BWV 873 (zur Analyse und zum Vortrag)
Ich bin mehrfach zu diesem Werk zurückgekehrt und möchte mich nicht allzusehr wiederholen, jedoch die Beiträge, die mir wichtig sind, schnell zur Hand haben, bevor ich weitermache. Daher die folgenden Links:
Hier 7. Juni 2016 Musikanalyse fürchten? (betr. Fuge, ansonsten Chopin)
Hier 25. April 2020 Der Schwarze Tod (betr. im letzten Teil die Fuge u. „Wer Sünde thut“)
Hier 26. April 2020 Bach am Cembalo und am Flügel (betr. die Fuge und das Präludium)
Hier 29. Juli 2018 Bachs Kontinuität (betr. ein anderes Werk BWV 888, passt analytisch)
Hier 2. Juni 2018 Ermutigung mit Bach (betr. anderes Werk BWV 890, Fugen-Form)
Heute geht es mir um das Praeludium cis-moll BWV 873, einerseits um Überlegungen zum Vortrag (nach Badura-Skoda), andererseits um die formale Gliederung (nach Alfred Dürr und Christoph Bergner)
Quelle Paul Badura-Skoda: Bach Interpretation / Laaber Verlag 1990
Badura-Skoda – sein Buch ist nach 30 Jahren noch ebenso empfehlenswert wie damals, zumal es nicht mechanisch verfährt, sondern zum Denken verführt – gibt kurz vorher, nachdem er ausführlich über die schwierige Frage nachgedacht hat, „ob Vorschläge lang oder kurz ausgeführt werden sollten“, den entwaffnend einfachen, aber auch gefährlichen Ratschlag:
Auf die Musik übertragen, führt diese Beobachtung zu einer einfachen Faustregel: Wenn eine Melodie auch ohne Ornamente als schön empfunden wird, dann sollen die Vorschläge, Doppelschläge, Triller etc. möglichst leicht und kurz ausgeführt werden. Nur dort, wo ein Ornament die Expressivität steigert und sein Fehlen einen Leerraum entstehen läßt, soll es „bedeutend“, das heißt lang und betont wiedergegeben werden.
Man sollte aber keineswegs glauben, dass mit Hilfe eines solchen Buches oder gar eines Nachschlagwerkes mit einem Schlag alle Zweifel beseitigt seien. Und selbst wenn die Lösungsvorschläge von Bachs eigener Hand vorliegen, wie hier auf Seite 428, das andere cis-moll-Praeludium, das ich wirklich „seit Menschengedenken“ mit Vergnügen und Verzierungen spiele, – was tue ich denn am Anfang des zweiten Takte?
Die Imitation der linken Hand sollte durchaus pünktlich kommen, aber der Vorhalt in der rechten Hand – gleichzeitig, vor der Zeit oder sehr schnell? Nicht wahr? Ich will rechts die Töne a-gis nicht als Achtel spielen, um die falsche Parallele zur den Tönen gis-fis der linken Hand zu vermeiden. Das löst mir auch Badura-Skoda nicht, jedenfalls nicht an dieser Stelle. Und wenig weiter folgen in seinem Buch die verschiedenen Bach-Notierungen für meine dreistimmige Lieblingssinfonia BWV 791, und ich finde (vielleicht) nebenbei am Anfang von Takt 2 eine Lösung für meine Frage: ich spiele 1 Sechzehntel (!) Vorhalt vor dem Ton d, damit er schon angeschlagen ist, bevor der gleiche Ton im Bass kommt, und zwar genau zu dessen b nach der Sechzehntelpause.
Formale Gliederung des Praeludiums cis-moll (nach Dürr S.275f)
Formale Gliederung des Praeludiums cis-moll (nach Bergner S.124)
Zugegeben: solche Schemata sehen nicht verlockend aus. Es reizt einen nur, wenn man das Stück schon sehr gründlich geübt hat. Es wird ja immer schöner dabei, aber auch immer rätselhafter: warum diese inständige Wiederkehr des Gleichen, warum diese Unberechenbarkeit in der Wiederkehr bei gleichzeitiger Abwandlung des Gleichen, warum die Veränderung der Proportionen?
Ich greife immer wieder gern auf dieses Buch aus dem Jahr 1986 zurück, weil es ideenreich zu neuen Gedanken über Bachs Formdenken anregt, von einem Autor, der die Laufbahn des Musikwissenschaftlers letztlich vermieden hat, – um Pastor zu werden:
Quelle Christoph Bergner: Studien zur Form der Präludien des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach / Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft Hgg. Georg von Dadelsen / Hänssler-Verlag Neuhausen-Stuttgart 1986
Insbesondere das Phänomen der Abweichungen (?) von einer symmetrischen Gliederung und der Begriff der Dehnung waren für mich besonders aufschlussreich. Ich zitiere einige Sätze aus dem Kapitel über das Praeludium B-dur, das dem über unser cis-moll-Praeludium vorausgeht (Bergner Seite 117f) .
Für den 3. und 4. Abschnitt gilt: 4 + 4 + 8. Wenngleich manche Formvorstellungen an die Wiener Klassik erinnern, denkt Bach offenbar nicht in diesen Bahnen.
Auch bei Jacobus Kloppers (1966) findet man schon solche Hinweise, die einen vor voreiligen Analogien bewahren.
Die Gliederung nach Dürr scheint auf dem Papier sehr übersichtlich und klar: A – B – A – B – A. Aber wenn man es spielt und mitdenken will, drängen sich andere Schwerpunkte in den Vordergrund. So kommt Bergner zu dem Schluss:
Das Stück scheint in seiner Anlage nicht proportioniert. Die Gliederung zeigt 3 Teile von 16 + 16 + 29 (+1 Schlußtakt).
Jedoch wird durch die Wiederholungen nach T. 32 eine bestimmte Struktur sichtbar.
Es tauchen Motive auf (kehren wieder), die eine andere Struktur ahnen lassen als die, die offen zutage zu liegen schien.
(Fortsetzung folgt)