Archiv für den Monat: November 2022

Klassische Schönheit

Zur historischen Auffassung (1795)

Juno Ludovisi (Wiki) s.a. hier

Was Friedrich Schiller dazu sagt:

Der Mensch, wissen wir, ist weder ausschließend Materie, noch ist er ausschließend Geist. Die Schönheit, als Consummation seiner Menschheit, kann also weder ausschließend bloßes Leben sein, wie von scharfsinnigen Beobachtern, die sich zu genau an die Zeugnisse der Erfahrung hielten, behauptet worden ist, und wozu der Geschmack der Zeit sie gern herabziehen möchte; noch kann sie ausschließend bloße Gestalt sein, wie von spekulativen Weltweisen, die sich zu weit von der Erfahrung entfernten, und von philosophirenden Künstlern, die sich in Erklärung derselben allzusehr durch das Bedürfniß der Kunst leiten ließen, geurtheilt worden ist:Zum bloßen Leben macht die Schönheit Burke in seinen philosophischen Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabenen und Schönen. Zur bloßen Gestalt macht sie, soweit mir bekannt ist, jeder Anhänger des dogmatischen Systems, der über diesem Gegenstand je sein Bekenntniß ablegte: unter den Künstlern Raphael Mengs in seinen Gedanken über den Geschmack in der Malerei; Anderer nicht zu gedenken. So wie in allem, hat auch in diesem Stück die kritische Philosophie den Weg eröffnet, die Empirie aus Prinzipien und die Spekulation zur Erfahrung zurückzuführen. sie ist das gemeinschaftliche Objekt beider Triebe, das heißt des Spieltriebs. Diesen Namen rechtfertigt der Sprachgebrauch vollkommen, der alles das, was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist und doch weder äußerlich noch innerlich nöthigt, mit dem Wort Spiel zu bezeichnen pflegt. Da sich das Gemüth bei Anschauung des Schönen in einer glücklichen Mitte zwischen dem Gesetz und Bedürfniß befindet, so ist es eben darum, weil es sich zwischen beiden theilt, dem Zwange sowohl des einen als des andern entzogen. Dem Stofftrieb wie dem Formtrieb ist es mit ihren Forderungen ernst, weil der eine sich, beim Erkennen, auf die Wirklichkeit, der andere auf die Nothwendigkeit der Dinge bezieht; weil, beim Handeln, der erste auf Erhaltung des Lebens, der zweite auf Bewahrung der Würde, beide also auf Wahrheit und Vollkommenheit gerichtet sind. Aber das Leben wird gleichgültiger, so wie die Würde sich einmischt, und die Pflicht nöthigt nicht mehr, sobald die Neigung zieht; eben so nimmt das Gemüth die Wirklichkeit der Dinge, die materiale Wahrheit, freier und ruhiger auf, sobald solche der formalen Wahrheit, dem Gesetz der Nothwendigkeit, begegnet, und fühlt sich durch Abstraktion nicht mehr angespannt, sobald die unmittelbare Anschauung sie begleiten kann. Mit einem Wort: indem es mit Ideen in Gemeinschaft kommt, verliert alles Wirkliche seinen Ernst, weil es klein wird, und indem es mit der Empfindung zusammentrifft, legt das Nothwendige den seinigen ab, weil es leicht wird.

Wird aber, möchten Sie längst schon versucht gewesen sein mir entgegenzusetzen, wird nicht das Schöne dadurch, daß man es zum bloßen Spiel macht, erniedrigt und den frivolen Gegenständen gleichgestellt, die von jeher im Besitz dieses Namens waren? Widerspricht es nicht dem Vernunftbegriff und der Würde der Schönheit, die doch als ein Instrument der Kultur betrachtet wird, sie auf ein bloßes Spiel einzuschränken, und widerspricht es nicht dem Erfahrungsbegriffe des Spiels, das mit Ausschließung alles Geschmackes zusammen bestehen kann, es bloß auf Schönheit einzuschränken?

Aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel, und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet? Was Sie, nach Ihrer Vorstellung der Sache, Einschränkung nennen, das nenne ich, nach der meinen, die ich durch Beweise gerechtfertigt habe, Erweiterung. Ich würde also vielmehr gerade umgekehrt sagen: mit dem Angenehmen, mit dem Guten, mit dem Vollkommenen ist es dem Menschen nur ernst; aber mit der Schönheit spielt er. Freilich dürfen wir uns hier nicht an die Spiele erinnern, die in dem wirklichen Leben im Gange sind und die sich gewöhnlich nur auf sehr materielle Gegenstände richten; aber in dem wirklichen Leben würden wir auch die Schönheit vergebens suchen, von der hier die Rede ist. Die wirklich vorhandene Schönheit ist des wirklich vorhandenen Spieltriebes werth; aber durch das Ideal der Schönheit, welches die Vernunft aufstellt, ist auch ein Ideal des Spieltriebes aufgegeben, das der Mensch in allen seinen Spielen vor Augen haben soll.

Man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nämlichen Wege sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt. Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit und an dem edlern Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators oder seines libyschen Gegners sich labt, so wird es uns auf diesem einzigen Zuge begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen.Wenn man (um bei der neuern Welt stehen zu bleiben) die Wettrennen in London, die Stiergefechte in Madrid, die Spectacles in dem ehemaligen Paris, die Gondelrennen in Venedig, die Thierhatzen in Wien und das frohe, schöne Leben des Corso in Rom gegeneinander hält, so kann es nicht schwer sein, den Geschmack dieser verschiedenen Völker gegeneinander zu nuancieren. Indessen zeigt sich unter den Volksspielen in diesen verschiedenen Ländern weit weniger Einförmigkeit, als unter den Spielen der feineren Welt in eben diesen Ländern, welches leicht zu erklären ist. Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt, d. i. Schönheit sein, indem sie ja dem Menschen das doppelte Gesetz der absoluten Formalität und der absoluten Realität diktiert. Mithin thut sie auch den Ausspruch: der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen.

Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn wir erst dahin gekommen sein werden, ihn auf den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals anzuwenden; er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern Lebenskunst tragen. Aber dieser Satz ist auch nur in der Wissenschaft unerwartet; längst schon lebte und wirkte er in der Kunst und in dem Gefühle der Griechen, ihrer vornehmsten Meister; nur, daß sie in den Olympus versetzten, was auf der Erde sollte ausgeführt werden. Von der Wahrheit desselben geleitet, ließen sie sowohl den Ernst und die Arbeit, welche die Wangen der Sterblichen furchen, als die nichtige Lust, die das leere Angesicht glättet, aus der Stirne der seligen Götter verschwinden, gaben die Ewigzufriedenen von den Fesseln jedes Zweckes, jeder Pflicht, jeder Sorge frei und machten den Müßiggang und die Gleichgültigkeit zum beneideten Loose des Götterstandes: ein bloß menschlicherer Name für das freieste und erhabenste Sein. Sowohl der materielle Zwang der Naturgesetze, als der geistige Zwang der Sittengesetze verlor sich in ihrem höhern Begriff von Nothwendigkeit, der beide Welten zugleich umfaßte, und aus der Einheit jener beiden Nothwendigkeiten ging ihnen erst die wahre Freiheit hervor. Beseelt von diesem Geiste, löschten sie aus den Gesichtszügen ihres Ideals zugleich mit der Neigung auch alle Spuren des Willens aus, oder besser, sie machten beide unkenntlich, weil sie beide in dem innigsten Bund zu verknüpfen wußten. Es ist weder Anmuth, noch ist es Würde, was auf dem herrlichen Antlitz einer Juno Ludovisi zu uns spricht; es ist keines von beiden, weil es beides zugleich ist. Indem der weibliche Gott unsre Anbetung heischt, entzündet das gottgleiche Weib unsre Liebe; aber, indem wir uns der himmlischen Holdseligkeit aufgelöst hingeben, schreckt die himmlische Selbstgenügsamkeit uns zurück. In sich selbst ruhet und wohnt die ganze Gestalt, eine völlig geschlossene Schöpfung, und als wenn sie jenseits des Raumes wäre, ohne Nachgeben, ohne Widerstand; da ist keine Kraft, die mit Kräften kämpfte, keine Blöße, wo die Zeitlichkeit einbrechen könnte. Durch jenes unwiderstehlich ergriffen und angezogen, durch dieses in der Ferne gehalten, befinden wir uns zugleich in dem Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung, und es entsteht jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat.

*     *     *

2009 in Weimar, auf der Suche nach dem Schiller-Haus

Alles über Goethes Juno HIER von Georg Jäger (Germanist, München)

Kontinent der zwölf Töne

Eine Weltreise mit Steuermann

Für mich wieder so ein Fall, im Jahr 1960 anzusetzen, als ich in Berlin mit Adornos Philosophie der Neuen Musik im Gepäck ankam, wild entschlossen, das Phänomen Musik neu aufzurollen. Mein Vater war tot. Er hatte dekretiert, dass Mahler Kapellmeistermusik geschrieben habe und dass man in 100 Jahren von Schönberg nicht mehr reden würde. Mein Erzieher wurde nun Adorno.

Philosophie der Neuen Musik (JR 1960)

2022 wenn Sie genau hineinschauen, können Sie sagen: das sieht verdächtig nach pro domo promo aus, und irgendwie hätten Sie recht. Sowohl Martin Zenck als auch Michael Schwalb gehörten in der großen Epoche des WDR zu meinen engeren Musikkollegen, und ich verdanke beiden unzählige Anregungen. Ebenso vielleicht wie den Neue-Musik-Kollegen Harry Vogt und Frank Hilberg, die mich zuweilen in ihre interessanten Programme einbezogen. Über Volker Rülke, den ich dank dieses neuen Buches zu schätzen weiß, kann man sich an der Universität Würzburg informieren (nicht: Rühlke!) oder z.B. hier… Warum ich gerade heute von Michael Schwalb spreche? Die nahtlos passende Post kam sozusagen gleichzeitig auf meinen Tisch, auch im Radio gab es schon ausführliche Hinweise, siehe hier. Eine wirklich willkommene Ergänzung des Steuermann-Bandes: siehe dort Inhaltsverzeichnis Seite 523-637.

Steuermann, Leibowitz per Post

Zu einem andern, jüngeren Theoretiker und vor allem Praktiker der Neuen Musik habe ich schon lebenslang Kontakt gehalten, – was auf Gegenseitigkeit beruht und sich fast von selbst versteht.

Ich beobachte mit großem Interesse aus der Ferne (fast) alles, was er arbeitet und produziert, vor allem in Heidelberg und Stuttgart. Das KlangForum Heidelberg feierte im vorigen Monat 30jähriges Bestehen. In dem – wie immer äußerst vielschichtigen – Programmheft lese (blättere) ich noch fast jede Nacht vor dem Einschlafen, in der stillen Hoffnung, am nächsten Morgen mit neuen Ideen aufzuwachen. Ja, gewiss, ich übertreibe, denn ich kann mich nicht retten vor allerhand anderen Themen, die mir den Schlaf und die Zeit rauben. Sagen wir „Kurdistan“, „Bach-Fugen“, „Chopins Mazurken“. Und vor allem liegt da ja nun als gewaltige, begeisternde Lese- und Hör-Aufgabe das Steuermann-Buch auf dem Schreibtisch…

Foto: Thilo Ross

Ein alter und immer noch neuer Zugang zu Arnold Schönberg

Steuermanns frühe Erfahrungen mit dem Medium

(Ausschnitt aus dem Buch „Kontroverse Wege der Moderne“)

Was ist uns Kurdistan?

