Themenwechsel (oder im Gegenteil: beim Thema bleiben)
Es wird oft kolportiert, dass Ravel selbst gesagt habe, der Boléro sei vieles, aber „keine Musik“. Man hat seine Aussage zum Bonmot getrimmt, aber nichts dergleichen hat er gemeint, wenn er sich dagegen wehrte, dass dies weltbekannte Werk sein bestes sei. Gute Übung: ein Lob dieser Komposition zu formulieren, ohne die Instrumentationskunst zu rühmen. Die einzigartige Melodie zum Beispiel, die unendlich wiederholbare…
Was ist nun mit Hamelins Hanon, – ein Joke oder nicht? Erheitert es nur im seriösen Umfeld … Denn: ihn wirklich „musikalisch“ zu spielen, – wie große Musik -, wirkt parodistisch.
Aber wie verhält es sich bei eintöniger Musik? Was ist das überhaupt? Monotonie – und kumulativer Effekt. Wenn die bloße Spielanweisung genügt…
Im Ernst, man kann ja im Unterricht darüber diskutieren… ob es eine reine Mechanik des Klavierspiels gibt, die es zu beobachten lohnt? Es wäre ja dumm, die Musik als pure Bewegung des Geistes zu betrachten. Sie beginnt mit der Geste, die als körperliche Aktion eine Regung des Gemütes spiegelt, begleitet oder – sogar verstärkt. Aber was ist z.B. mit einem krampfartigen Wutausbruch? Oder dem echten Akt des Einschlafens? Nachahmenswert? Übrigens ist „ausdruckslos spielen“ – non espressivo – auch eine Ausdrucksbezeichnung!
Achtung (bei Ohren-Kopfhörern): bei 2’25 kurzer Lärmschock
https://www.arte.tv/de/videos/092276-000-A/igor-levit-no-fear/ HIERverfügbar bis 21.06.24
Pressetext:
Igor Levit: No fear
Das inspirierende Porträt eines Künstlers auf seinem Parcours zwischen traditioneller Karriere und neuen Wegen in der Welt der Klassik: Der Film begleitet den Pianisten Igor Levit bei der Aufnahme neuer Werke, seiner Zusammenarbeit mit seinem kongenialen Tonmeister, mit Dirigent*innen, Orchestern und Künstler*innen.
Igor Levit ist ein Ausnahmekünstler im mitunter etwas gediegenen Universum der klassischen Musik. Seit er auf den großen Bühnen steht, meldet er sich immer wieder öffentlich und politisch zu Wort – eine Überlebensstrategie, die er in seinem Leben und in seiner Musik verfolgt. Er füllt die großen Konzertsäle rund um die Welt und spielt bei Eiseskälte im Dannenröder Forst aus Protest gegen dessen Rodung. Er legt die gefeierte Aufnahme aller Beethoven-Sonaten vor und widmet sich dann Schostakowitsch und Ronald Stevensons atemberaubender „Passacaglia on DSCH“. [ab 38:15 bis 50:20] siehe dazu Levits Video hier und zum Komponisten Wikipedia hier .
Er schlägt die Brücke vom Alten zum Neuen, von der Musik zur Welt, dorthin, wo die Menschen sind.
Der Dokumentarfilm von Regina Schilling („Kulenkampffs Schuhe“) begleitet den Pianisten bei der Erkundung seines „Lebens nach Beethoven“, bei der Suche nach den nächsten Herausforderungen, nach seiner Identität als Künstler und Mensch. Das Kamerateam beobachtet ihn bei der Aufnahme neuer Werke, bei der Zusammenarbeit mit seinem kongenialen Tonmeister, mit Dirigenten, Orchestern und Künstlern, bei seinem Eintauchen in die Musik, seiner Hinwendung zum Publikum, diesen unwiderstehlichen Wunsch zu teilen.
Dann bremst Covid dieses Leben unter ständiger Hochspannung von einem Tag auf den anderen aus. Über 180 gebuchte Konzerte werden abgesagt. In dieser Situation des unfreiwilligen Stillstands ist Levit einer der Ersten, der erfinderisch wird und mit seinen allabendlich gestreamten Hauskonzerten eine musikalische Lebensader zwischen sich und seinem Publikum auf Instagram und Twitter aufbaut. Während dieses Prozesses entdeckt er eine neue Freiheit, abseits der Zwänge des Tourneebetriebs, der Veröffentlichungen und der Vermarktung.
Regie: Regina Schilling / Jahr: 2022
Ab 55:22 Blick auf Salzburg / er beginnt, dem Kollegen Markus Hinterhäuser (Intendant der Salzburger Festspiele) von Keith Richards zu erzählen (Muddy Waters), und der andere erwähnt (allzu beflissen?) die Traurigkeit Chet Bakers. Gut seine kurze Bemerkung über die Oboe /diese Vergeblichkeit der Imagination, die manche Klavierlehrer einem auferlegen… bis 58:07
Nachhilfe in Sachen Blues
↑ siehe bei 4:24 (Muddy Waters)
Diese Beispiele dienen nicht nur der Exemplifizierung dessen, worüber kurz die Rede war, sondern auch der Nachprüfung, was davon übrig bleibt, wenn man es in extenso hört. Stimmt das Erinnerungsbild oder sollte man Vorsicht walten lassen? Das ist keine rhetorische Frage, die Antwort kann auch lauten: nein, ich sollte diese Musik auf jeden Fall länger auf mich einwirken lassen, und selbstverständlich gilt das gleiche für die Beethoven-Sonaten: wenn jemand, der sie studiert hat, beiseitelegen will – etwa um eine andere Form der Unmittelbarkeit zu erleben – ist das etwas anderes, als wenn man ihre Lebendigkeit nie wahrgenommen hat. Die Äußerungen die ein Mensch tut, der so Klavierspielen kann, dass unsereins nur staunt und die traumhafte Fingergerfertigkeit bloß hörend bewundert, darf niemand sonst „1 zu 1“ übernehmen. Und zum Beispiel die Ausdruckskraft eines einzigen Tones von Muddy Waters ausspielen gegen die ersten 25 Sekunden der Sonate op. 110, etwa hier. . .
