Vorbemerkung nach fast 4 Jahren: ich habe diesen Artikel am 23.5.2021 (war es Pfingsten?) geschrieben und mochte ihn dann nicht veröffentlichen. Warum nicht – ist mir entfallen. Heute fand ich ihn ganz interessant, er beruht ja auf ernst zu nehmenden Erfahrungen. Das muss man ertragen… (14.3.25)
Ein Lied nicht verstehen
Es geht um ein Verbrechen, um die Anklage eines herzlosen Menschen, um die Überbrückung von Milieu-Schranken, um die Verurteilung eines jähzornigen reichen Mannes, der erwiesenermaßen kein Herz hat. Keine Empathie! Wer will sich das schon nachsagen lassen. Nachsicht für den Antipathen! Die Parteinahme für wen auch immer, sie kostet nichts. Und so klingt es auch. Und der Journalist? Er weiß längst, dass dies eins der schönsten Lieder ist, die Bob Dylan je geschrieben hat. Unser Folk-Nobel-Preisträger. Wirklich dieses Lied? Dasselbe, das ich jetzt auch kenne? Und er weiß auch noch, was Bob Dylan in diesem Augenblick gedacht haben mag: „Wäre diese Gitarre eine Waffe, würde ich schießen.“ Jetzt ist es zumindest spannend geworden. Ich muss diese Szene finden. Oder wenigstens das Lied.
Neulich hörte ich, wie eine Freundin der Familie, sagen wir: eine gute Tante, wie sie sich über eins der schönsten Lieder der Romantik mokierte , „Die Mondnacht“ von Schumann/Eichendorff, und zwar in der Interpretation von Christian Gerhaher; wir hatten ihr den Musik-Link geschickt, weil die letzten Zeilen erst kürzlich wieder über einer Todesanzeige gestanden hatten und bei einem Telefonat zum Thema wurden. „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus …“ Sie hat sich die Aufnahme dann freundlich angehört und gemeint: das ist nicht mein Ding, es erinnert mich an Hape Kerkeling, an dies Lied mit dem „Hurz !“ (Eigentlich eine Szene, die auf höchst ambitionierte Zirkel der Neuen Musik zielt, nicht auf den Kunstgesang überhaupt.)
Die Frage ist, wie man solche Differenzen überwinden kann, gerade wenn man – „volksnah“ – solche kleinen Befremdlichkeiten ausräumen will.
Wie kann man solche Fallgruben des Lebens, zugegeben: in einem nicht so zentralen Bereich, überwinden? Friede den Hütten und auch den Palästen? Wenigstens in den Liedstrukturen.
Noch ein Beispiel: Gesetzt also, ich kenne den Volkssänger Bob Dylan gar nicht, abgesehen von seiner Bekanntheit. Ich verstehe fast nichts von der ganzseitigen Ehrung zu seinem Achtzigsten in der Süddeutschen, verfasst von Willi Winkler, einem renommierten Kulturjournalisten, von dem im Laufe der Jahrzehnte schon viel Kluges im Feuilleton zu lesen war. Noch nie ist mir der Gedanke gekommen, dass der Text, den ich heute von ihm lese, zu lesen versuche, die allbekannten Phänomene der Folkgeschichte etwas insiderhaft mystifiziert. Ich könnte es achselzuckend beiseitelegen, aber da gab es doch einen irritierenden Rückstau, der nachwirkt. Gleich zu Anfang (siehe oben im Original) war von einem frühen Fernsehauftritt des Sängers die Rede und in einer Weise, als habe dort etwas Gefährliches in der Luft gelegen, jedoch: „Was dann folgt, ist eines der schönsten Lieder, die Dylan je geschrieben hat, „The Lonesome Death of Hattie Carroll“.
So etwas bringt mich aus der Ruhe: „je geschrieben hat“. Der Blick auf ein ganzes Leben also, und dieser Superlativ. Und ich, sein Altersgenosse, ich sitze hier und erinnere mich an gar nichts, und dann endlich doch, aber an ein ganz anderes Lied.