Ein Blick zurück

Tobias Matern

Der Anlass war gestern dieser wichtige Leitartikel der Süddeutschen Zeitung zur heutigen Lage der Kurden. Die Erinnerung an meine erste Begegnung im Jahre 1974, was hat das nicht alles aufgerührt, ein freundlicher kurdischer Journalist, der am Ü-Wagen auftauchte, – ich war noch „freier Mitarbeiter“ des WDR, alles andere als ein politisch motivierter Mensch – plötzlich war klar, wie brisant dieses Thema war, es genügte nicht, nach den Texten der Lieder zu fragen oder die Übersetzung in Auftrag zu geben. In Kürze würde ich zum Frühlingsfest nach Afghanistan geschickt werden, der ersten ganz großen Reise nach der Tournee 1967, die nach dem Schulmusik- und dem Violin-Examen – mein ganzes Leben auf eine neue Spur gesetzt hat (von Musikwissenschaft zur Musikethnologie). Ich muss das kurz rekapitulieren, diese frühen Eindrücke, die mich in eine merkwürdig zwiespältige Erregung versetzen. Allein schon der Anblick der damaligen Arbeitsblätter, die gewöhnlich erst nach der Sendung in ein ordentliches Typoskript verwandelt wurden. Was mich damals am meisten bezauberte, waren die lyrischen Texte, die erst dank der fähigen Helfer zugänglich wurden.

     

Übersetzung der Liedtexte: Darwich Hasso (Mitarbeit 1973/74: Kamal Saydo)

Am Ende dieser Rekapitulation kommt mir eine dunkle Erinnerung: habe ich diese (oder eine ähnliche Recherche) schon einmal durchgeführt? In der Tat: hier, im Februar 2017. Wie gehe ich damit um? Mit Freude oder mit Selbstzweifeln? Zumindest habe ich heute den Namen korrigieren können…

Nachtrag 28.11.22 Zuschrift eines Lesers:

Ich finde es sehr schön und gut und wichtig, dass Sie im Blog Kurdistan erwähnen. Ich glaube, ich habe das schon mal geschrieben, wie sehr mich die Situation in Kurdistan deprimiert. Gerade in den selbstverwalteten Gebieten um Rojava gibt es ja das schönste, edelste und wichtigste demokratische Projekt nicht nur im Nahen Osten. Die Selbstverwaltung, die Rolle der Frauen, Bildung und Gesundheitssystem, und gleichzeitig der Kampf gegen den IS – und das alles unter dauerndem Beschuss, im Wortsinn wie auch sonst. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass sich an der Kurdistan-Frage die Frage Zivilität („civilisme“ ist das schöne französische Wort) oder Barbarei für unsere Zeit entscheidet – so wie zum Beispiel vor mehr als einhundert Jahren in Armenien, oder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Spanien. Sind vielleicht etwas pathetische Worte, aber wie können „wir“ („der Westen“) noch von Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung faseln, wenn wir nicht nur zuschauen, wie der türkische Diktator völkerrechtswidrige Angriffe gegen die Kurdengebiete führt, sondern „wir“ ihn dabei auch noch massiv unterstützen (wie diese Woche zum Beispiel die sich immer furchtbarer gerierende Innenministerin – die SPD-Bundestagsfraktion entblödete sich nicht, nicht einmal 48 Stunden, nachdem Frau Faeser der türkischen Regierung Unterstützung bei der Ermordung der kurdischen Urheberinnen des Slogans „Frau – Leben – Freiheit“ zugesagt hat, eben diesen Slogan zu posten). Und die Kurden stehen völlig allein, wenn man von manchen geringfügigen taktischen Unterstützungen etwa mit dem Iran befeindeter Nationen absieht – die USA haben sich ja auch wieder zurückgezogen, nachdem die Kurden den wesentlichen Teil des Kampfes gegen den IS noch mit ihrer Unterstützung geleistet haben – jetzt muss man wieder den NATO-Partner Türkei pampern, der ja auch „uns“ Deutschen einen guten Teil der Flüchtenden vom Leib hält. Wie gesagt, es ist alles nur noch deprimierend. Wenn ich zwei, drei Jahrzehnte jünger wäre, würde ich ernsthaft in Erwägung ziehen, nach Kurdistan zu gehen und die dortigen Bestrebungen unterstützen – auch im Kampf. Wie gesagt: Spanien 1936… (in der Realität werde ich einfach nur 3000 Euro an medico international überweisen zur Unterstützung von Projekten in Rojava – ohne mich deswegen irgendwie besser zu fühlen…)

JR: Dem möchte ich nichts Relativierendes hinzufügen, empfehle nur dringend, alles zu lesen, was es an Aufklärung unter dem Stichwort ROJAVA zu finden gibt. Ich beginne hier : Anja Flach / Ercan Ayboğa / Michael Knapp: Revolution in Rojava /
Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo.

Ein Kurz-Gedicht oder zwei

Es gehört zu Peter von Matts Entdeckungen

Gestern liebt‘ ich,

Heute leid‘ ich:

Dennoch denk‘ ich

Heut und morgen

Gern an gestern.

*     *     *

Es passt zum Cherubinischen Wandersmann, denkt man, aber weit gefehlt… (siehe – zur Einstimmung – im Blog hier)

Eine Reihe von Fundstücken hätte ich noch anzufügen, sobald genug Zeit ist.

Hier folgt ein weiteres Gedicht, ein altes Distichon, das mir neu war, doch inhaltlich so vertraut wie die Odyssee meiner 50er Jahre, als sei ich selbst der, der hier nach Hause kommen sollte:

Odysseus

Alle Gewässer durchkreuzt‘, die Heimat zu finden, Odysseus;

Durch der Scylla Gebell, durch der Charybde Gefahr,

Durch die Schrecken des feindlichen Meers, durch die Schrecken des Landes,

 

Selber in Aides‘ Reich führt ihn die irrende Fahrt.

Endlich trägt das Geschick ihn schlafend an Ithakas Küste,

Er erwacht und erkennt jammernd das Vaterland nicht.

 

*     *     *

Als Mahnung an Zweifler und Kritiker sei gesagt: ohne Peter von Matt hätte ich keinen Zugang zu diesen Gedichten gefunden, oder sie gar für hilfreich in einer problematischen Lebenssituation erkundet. Ich überrede niemanden, habe genügend mit mir selbst zu tun*. Zu erwähnen wäre vielleicht doch, dass das zweite Gedicht von Schiller ist, das erste von Lessing.

*Weshalb ich jetzt dringend die Schillerschen Briefe zur ästhetischen Erziehung rekapitulieren muss (auch sie habe ich in der Schulzeit kennengelernt, aber – wie sich zeigt – nicht im geringsten verstanden, – bis auf ein winziges Detail).

*     *     *

Nach Haus zurückgekehrt, sehe ich in der alten zweibändigen Dünndruck-Ausgabe „Schillers Werke“ doch die Spuren einer Arbeit, die mir erzählen, dass ich es wohl ernster gemeint habe, als kürzlich erinnert, und das beflügelt mich seltsamerweise heute, nach etwa 66 Jahren, Schillers „ästhetische Briefe“ nach dem „Gutenberg“-Text per Handy intensiver durchzugehen,kurz: ich kam zu dem Vorsatz: es muss sein. Der Zeitsprung selbst könnte zum Thema werden, – die Gründe folgen vielleicht später.

schwache Unterstreichungen, inliegend ein Zettel, der damals den Gedankengang gliedern sollte.

Und die Rückseite des Zettels mit dem Ende der Bemühungen von 1956/57, daneben die neuen Notizen, die mich vor wenigen Tagen – bei der Lektüre des Buches „Wörterleuchten“ (Peter von Matt) – zu dem Zeitsprung veranlasste, wobei ich andere Assoziationen nicht fallen lassen wollte, wie die des Briefwechsels Emil Staiger / Martin Heidegger über Mörikes Gedicht „Auf eine Lampe“, das Peter von Matt gar nicht behandelt (die Frage, ob „scheint“ dem lateinischen „lucet“ oder „videtur“ entspricht). Das Thema Schönheit und das Thema Zeit, – das darf ich nicht wieder verlieren.

dies nur als Gedächtnisstütze, für andere Leser nicht unbedingt nutzbringend … aber vielleicht anregend als Weg privater Resilienz, die zu nichts Greifbarem führt, abgesehen von dem Versuch, einen Zeitsprung von 66 Jahren so wichtig zu nehmen, als ließe er sich zu einem „Madeleine“-Erlebnis stilisieren. usw. usw. klar, am Ende bleibt mehr, als je gedacht. Und das wird an Schiller liegen. Ich erinnerte mich aber auch an Humboldts Ausspruch über seine Weltaneignung und daran, dass dagegen ich wohl alle paar Monate dasselbe entdecke und es als Neuigkeit feiere. Warum auch nicht!? Irgendwie zyklisch. Wie zum Beispiel schon hier.

Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation / Studien zur deutschen Literaturgeschichte / Atlantis Verlag Zürich 1955 (1961)

Erst durch diese Behandlung wurde mir damals schlagartig deutlich, dass viel mehr in diesem Gedicht steckte, als man als Schüler glauben mochte. Es klang gar zu brav. (Was soll mir die Lampe???) Und ähnlich ging es mir mit dem kleinen Gedicht von Schiller, das den Spielenden Knaben zum Thema hatte, eine typische Mutter-Kind-Idylle, angelehnt an irgendwelche pietistischen Bilder zur Kindheit Jesu, endend mit vagen Spruchweisheiten. Es erinnerte mich an die letzten Jahre meines Vaters, als er plötzlich begann, die Pflicht zu verherrlichen, aber ohne Begeisterung. Und ohne Kant.

Weit gefehlt. Hier ist ein Schüssel zur methodischen Philosophie, zur dritten der großen Kant-Kritiken, und dies ernstzunehmen, verdanke ich Peter von Matt. Andererseits ist es viel zu kurz abgetan, wenn man wirklich den Spuren in Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ nachgeht. Dieses Gedicht sei

ein schroffer Gegenzug zu der Erlösungsvision, die sich mit dem Begriff des Spiels in den Briefen (…) verbindet. Dort wird der spielende Mensch zur Chiffre einer weltgeschichtlichen Hoffnung. Das Spiel, schon das des Kindes, beweist die Fähhigkeit zu freiem Handeln. Es ist die Schwelle zu jeder Gestalt von Freiheit, das Versprechen einer möglichen Versöhnung aller Gegensätze. Im Spiel wird das Zerrissene wieder ganz, und diese Ganzheit enthält den Keim einer besseren, einer wahrhaft schönen Zukunft. Die geglückte Welt, die die Jakobiner, ein Jahr zuvor blutig erzwingen wollten, durch Terror, will Schiller friedlich in die Wirklichkeit locken, durch die Spiele der Kunst. So sagen es die Briefe. Das Gesicht sagt etwas anderes. Die zehn Verse sind ohne Hoffnung.