Ich erinnere mich zwar an das Konzert, in dem wir in einer der vordersten Reihen saßen, nicht aber an diesen Handzettel, den ich von JMR erhielt: er interessierte sich damals wahrscheinlich noch mehr für Cecil Taylor als für Friedrich Gulda. Von diesem gab es später ähnliche Auftritte im Fernsehen zu sehen (er selbst angeblich nackt hinter dem Flügel stehend, ein Krummhorn blasend). Ursula Anders mit Schumann fand ich peinlich, für manche hohen Töne begab sie sich auf die Zehenspitzen. Gulda u.a. mit Gulda („für Paul“) durchaus beeindruckend. Nach der Pause (damit niemand das Konzert verließ?) begann er mit Mozart A-dur, unglaublich schön, – nachhaltig wirkend auch durch sein Performing: er begann zu spielen und zugleich das Publikum eindringlich ernst zu mustern, von einem zum anderen; ich dachte an Rilke: „da ist keine Stelle, die dich nicht sieht: du musst dein Leben ändern“, man fühlte sich persönlich gemeint und – einer schweren Prüfung unterzogen.
Der verantwortliche Redakteur Schubert berichtete in einer späteren Musiksitzung nicht ohne Erschütterung über Guldas „rein musikalische Seite“.
Ich lese durchaus mit gemischten Gefühlen den folgenden Augenzeugenbericht (?) 2016:
https://kultur-online.net/inhalt/der-friederich-der-friederich-und-dar%C3%BCber-hinaus HIER
Noch etwas habe ich in Erinnerung: die Schwester der Gulda-Sängerin, Sylvia Anders, beide Töchter des berühmten Tenors Peter Anders, war in jenen Jahren auf Tournee mit ihrem Lebensgefährten Justus Noll, und am Flügel saß nicht immer dieser, sondern auch im Wechsel mit ihm – mein Bruder. Ob in der folgenden Aufnahme, vermag ich nicht zu beurteilen. Ist es Klassik oder Jazz?
Es gab noch einen anderen Auftritt Friedrich Guldas im Kleinen Sendesaal des Funkhauses mit Paul & Limpe Fuchs, wobei er zwischendurch mit Vehemenz eine Bach-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier vortrug. Die anderen Mitwirkenden veranstalteten ein Happening mit einer Art Feuerwerk, was nicht ungefährlich wirkte. Paul Fuchs habe ich Jahrzehnte später in der Toskana (durch Vermittlung von Hans Mauritz) wiedergetroffen, in seinem „Garten der Klänge“. War es 2010 oder 2012? Es lebe die Kontinuität! Zwei Beweis-Fotos sollen folgen…
Quelle Isaac Stern (mit Chaim Potok): Meine ersten 79 Jahre / Gustav Lübbe Verlag Bergisch Gladbach 2000
Der große Geiger war 1979 in China, er berichtet darüber in Kapitel 24 (Seite 353 bis 365), und der Film über seine musikalische Reise wurde weltberühmt, man kann ihn auf Youtube abrufen: hier.
Das Buch ist hochinteressant, nicht nur für alle, die Violine spielen. Ich habe es erst jetzt kennengelernt und mit den letzten Seiten angefangen, erschütternde Zeilen, der Alptraum eines alternden Künstlers, real:
Die wachsenden Schwierigkeiten, die ich in den letzten Jahren mit der Bogenführung hatte, haben mir einige unglückliche und schlimme Situationen beschert. Manchmal konnten meine Finger den Bogen nicht mehr halten und ich mußte die Faust um ihn schließen. Ein- oder zweimal fiel mir der Bogen sogar aus der Hand. Wegen der Schmerzen im rechten Daumen und Zeigefinger hielt ich es für eine Arthritis. […] Mit Erscheinen des Buches werde ich das Ergebnis wahrscheinlich bereits kennen. Ich bete zum Himmel und hoffe von ganzem Herzen, daß es positiv ist.
Das Buch erschien in den USA 1999, 2 Jahre später starb er. Der Wikipedia-Artikel spart auch Schattenseiten nicht aus ( hier ). Ich selbst habe Isaac Stern in der Kölner Philharmonie bei einem Streichquartett-Workshop erlebt, als Vorsitzenden einer Art Jury, fand es furchtbar, wie die jungen Leute behandelt wurden und habe darüber in einer WDR-Sendung berichtet.
Kein Wunder, dass diese Musik wie Dvorak klingt, wenn sie mit westlichem Zuckerguss ausgestattet wird, und bei offiziellen Gelegenheiten wird sie Stern nicht anders präsentiert bekommen haben, das ist der Zauber der chinesischen Pentatonik plus Tschaikowsky-Flair. Nicht „ungeachtet der pentatonischen Skalenstruktur“ muss es heißen, sondern dank dieser Struktur, die Dvorak schon im ersten Klaviertrio präsentierte und zwanglos mit der Musik „Aus der Neuen Welt“ amalgamieren konnte. Wäre Isaac Stern ein einziger Ausflug in die alte Chinesische Oper möglich gewesen (z.B. in Hongkong), hätte er andere Worte über die menschlichen Stimme als Vorbild gewählt. Heute könnte man auch ein Kapitel hinzufügen über die Nachahmung oder Übertreibung der westlichen Mimik und Gestik beim Musizieren. Es hat metaphorischen Wert, wenn der Flügel am Ende die Musik, um die es angeblich geht, auto-matisch produziert. Erkennen Sie die Ähnlichkeiten und die Unterschiede in den folgenden Musikaufnahmen? Hoffentlich wird es Ihnen am Ende nicht zu bunt bunt oder einfach zu lang lang. Im folgenden Erhu-Solo können Sie die oben wiedergegebenen Noten mitlesen, wenn Sie wollen. Danach folgt dieselbe Melodie, more „colorful“,- oder ist es inzwischen eine ganz andere geworden?
