 13.08.22
Exkurs II: Salzburger Festspiele Currentzis Mozart-Programm (!!!) 3sat Hier am Ende ab 01:13:58 Rezitativ u Arie “Non mi dir“ aus „Don Giovanni“, einzigartig gesungen von Nadezhda Pavlova, Sopran, derselben Sängerin die in der Don-Giovanni-Aufnahme als Donna Anna mit derselben Aria (und dem vorangehenden Rezitativo „Crudele?“) ab 3:09:46 bis 3:16:26 zu erleben war. Die Wirkung dieses Stückes steht und fällt mit dem hohen Register der Sängerin. Berückend schön, wenn nach dem Rezitativ-Anfang bereits im Orchester die Cantilene der Larghetto-Arie einsetzt, als sei es ein Zitat (ich glaubte, diese Melodie schon von Don Ottavio gehört zu haben), stattdessen scheint die Stimme zum Rezitativischen zurückzulenken, und dann steht plötzlich wie ein Vogelruf das hohe B im Raum, gleichsam einer anderen Welt angehörend, – „abbastanza“ : genug [Fürsprache] – und geht in die absteigende Wendung über, – „per te“ : für dich – , die dem delikaten Intervall der verminderten Quarte – auf „mi“ – den Rezitativabschluss „parla amore“ folgen lässt: das ist auf engstem Raum ein großes Psychogramm.
Anmerkung: völlig plausibel, dass die Sängerin im drittletzten Takt des Rezitativs auf der vierten Zählzeit den Vorhalt nicht als AS sondern als A auffasst. Den hohen Ton B, der einem in Erinnerung bleibt, übertrifft sie um eine Terz in der schönen Kadenz, die sie auf der Fermate vor der Reprise der Laghetto-Arie einfügt (01:17:48). Unvergesslich diese Rückkehr zum Thema „Non mi dir, bell‘ idol mio“.
Seit wann kennen wir uns? Ich habe das vor rund 15 Jahren schon einmal reflektiert, allerdings so, dass er sagte: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr“. Es war ein Scherz, denn er wusste durchaus, wie ichs meine. Allerdings habe ich mich auch an ein Bilderbuch meiner Kindheit erinnert, das mich mit folgender Maxime erschreckte: Ruhe recht und schone niemand! Und heute erhielt ich die Mail eines Kommilitonen von einst, der in die gestrige Klassikforum-Sendung in WDR3 mit Reinhard Goebel hineingehört hat: „Er plauderte über Gott und Harnoncourt und auch die Welt, ließ aber an anderen kaum ein gutes Haar.“ Wie unterschiedlich doch die menschliche Wahrnehmung funktioniert. Mir fiel auf, wie liebevoll Goebel immer wieder über seine Lehrer sprach (Franzjosef Maier, Igor Ozim oder Marie Leonhardt zum Beispiel) und wie hart zuweilen über sich selbst (über sein spätes Violin-Examen in Rostock, über die Takt-Schwerpunkte in seiner alten Aufnahme des Pachelbel-Kanons, die gleichwohl als kritisches Gegenstück zu der Version mit Schmidt-Isserstedt und dem NDR-Orchester auf Anhieb begeistern konnte). Wie auch immer man seine Arbeit und seinen Lebensweg betrachtet: er ist ein Phänomen sondergleichen.
Aus dem JR-Beitrag 2005 (vollständiger Text siehe hier):
Mehr über Reinhard Goebel hier (Wikipedia) und hier (Website) und eher privat:
Bücherwände allüberall!
Aber dort…
… stehen zwei Bände, die ich auch habe.
Immerhin!
Reinhard Goebel: Beethovens Welt (ohne Beethoven) siehe hier
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Daumen drauf: 19. Jahrhundert er ist ein Frauenversteher unentwegt „präsent“
Was mir aus den Gesprächen im Moment besonders festhaltenswert erscheint, also: über das hinaus, was RG schon in dem GersteinTelekolleg über die Brandenburgischen Konzerte ausgeführt hatte, seine Charakteristik der Concertos: I die Jagd HÖRNER, II der Ruhm TROMPETE, III die Musen: Instrumente in DREIERGRUPPEN, IV der Friedensfürst FLÖTEN, V der Kriegsherr 16tel-REPETITION, VI die schöne Aussicht aufs Jenseits GAMBEN: all das gilt nur für den jeweils ersten Satz.
Wer ist wer? Es gibt keine Langeweile. Der weite Himmel über Siegen!
Alle Fotos: E.Reichow
Und etwas Ähnliches in live und lebendig? Hier:
Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal bei der Erinnerung an die Phantasiewelt meiner frühen Kindheit auch an das VI. Brandenburgische Konzert von Bach denken würde:
JR 1945 (?) Waldemar Bonsels 1940 (Siehe Bio hier!!!)