Man wird verlockt, es sich mit den Briefen zu leicht zu machen, auch wenn davor ausdrücklich gewarnt wird. Der Hinweis auf die Französische Revolution ist sicher wichtig und lässt uns einsehen, weshalb eine Ästhetik nicht ohne Blick auf den Staat zu denken ist, in dem sie sich realisiert. Und wenn in dem Gedicht nur von „dem fröhlichen Trieb“ die Rede ist, ahnen wir nicht, wie differenziert Schiller über die beiden „Triebe“ spricht (in denen keine Vorwegnahme der Freudschen Theorie vermutet werden sollte): der sinnliche Trieb und der Formtrieb. Man könnte im Vierzehnten oder Fünfzehnten Briefe ansetzen, um erst später ganz am Anfang beginnen. Und beherzigen, was er im Achten Brief mit der Erinnerung an den Wahlspruch SAPERE AUDE meint, den schon Kant als Feldzeichen hochhielt. Gefährlich ist es vor allem, am Ende den „Begriff der Pflicht im deutschen Denken und Gehorchen“ hervorzuheben, um ihn dann im Gedicht ganz anders zu sehen, dieses nämlich „wie ein aufständisches Manifest“ zu lesen.

Schiller:

Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materielle Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes also, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.

Damit kann man schon eine Weile leben und denken, ehe man mit Schiller fortfährt:

(Fortsetzung folgt) !!!

Fußball Katar Korruption

Is was im Fernsehen?

Ich will diese Filme nur in Erinnerung behalten und als erneuerbare Motivation aufrufen können: Katar und was immer dort gespielt wird, wird keine ernstzunehmende Rolle spielen. Ich will die Torszenen nicht sehen, und nirgendwo „teilnehmender Beobachter“ sein. Aber was ist mit der FIFA insgesamt?

Geheimsache Katar

von Julia Friedrichs und Jochen Breyer

Eine Weltmeisterschaft in der Wüste. Im Winter. Aller Kritik zum Trotz: Sportjournalist Jochen Breyer und Autorin Julia Friedrichs gehen der Frage nach, wie Katar dieser Coup gelingen konnte. 43 min Datum: 17.11.2022 Video verfügbar bis 14.11.2027

https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzeit/zdfzeit-geheimsache-katar-100.html

HIER

FIFA – Das Monster

«Le monstre», das Monster – so nennt der langjährige FIFA-Präsident Sepp Blatter den Weltfussballverband. SRF DOK hat anlässlich der WM-Katar 2022 die Geschichte der FIFA aufgearbeitet.

Der Film zeigt auch, wie die Schweizer Justiz, allen voran der damalige Bundesanwalt Michael Lauber, bei der Aufarbeitung der Korruptionsvorwürfe stolperte. Schritt für Schritt werden die umstrittenen Geheimtreffen des Bundesanwalts mit dem jetzigen FIFA-Präsidenten Gianni Infantino aufgearbeitet. Auch jenes Treffen, an das sich angeblich kein Teilnehmer mehr erinnern kann. Das Bundesverwaltungsgericht urteilte, «dass sich keiner der vier Teilnehmer mehr an das Treffen erinnern können soll, erscheint wenig glaubhaft. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist es schlicht abwegig, dass alle vier Personen (…) an ein bestimmtes Treffen keinerlei Erinnerung mehr haben sollen.»

Nach diesem vernichtenden Urteil räumte Bundesanwalt Lauber bekanntlich seinen Posten. Die Hintergründe der Treffen sind bis heute unbekannt und immer noch Gegenstand von Ermittlungen.

HIER bis 16.12.22

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Was mich noch besonders interessierte: die Kamelrennen, – ist es wahr, dass die kleinen Roboter (früher saßen an ihrer Stelle Kinder!) mit Peitschen ausgestattet sind? Ich wähle einen Film, der nicht kurzfristig auf die Zeit der Fußball-WM zugeschnitten ist. Dies nur nebenbei.

HIER (ARD Weltspiegel 14.04.2013) Emirate: Roboter – die neuen Jockeys bei Kamelrennen

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ZITAT (Béla Réthi, t-online Interview 16.11.22)

Diese WM dürfte nicht in Katar stattfinden. Die schlechteste Bewerbung, die schlechtesten Voraussetzungen, den europäischen Kalender auf den Kopf gestellt. Dazu kaum Unterkünfte für die Fans. Alle Kriterien, die für die Fifa hätten gelten sollen, wurden ad absurdum geführt.

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P.S. DIE ZEIT 17.11.22 Thema Fußball und Katar

Was entgegnet der Philosoph, wenn man von den Hintergründen lieber schweigt und sagt, die Kritik aus Europa an der Lage in Katar sei arrogant und rassistisch?

Peter Sloterdijk:

Solche Aussagen tragen dazu bei, den Ausdruck »Rassismus«, der noch immer eine kritische Ladung beinhaltet, zu inflationieren. Das Wort wird immer weniger wert, wenn es zu häufig in falschen Zusammenhängen gebraucht wird.

Und wenn gesagt wird: Wir müssen euch unsere Traditionen nicht erklären …. ihr müsst sie respektieren – so ist noch eine andere Ebene zu berücksichtigen:

Die Menschen dort wissen ja, dass sie von sich aus fast nichts produzieren können. Alles, was mit Arbeit zu tun hat, wird importiert. Man könnte meinen, Arbeit sei eine unarabische Idee. Nur zehn Prozent der Bevölkerung sind einheimische Staatsangehörige, alles andere sind Ausländer, Expats und Arbeiter, die nicht eingebürgert werden. Sie kommen nicht über den Besucherstatus hinaus. Die einfachen Arbeiter haben oft keine Pässe, können auch nicht ohne Weiteres das Land verlassen, können keine Gewerkschaften bilden. Wenn eine Arbeiterschaft selbstbewusst aufträte, wäre es mit der herkömmlichen Herrlichkeit vorbei.

Quelle DIE ZEIT, 17.11.2022 »Sie holen sich unsere Unterhaltungsdrogen« Der Philosoph Peter Sloterdijk über die Gier der Katarer nach Fußball, die Kunst der stilvollen Niederlage und die hilflose Herrlichkeit des Torwart-Egos / Seite 32 / Nur die farblich gekennzeichneten Blöcke sind wörtliche Zitate.

Zugleich gab es die interessanten Filme von Golineh Atai über „Arabiens Traum von der Zukunft“ hier und hier (abrufbar bis 2024). Gut auch das Gespräch zu kennen bei Lanz: HIER (darin unbedingt auch Chelsea Manning, zugleich den aktuellen ZEIT-Beitrag zur Person). Besonders ab 40:33 (über den Berater des saudischen Prinzen Salman).

Interessant, aber zugleich auch abstoßend. Von dort also schaut man hochmütig auf „das alte Europa“?!

Ich bin ein Freund der arabischen Welt. Um das zu begründen, würde ich von der Musik ausgehen, – die aber in der saudi-arabischen Welt offenbar überhaupt keine Rolle spielt (?). Würde ausgehen von einem Suk in Marrakech, Fez, Tunis, Algier, also eher peripher gelegen. Wo ist die Kunst, die Melancholie, der Tanz, die Lebensfreude? Was aber bleibt? Das computergestützte Kamelrennen in der Wüste? Mein Gefühl, so fehlbar es ist, sagt mir, dass diese ganze Kunstwelt in der Wüste untergehen wird, wie ein Treibhaus, dem das Wasser abgeschaltet wird. Eine Welt ohne Kunst (man schweige mir von den Lichtblicken der Graffiti).

Infantino mit seiner allumfassenden, verlogenen  Rede zur WM ist ein hervorragendes Symbol für die westliche Amalgamierung gerade dieser Welt. (Kostprobe: hier).

Neueste Meldung:

Senegals Spieler Idrissa Gueye wird für den weiteren Turnierverlauf auf seinen Nachnamen verzichten müssen: Die Fifa sieht vor allem phonetisch eine zu große Nähe zum englischen Begriff „gay“ und will möglichen Missverständnissen aufseiten der katarischen Sicherheitskräfte vorbeugen. Senegals Ausstatter sei bereits darüber informiert worden, dem Mittelfeldspieler neue Trikots mit seinem Vor- statt Nachnamen auf dem Rücken ausstellen zu müssen.

(t-online)

Was ist mit Homosexualität?

Siehe im oben verlinkten Film Geheimsache Katar ab 24:10

Jochen Breyer: „In Deutschland und vielen anderen Ländern gibt es viel Kritik an der WM in Katar. Denn es gibt hier keine Meinungsfreiheit, Frauen sind nicht frei, Homosexuelle sind nicht frei. Was sagen Sie zu dieser Kritik?“

Khaled Salman (Katarischer WM-Botschafter) : „Während der WM werden viele Dinge hier ins Land kommen, lass uns zum Beispiel über Schwule reden. Das Wichtigste ist doch: Jeder wird akzeptieren, dass sie hierherkommen, aber sie werden unsere Regeln akzeptieren müssen.“

„Aber im Gesetz ist Homosexualität verboten! Also ist es verboten für sie, hier zu existieren.“

[In diesem Moment wird von außen in das Gespräch eingegriffen] Er sagt, es sei ein Problem, wenn Kinder Schwule sehen würden. Jochen Breyer: „Was ist ein Problem, wenn ein Kind einen Homosexuellen sieht?“

„Wenn Kinder Schwule sehen, lernen sie, dass das nicht gut ist.“ – „Nein, man ist schwul oder nicht, man kann es nicht lernen!“ – „Ein Beispiel: Wenn ich in meinem Haus hier Wasser hinstelle, und hier Whisky, wenn dann aber mein Kind fragt: Vater, warum darf  ich den Whisky nicht trinken? dann sage ich: Whisky ist haram. Weißt du, was haram ist?“ – „Ja, eine Sünde.“ – „Sie finden, Schwulsein ist haram?“ – „Ja, es ist haram! Ich bin kein strenger Muslim, aber warum ist es haram? Es ist ein geistiger Schaden.“ – [Unterbrechung von außen] 26:08

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Nun ist Khaled Salman in Katar, auch wenn er den „WM-Botschafter“ gibt, nichts anderes als ein ehemaliger Fußballspieler, – keine geistliche oder gar geistige islamische Autorität.

Hier ist der Ort, an ein Buch zu erinnern, das erschütternd bewusst macht, was es in der (offiziellen) muslimischen Welt bedeutet, schwul zu sein:

Kubri-Verlag hier

Zwei Seiten daraus zum Thema „Krankheit“:

Es gibt heute viele Gelegenheiten, sich seriös kundig zu machen. Zum Beispiel hier oder hier. Dies nur als weitere Anregung…  – auch zu berücksichtigen, dass der Schutz von Minderjährigen – anders als in früheren Jahrhunderten – heute mit Recht die entscheidende Rolle spielt.

Da kommt ein netter Artikel der Völkerverständigung, und ich fühle mich in allen Vorurteilen bestätigt. Man lese die ZEIT und folge der Autorin wohlwollend. Dieses „Klein-Stätchen“ ist einfach zu reich, um auch noch klares Denken hervorzuzaubern.

leider hinter Bezahlschranke

Die Poesie ist wichtig am Golf. Al-Hadschri sagt, es habe sie sehr gefreut, dass auch bei der WM-Eröffnung Verse gesungen worden seien. [Oh, auf die Schönheit der Wüste, auf die gewaltige Sonne, die Blumen, die über Nacht sprießen?] Allerdings lobten diese nicht das Heimatland, sondern den Emir, das widerstrebte ihr. »Gibt es Krieg, kann der gehen, wir bleiben zurück.«

Der Emir hat eine Art Parlament zugelassen, das über die Vergabe öffentlicher Gelder mitberät. Nur bedient sich die Herrscherfamilie selbst aus den Öl- und Gaseinnahmen, bevor die überhaupt in die Staatskasse eingehen. Niemand weiß, um wieviel Geld es sich dabei handelt. (….) Wir leben einen Aufstieg, der so schnell passiert, dass wir kaum begreifen, wie uns geschieht. Und wir sehen, dass ihr im Westen einen Niedergang erlebt, so langsam, dass ihr seiner vielleicht noch nicht gewahr seid. (…)

Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Tham hatte der FAZ schon vor WM-Beginn gesagt, man sei enttäuscht, wie sich Politiker auf Katars Kosten profilierten. Den Ton der Deutschen empfinde man, »ehrlich gesagt«, als »sehr arrogant und sehr rassistisch«.