Zur Instrumentenkunde: ab 0:25 die Wölbbrettzithern CHENG, ab 0:44 und 1:11 die Laute PIPA, ab 1:36 die drei Damen vorne links mit der chinesischen „Geige“ ERHU.
Ist es eine Jagd oder eine Flucht? (Beides natürlich.) TEMPUS FUGIT.
Kurzcharakteristik von Hermann Keller (1965):
Mit römischen Ziffern sind im folgenden Notentext die Durchführungen bezeichnet. Zunächst sollte man das Thema gut kennen, also mehrfach auf den Anfang zurücksetzen. Der Komponist soll keinen Heimvorteil genießen. Ebenso die Umkehrung des Themas (inverso) lernen, sie folgt gleich in Durchführung II. Aufwärts und Abwärts ist vertauscht. (Themeneinsätze sind jeweils angezeigt.) Dann: „Engführungen“ ab Durchführung III (recte) und Durchführung IV (inverso), auch in Durchführung V (recte et inverso). Auf alle Fälle nicht zu überhören: in der Engführung setzt das antwortende, nachsetzende Thema vorzeitig ein. Ein Streit um die Hackordnung! Und was sorgt für den Höhepunkt in Durchführung VI ? Was könnte härter sein in einer solchen Jagd als eine erzwungene Zäsur! Ein verfehlter Fluchtpunkt? Hören Sie: rennen Sie um Ihr Leben! Es ist kein bloßer Spaß.
0:59 2:06 3:23
Analytische Einzeichnungen nach Ludwig Czaczkes
Folgende Aufnahme „Ansehen auf YouTube“ + hierher zurück und Noten verfolgen.
Über den leicht rabiaten Charakter dieser Fuge kann wohl kein Zweifel bestehen. Es ist zugleich mit 87 Takten die längste Fuge des WTK I. Interessant, dass eine kürzere Version des Themas im Kopfsatz der Kantate BWV 87 zu finden ist, der nur aus einem einzigen Textsatz besteht und auch bündig abgehandelt wird, nämlich in 32 Takten: „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen“. Ein Jesuswort aus Johannes 16, 24, das – nach Alfred Dürr – als bedrohlicher Vorwurf aufgefasst werden kann: Trotz ihrer offensichtlichen Schuld haben die Menschen Gott nicht um Vergebung gebeten. Kantate zum 6. Mai 1725. Unsere A-moll-Fuge ist – siehe oben H. Kellers Einordnung – möglicherweise ein Jugendwerk (Weimar?), wurde von Bach aber 1722 in die Reinschrift des Wohltemperierten Klaviers übernommen, sie wird also in diesen Jahren als Studienwerk (?) wieder präsent gewesen sein. Eine schöne Vorstellung: Bachs fortgeschrittenen Schülern könnte bei der Kantaten-Aufführung ein Licht aufgegangen sein. Der strenge Gott, der strenge Lehrer – so könnten sie gefeixt haben, mit Verlaub. Dementsprechend übersetze ich es mir heute so: „Nichtswürdiger!!! Du hast noch nicht geübt!! Fang an!“
Ein so handliches Buch kann man unmöglich bis Weihnachten unangerührt lassen, ein Muss für alle Musiker/innen. Oder ganz allgemein: für Menschen? Selbst wenn sich durch Monate mangelnder Initiativen einiges an Frust und Kritikbereitschaft angesammelt hat: nichts kann willkommener sein, als ein Angebot zur Improvisation, auch ohne Publikum, ohne Schaubühne. Gerade in dieser Zeit: Ein neues offeneres Leben beginnen. Nein, keine Anleitung, Gottseidank, – ein Angebot darüber nachzudenken. Sich in der Ungewissheit einzurichten…
ISBN 978-3-15-014164-9 Euro 6,00
Das Stichwort Fußball gefällt mir – auch im Blick auf Sohn und Enkel/in…
Zur Abwechslung lieber etwas hören (als lesen)? Bitte HIER (Radio Ö1)
Den vorgelesenen Text findet man in dem Kapitel „Das improvisierende Gewohnheitstier“ S.67 bis 74.
So froh gestimmt ich im Gesamttext herumstöbere und überall Anlass finde, mich festzulesen und den Anregungen zu folgen, so stocke ich doch, ehrlich gesagt, bei der strikteren linearen Lektüre und zwar gleich am Anfang des Büchleins: über das Gendern. Da geht es um das platonische Höhlengleichnis: demnach sei unsere Existenz umgeben von flackernden Schatten, die da vor den Höhlenbewohner*innen an die Wand geworfen werden (Seite 10), was mich sofort veranlasst nachzuschauen, ob Platon (oder seine Dolmetscher*innen) tatsächlich das gedachte menschliche „Publikum“ so ultramodern differenziert hat (haben). Oder ob hier bereits improvisiert bzw. paraphrasiert wird, so wie auf der nächsten Seite mit den Chirurg*innen. Nein, Plato variiert zwar in engen Grenzen, er spricht von „Gefangenen“ oder „Menschen“, wollte uns aber ganz gewiss nicht in vordergründige Diskussionen verstricken.
Ich hätte vielleicht einfacher begonnen, etwa bei dem lateinischen Spruch „variatio delectat“, aber wenn es nun derart streng zugehen soll, repetiere ich zunächst einmal die Deutung des Höhlengleichnisses bei Wikipedia hier. Ob der Mensch etwa, wenn er über einem ostinaten Grundbass Variationen entfaltet, in Wahrheit erkundet, wie er sich dabei an Bestimmungen zu halten vermag, die ihm Sicherheit geben. Oder eher Vergnügen? Freiheit? Und konstatiere bei mir selbst womöglich ein bürgerliches Sicherheitsdenken, das in der Kunst wenig zu suchen hat. „Ein Lob der Ungewissheit“ – zweifellos brauche ich dafür vor allem Geduld.
