Fuge ab 1:22. Man darf nicht vergessen, dass dies aus einer Gesamtaufführung herausgelöst ist, kleine Fehler (Takt 21) also wahrhaftig keiner Erwähnung bedürfen. Um so bewundernswerter vom Interpreten, die Ruhe zu bewahren. Alles schön, aber meine Überschriften passen nicht recht dazu. Frühling, heitere Stimmung? Alles so ernst und sanft… nur angenehm, dass das Fugenthema nie hervorsticht; selbst wenn dann der Affekt kumuliert, wie in den Vorhalten Takt 31 (ab 3:14), scheint der Pianist sich mehr für die wohltönenden Bassgänge zu interessieren. Wie gesagt: alldas gehört zu einem langen Vortrag des „Wohltemperierten Klaviers“, und da hat die Tonart As-dur einen eigenen Stellenwert.
Man wird am Anfang unwillkürlich lächeln (Zeitwickelmaschine), das Tempo ist entsprechend. Aber zumindest in der Fuge (ab 1:39) ist es nett, die mit Rauten gefüllten Tupfer des Themas zu beachten, ohne den „stimmigen“ Verlauf des Ganzen aus den Augen zu verlieren. Sopran rot, Alt gelb, Tenor grün, Bass blau. Es lebe die digitale Didaktik!
Oben: Einer der größten Pianisten des vergangenen Jahrhunderts spielt ein furioses Praeludium und eine Fuge (ab 1:11) auf Sammetpfoten, durchweg in Pedal getaucht, das Thema ab 1:53 (Durchführung II) demonstrativ serviert, ansonsten so grau wie die Noten aussehen, verwischt, ab 3:12 (Durchführung V) tendenziell monumental, doch gleich danach wieder säuselnd, ab Takt 33 ritardando, nach dem Trugschluss – Bass F, dazu Sopran Vorhalt B, der zum As aufgelöst wird, – geradezu herausgeknallt, weil dieser Ton zugleich den Beginn des letzten Themenzitats bedeutet: es wird mit einem Riesenritardando gefeiert. Altmodisch.
Autograph Takt 31-34
Sehr korrekt, aber dieser eine Fehler (rote Klammer) sei doch vermerkt: Takt 32, der dritte Ton im Sopran, DES, muss mit dem Haltebogen zum nächsten DES verbunden sein, sonst erkennt man das im Alt darunterliegende Terz-Motiv B-G nicht (das auf die vorhergehenden Terzen reagiert, genau wie auch noch die im Sopran folgende Terz ES-C); die Eins des Taktes 33, der Quartsextakkord, ist das Ziel (samt Trugschluss). Eine Kleinigkeit, aber – erwähnenswert.
Liebenswert, weil ausgerechnet das angeblich strenge Cembalo soviel Privates einbezieht. Die Fuge schneller zu spielen, ist wahrscheinlich schwieriger als auf dem Flügel, – auch wenn man dort das Pedal sparsamer einsetzen würde als vorher Richter. Keiner kommt merkwürdigerweise auf die Idee, das Fugenthema weniger lyrisch anzugehen. Glenn Gould, denke ich, würde vor einem Staccato nicht zurückzucken. Oder doch? Siehe hier ab 17:20, Fuge 18:42 – 20:12. Er bindet im Thema die Töne 1 bis 4, ja auch den 5., den er allerdings dann wie den 6. im staccato erfasst. Und im Verlauf des Stückes hält er es mal so, mal so. Im Präludium bindet er zwei Achtel und hängt zwei Staccato-Achtel dran, macht es aber sonst schon mal umgekehrt, das Tempo ist moderat, der Vortrag eher „buchhalterisch“. Takt 32 rechte Hand auf den letzten drei Achtelanschlägen falsche bzw. fehlende Töne, womöglich Absicht. Tempo: „Schnadahüpfel“.
Zum Mitlesen
Form nach Dürr Form nach Czaczkes
aber jetzt loslegen!