Hier in der Wüste knirscht jeder Schritt, Katars Boden ist aus grobem Sand voller kleiner Muscheln. Nura al-Hadschri ist an diesem Freitagnachmittag ins Dorf der Familie gefahren, wie die meisten Katarer an Winterwochenenden. »Klar gibt es hier Schwule«, sagt sie, »wie überall, in jedem Stamm. Das zu sagen ist das eine. Etwas zu verändern etwas anderes.«

Quelle: DIE ZEIT 1. Dezember 2022 Seite 14 Fußball und Fremdscham Deutschland streitet über die WM und Katar. Was sagen eigentlich die Menschen dort zu der Aufregung? Von Lea Frehse

18.12.2022 Am Ende hat doch der Fußball gesiegt. Argentinien und Frankreich.

Das meistgebrauchte Worte der Kommentatoren: „Unfassbar!“ Minute 120: „Das ist kaum noch auszuhalten!“ Und dann: „Die grausamste aller Entscheidungen!“

Und zurück in die schöne, kalte Realität.

Zuhaus!

Nein, noch ein letzter Blick zurück, und ein letztes Bild: Messi bei der Siegerehrung mit dem dunklen Umhang der arabischen Halbinsel, den ihm der Scheich über die Schultern geworfen hat, zur Freude Infantinos. Was besagte diese Geste? „Am Ende der Weltmeisterschaft (…) instrumentalisieren wir den weltbesten Fußballer, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, um die sportlich gelungene Veranstaltung auch symbolpolitisch zu zementieren.“ Zitiert aus einem der besten Kommentare die ich gelesen habe. Des weiteren: „Die erneute Überführung des Fußballs auf die Ebene der Zeichen, nur wenige Minuten nach dem Schlusspfiff, wirkte am Sonntagabend auch deshalb so ernüchternd, weil sich das vorangegangene Finale zu einem der mitreißendsten Spiele in der Geschichte der WM entwickelt hatte. Zwischen der 80. und 120. Minute zeigten Argentinien und Frankreich, warum der Fußball von Milliarden Menschen so bedingungslos geliebt wird: ein völlig offenes, unvorhersehbares Spiel, ohne Kalkül, am Rande der Erschöpfung, noch in den letzten Sekunden der Verlängerung hätten beide Mannschaften um ein Haar den Siegtreffer zum 4:3 erzielt, bevor das Elfmeterschießen entscheiden musste.“ Ich muss den Rest des Kommentars im Original wiedergeben, er gipfelt in einem resümierenden Satz, den man nicht vergisst: Ausgerechnet die bisher korrupteste Weltmeisterschaft hat das bislang beste Finale hervorgebracht.

Süddeutsche Zeitung 20. Dezember 2022 Seite 20 Das beste Finale, ausgerechnet / Über das Grunddilemma der WM – beispielhaft im Finale zu sehen: die letzte Folge der WM-Kolumne / von Andreas Bernard.

Privater Ausklang

Ich denke zurück an eine Zeit vor 50 Jahren, als der Fußball noch seine Unschuld hatte –  –  –  und das Klavierspiel (meines Vaters) trotzdem ganz allmählich auch in der jüngsten Generation „Fuß fasste“. (Siehe auch hier.)

JMR (1972?)

Wer kann sich so radikal ändern?

Und wieviel Zeit bleibt?

Ich überlegte, warum ich selten mit Ausdauer darüber nachdenke, während es doch ständig im Untergrund schwelt. Zuletzt hier? Immer nur, wenn die Zeitungen es zum Thema machen, in der Hoffnung, dass es etwas zu hoffen gibt. Wie ärgerlich ist der Pauschal-Knüppel „Lügenpresse“, das allgemeine Schimpfen ist am leichtesten, die guten Beispiele fände man leichter individuell in der seriösen Presse, aber die Leugner kommen lieber mit einer (scheinbar) perfekten wissenschaftlichen Mimikry daher. Man weiß, es ist falsch, aber man würde viel Zeit mit Theorien zur Großmachtpolitik verlieren, wenn man es widerlegen wollte. Und es erledigt sich von selbst. Anders als in der Klimapolitik, wo man von einem Politiker folgende Entgegnung lesen kann:

Die Wis­sen­schaft ist sich sehr wohl ei­nig. Das ist jüngst im Welt­kli­ma­be­richt be­stä­tigt wor­den, dass der Mensch ei­nen er­heb­li­chen An­teil an der Erd­er­wär­mung und dem Kli­ma­wan­del hat.

Die­se Auf­fas­sung tei­le ich nicht. Schau­en Sie sich die Fach­ka­pi­tel in Un­er­wünsch­te Wahr­hei­ten von Vah­ren­holt und Lü­ning an, zwei ex­zel­len­ten Ken­nern der Ma­te­rie. Hier wird un­ter an­de­rem aus­ge­führt, dass der Bei­trag der Son­ne zur Erd­er­wär­mung nach wie vor nicht ge­klärt ist. Es gibt al­ter­na­ti­ve Hy­po­the­sen. Wis­sen­schaft ist kei­ne De­mo­kra­tie, wo ei­ne Mehr­heit ent­schei­den könn­te, was rich­tig ist. Wis­sen­schaft ist ei­ne Fra­ge von ra­tio­na­ler Be­weis­füh­rung. Ei­ne sol­che ra­tio­na­le Be­weis­füh­rung liegt nicht vor.

Man kann sich aber auch in umgekehrter Richtung leicht orientieren, nämlich unter Vahrenholt und Lüning, schon weiß man, dass sie als Kronzeugen auf tönernen Füßen stehen. Man muss nicht die gesamte Literatur des Für und Wider studieren, um es beurteilen zu können. Man kennt Leute, die das getan haben. Und der (AfD-)Politiker beruft sich bezeichnenderweise nur auf das eine gemeinsame Buch genau dieser beiden Autoren. Es reicht.

Zur seriösen Presse zählt zweifellos auch die ZEIT, was mich nicht verpflichtet, einem Artikel zu folgen, der mir wenig Hoffnung lässt. Denn dies liegt auch nicht in der Absicht des Autors, der uns alle Werkzeuge des Widerspruchs selbst in die Hand gibt:

Ich muss wenigstens die einzelnen Schwerpunkte aufzählen, die Fragestellungen, vielleicht lässt man sich verlocken, es ganz genau nachzulesen (man kann!) und individuelle Folgerungen zu ziehen. (Artikel von Jens Beckert.)

Warum zögert die Wirtschaft?

Hinzu kommt die mangelnde Transparenz der Märkte. Was ist eine nach ethischen Maßgaben produzierte Jeans? Wann ist eine Finanzanlage nachhaltig? Skandale um das sogenannte Greenwashing zeigen auch: Für die Nachfrageseite ist nicht erkennbar, was an weit entfernt liegenden Enden von Lieferketten tatsächlich geschieht. Eine Änderung klimazerstörender Produktionsweisen ist durch ein den Individuen aufgebürdetes Konsumverhalten am Markt nicht zu erreichen.

Warum zögert der Staat?

Und warum zögert das Staatsvolk?

Überall droht eine Absenkung des Lebensstandards. (…)

Beschränkung steht im Widerspruch zu einem ökonomischen System, das auf Konsum als Motor baut, und einem politischen System, das den Konsum der Bevölkerung als Steuergrundlage benötigt.

Und welche Spielräume bleiben?

Die während der letzten 300 Jahre entstandenen Strukturen der kapitalistischen Moderne zerstören die biologische Nische, in der menschliche Kultur stabil bestehen kann, und verhindern zugleich eine hinreichende Reaktion auf die Krise.

(folgt)

DIE ZEIT gibt keine Ruhe (17.11.2022)

NEU 28.11.22

JULIA FISCHER (nicht nur eine große Künstlerin):

siehe HIER

Wie sich die Welt öffnet

Nach oben und nach unten

Man sieht und hört

Fotos ER 13.11.2022

Zug der Kraniche in Europa HIER

Zu ihren Rufen:

Beim Duett-Ruf handelt es sich um eine zeitlich koordinierte Tonfolge beider Partner eines Paares. Das Männchen beginnt in der Regel z.B. mit ein bis zwei Tönen, und das Weibchen gibt zwei, drei oder vier höhere Töne dazu. Beim Rufen nehmen die Partner dabei eine typische Haltung ein, indem sie Kopf und Schnabel aufwärts richten. Zudem stehen beide eng beieinander oder bewegen sich während der Rufreihen langsam nebeneinander fort. Das Duett ertönt besonders zur Brutzeit, wird aber auch bei verschiedenen Situationen der Erregung an Sammel- und Rastplätzen vorgetragen.

Hören: siehe hier

Ihre weiten Flugbahnen:

Ein Bruchteil des Weges über Solingen

Fotos JR 13.11.22 gegen 12:45 h Botanischer Garten

Es geht kein Weg dran vorbei: wieder einmal fällt mir das alte Kinderbuch ein, 1948 erschienen, 450 Seiten lang. Darin habe ich eine lange Zeit gelebt. Und vielleicht zum erstenmal stellte sich die Frage, was es bedeutete, ein Mensch zu sein oder in eine andere Perspektive versetzt zu werden, verwunschen und verzaubert. Ein Zwerg oder ein Tier. Aber nicht vergessen: es waren Wildgänse, bei Selma Lagerlöf, keine Kraniche.

Der Anfang und auf Seite 451…

… das Ende der Geschichte.

Selma Lagerlöf

P.S.