Ziemlich irritierend schon auf den Seiten 32/34, wenn davon die Rede ist, dass nur ein winziges Publikum das »Köln Concert« von Keith Jarrett am 24. Januar 1975 live in der Oper Köln erlebt hat, dass es dann auf der nächsten Seite heißt: „Niemand, der in der Kölner Philharmonie zugegen war, und niemand, der die Musik von der Aufzeichnung her kennt“ – (Eröffnung der Philharmonie bekanntlich 1986).
(Fortsetzung folgt – nach weiterer Lektüre)
Geduld! Nach einem Tag Lektüre weiß ich, wie dehnbar der Begriff „Improvisieren“ ist, die Musik fehlt mir immer mehr. Ein großartiger Effekt, – keine improvisierten Sprengkörper mehr, keine improvisierenden Chirurginnen, keine verfehlte Klimapolitik, aber viele nützliche Anregungen zum Weiterdenken, z.B. eine neue Orientierung an den zum Jazz führenden Links – und an den wenigen, hier ausgesparten Klassikern des Nachdenkens über Improvisation, z.B. den, auf den Georg Knepler schon 1969 hinwies, als der Jazz offenbar noch nicht zur Debatte stand, Ernst Ferand: Die Improvisation in der Musik / Eine entwicklungsgeschichtliche und psychologische Untersuchung / Rhein-Verlag Zürich 1938:
Ich werde dazu einen Extra-Artikel versuchen, übend und mit Bangen improvisierend. Und was für eine Herausforderung wäre es erst, die ausgefeilte Methodik der indischen Improvisation darzustellen, absolute Voraussetzung: „Riaz“ – die strenge Disziplin des Übens. Eine globale Welt der Improvisation, angedeutet in den wenigen Zeilen:
Entscheiden Sie doch bitte: was ist im folgenden wunderbaren Beispiel komponiert, was improvisiert?
Zurück zum Jazz: Im Anmerkungsteil des Büchleins findet man auf der ersten Seite zwei unglaubliche Webadressen: ein Wunderland der sichtbar gemachten Musik, Transkriptionen und der klingenden Beispiele. Eine Datensammlung „von knapp 500 digital gespeicherten, monophonen Soli. Sie lassen sich online auf ihre Strukturen hin analysieren.“ Zitat Anmerkung 3. / Hier ein winziger Einblick:
Die zweite Web-Adresse ist für Laien (wie mich) vielleicht noch aufregender: eine Liste von tausend Jazz-Standards zum Sehen, Hören, Lernen. Ein sensationeller Zugang, eine Verlockung, ein Suchtmittel, ich finde keine Worte für ein solches Angebot!
Mit einem Schlag ändert sich mein Blick auf dieses unscheinbare Reclam-Heft: was mag mir noch entgangen sein, an diesem Tag und in meinem bisherigen Leben? Kaum zu glauben: 6 € für eine Essaysammlung und den Gratis-Zugang zu zwei Schatzkammern der Jazz-Geschichte!
* * *
Ja, noch etwas liegt mir am Herzen (seit gestern Mittag 18. Dezember bei Mamma Rosa): eine schmale, aber gewichtige, hinreißend geschriebene Monographie über den Pianisten Walter Gieseking. Sie stammt aus der Feder eines ehemaligen Kollegen (Redakteur im WDR und SWR): Rainer Peters. Und wie spannend er zu erzählen weiß, habe ich nicht nur bei vielen gemeinsamen Eisenbahnfahrten zum Arbeitsplatz in Köln genossen, sondern auch in seinen Moderationen zur Neuen Musik oder in den glänzenden Essays zur Einführung der Bartók-Kammermusik-Reihe im WDR-Funkhaus. Seine wissenschaftliche Akribie bewies er in geradezu gewaltigen Werken über den Komponisten Bernd Alois Zimmermann (siehe hier und hier). Rainer Peters wusste ALLES über die Geschichte der Neuen Musik, Lieblingsthema damals die Wiener Schule und ganz besonders: Alban Berg. Das Buch von Soma Morgenstern war gerade herausgekommen. Und heute – in einem weiten Sprung zurück, lange vor Beginn unseres Studiums und der gemeinsamen Arbeit in Köln – erinnert er mich an die Erschütterung, die der Tod Giesekings 1956 bei meinem Vater auslöste. In dessen Bücherschrank hatte ich damals gerade die unauffällige Schrift über die Methode Leimer-Gieseking entdeckt, um dann – auf ein Wunder hoffend – mit Bachs E-dur-Stück eine Probe aufs Exempel zu versuchen: leider strandete ich auf ganzer Linie, aber immerhin: die ersten Takte sitzen bis heute, und zwar im Kopf, nicht unbedingt in den Fingern. Ich ahnte allerdings, dass dem Gedächtnisgenie Gieseking nicht mit einer bestimmten Lehrmethode beizukommen war…
Das Buch von Rainer Peters umfasst auch eine wunderbare Auswahl alter Fotos und endet ebenfalls mit James Dean: er sitzt gemeinsam mit Gieseking am Klavier, beide habe je eine Hand auf den Tasten und wenden sich einer fröhlichen Runde zu, – wenn man den mit Gläsern und Flaschen bedeckten Tisch im Vordergrund so deuten kann. In der Tat, es ist wohl derselbe Gästetisch, den man oben auf dem Youtube-Video in der Gegenrichtung sieht, mit den beiden Protagonisten vor oder nach der pianistischen Kollaboration.