Übenoten sehen natürlich anders aus. Meist ist vermerkt, wann ich sie geübt habe (und zwar richtig! nicht nur durchgefingert). Für einen Geiger relativ oft, andere Doppelstücke wohl viel regelmäßiger, zudem schon seit 1960 oder einige Jahre früher (etwa das in d-moll, dessen Fuge leichter ist). Zwar nicht unbedingt konzertreif, aber es ist typisch, dass man allzuleicht zu wissen glaubt (im Studium galt das vor allem für Schulmusiker!), wie sie gespielt werden müssten, nämlich vor allem korrekt. Heute sehe ich es anders. Ich weiß nur, wie ich sie nicht hören will. Hier hatte ich mir noch Malcolm Boyd’s Vorschlag notiert, die Fuge als Gavotte zu interpretieren. Was ganz hübsch klingt und ein gezügeltes Tanztempo zulässt, andererseits auch bei jedem Themenzitat zur gleichen Charakteristik zwingen würde. Siehe Orchester-Suite BWV 1066:
Meine Notiz in den Übenoten, betreffend Malcolm Boyd, bezog sich übrigens auf sein Bach-Buch (Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart), das ich mir 1985 zugelegt hatte:
Zunächst: was bedeutet es eigentlich für die Interpretation, wenn man die formalen Hinweise in Gestalt von Buchstaben oder römischen Zahlen eingezeichnet hat? Das muss nicht hörbar gemacht werden, man spürt allerdings, wieviel Bewusstsein drinsteckt. Noch etwas, was man nur wissen sollte: wieviel Mühe es Bach gekostet hat, ehe das Praeludium in dieser Form ans Licht trat (es gab eine Frühfassung), Alfred Dürr hat das detailliert beschrieben: erst so wurde es zu einer Form des Konzertsatzes, ein Versuch, dieses Konzertprinzip auf den Klaviersatz zu übertragen:
Das As-Dur-Praeludium läßt den Wechseln zwischen quasi Tutti- und quasi Solo-Partien deutlich erkennen, und auch ihre Funktion entspricht der des Instrumentalkonzerts.
Tutti: nichtmodulierend, relativ vollstimmig, ruhig und kompakt: Takte 1-8, 18-21, 35-38, 43-44;
Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel etc. 1998 (Zitat S.188)
Darf man die Fugeneinschnitte, bei kadenzierenden Abschlüssen, jeweils durch den Hauch eines Ritardandos kennzeichnen, wie der letzte Interpret? Oder dies gerade vermeiden, damit die unbeirrbare Bewegung von Anfang bis Ende präsent bleibt? Als Vorteil des Cembalos könnte gesehen werden, dass es das Thema nicht durch Betonung hervorhebt, was bei Pianisten zum guten Ton zu gehören scheint. Andererseits kann uns die häuslich-private Atmosphäre dieser Aufnahme nicht darüber hinwegtrösten, dass das Instrument nicht gut gestimmt ist. Unsicherheit im Takt 21 und (eingeübte) falsche Töne im Takt 29: GES statt G im Tenor, so dass sich ein übler Querstand ergibt mit dem letzten Achtel G im Alt. Zuwenig geübt? und deshalb auch dieses Sicherheitstempo? Selbst für eine Gavotte zu legato und vor allem zu lahm, – etwas bedauerlich.