Gerade heute wurde ich auf eine schöne Arbeit über Gustav Mahlers Vierte Sinfonie aufmerksam gemacht, worin ich an einer bekannten Passage hängenblieb, die Natalie Bauer-Lechner vom Komponisten überliefert:

Was mir hier vorschwebte, war ungemein schwer zu machen. Stell dir das ununterschiedene Himmelsblau vor, das schwieriger zu treffen ist als alle wechselnden und kontrastierenden Tinten. Dies ist die Grundstimmung des Ganzen. Nur manchmal verfinstert es sich und wird spukhaft schauerlich: doch nicht der Himmel selbst ist es, der sich trübt, er leuchtet fort in ewigem Blau. Nur uns wird er plötzlich grauenhaft, wie einen am schönsten Tage im lichtübergossenen Wald oft ein panischer Schreck überfällt [→ 2. Satz: Scherzo] (…) Doch werdet ihr im Adagio darauf, wo alles sich auflöst, gleich sehen, daß es so bös nicht gemeint
war. (NBL, 162)

Ich versichere, dass es Zufall ist, wenn ich auf dem Foto oben vorwiegend blau gekleidet erscheine, und wenn man auf meine vor 15 Jahren (?) angelegte Website schaut, so muss man sich über die Farbgebung nicht wundern. Es ist kein Bekenntnis. Im täglichen Leben bevorzuge ich eher Grün, für Rot muss ich Begründungen finden. Bei Gelb denke ich wiederum an Mahler, an das letzte der „Lieder eines fahrenden Gesellen“. Der Freund aber, der mir u.a. wegen Mahler schrieb, – Zwillingsbruder eines Musik-Freundes aus alter Zeit -, schickte mir zugleich ein düsteres Bild, das vom Gelb lebt, mich aber zutiefst an Phasen des Kölner Studiums erinnert, als diese Busse längst nicht mehr im Einsatz waren. (Siehe auch hier). Und der regenschwere Himmel über dem Rhein, nicht weit von der Hochschule, wich doch oft genug einem gewaltigen Blau…

Jürgen Giersch (2018)

Mazurken-Spiel (2010)

Es geht immer noch um das Rubato (JR©2010)

Der ergänzende und erweiternde Vortrag vom 18. Juni 2010

„Pastorale“ Scherzo

JR Korrektur (?)

Die Titel Tr. 10 und 11 der CD, transkribiert nach der im Interview vorgetragenen Version.

Ein Blick in Chopins Jugendzeit auf dem Lande, beginnt hier inmitten eines Briefes aus den Ferien in Szafarnia an die Familie vom 28. August 1825.

Quelle Tadeusz A. Zielinski: Chopin / Sein Leben, sein Werk, seine Zeit / Gustav Lübbe Verlag Bergisch Gladbach 1999

Es ist wohl falsch, aus der Volksmusik spektakuläre Ergebnisse für die Aufführungspraxis der Mazurken von Chopin zu erwarten. Auch die rhythmischen Verhältnisse liegen nicht immer so vertrackt, wie sie bei Janusz Prusinowski erscheinen. Dort ist es ja vor allem die rhythmische Unabhängigkeit der Melodiestimme, und der Dreier-Grundschlag ist vor allem eins: tanzbar und verlässlich, aber nicht stereotyp. Vielleicht sucht man vergeblich nach der berühmten Abweichung einer Zählzeit, weil es so selbstverständlich klingt. Um so schöner, diese CD als Ganzes zu hören, die Chopins Mazurken in das Kontinuum der Volksmusik einbezieht, wobei sie einen sehr besonderen Charakter annehmen, – was nicht besagt, dass der Komponist irgendeine Melodie 1:1  übernommen hat. Wer sich auf die Suche nach diesen Aufnahmen begibt, könnte hier beginnen.

Um den interessanten Text leichter lesbar zu machen, habe ich die englische Version abgeschrieben:

In spite of intense efforts of musicologists have not been able to solve the problems of the use of folk music quotations in the works of Chopin. The composer did not refer directly to folk tunes but composed in the characteristic mood of this music. The main factor of identifying Mazurkas as musical pieces growing out of the Polish folk music was the mazurka rhythm. Heard in the Ukraine, Moravia, Lusatia and all over Scandinavia nowhere is it as wide spread as in central and western Poland. The mazurka rhythm is considered as a determinant of Polish character in music. It is used in the whole familiy of dances in triple meter which roots back in the Polish Renaissance and Baroque time.

This family consists of dances of different choreotechnic structures and tempo of performance, the slowest being the chodzony (walking dance), faster Kujawiak, followed by mazurka and finally the fastest of them all – oberek.

Distinction of the last two dances is often a difficult task. In some regions of Poland (e.g., the voivodship of Radom) the name commonly used is „oberek“ while „mazur“ is used as an alternative term for „sung oberek“ generated from vocal background. To simplify matters it is acceptable to consider the fastest of the round dances as oberek. The slower ones can be locally qualified as either oberek or mazurka.

Separate from the folk tradition but growing out of the folk mazurka a national mazur came to being. In comparison with the folk one, the national mazur is characterised by a much higher accumulation of dotted rhythms. From the end of 18th C. Mazurka entered into a canon of piano and stage music finding fulfilment in the compositions of Chopin.

However having taken a closer look at Chopins Mazurkas it is possible to discover a mixture of different traditions with a stress on the national mazur and the old Kujawiak. The name „Kujawiak“ appeared the first time in 1827. This widespread dance takes its region of Kujawy but the name is probably not a folk name. During the 19th C. a certain style of Kujawiak was formed and popularised. During that period of time, due to the moderate tempo and domination of minor scale a stereotype of a Kujawiak as a melancholic tune was formed.

Traditional folk Kujawiak is a pair round dance, however in comparison with other Polish round dances it lacks spontaneity. It exists in two versions differing from one another by its tempo and the direction of the turn. Ksebka is a left turn dance which is also sometimes called a „slow“ Kujawiak. Odsibka is a right turn dance, a bit faster and often considered to be the „proper“ Kujawiak. Both of theses dances were a part of the traditional cycle of triple meter dances with a progressively growing tempo which were called in the region of Kujawy „okragly“ (the round one). This cycle, often based fully on one medlody was formed by chodzony (walking dance), slow Kujawiak (called also the „sleeping“ one), the proper Kujawiak, mazur or obertas. Lyrical load present in Chopins Mazurkas seems to have its source precisely in the folk Kujawiak.

In our view Mazurkas are closely connected to pure folk music, so the mixture of both groups of repertoire and their performance by the some group of instruments has been considered by us as a natural way of things.

Ewa Dahlig / Maria Pomianowska

Erst jetzt habe ich einen im Internet abrufbaren Text von Dr. Ewa Dahlig-Turek entdeckt, in dem viele Probleme behandelt sind, die man ohne kundige polnische Hilfe nicht lösen kann. An dieser Stelle zunächst nur das Abstract, alles weitere dort.

Although Chopin’s music is continually analysed within the context of its
affinities with traditional folk music, no one has any doubt that these are two separate musical worlds, functioning in different contexts and with different participants, although similarly alien to the aesthetic of mass culture. For a present-day listener, used to the global beat, music from beyond popular circulation must be “translated” into a language he/she can understand; this applies to both authentic folk music and the music of the great composer.
In the early nineties, when folk music was flourishing in Poland (I extend the term
“folk” to all contemporary phenomena of popular music that refer to traditional mu-
sic), one could hardly have predicted that it would help to revive seemingly doomed
authentic traditional music, and especially that it would also turn to Chopin. It is
mainly the mazurkas that are arranged. Their performance in a manner stylised on
traditional performance practice is intended to prove their essentially “folk” character. The primary factor facilitating their relatively unproblematic transformation is their descendental triple-time rhythms.
The celebrations of the bicentenary of the birth of Fryderyk Chopin, with its
scholarly and cultural events of various weight geared towards the whole of society,
gave rise to further attempts at transferring the great composer’s music from the
domain of elite culture to popular culture, which brings one to reflect on the role that
folk music might play in the transmission and assimilation of artistic and traditional
genres.

1810 * Chopin. „Bicentenary“. Ob mir das überhaupt klar war? Jetzt dürfte also posthum die Lektüre der ganzen Original-Arbeit folgen, die ich damals (2010) verpasste, als ich mich aufs neue für das Mazurka-Thema begeisterte. Sie soll mich eine Weile beschäftigen, ebenso wie die CD, von der ich nicht weiß, wie sie schon viel früher den Weg zu mir fand.

(Fortsetzung folgt: siehe die schon angegebenen Links: hier und nochmals dort)

*    *    *

Wann war es nun? Wo begann es? Mit der Tacet-CD gewiss und dann … im Juni oder November 2010, womöglich sogar zweimal? Deutlich in Erinnerung jedenfalls: der anschließende, spannende Vortrag von Prof. Brzoska (Stichwort Einführung der Gasbeleuchtung im Theater). Er gehörte auch zu meinen wenigen Zuhörern und sagte, er habe nicht gewusst, dass man an Chopin noch musikethnologische Studien betreiben könne. Jedenfalls empfand ich es als Lob.

Brzoska s.hier

Varianten der Mazurka. Der heutige Tag wurde gekrönt durch Varianten eines Abendrots, das mich vom Schreibtisch an  das Fenster des Arbeitszimmers und hinaus auf den Balkon zog. Ich möchte mich daran in Zukunft erinnern, wenn ich wieder gutgelaunt im Keller sitze und … die einschlägigen Chopin-Mazurken am Flügel durchgehe. Oder sogar wieder ernsthaft übe. Mit der letzten beginnend.

Der Abend kommt ab 17.08 Uhr (10. November 2022)

ZITAT (Zielinski)

Die letzte Komposition, die Chopin überhaupt geschrieben hat, ist die Mazurka f-moll (op-68 Nr.4). Allerdings war der Komponist nicht mehr imstande, sie zu vollenden, und hinterließ sie in einer recht unklaren, mit vielen Streichungen versehenen Skizze. Zunaächst meinte man, das Manuskript sei nicht mehr zu entziffern und nur für den Komponisten verständlich gewesen, doch gelang es Franchomme unter Aufwendung großer Mühe, das Werk zu entschlüsseln, und trotz einiger nicht mehr zu klärender Details erschloß er damit ein Werk von außergewöhnlicher Schönheit und Ausdruckskraft. (Ein neuer, von der Skizze des Komponisten ausgehender Rekonstruktionsversuch wurde 1965 von Jan Ekier vorgenommen, der sich in vielen Details von der Version Franchommes unterscheidet. Er fügte auch die Sektion in F-Dur hinzu, die der Cellist ausgespart hatte, da er sie für wenig interessant erachtete.)

Quelle Tadeusz A. Zielinski: Chopin / Sein Leben, sein Werk, seine Zeit / Gustav Lübbe Verlag Bergisch Gladbach 1999

Chopin, erstes (und letztes) Foto 1849

  letzte Mazurka

Koroliov spielt genau die kürzere (2:29) Fassung, die in meiner Ausgabe des Fryderyk Chopin Instituts (Paderewsky) 16. Edition Cracow 1979 steht. Rubinstein spielt die Version, die einen – den –  F-dur-Mittelteil enthält (3:15).

das zu deutende Manuskript… („F-dur“!)

Slavoj Žižek

Ein unorthodoxer Denker zur Lage unserer Welt

Es ist mir entfallen, warum ich dieses Buch damals nicht verschlungen habe, ich glaube, ich hatte es wegen „Così fan tutte“ gekauft, nie gehörte oder gelesene Gedanken, die ich gerade brauchte, weil ich immer wieder von der Mozart-Oper besessen war. Auch heute fesselt es mich sofort, – aber 80% des Buches, das ich seit 1. März 2007 besitze, sehen absolut ungelesen aus. Während spezielle Themen offenbar um so nachhaltiger wirkten (siehe hier). Heute z.B. erinnerte ich mich, weil ein Freund sich gerade für Sibelius zu interessieren beginnt, und schon droht uns Adornos uraltes Verdikt den Weg zu versperren, – da könnte vielleicht doch gerade der musikliebende linke Philosoph aus Slowenien zu einem probaten Gegengift verhelfen…

Doch es gibt noch mehr Gründe, sein Werk hervorzukramen und zu Rate zu ziehen. Er ist kein Denker von der ganz peniblen Art, er ist impulsiv, man glaubt ihm beim Vorgang des Denkens zuzusehen, und schon ist man persönlich eingebunden: wie sagt man doch? man ist involviert… und ich studiere – zumal als Musiker – aufs neue intensiv seine Themenliste von damals.