Ich möchte mich von diesem Thema nicht trennen, ohne Ihnen einen Blick in das Verlagsprogramm zu bieten, in dem allerhand musikalische Kostbarkeiten dieser Art versammelt sind: HIER.
Es ist dieser Aufsatz, der einiges in Bewegung setzt, und nicht nur bei mir bzw. bei mir nicht nur, weil ich die Widmung unter dem englischen Abstract wichtig nehme, sondern weil Hand und Fuß samt Körper ringsumher für mich ein Dauerthema waren, ob am Klavier (s.a. hier), auf der Geige oder bei der täglichen Gymnastik (die sich auf 5 Übungen beschränkt). Daher wird dieser Blog-Artikel partout nicht fertig werden, weil das Thema sich dermaßen verzweigt. Zumal im Widerspruch: z.B. Glenn Gould betreffend. Sein Contrapunctus I gefällt mir nicht, – erst bei Zenck gewinnt der Ansatz neue Aspekte -, Performanz statt Analyse? und schon sitze ich wieder in der Fugen-Falle, schaue in die Analysen und bin doppelt unzufrieden, nicht nur mit mir, sondern auch mit allerhand viel tüchtigeren Vorgängern. Da gibt es keine helfenden Hände. Andererseits habe ich heute Geburtstag. Es ist nie zu spät für eine Renaissance. Wie 1956, 1964 und über die Jahrzehnte immer wieder. Jetzt sind zwei CDs dazugekommen, die Unruhe stiften, „Fuga Magna“ und Mozarts Bach-Fugen mit ihren zu schnellen Tempi. Gilt das individuelle Streicher-Denken oder die Versenkung der 10 Finger in die Tasten? Im Hintergrund das mutmaßliche Klangdenken des Pianisten Chopin mit seinen Präludien ohne Fugen.
Fuge D-dur BWV 874 Welches Tempo? Hören Sie Barenboim, András Schiff (ab 5:18), Angela Hewitt oder die russische Schule. Seltsamerweise könnte Gustav Leonhardt (ab 3:28) als Gegenbeispiel dienen, das allzuschnell vorübergeht. Man kann die Schönheit der Harmonien nicht „auskosten“. Aber was soll man auf dem Cembalo schon auskosten? könnte man zynisch fragen. Vielleicht ist es Mozart, der die „altväterische“ (unerbittliche) Fuge nun prinzipiell in die flottere Welt der Streicher versetzen will? (Indiskutabel aus meiner Sicht die gehackte und willkürlich phrasierte Gould-Version hier).
Als es mir damals mit der Fugen-Form (oder -technik?) ernst wurde, studierte ich Adam Adrios Analyse in „Das Musikwerk“ von vornherein distanziert, weil sie offenbar mehr „vom Hörer aus“ argumentierte (statt vom Werk). Sein Musterbeispiel ist Contrapunctus III, von dem ich Seite 1 und 2 aus der Graeser-Partitur wiedergebe:
Hier folgt der entsprechende Analyse-Teil bei Adam Adrio (beide Blätter untereinander zu denken). Geben Sie sich nicht zuviel Mühe, die Gedankengänge nachzuvollziehen. Denn…
… hier folgt auch gleich noch das Urteil Walter Kolneders aus dem Bd. IV seines Werkes: Die Kunst der Fuge / Mythen des Jahrhunderts (Heinrichshofen Wilhelmshaven 1977 Seite 622):
Wenn Sie sich informieren wollen, was reale und was tonale Beantwortung des Themas bedeutet, sind Sie schnell fündig hier. Und wenn Sie nun auf die Altstimme ab Takt 5 anschauen, so liegt der Fall wohl gar nicht so eindeutig, wie Kolneder insinuiert: die ersten drei Takte des Comes bieten zweifellos eine tonale Beantwortung, er macht eben nur die leittönige Wendung des Dux im 4. Takt nicht mit (weil daraus eine hinaus-modulierende würde), sondern er bleibt in der Tonart, – weiß es also besser, ganz wie im realen Leben Walter Kolneder…
Und nun schauen Sie auf Track 6, 7 und 8 der folgenden CD: Gerade diese 3 Contrapuncti, in stufenweise gesteigertem Tempo, die Nr. XI ein Wunder an Komplexität und Durchsichtigkeit. Trotz des Tempos! Man muss das Ganze „akribisch“ hören, all die glasklar wiederkehrenden Motive erfassen, dann braucht man nicht auf die Visualisierung einer Architektur zu warten. Und Notenleser sind kaum im Vorteil. Trotzdem seien wenigstens vier Seiten der Partitur (von insgesamt 10) unten abgebildet. Es geht aber um die sinnlich greifbare, hand-greifliche Realität. Am Klavier dürfte es durchaus in Zeitlupe stattfinden… Als ebenso schnelle Alternative sehe ich nur die Gesamtaufnahme mit Musica Antiqua Köln (1984), was für ein Zufall, – genannt Goebel.
Das Ende der Fuge: die Vereinigung aller Themen, in Takt 176 das Achtelthema mit b-a-c-h-Motiv, das in Takt 91 zum erstenmal aufgetreten war (das wäre auf der 5. von 10 Seiten, dieser Formteil beginnt auf der Armida-CD Tr. 8 genau bei 2:00. Beginn der folgenden letzten Seite 10 bei 3:46).
Seite 10
Ich weiß, an dieser Stelle wäre eine intensive Behandlung der Großen Fuge von Beethoven fällig; sie würde den Rahmen sprengen. Zumal es auch eine Klavierfassung für vier Hände (vom Komponisten) gibt. Darüberhinaus erinnere ich mich an den Cassetten-Mitschnitt eines langen, erleuchteten Einführungsvortrags von Walter Levin mit dem LaSalle-Quartett, doch das führt den Bach ins Uferlose. Daher – weiter:
Themenwechsel
Chopins Hand Nachbildung Polish Museum, Rapperswil
Ganz entspannt?