Der Schwung des Praeludiums versteht sich von selbst und hat durch das Nachschlagen am Anfang, überhaupt durch den Wechsel zwischen oben und unten, links und rechts ohnehin etwas von einem ekstatischen Tanz. (Da vergisst man die Frage nach der Begründung.) Aber dann: worin besteht das Vergnügen, das eine solche Fuge bereitet, deren Dreiklangs-Thema eine gewisse Verwandtschaft mit dem des Praeludiums aufweist, aber zwingend ein gemäßigteres Tempo verlangt? Was geschieht da, und was „macht das mit mir“? Ich habe mich neulich über das modische Gerede von den Emotionen mokiert (siehe hier); ich wittere darin ein Prunken mit dem Reichtum des eigenen Innenlebens, während es in Wahrheit (?) um die Beschaffenheit des Werkes geht, die (nebenbei) meine Begeisterung erzeugt. Ich freue mich, wie es funktioniert, das ist alles. Ich freue mich, wie der aus dem Dreiklang entwickelte, an sich durchaus nichtige Einfall zur Quelle einer wunderbaren musikalischen Geschichte wird, sich verzweigt und fortbewegt, wie ein Lebewesen, sagen wir – um es nicht idealisch hoch anzusiedeln – wie ein Bergmolch in seinem Biotop. Aber es ist von Menschen „gemacht“, daher auch das Wort funktioniert. Seriöser ist es natürlich, mit Hermann Keller (Quelle hier S.93) zu sagen: „Die Fuge wendet die im Präludium wirkenden Kräfte nach innen; sie ist von einer unbeschreiblichen Hoheit und Wärme, scheint aber weniger für Klavier als für Orgel geschrieben zu sein, ja, man könnte sie sich als Chorfuge in einer Messe (etwas zum Sanctus) vorstellen.“ Vielleicht. Oder auch nicht. Fraglich auch, ob man den Schluss so empfinden will, als ob der Sopran die Fuge „in Demut“ abschließt.
Man könnte auch einwenden, dass ich ganz simpel einer Hanslickschen Ästhetik anhänge und die Musik lediglich als „tönend bewegte Form“ wahrnehmen möchte. Wie falsch. Ich möchte mich nur nicht mit Emotionen hervortun, wenn mir die tönend bewegte Form ein solches Vergnügen bereitete, ja, mich mit Freude erfüllt, in die sich Wehmut mischt, weil das schöne Leben meist anders verläuft, also vielleicht ohne das happy end eines abschließenden – „überzähligen“ – Themenzitates, mit dem ich glücklich zur Ruhe komme. Begeisterung, Vergnügen, Freude, Wehmut, Glück – mein Gott, warum soll es besser sein, wenn ich ständig mein Innenleben und meine einzigartigen, ja: unglaublichen Emotionen hineinmische?
Die äußere Form wäre greifbarer, aber schon hier ist es schwer, Übereinstimmung zu erzielen, etwa aus wieviel Teilen die Fuge besteht, aus wieviel Durchführungen mit wieviel Themeneinsätzen usw., schon da gibt es Meinungsverschiedenheiten (Riemann, Busoni, Keller, Dürr u.a.), aber am Ende hat immer nur Czazckes recht…
Quelle Ludwig Czaczkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers / Form und Aufbau der Fuge bei Bach Band I / Österreichischer Bundesverlag Wien 1982
Was mich ergreift: wie dieses scheinbar einfache Thema über sich hinauswächst, schon am Anfang, wenn die Antwort, der Comes, gerade beginnt und noch nicht ausformuliert ist, führt es in Sechzehnteln weiter bis in die Mitte von Takt 3. Später, in der Durchführung III geht der thematische Faden durch drei Stimmen T-A-S aufwärts (Bsp.), um dann in einer langen Sequenz abzusinken. In Durchführung IV ähnlich, A-S aufwärts, um wiederum in einer Sequenz abzusinken; in Durchführung V aber wird alldies überboten: nahtloser Aufstieg durch alle Stimmen B-T-A-S, dann eine Aufwärts-Sequenz mit „dringlichen“ Vorhalten und einer Wendung zum Abschließen der Geschichte, was erst – nach einer Hemmung durch den Trugschluss – durch ein letztes „überzähliges“ Zitat und eine letzte Sechzehntelwelle gelingt.
Es ergreift mich, gewiss, aber es geschieht allein durch die Struktur der Musik, durch motivische Arbeit, durch Verknüpfung, Fortspinnung usw. – lauter technische Maßnahmen – warum freue ich mich? Sind das schon Emotionen? In dem Stück oder auch in mir? Haben ähnliche Emotionen den Komponisten bewegt, als er sich entschloss, daraus ein Stück zu machen? Er kennt sie und er nutzt sie, aber er muss nicht drauf warten. Vielleicht wollte er einfach eine saubere und übersichtliche Fuge schreiben (siehe Czaczkes)? Dann hat er die Tonart gewählt, dann ein Thema aus Dreiklangstönen, man nennt das „inventio“, dann einen ersten Kontrapunkt in Sechzehnteln, dann das und dann das usw., man nennt das Komponieren.