Nun traf alldies zusammen mit einem Werbeheft der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, und das Verhängnis nahm seinen Lauf: ich begann mir allerhand zu notieren, weils womöglich der Wahrheitsfindung dient. Ganz sicher war ich mir nicht, aber als erst ein Anfang gemacht war, musste ich immer weiterschreiben. Mich interessiert, wie eine linke Position heute argumentiert (nach Putins Wahnsinn).

Folgender Text ist – als eilige Abschrift – noch nicht gründlich Korrektur gelesen.

(Moderation: Die Philosophin Dr. Rebekka Reinhard, stellvertretende Chefredakteurin »Hohe Luft«)

Slavoj Žižek :

(auf deutsch beginnend) Es ist eine grroße Ähre für mich, hier zu sein. Leider muss ich jetzt ins Englische wechseln (wir folgen dem Übersetzer), – ich glaube, die Frage ist die alte Leninsche Frage: „Was tun?“ Eigentlich wissen wir, was zu tun ist, die Medien sagen es uns, – Globalisierung, Kooperation usw. – das Problem ist unsere Apathie. Wir wissen, was zu tun ist, aber wir tun es nicht. Ich bin froh, darüber mit Ihnen zu sprechen, denn Deutschland ist immer noch das Land des Denkens. Ich denke , und das ist meine erste Provokation für heute: Wir haben es vielleicht mit der elften umgekehrten These von Karl Marx zu tun: die Philosophen haben die Welt nur interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Vielleicht haben wir im 20. Jahrhundert versucht, die Welt zu schnell, zu stark zu verändern, ohne sie wirklich zu verstehen. Heute müssen wir vielleicht einen Schritt zurücktreten und nachdenken. Wir brauchen eine neue Interpretation, und das sage ich als radikaler Linker.

(Mod. Sie haben von Apathie gesprochen, seit Beginn der Pandemie, erst recht seit Beginn des Krieges in der Ukraine, frage ich mich mehr und mehr, wie real die Realität noch ist, bis hin zu dem Punkt, dass ich mich frage: bin ich eigentlich wach, wenn ich mich frage, ob ich wach bin, oder wenn ich mich frage, ob ich träume. Was ist realer: die Träume, die ich nachts habe, oder die Realität, in der ich jeden Tag neu und wieder anders erwache? Wie geht es Ihnen?)

Das ist eine sehr interessante Frage. Ich gehe nicht im Detail auf Freuds Interpretation ein, aber vielleicht ist es der ultimative Freudsche Traum, wenn ein Sohn zu seinem Vater kommt und sagt: Vater, siehst du nicht, dass ich verbrenne, und dann wacht der Vater auf. Wissen Sie: oft sind unsere Träume – und hier rede ich nicht von leeren Träumen, sondern von Träumen über das, was uns erwartet, so schrecklich, dass wir sogar bereit sind, in der Realität zu erwachen, um schlafen zu können. Denn die Realität scheint auf den ersten Blick noch normal: Okay, Krieg in der Ukraine usw., aber schau mal, die Blumen, da gehen Menschen, so schlimm ist es doch nicht, also ja, wir können auch in die Realität flüchten. Heute scheint mir, der ich mich als atheistischer Christ definiere, ein Bezug auf das Thema der Apokalypse sehr passend. Wissen Sie: die Offenbarung des Johannes am Ende des Neuen Testaments, die vier Reiter der Apokalypse, sind wir da nicht schon? Es gibt die Interpretation, dass der erste Reiter die Pest ist, den haben wir: die Pandemie. Der zweite Reiter ist der Krieg, den bekommen wir jetzt. Dann der Hunger, der wird kommen, wir kennen die Konsequenzen des Krieges und in der Ukraine, nicht nur globaler Krieg, es wird deswegen in der Ukraine und in Russland nicht genug Weizen, Dünger usw. geben.

Und, was mich besonders schockiert hat, als Philosoph versuche ich darüber nachzudenken, dieser Schock hat nicht, wie man erwarten könnte, gute Folgen, in dem Sinne, o.k. es ist ein Trauma, aber es weckt uns auf, es ermöglicht uns, Probleme zu vergessen. Erstens die Zeitlichkeit dieser Krise, erinnern Sie sich noch an den Beginn der Pandemie? Die üblichen Zeiteinheiten der Behördem und der Wissenschaft waren damals zwei Wochen. Hab noch 2 Wochen Geduld, dann wird das besser. Dann waren es zwei Monate, dann hieß es vor einem Jahr: nächstes Jahr, und jetzt weiß keiner mehr Bescheid. 6:10

Und noch etwas: ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in meinem Land erinnern sich viele meiner Freunde fast nostalgisch an die Pandemie. Die Regeln waren klar, man hat ein bisschen gelitten, aber man hatte genug Zeit, alles war irgendwie unter Kontrolle. Und jetzt ist alles viel schlimmer. Und dabei sind wir wohl bei weitem noch nicht am Tiefpunkt angelangt.

Ein dritter Punkt ist extrem wichtig: was sind die negativen Folgen dieser Krise? Ich weiß wieder nicht, wie es in Deutschland ist, aber hier in Slowenien – und ich habe überall das gleiche gehört – feiern die Neokonservativen diesen Krieg. Und warum? Weil sie ihn so interpretieren: in den letzten Jahren haben wir in einer Ära der künstlichen Probleme gelebt. Feminismus zum Beispiel. Mal ernsthaft: die Lage ist doch gar nicht so schlimm für die Frauen. Oder Rassismus, das ist eine Randerscheinung. Politische Korrektheit: das ist doch lächerlich. JETZT sind wir wieder bei den harten Tatsachen angekommen. Auch die Geswchlechterrollen sind klar festgelegt. Das ist ein Lieblingsthema der heutigen Konservativen. Ukrainische Frauen fliehen ins Ausland und kümmern sich um die Kinder, das ist ihre eigentliche Arbeit, während die Männer in der Ukraine bleiben, um zu kämpfen. Sehen Sie, das ist die eigentliche Tragödie dieses Krieges,- er mag eine globale Katastrophe sein, aber dieser Krieg ist kein Moment der Wahrheit. It’s not a moment of truth! Er ist ein Moment, der uns brutal von den wirklichen Problemen ablenkt. Nicht, dass er selbst kein echtes Problem wäre, abewr erlenkt uns von großen Problemen ab, wahren Katastrophen, die uns erwarten.

Also ja, ich bin ein Pessimist.

(Damit sind wir schon genau bei dem Titel Ihres neuen Buches: Unordnung im Himmel. Es ist ein Buch buchstäblich über alles. Sie schreiben kleine, scharfe kurze Beobachtungen über die aktuelle Weltlage, es ist eine Kaleidoskop Sie beleuchten Was meinen Sie damit?)

Etwas sehr Einfaches! 10:00 Für Mao ist der Himmel noch in Ordnung, er will einen allgemeinen Überblick geben, wohin die Geschichte geht. Und Unordnung unter dem Himmel bedeutet hier nicht einfach Chaos. Wir Kommunisten, die wir wissen, wohin sich die Geschichte bewegt, können das Chaos ausnutzen, um unsere Ziele zu verfolgen. Heute glaube ich nicht, dass wir Linken immer noch den Anspruch haben können, einen globalen Blick zu haben. Die Karten sind so seltsam gemischt, dass Gescgehnisse, die einst typisch für die Linke waren, nun von der Rechten vereinnahmt werden. Nur ein Satz, ein bekanntes Beispiel, wir erinnern uns leider alle an den 6. Januar 2021, als die von Trump aufgehetzte Meute das Capitol stürmte, und wissen Sie was? Viele meiner linksgerichteten Freunde waren fasziniert und weinten, sie sagten: Wir hätten das machen sollen, die Linken wo waren wir? Selbst dieser ultimative, radikal linke Traum vom Volksaufstand wird nun von der radikalen Rechten vereinnahmt.

Der nächste Punkt ist diese Orientierungslosigkeit. Ich nutze gern diesen Begriff des kognitiven Mapping meines guten Freundes Fredric Jameson

es geht darum, einen allgemeinen Überblick über die Situation zu bekommen. Wie sind vollkommen desorientiert! Eine grundsätzliche Frage. Was ist China heute? Ist es noch kommunistisch? Oder eine neue Art von postautoritärer, neokkapitalistischer Gesellschaft? Undsoweiter. Oder wie ist es mit unseren eigenen Gesellschaften? Ich bin nicht ganz einverstanden mit manchen meiner Freunde, Yanis Varoufakis zum Beispiel behauptet, dass der Kapitalismus bereits in etwas anderes übergeht. Manche nennen das Technofeudalismus. Ich habe daran meine Zweifel. Aber Figuren wie Bill Gates, Elon Musk oder Jeff Bezos sind tatsächlich keine Kapitalisten alten Stils, die die Arbeiter ausbeuten. Sie sind eher Feudalherren über ein bestimmtes Gebiet, die Pacht kassieren.Ich weiß nicht, wem Zoom (?) gehört, aber wir sind wahrscheinlich irgendwie über Microsoft verbunden, also bekommt er Gebühren dafür. Es passiert soviel Neues, und wir haben nicht einmal eine grobe Orientierung. Wenn ich also kurz auf das von Ihnen eingangs Gesagte eingehen darf: Ich stimme Ihnen zu, dass man den Hintergrund, die Komplexität der Situation sehen muss, aber meinen Sie nicht auch, dass diese Komplexität oft nur eine Ausrede ist, um das Offensichtliche zu verleugnen? Z.B. haben einige meiner Freunde, nicht nur die rechtsgerichteten, sondern auch linksradikale, immer noch diese uneindeutige Haltung Putin gegenüber. Sie sagen okay okay, aber trotzdem ist er ein Stachel im Fleisch des amerikanischen Imperialismus, und der ist immer noch unser Hauptfeind. Also spricht auch manches für Putin. Deshalb sagen sie gerne, die Situation ist komplexer. Meine Antwort: ja natürlich. Aber das sollte uns nicht blind machen für die offensichtliche Tatsache, dass ein großer Staat einen anderen Staat brutal angegriffen hat. Diese grundlegende Tatsache darf man nicht weginterpretieren. 14:52

(Die Unordnung ist total, der Wunsch nach einer neuen Ordnung ist natürlich auch sehr dringlich ….Und die Medien )