Zitat aus dem folgenden Buch:
ISBN 3-7957-0224-0
Ich besitze das Buch seit 1994, war damals positiv beeindruckt, jetzt aufs neue, bin aber vor allem dankbar für das sympathische, inspirierende Gespräch
Für mich wird es spannend, sobald von den Schultern die Rede ist (man täusche sich nicht über den Titel dieses Artikels „Hand und Fuß“). Warum habe ich das nicht viel früher begriffen? Ich brauchte diese empathische Atmosphäre. Es ist wirklich von Nutzen, die Übungen nun auch im Buch – ohne Instrument – gründlich zu verstehen, im folgenden Absatz zum Kopfkreisen z.B. das Wort „vorsichtig“ nicht zu übersehen…
Der „Student“ im Video ist Benjamin Laude. Mehr über ihn hier. Bei 5:10 spricht er über sein frühes Problem: die Schultern. „taut“= (an)gespannt / 12:20 Alexander Brailowsky s. Handbewegungen hier „play with weight“ / Janos Starker / Pollini / Balladen „poetic“ play / my father Nocturne ab 18:21 (auch ich denke an meinen Vater, sein Beharren auf der Breithaupt-Methode, an „sein“ Nocturne in F-dur, jetzt bin ich bereit, neu über die Gestik nachzudenken).
Wer ist dieser junge Pädagoge? siehe hier . Natürlich: der Ton ist anders, dozierender, man möchte widersprechen, aber es ist eine gute Übung, „weich“ und zugänglich zu sein. Was meint er zum Pedal ab 6:10, sind es Hinweise oder Vorschriften? Ab 9:35 Prélude op.28 Nr.13, größtenteils ohne Pedal-Angaben.
Mein Problem bei Chopins Prélude Nr. 1 in C-dur war die gedruckte Pedalisierung, die ich folgendermaßen geändert habe (siehe unten, eingezeichnete rote Klammern). Mir lag daran, dass die Töne der linken Hand verschwinden, um den Hauptmelodieton der rechten Hand (Daumen) klingen zu lassen. In der vielleicht irrigen Annahme, dass Chopins damaliges Klavierpedal sich weniger „wolkig“ über den ganzen Takt breitet als das moderne.
Meine Pedal- und Klangübung
Kommentar: im Adagio üben!
Pedal – das soll heißen: roteKlammer P Akkord linke Hand, rechte Hand (Terz- oder Sekund) P neu, nur der Daumen bleibt liegen bis zum Tonwechsel am Taktende. Ausnahmen: Takt 15, 21, 22, wo man den Daumen (wegen des weiten Spreizgriffs oben) nicht liegen lassen kann, der ff-Gesamtklang aber alle weiterklingenden Töne gut verträgt, meinetwegen als „Wolke“. Am Anfang auf den schon tönenden Daumen rechts warten, bis man ihn wirklich klingen hört, deshalb adagio und frei, Terzanschlag glockenklar.
Wie es damals war:
Die E-dur-Etüde von Chopin kannte ich als erste (weil mein Vater sie gern übte und „en famille“ vorspielte), habe sie auch mit Ehrgeiz einstudiert (bis endlich sogar der Mittelteil einigermaßen ging, ich bin ja kein Virtuose), aber dann erschrak ich: am Anfang steht keinerlei Pedaleinzeichnung, sondern legato, – soll das etwa ohne Pedalhilfe funktionieren? Ein Legato wie auf der Orgel? Steht überhaupt irgendwo eine Pedal-Vorschrift? ja, aber erst auf der zweiten Seite unten, wo nach der Chromatik der H-dur7-Akkord im Raume steht und glänzen soll, fortissimo.
Der rote Eintrag zu Cortot bezieht sich auf seine Notenausgabe (mit Übungen), nicht auf die alten Tonaufnahmen, da hätte ich es gar nicht wahrgenommen. Sehr wahrscheinlich hat er recht. Aber die 10 Chopin-Bände von Paderewski habe ich mir 1960 im Polnischen Pavillon (?) Ostberlin gekauft, und ich hänge daran, wie an der Kropp-Ausgabe des Wohltemperierten Klaviers.
* * *
Zurück zum Anfang:
Es gibt Leute, die Bach am Klavier ohne Pedal spielen wollen. Was für ein Unsinn… Die Schönheit des Klaviertons kommt vom Pedalgebrauch her, – wegen der mitklingenden Resonanztöne, nicht um ein mangelhaftes Legatospiel vorzutäuschen.
* * *
Nochmals: zurück zum Anfang – beim Üben kein Druck, kein Blitzstart…
Das Bewusstsein aber ist ganz und gar wach. – Noch mehr über die Hand hier im Blog.
Vielleicht erscheint es nur beim Langsam-Üben, – aber es ist da, wenn Sie die Stelle betrachten, unter der die grünen Pfeile stehen, auch unmittelbar davor und danach: was ist denn das für eine Stimmführung???
aus folgendem Zusammenhang:
Bach: Wohltemperiertes Klavier Teil I BWV 865 Fuge-A-moll (2 von 6 Seiten)
Die römischen Zahlen bezeichnen die „Durchführungen“, die jeweiligen Themen-Auftritte in den verschiedenen „Stimmen“ sind mit grünen Häkchen gekennzeichnet. Die Durchführung II verwendet das Thema in Gegenbewegung (Umkehrung), alles was in I aufwärts geht (vgl. mit Takt 1ff), geht jetzt abwärts. Die oben abgeschriebene Stelle finden Sie in der vorletzten und letzten Zeile des zweiten gedruckten Notenblattes, die Töne des Themas sind in meiner Abschrift rot eingekreist (die Farben dienen nur der Distinktion).