Wie die Fuge wächst:
⇒ Resümee
Was die Fuge außerdem noch zusammenhält: ist es Ihnen beim Hören aufgefallen, dass der Sechzehntelfluss, der nach den ersten 3 Takten einsetzt, erst in Takt 33 (beim Trugschluss) zum Stillstand kommt? Mit einer Ausnahme: Takte 10, 1. Achtel, also unmittelbar vor Beginn der Durchführung II. Siehe auch hier (Bachs barocker Bewegungsmodus) und hier (Barocke Bewegung).
Es gibt insbesondere drei Stellen, die einer sehr geduldigen spieltechnischen Ausarbeitung bedürfen, auch letztlich die Wahl des Tempos beeinflussen, denn es muss möglich bleiben, auch hier das Thema deutlich und schön zu spielen. Der Fingersatz ist von besonderer Bedeutung, auch um ein Gefühl für die Vierstimmigkeit zu wahren, während zugleich die motivisch zusammenhängenden Töne unregelmäßig auf beide Hände verteilt sind. Zudem ist es ein Vergnügen, dies mit Händen und „überlangen“ Fingern zu ertasten und minutiös in die Handhaltung einzulagern. Ganz besonders also in den Takten 10-11, T.17-19 und T. 28-30. Ich werde künftig in jeder neuen Übephase mit diesen Stellen beginnen, um den Maßstab für die ganze Fuge zu setzen.
Die Übenoten (Peters, Kroll-Ausgabe) sind fremden Augen kaum noch zuzumuten, andererseits liebe ich sie, weil sie mich seit dem Beginn des Studiums in Berlin begleiten. (Sie lagen gebraucht & gratis auf dem Garderobentisch.) Ab Takt 10:
Erläuterung:
Schauen auf den Beginn der Durchführung II: Themeneinsatz im Tenor, linke Hand AS, 2. Finger, der nächste Ton jedoch, ES, wird ebenso deutlich mit dem Daumen angeschlagen, der übrigens den Daumen der rechten Hand kreuzt. Sie wandert nämlich gerade vom Des zum C, und zwischen diesen beiden Fingern der rechten Hand trifft der Daumen der linken Hand sein ES. Gleichzeitig erreicht die linke Hand eine Oktave tiefer in einer Sechzehntelbewegung das Es und unmittelbar danach das C, so dass die Hand eine Dezimenspannung spürt. Man sollte mehrfach diese Sechzehntelgruppe im Bass samt Zielton F gleichzeitig mit der Sechzehntelgruppe im Alt und deren Zielton ES spielen und wahrnehmen, wie die None sich mit der Septime reibt.
Der oberste Ton des ansonsten in der linken Hand vom Tenor vorgetragenen Themas wird von der rechten übernommen (rote Linie – es hat mich etwas Überwindung gekostet). Das kleine Fragezeichen vorm nächsten Taktstrich bedeutete: der Oktavsprung aufwärts vom AS in der linken Hand zum As in der rechten wollte mir nicht einleuchten; das ändert sich, wenn man den Alt vom Anfang dieses Taktes bis zum Anfang des nächsten singt: also doch keine bloße Verlegenheit. Ohne sich davon irritieren zu lassen, muss die linke Hand bereit sein, das Fugenthema nahtlos weiterzuführen in den beiden Tönen Des / Es. Der Alt schweigt nun bis zu seinem Themeneinsatz in Takt 13, und so läuft es ab dem 2. Sechzehntel des neuen Taktes links und rechts wunderbar entlastet, – trotzdem abbrechen und den 1. Takt bis zum Gehtnichtmehr durchfingern und egalisieren…
Ab Takt 16:
Ab Takt 27
Spannungen? Im zweiten Takt sollte der 5. Finger – nach der Aktion mit der schwarzen Taste As – auf G in einer Position innehalten, die der Hand erlaubt, den Alt nach Ton C mit 3-2-1-Fingersatz und Verbleib auf 2 (As) weiterzuführen, um dann den Sopran freizugeben zum Gang aufs ES, das liegenbleibt, während eine Oktave tiefer das Thema im Alt beginnt und die Streckung der Finger 3-2-1 zu den Dreiklangstönen AS-F-DES verlangt. Natürlich zwanglos… Der Fingersatz im Bass Takt 2 sieht ungewöhnlich aus, macht aber Spaß.