16:08 Um Missverständnissen vorzubeugen, ich stehe trotz aller Komplexität ganz auf der Seite der Ukraine. In dem Sinne, dass ich voll und ganz für die ukrainische Verteidigung bin.Im übrigen gibt es soviel Absurdes in der russischen Argumentation. Ich bin nicht so drauf, dass ich sage: hören Sie sich die andere Seite an, Entschuldigung, aber zufällig verstehe ich russisch. Ich höre die ganze Zeit zu, ich folge ihren Podcasts usw. also bin ich durchaus informiert. Ist Ihnen das auch aufgefallen: laut russischer Propaganda ist die Ukraine ein Land von Neonazis. Es gibt da einen Typen, der ist der Horror in Person. Nicht Dugin, Putins offizieller Philosoph, sondern – merken Sie sich diesen Namen Timofei Sergeitsev, der schrieb in einem offiziellen Kommentar, der in einigen russischen Bulletins veröffentlicht wurde: dass der ukrainische Nazismus ungleich gefährlicher sei als der von Hitler. Das ist die wichtigste Botschaft: dass Russland uns alle rettet.Was ich sagen will – und das als Linker – denken Sie daran, welchen Namen Putin nannte, als er seine Abnsicht erklärte, in die Ukraine einzumarschieren, einen einzigen Namen hat er negativ erwähnt und angegriffen: LENIN. Und in gewisser Weise hatte er recht: vor der Oktoberrevolution war die Ukraine unterdrückt, die einzige wirklich goldene Ära für die Ukraine waren die zwanziger Jahre, als die Ukraine als Nation voll entwickelt war. 18:07 Gleichzeitig redete er aber über die Nazis. Also hat die Ukraine für Putin zwei Väter: Lenin und Hitler. Das macht es für mich ein bisschen verdächtig. Ja, all das stimmt. Ich bin aber trotzdem beunruhigt. Ich bin nicht für einen totalen Weltkrieg, der enorme Risiken birgt, trotzdem stört mich vieles an der westlichen Reaktion. Ich traue den großen Worten nicht, Sie wissen schon: Putin, Den Haag, Strafgerichtshof, aber viele Menschen wissen beispielsweise nicht, dass trotz des Krieges in der Ukraine immer noch russisches Gas durch die Ukraine in den Westen fließt. Gegen reguläre Bezahlung natürlich. Das wirkliche Grauen für mich ist das hier: in diesem Moment, wo wir hier – wie Sie sagen – die Russen so leicht als Barbaren, als unzivilisiert abtun, sollte sich der Westen an zwei oder drei Dinge erinnern: erstens, sagt Putins offizieller Philosoph Dugin, der Westen müsse akzeptieren, dass es nicht nur ein Wahrheit gibt, die europäische, somdern auch eine russische Wahrheit. Wir dürfen nicht dieselbe Sprache sprechen. Das stört mich. Auch wenn ich Selenski voll und ganz unterstütze, wenn er sagt, wir verteidigen hier Europa, aber wenn ich Selenski wäre, würde ich noch einen Schritt weiter gehen und sagen: in Wahrheit verteidigen wir hier auch alle Russen. Die Ukraine verteidigt das russische Volk vor der Katastrophe, in die Putin es treibt. Vergessen Sie nie den Terror, unter dem das russische Volk leidet, sie sind unsere Verbündeten!

Zweiter Punkt: diese Idee, es nicht Krieg zu nennen, sondern spezielle Intervention … manchmal verwenden die Russen sogar den Begriff „humanitäre Intervention“ um den Frieden zu erhalten. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor? 20:48 Hat der Westen das nicht auch jahrelang getan? Immer wieder sehr brutal interveniert, mit genau der gleichen Argumentation?

Letzter Punkt. Hier liegt die westliche Heuchelei klar auf der Hand. Putin, Kriegsverbrecher, Bombardierung von Kiew, Katastrophe. Sorry. Aber Putin – erinnern Sie sich? – hat vor ein paar Jahren Aleppo bombardieren lassen, die größte Stadt Syriens, viel brutaler als sie es jetzt in der Ukraine tun, – bis jetzt, wer weiß was noch kommt. Abgesehen von Mariupol. Aber: wo ist hier die Ausgewogenheit, wir haben damals protestiert, aber nicht so richtig ernsthaft. Jetzt ist es auf einmal ernst, und das hinterlässt einen schrecklichen Eindruck. Die Menschen in Lateinamerika, Asien, Afrika, der Dritten Welt bemerken diese europäische Heuchelei, und wir sollten auch hier den Mut aufbringen, dies nicht zu akzeptieren, dass dies ein Konflikt der Zivilisationen ist. Nochmals: wir sprechen sonst die russische Sprache, – Dugin, Sergeitsev, und all die anderen sagen dasselbe, nur genau andersherum. Sie sagen: Russland ist dieselbe Insel der Zivilisation, Europa und der amerikanische Liberalismus fallen in die totale Barbarei zurück. Ich denke, die Lehre daraus ist, dass wir unbedingt universalistisch bleiben sollen, hier würde ich sogar Jürgen Habermas und seinem Universalismus zustimmen. Deshalb bin ich für Europa, denn, was auch immer man gegen Europa sagen kann, Sklaverei, das Schreckliche, was wir in der Moderne getan haben, – diejenigen, die das Vermächtnis Europas angreifen, die Sklaverei, die Unterdrückung der Frauen, usw., tun dies aber immer in Begriffen, die aus dem Erbe der europäischen Aufklärung stammen. Die Größe Europas besteht nicht darin, dass es keine Fehler macht, sondern darin, dass es immer noch die beste Quelle für begriffliche Instrumente ist, die uns helfen, uns selbst zu kritisieren.

(Ja, Sie plädieren immer wieder dafür, die Blickrichtung zu wechseln…) 24:35

Jetzt werde ich Sie wieder überraschen – erstens: lassen Sie uns nicht in Selbstzufriedenheit verfallen. Meine Formel, die ich vor Jahren auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrungen in Ex-Jugoslawien oder in Ruanda vertreten habe, gilt meines Erachtens überall: Sie lautet: es gibt keine ethnische Säuberung ohne Poesie. Um ethnische Säuberungen zu verstehen, sollte man einen Blick auf die Dichter, die Intellektuellen und Philosophen werfen, die den Boden dafür bereitet haben. Bei uns hier ist es der berüchtigte Karadziz, aber das ist in allen Ländern so ähnlich. Z.B. war ich schockiert, dass in Irland William Butler Yeats, den Sie vielleicht auch kennen, 1936 die sogenannten Nürnberger Rassengesetze, die die Rechte der Juden einschränkte, voll unterstützt hat.

Wieviele große Dichter waren Rassisten, Faschisten, sie haben oft genug den Weg dafür bereitet, und deshalb sollte man Künstlern nicht zu leichtfertig vertrauen. Manche leisten Großartiges, wie Paul Celan, Samuel Beckett, aber man muss immer auf der Hut sein.

Ich sage nicht, dass wir jede Liebe zu unserem Heimatland verurteilen sollen, aber was wir von wirklich großen Schriftstellern und Dichtern lernen können, will ich anhand eines Beispiels aus Russland zeigen. Der größte russische Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts Andrej Platonow, der sich mit dem Schicksal dieses geringen, heimatlosen, primitiven Volkes beschäftigt hat, das es nicht geschafft hat sich einzugliedern. Und da berkommt man ein ganz anderes Bild von Heimat. Nicht diese große, nationalstaatliche Heimat, sondern eine wunderbare kleinteilige Heimat. Ich erinnere mich an einen Baum hinter meinem Haus, ich erinnere mich, wie im Wald der Wind wehte, usw. usf. Die Linke sollte sich das alles wieder zueigen machen. Überlasst dem Feind nicht das Gebiet, dass er besetzen will. Ich gehe noch weiter:

Warum sollte die Rechte das Recht haben, über Familienwerte zu sprechen, wo der neoliberale Kapitalismus alles getan hat, um die übermäßig ausgebeuteten Frauen und Familienwerte und kleine Gemeinschaften und die Solidarität effektiv zu zerstören.

Also noch einmal: machen Sie keine Kompromisse, indem Sie das Thema dem Feind überlassen. Wenn ich also sage: „ich liebe mein Land“, bin ich nicht gleich ein Nazi. 28:00

(Unordnung überall Mao – warum Kommunismus nicht ausgeträumt)

Ich habe hier ein klare, sehr kurze Antwort. Es geht wieder um Scheinheiligkeit. Erinnern Sie sich noch an das große Treffen in Glasgow vor ein paar Monaten? Mit Prince Charles, vielen Promis, Premierministern usw. sie forderten das Richtige, globale Zusammenarbeit, allgemeine Gesundheitsversorgung, und zwar international. Die ökologische Krise ist nicht lokal beschränkt. Erinnern Sie sich, dass im letzten Sommer im Südwesten Kanadas und dem Nordwesten der Vereinigten Staaten 50 Grad herrschten. Das ist die Folge einer Störung der Luftzirkulation in allen nördlichen Teilen der Erde, hier ist also unbedingt Zusammenarbeit erforderlich. Die globale Erwärmung birgt auch die Gefahr von Hungersnöten, viele Länder sind betroffen, auf dem Treffen wurde vor allem viel geredet, und ich würde sogar sagen: insgeheim machen sich alle bewusst, dass es keine ernsthaften Konsequenzen geben würde. Was mein kommunistisches Programm angeht, ich bewundere intelligente, ehrliche Konservative, die sich der praktischen Grenzen der Machbarkeit bewusst sind. Was man zusammen mit ihnen alles erreichen kann. Versuchen wir eine Ordnung zu schaffen, deren Programm darin besteht, das zu tun, worüber die großen Medien immer sprechen. Die großen Medien sprechen über die aktuellen Gefahren auf diese zwangsneurotische Weise, man redet viel und muss nichts tun. Mein kommunistisches Programm ist also das zu tun, was wir die ganze Zeit in den Medien lesen. Pandemien können nur durch globale Zusammenarbeit zumindest in Schach gehalten werden. Wir brauchen eine Art globaler, wenn nicht Gesundheitsvorsorge, so doch zumindest Selbstkontrolle, so dass wir wissen, wie das alles zusammengeht.

Was die Ökologie betrifft, sind wir sogar – würde ich sagen – zu besessen von der globalen Erwärmung. Wir schauen zuviel nach oben, schauen wir auch nach unten: was zum Teufel geht in den Tiefen unserer Ozeane vor, das ist dann beunruhigend, und wenn das ein Regime bedeutet, das ein bisschen autoritärer ist, natürlich nicht im faschictischen Sinn, nicht in dem Sinn, dass wir eine Weltregierung bekommen sollten, das würde totale Korruption bedeuten, aber eine Art von internationalem Gremium, das souveränen Ländern verbindlich Entscheidungen auferlegen kann. Wenn wir diesen Schritt nicht machen, habe ich große Angst um unsere Zukunft. Und ich meine das sehr ernst. Ich spreche nicht von unseren Enkeln, ich spreche davon, wie es in 20 bis 30 Jahren ausgeht, wenn die gegenwärtigen Tendenzen weitergehen.

(Wenn Sie, die uns hier zuschauen, Slavoj Zizeks neues Buch : Slavoj, hätten Sie denn noch eine Buchempfehlung? )

Ich tue etwas Paradoxes und lege Ihnen ein Buch ans Herz, dessen Grundthese ich nicht teile, das aber eine wunderbare alternative Sicht auf die Geschichte vermittelt, es handelt sich um David Graebers und David Wengrows Buch „The Dawn of Everything“, in der deutschen Übersetzung „Anfänge“. Es ist eine Art alternative Geschichte, die mit dem Mythos aufräumt, die übrigens auch der marxistische Mythos ist, dass die Ausbeutung der Frauen und das Patriarchat automatisch mit der Entstehung von Staaten begonnen hätten. Den großen Übergang zu Siedlungen und ortsgebundener Landwirtschaft, und sie beweisen das ziemlich überzeugend. Ein Beispiel ist das Inkareich, ein Aspekt dieses Reiches waren Kinderopfer, Autorität, ein anderer Aspekt war eine außergewöhnliche Form gleichberechtigter Zusammenarbeit. Ich glaube nicht, dass wir heute etwas direkt Vergleichbares tun können, aber deshalb mag ich alternatives Science Fiction, das ist die Lektion, die ich von Hegel gelernt habe. Deshalb hat Hegel verboten, Pläne für die Zukunft zu machen. Es ist gut, sich vor Augen zu halten, dass, wenn etwas passiert, es immer andere Möglichkeiten gibt, und dass die Dinge auch eine andere Wendung hätten nehmen können. Die Notwendigkeit ist immer eine rückwirkende Notwendigkeit. Wir können nur einen einigermaßen logischen Überblick darüber geben, wie es den Menschen bisher ergangen ist. Die Zukunft ist offen. Und dieses Buch gibt Ihnen das Gefühl dafür.