Wollen Sie das Stück erst hören??? Mit Glenn Gould??? Bitte HIER – (sehr gut, um den Form-Überblick zu üben, folgt später) – aber der Themen-Einsatz, um den es mir im obigen Beispiel ging, wird Ihnen kaum auffallen: versuchen Sie’s doch mit Blick auf die Minuten und Sekunden: ab 0:51…
Meine (kleine) Lösung für die Stimmführungshärte dieses Taktes: der Tenor, – er hat seit Takt 22 geschwiegen und soll mit Gewicht zurückkehren, mit einem Themeneinsatz in Engführung, einem Scheineinsatz, denn er endet schon nach 5 Tönen, begründet aber die Verdichtung des Satzes wenig später in parallelen Terzen, vergleichbar dem Takt 10, Steigerung zum Schluss der Durchführung, hier wie dort. Man vergleiche den Gipfel dieses Spiels mit Terzparallelen im Schlusstakt der ganzen Fuge: aufgetürmt zu 7 Stimmen!
Um zu einem Ende zu kommen, zitiere ich einen Satz von Alfred Dürr (S.215) zur Datierung dieser Fuge im Lebenswerk Bach:
Mit seltener Einmütigkeit hat die Forschung in dieser Fuge eine aus frühen Jahren ins WK übernommene Komposition Bachs gesehen, und tatsächlich muß auffallen, daß sich gerade in den Werken des jungen Bach Sätze von ungewöhnlicher Ausführlichkeit erhalten haben; erinnert sei an das Capriccio in honorem Johann Christop Bachii BWV 993.
Zum Thema dieser Fuge schreibt Dürr (a.a.O. S.211), es gehöre
zu dem in einer diatonischen Leiter aufsteigenden Typus, der in der Tonika verbleibt und schließt, so daß die Beantwortung erwahrungsgemäß real erfolgt.
Womit wir zu einer unserer Ausgangsfragen zurückkehren: dem Unterschied zwischen tonal und real. (Hier muss keine Wendung ausgeglichen werden, die schon im nächsten Themazitat aus der betreffenden Tonart herausführen würde.)
Noch eins muss ich unbedingt fairerweise erwähnen: ich finde, dass diese Fuge außerordentlich schwer zu lernen ist, nicht nur weil sie vierstimmig ist und doch ins Tempo kommen soll, also: besonders langsam geübt werden muss! Aber: das Üben ist keine Freude, – mit den Händen einzeln und fingersatzmäßig ganz sorgfältig behandelt, gut ausgehört. – es d a u e r t und es ist musikalisch über eine lange Zeit einfach unattraktiv.
Wie motiviert man sich? Ich vermute: allein über das Fingergefühl, die Schönheit der feinen Bewegungen und den anmutigen Tanz der Finger im Daierkontakt mit den Tasten. Ich werde vom Fortschritt der Bemühungen berichten.
Endgültiger Abschluss dieses Artikels (für heute). Weiter geht’s allerdings zunächst noch hier:
Robert Levin: „Bach’s tonal cosmology: Examining his structural procedures“ – seminar on December 15, 2021
https://www.swr.de/swrclassic/donaueschinger-musiktage/vod-donaueschinger-musiktage-2021-nowjazz-100.html hier Pressetext:
„Nine-sum sorcery“, das aktuelle Projekt des Duos LABOUR mit der Sängerin Hani Mojtahedy, ist ein musikalisches Beschwörungsritual. Düster-dystopische Klänge treffen hier auf die Dramatik traditioneller persischer Melodien und Poesie. Seit über zwanzig Jahren treten der Pianist und Synthesizerspieler Thomas Lehn und der Computermusiker und Komponist Marcus Schmickler gemeinsam auf – als ein Duo, für das künstlerische Rückkopplungsprozesse und das bewusste Spiel mit dem Unvorhersehbaren immer wichtiger geworden sind.
Genannt „Nowjazz“???? Ist es wirklich auch gute iranische Musik? Etwas ganz anderes: Man müsste mal drüber reden…
Sie äußern sich in ihren Werken immer wieder politisch und sozialkritisch. Ist Jazz als Musik dazu besonders geeignet?
Wynton Marsalis: Musiker haben immer schon sozialkritische Dinge gesagt. Jazz ist als Ausdrucksform dafür perfekt, weil afroamerikanische Menschen schon immer unter der Last leiden, im Land der Freiheit frei zu sein, aber eine Mehrheit möchte sicherstellen, dass sie genau das nicht sind: frei.
Nachwort
Und wie und was spricht man sonst noch über Musik? Ich hätte einen Rat: Schauen Sie in die eben veröffentlichte Bestenliste, die vom „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ erstellt wurde. Da lernt man ganz nebenbei, wie man in etwa über Musik reden kann, quasi wie gedruckt. (Natürlich auch in alles hineinhören! Sonst ist jedes Wort zuviel!)
Die Arietta und das Rätsel eines einzigen Akkordes
Von welchem Akkord soll die Rede sein? Er ertönt genau in der 28. Sekunde. Folgen Sie der Melodie, und achten Sie zugleich genau auf den Verlauf der Bass-Linie, die Töne liegen in der Tiefe nicht „auf der Hand“. Man muss sie mit dem Körper spüren, aber nicht laut… 0:27 – 0:28 – 0:29 – 0:30
Es könnte sein, dass Sie gar nicht viel spüren. Deuten Sie bloß nichts hinein. Es ist nur ein Hauch. Hätte man mich gefragt, – ich hätte auch auf eine andere Stelle gezeigt, nämlich dort, wo mit großer Bedeutsamkeit fast überhaupt nichts mehr passiert, zu passieren scheint, und unter diesem Nichts steht cresc., – wie soll ich da etwas wachsen hören? Hören wir also weiter bis über 1:42 hinaus. Und? Hören Sie was?