1964 also. Ehrlich gesagt, er war damals kaum jünger als ich, und schon damals hätte mein Alter Ego, das ich immer wieder gern einsetze, auf sein Lied nicht besonders begeistert reagiert. Ich spreche von der Melodie: absteigender E-dur-Sext-Akkord mit Pentatoneinsprengseln, beim „Baltimore Hotel“ vom Grundton e aus aufsteigend und auf der Terz ruhend, dreimal oder mehr, bis „first-degree murder“. Ist das eine Melodie? Jetzt wieder von oben ansetzend, schrittweise abwärts bis zur Terz, gleich anschließend von der Sext zur Terz, das gehört zusammen, dann noch 1mal, allerdings jetzt von der Quart abwärts zum Grundton. Ich analysiere nicht, ich folge den Zeilen und Linien. Aber – gleicht es nicht dem berühmteren Lied, das ich ewig lange kenne, fast plagiatsmäßig, früh auch auf deutsch: „Sag mir, wo die Blumen sind“ (engl. hier )? Wahrscheinlich liebt man dieses Lied nur dank Marlene Dietrich, weil es einst zum Mitsummen und Träumen animierte. Nein, die Melodie ist wirklich auch komplexer und zugleich runder, weniger hysterisch wiederholt, inhaltlich klar positioniert, – ohne unterderhand Konsequenzen einzufordern. Zum Thema: Bob Dylan 1964 – ich hörte in Köln-Niehl unentwegt Wagners „Ring“ und „Tristan“, keine Zeit, dies hier könnte mir entgangen sein:
Der Text steht bei Youtube drunter, ich sollte diesen Zeilenbandwurm wenigstens beim Mitverfolgen in Strophen verwandeln:
Lyrics: William Zanzinger killed poor Hattie Carroll With a cane that he twirled around his diamond ring finger At a Baltimore hotel society gathering And the cops were called in and his weapon took from him As they rode him in custody down to the station And booked William Zanzinger for first-degree murder But you who philosophize disgrace and criticize all fears Take the rag away from your face Now ain’t the time for your tears William Zanzinger, who at twenty-four years Owns a tobacco farm of six hundred acres With rich wealthy parents who provide and protect him And high office relations in the politics of Maryland Reacted to his deed with a shrug of his shoulders And swear words and sneering, and his tongue it was snarling In a matter of minutes, on bail was out walking But you who philosophize disgrace and criticize fears Take the rag away from your face Now ain’t the time for your tears Hattie Carroll was a maid in the kitchen She was fifty-one years old and gave birth to ten children Who carried the dishes and took out the garbage And never sat once at the head of the table And didn’t even talk to the people at the table Who just cleaned up all the food from the table And emptied the ashtrays on a whole other level Got killed by a blow, lay slain by a cane That sailed through the air and came down through the room Doomed and determined to destroy all the gentle And she never done nothing to William Zanzinger And you who philosophize disgrace and criticize all fears Take the rag away from your face Now ain’t the time for your tears In the courtroom of honor, the judge pounded his gavel To show that all’s equal and that the courts are on the level And that the strings in the books ain’t pulled and persuaded And that even the nobles get properly handled Once that the cops have chased after and caught ‚em And that the ladder of law has no top and no bottom Stared at the person who killed for no reason Who just happened to be feelin‘ that way without warnin‘ And he spoke through his cloak, most deep and distinguished And handed out strongly, for penalty and repentance William Zanzinger with a six-month sentence Oh, but you who philosophize disgrace and criticize all fears Bury the rag deep in your face For now’s the time for your tears.
Übersetzung Hier
Und die Szene, die Willi Winkler analysiert hat, – wäre sie auch bedeutend, wenn der junge Mann früh aus dem Leben gerissen worden wäre, wie etwa Rudi Dutschke? Ohne eine unendliche Werkliste und ohne den Nobelpreis?
Aus der Werkliste MGG Bob Dylan 2001
Am Rande (autobiographische Bruchstücke):
Woody Guthrie, Umm Kulthumm (!)
Christian Williams (Hg.): Bob Dylan In eigenen Worten / Aus dem Amerikanischen von Clemens Brunn / Palmyra Verlag Heidelberg 2001 ISBN 3-930378-34-5 Umschlagfoto: Mark Seliger/Omnibus Press
Bob Dylan (Wikipedia hier): Kurz vor Ablauf der Frist am 10. Juni 2017 lieferte er die Preisrede ab, die er am 4. Juni 2017 in Los Angeles aufgenommen hatte. Er spricht darin, von Klaviermusik unterlegt, über sein Verhältnis zur Literatur und seine prägenden Vorbilder. (Zitat aus Wikipedia)