Verlag Klett-Cotta (s.a. hier)

(Ich stelle nochmal eine Frage…Sachbuchempfehlung WBG?)

Ich habe eine traurige Empfehlung, ich mag diese absolut pessimistischen Bücher, die eine Alternative aufzeigen, und dann darstellen, wie wir bei einem Versuch, eine Katastrophe zu vermeiden, die Welt noch verschlimmern würden. Z.B. gibt es ein Buch von Steven Fry, dem britischen Schauspieler, „Geschichte machen“ – „Making History“ , kein großartiges Buch, aber die Idee gefällt mir. Ein jüdischer Wissenschaftler erfindet nach dem Zweiten Welktkrieg eine Möglichkeit, wie man die Vergangenheit ein wenig modifizieren, also nicht komplett verändern kann. Da Hitler die Katastrophe war, führte er rückwirkend Chemikalien in den Bach des Dorfes ein, in dem Hitler geboren wurde. So dass in den Jahren, in denen Hitler hätte geboren werden sollen, alle Frauen dort unfruchtbar waren. Dadurch wird Hitler also nicht geboren. Was passiert? Die Nazis tauchen trotzdem auf, aber ein anderer, viel intelligenterer Kerl, der sich in Atomphysik auskennt, übernimmt die Führung. Deutschland entwickelt als erstes Land Atomwaffen, und Deutschland siegt. Und so widmet er, der heutige Wissenschaftler, sein ganzes Leben der Aufgabe, Hitler nachträglich zurückzubringen. Dieser radikale Pessimismus gibt meine Sicht auf das Leben wieder. (lacht)

(Wonderful! Vielen Dank )

(Satz in deutsch) Und es war mir eine grroße Ähre für mich und eh… eine Sache tut mir aber leid, es wirkt so etwas männlich-chauvinistisch, warum sollten Sie nur ein Medium sein, es hätte mich gefreut, wenn Sie sich etwas mehr beteiligt hätten. Sonst wird man mir männlichen Chauvinismus und sexuelle Objektivierung vorwerfen. Aber Sie sind der lebende Beweis dafür, dass intelligente Frauen nicht hässlich sein müssen. (Lachen auf beiden Seiten)

Und so wäre es schön, vielleicht ein anderes Mal darüber zu sprechen, damit ich auch Ihre Sicht der Dinge kennenlerne.

(Mod. Abschließend: Wenn Sie Fragen dazu haben, Anregungen, Kritik – was sagen Sie dazu?) 38:22

Nachwort JR: die letzten Sätze gehen leider ziemlich nach hinten los, – im Gespräch mit einer weiblichen Person anerkennende Worte über ihr Aussehen zu verlieren, zumal das Phänomen des männlichen Chauvinismus etc. ja gerade kritisch benannt wurde. Das geht gar nicht. – Ich schließe aber eine ironische Absicht nicht aus…

Die Andeutung der Geschichte von Steven Fry bleibt am Ende völlig unverständlich, daher der Link zum Nachlesen, – obwohl die echte Version auch nicht soviel erhellender ist.

Die Sequenz über den Traum (oben im Moderationstext) bezieht sich wohl auf Tschuangtse (Schmetterling); ich empfehle eine Orientierung hier.

Zur Ablenkung notiere ich, was ich gerade im Fernsehen bemerkenswert fand (und was mich an die obigen Bemerkungen über Heimat erinnerte): unser Europa. Schauen Sie in terra X HIER  Meilensteine der Kontinental-Geschichte Europas ab etwa hier bei 28:35 (!).

ZITAT Gunther Hirschfelder, Anthropologe der Universität Regensburg:

Wir haben lange geglaubt, diese Regionen werden mal in den Nationen aufgehen. Heute wissen wir aber, dass Nationen durch Regionen konstituiert werden, und dass der Mensch, der in einer Region lebt, eine regionale Identität braucht, aber nicht unbedingt eine nationale.

siehe Link

Zurück zu Slavoj Žižek, aber in konsistenterer Darstellung,

aus der SFR-Reihe Kultur Sternstunden 30.05.2022 mit Yves Bossart

Iranischer Protest

Man kann nicht die Augen zumachen!

https://www.deutschlandfunk.de/bekannter-rapper-salehi-wird-offenbar-gefoltert-100.html Hier

Das war gestern.

Und wieder kamen all die frühen, hoffnungsvollen Erinnerungen zurück. Die erste tiefsitzende, ausgelöst durch die Nachtmusik im WDR, eine der ersten von Alfred Krings eingeführten Nachtmusiken überhaupt, mit dem Orientalisten Prof.Dr. Eckhard Neubauer als Moderator, mein Jahrgang, und soviel weiter als ich, der ich gerade erst mit dem Studium abgeschlossen hatte und seit drei Jahren (frei) beim WDR arbeitete. Offenbar habe ich ihm meine frisch gedruckte Dissertation mitgegeben. Nie habe ich Khatereh Parvaneh vergessen.

←1972-1998 →

Übersetzt von Vinzenz Rosenzweig von Schwannau – aus heutiger Sicht: einfach nur hölzern. Deshalb hier nochmal das von Katereh Parvaneh damals im WDR aufgenommene, rätselhafte Ghasel von Hafis in der Übersetzung von Eckhard Neubauer

1 Wir sorglos Trunkenen, unsere Herzen haben wir uns rauben lassen,

Zum Vertrauten von Liebe und Weinpokal sind wir geworden.

2 Wieviel reinigende Bogenschüsse haben wir hinnehmen müssen,

Seit unser Leben von den Brauen unserer Liebsten abhängt.

3 Du, meine Rose, hast dir erst gestern Nacht mit dem Wein ein rotes Mal auf die Brust gebrannt,

Während wir, Pfingstrosen gleich, seit unserer Geburt dieses Mal auf der Brust tragen.

4 Alter Schankwirt, sollte dich unsere Reue auch befremdet haben:

Trübe den Wein nicht, halte ihn rein; dich um Verzeihung zu bitten stehen wir vor dir.

5 Und du, Wegweiser des rechten Wegs, deine Mühe ist beendet,

Doch habe ein Einsehen: zu tief sind wir gefallen,

6 Sieh nicht nur den tulpenfarbenen Wein und den Pokal, der vor uns steht,

Sieh auch das Mal in unseren blutenden Herzen.

7 Was sind das für Farben, was für Träume, Hafis!

Male kein falsches Bild – sind wir doch immer noch die alten Spießer!

Khatereh Parvaneh in den 1970er Jahren

Foto: Wikipedia hier

HEUTE: die ZEIT lesen (Navid Kermani und Fariba Vafi)

  DIE ZEIT 3. Nov.22

Kermani: Solidarität mit Iran! / Vafi: Schutz durch Anonymität in Teheran

 

P.S. 16.11.22 Lanz-Sendung von gestern (unbedingt hören!)

Screenshot Lanz-Sendung ZDF

HIER Iran-Expertin Gilda Sahebi ab 54:54 ML „Das Regime spricht zum erstenmal offen von Krieg!“ bis 1:14:31

Mit Original-Aufnahmen, Zeugnissen aus Teheran, etwa ein Beispiel, wie jemand als „Täter“ dingfest gemacht wird, wie Einschüchterung funktioniert, siehe 1:01:10 / Vorweg zur Info, was ein Basidischi ist, die Rolle der Milizen, siehe hier.

Eine Form des Protestes: den Mullahs im Vorübereilen die Turbane vom Kopf zu schlagen, siehe 01:02:33 „Geistliche sind Teil des Systems.“

8. Dezember 2022 Professionelle Analyse zum gegenwärtigen Stand der Proteste (→ Experte Ali Vaez, vorweg mehr über ihn und sein Umfeld hier)

Zitate

Zu Ali Chamenei

Seine Sicht ist es immer gewesen, dass es keine Zugeständnisse unter Druck geben sollte, denn das würde nur Anreize für noch mehr Druck schaffen. Das Problem mit ihm ist, dass er auch keine Zugeständnisse macht, nachdem der Druck nachgelassen hat. Daher hat sich die Islamische Republik nicht wirklich entwickelt, während sich die iranische Gesellschaft fundamental verändert hat. Das ist der Grund dafür, dass das Regime jetzt in einer Sackgasse steckt.

Die Mehrheit der iranischen Bevölkerung besteht aus der Mittelschicht, die zunehmend auch mittleren Alters ist. Diese Menschen zögern, das wenige, das sie haben, auch noch zu verlieren, für eine unbekannte, unbestimmte Zukunft. Denn es gibt keine praktikable Alternative zum Regime, die Protestbewegung hat keine Struktur und keine Führung. Innerhalb des Landes ist jeder, der eine Führungsrolle in der Opposition übernehmen könnte, im Gefängnis. Und die Opposition im Exil ist zerstritten. Zur existenziellen Gefah für das System würden die gegenwärtigen Proteste erst werden, wenn die Mittelschicht sich anzuschließen begänne, mit Streiks oder Straßendemonstrationen.

Es besteht auch die Gefahr, dass ein belagertes Regime Vorteile in einer Eskalation von Spannungen in der Region sehen könnte – und für die eigene Bevölkerung gewissermaßen ein anderes Thema zu setzen.

Was der Westen tun könnte, ist begrenzt, besonders wenn es um Druck geht. Aber es ist wichtig, Solidarität mit dem iranischen Volk auszudrücken. Die Brutalität ans Licht zu bringen, mit der das iranische Regime gegen sein eigenes Volk vorgeht – um den Preis dafür zu erhöhen. Es ist wichtig, in internationalen Foren Iran verantwortlich zu machen. Und man muss sicherstellen, dass das iranische Volk Zugang zur Informationstechnologie hat, um sich zu optimieren und die internationale öffentliche Meinung zu mobilisieren.

QUELLE DIE ZEIT 8. Dez.22 Seite 11 »Das Regime hat noch den Willen zu kämpfen« Erst wenn im Iran die Mittelschicht rebellieren würde, könnte die Diktatur stürzem. Ein Gespräch mit dem Mittelost-Kenner Ali Vaez / Interview: Jan Roß / ONLINE: HIER

ZDF HEUTE JOURNAL 8. Dez.2022

https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/iran-proteste-hinrichtung-102.html HIER

Bericht der Deutschen Welle https://www.dw.com/de/iran-demonstrant-wegen-krieges-gegen-gott-hingerichtet/a-64031520 HIER

DIE ZEIT 15. Dez. 2022

Online HIER Ein solcher Artikel sollte nicht hinter einer Zahlschranke stehen!!!

Die Männer marschieren mit!

LANZ Jahresrückblick 2022 HIER Anfang bis 23:00 Thema IRAN heute

Stand 8. Juli 2023 HIER t-online Nachrichten:

„Sie schießen absichtlich auf die Augen“