Vieles an dem Aufsatz, den ich lese, finde ich schwierig, jedenfalls schwer zu vermitteln, es sei denn, jemand ist kompositionstechnisch gründlich vorgebildet und vor allem: extrem lernbegierig. Trotzdem gibt es darin Grundsätzliches, was alle Menschen interessieren müsste, die Beethoven lieben. Wie leicht ist es, von diesem späten Variationen-Satz bedeutungsschwer zu sagen, es sei ein „Abschied“, leicht, weil es nun mal ein letzter Satz ist, eine letzte Sonate. Aber wusste Beethoven das denn auch??? Der Autor Felix Diergarten ist offenbar anderer Meinung, er hört soviel Hoffnung in den Variationen, mehr noch: für ihn ist es – so die Überschrift – „Ein Strom allgemeinsten Jubels und Frohlockens“. Ich möchte Lust wecken, ihm zu folgen. Und zu hören, was er hört. Anhand seines Notenbeispiels, das ich zum Üben gescannt habe. Zum Hörenüben. Nicht nur in den Noten zu sehen, was geschieht, sondern es wahrzunehmen, ja wachsam darauf zu warten. Auch das Thema als Ganzes durchschimmernd immer zu ahnen. Daher nun die Zeitangaben, die sich auf Brendels Aufnahme beziehen (danach ohne Zeitangabe zu Dina Ugorskaja). „Die neun Auftritte des Seufzers“:
Unten „Ansehen auf YouTube“ drücken und auf Arietta gehen (ab 9:30).
Natürlich hätte man, statt über den Akkord der 2. Stufe mit Quartvorhalt (d-moll mit verzögerter Terz f) zu reden, über den geistigen „Gehalt“ dieses Satzes ausführlich mutmaßen können. Aber ich z.B. liebe es, zuerst mit den Fingern auf den Tasten zu hören, Klänge wahrzunehmen, als seien es schon Gedanken. Obwohl ich auch ohne Beethoven mit den Grundakkorden der Tonika und der Dominante experimentieren könnte, um dann statt der Subdominante F-dur deren Stellvertreter in d-moll vorzuführen, und dann wie üblich über die Dominante zur Tonika zurückzukehren. Wozu also den einen allbekannten Stellvertreter mystifizieren, als habe Beethoven ihn erfunden? Hat er das etwa? Mitnichten! Der Autor Felix Diergarten sagt es so:
Die Versenkung in ein mikroskopisches Detail des Satzes ermöglicht es, schließlich doch auch eine neue Geschichte über das Große und Ganze des viel beschriebenen Werks zu erzählen: ein Werk, in dem man statt einem »Abschied« mit guten Gründen ein Werk des Durchhaltens und des Weitermachens hören darf.
Ehrlich gesagt gefällt mir ein so spartanisch begründetes Ziel auch nicht recht, aber der unbekannte Weg dahin reizt mich. Man darf sich auch angesichts der schönsten und größten Werke nur nicht abschrecken lassen. Wer mit Fachbegriffen und fachkundigen Arbeiten weniger vertraut ist, kann sie in ganz kleinen Proportionen genießen. Z.B. der Begriff „Oktavregel“, und „Liegestimme“ (bitte, ich will nicht auf den Dudelsack verweisen), aber Beethoven war garantiert damit vertraut, wenn nicht mit genau diesen Worten, sondern mit den handwerklichen Mitteln. Er hatte lebenslang seine Ausbildung beim musikalischen Handwerker Albrechtsberger im Kopf, und wir – haben immerhin Internet und Wikipedia. Lesen Sie nur – ohne es auswendig zu lernen – etwas über die Geschichte der Oktavregel. Das gab es nicht zu meiner Zeit, und man lernte es nicht im Geigenunterricht, da lernte man staccato und legato. Und wenn Beethoven so einfache Akkorde verwendete wie im Thema der Arietta, so kam das nicht, weil er den „Tristan“ noch nicht kannte!
Bei Felix Diergarten liest man folgendes:
Wie ich im Vorausgehenden zu zeigen versucht habe, lässt sich eine solche Deutung auch aufführungspraktisch und analytisch stützen. Die hohe Metronomangabe bei Czerny und Moscheles ist für die Wirkung des Satzes von grundlegender bedeutung, weil sie kaum Zeit und Raum für Schwere und Abscghied lässt. Hinzu kommt der hier vorgestellte analytische Befund: Der Seufzer in Takt 6 der Arietta zwingt eine bis dahin von Liegestimme, Dezimparallelen und Oktavregel geprägte idyllische Stimmung zum Weichen. Während der Variationen beleuchtet Beethoven diesen Moment harmonisch immer wieder anders, aber immer wieder weicht die Liegestimme zurück, bevor sie kurz vor Ende des Satzes in einem brillanten Triller einen großartigen Moment des Durchhaltens erlebt, wenn sie vom Seufzer nicht mehr verdrängt wird und ganz in C-Dur bleibt.
Man nehme das cum grano salis und nicht als der Weisheit letzter Schluss – darüber lässt auch Diergarten keinen Zweifel – es ist wie mit dem „einfachen“ C-dur und den „einfachen“ Akkorden. Die Realität dieser Musik bleibt so differenziert und vielschichtig, wie sie ist. Wir betrachten nur ein winziges Detail des Geschehens und schärfen daran unsere künstlerische Auffassungsgabe, die das Ganze betrifft.
Die „Abschieds-Deutung“ bleibt virulent, auch wenn sie relativiert wird, sie ist selbst in ihrem historischen Kontext zu sehen. Deshalb ist mir die folgende Bemerkung des Autors so wichtig:
Quelle Zeitschrift Musik & Ästhetik Heft 96 Oktober 2020 Seite 14 bis 29 Felix Diergarten: Ein Strom allgemeinsten Jubels und Frohlockens Ein neuer Blick auf Beethovens Arietta-Variationen aus op. 111
P.S. Die Überschrift des Beitrags ist übrigens Zitat aus einer der ersten Rezensionen der Sonate, 4 Jahre vor Beethovens Tod.