Kompliziert in Worte zu fassen, – klar, am besten man zeigt es einander am Klavier und vermittelt irgendwie auch die erfreuliche Physiologie der Hand, die sich den Tönen mitteilt.
[Dieser Text ist – zunächst – nicht zu ernst zu nehmen: er soll mich vor allem verleiten, den Faden gedanklich weiterzuspinnen, bis er etwas Plausibles zum Gegenstand aussagt. Er begann beim Widerspruch zu dem ZEIT-Artikel, der weiter unten angegeben ist.]
Man könnte sagen, sobald wir verallgemeinern, beginnen wir zu lügen. Wir lösen die Unterschiede auf, damit die Dinge vergleichbar werden. Das gelingt umso leichter, je weniger dinghaft sie sind. Wenn wir zum Beispiel nicht Wörter vergleichen, sondern deren Bedeutungen. Wenn ich eine starke Erfahrung beim Musikhören mache, beginnt der Fehler damit, dass ich sage: Musik ist das Größte für mich. Entscheidend ist doch, welche Musik ich höre. Ich muss es dazusagen: war es eine Trompetenfanfare oder ein Schlaflied? Wenn ich einen Menschen kennenlerne und wir entdecken, dass wir beide uns für Musik interessieren, kann ein Gespräch über Musik schnell zu der Erkenntnis führen, dass uns Welten trennen. „Über Musik“ bringt gar nichts, es ist ein Abstraktum, zu klären ist: welche? Und das Problem ist sehr einfach, wenn wir bei der konkreten Sache bleiben. Man muss bei der konkreten Sache ansetzen (und bei Bedarf abstrahieren können, z.B. vom eigenen Musikgeschmack). Niemand der von einem Veilchen entzückt ist, wird als seelenverwandt empfinden, wenn ich einwende, dass mich Eichenwälder begeistern. Schon der Volksmund weiß: man soll Birnen und Äpfel nicht miteinander vergleichen.
Ich habe gedacht, diese Fragen seien allmählich geklärt, da entnehme ich der Wochenzeitung DIE ZEIT, die doch so vieles weiß, dass im Reich der Musik immer wieder alles von vorn beginnt. Musik ist NICHT die Sprache, die jeder Mensch versteht. Sie ist ihm so fremd wie der Tonfall jeder beliebigen Sprache, die er nicht versteht, etwa einer afrikanischen Klicksprache, wie auch die begleitende Mimik und Gestik, obwohl die Vergleichbarkeit im physischen Bereich offensichtlich ist, Gesichter, Arme, Beine. Nur im Sport scheint alles vergleichbar und messbar, weil die Leistungen auf Vergleichbarkeit getrimmt sind. Selbst die Wissenschaften, die sich professionell mit den Unterschieden befassen, erwecken leicht den Eindruck, dass die Verbindungen auf der Hand liegen. Etwa wenn von der Liebe geredet wird. Es ist wie mit dem halb vollen Glas Wasser, das man auch als halb leer betrachten kann.
Diskussion 2009
Universalien der Musikwahrnehmung?
Der Reihe nach Dieser ZEIT-Text besteht aus acht Kapiteln:
1 Steinzeit / Fazit: „dass ausgerechnet sie [die Steinzeitmenschen] sich die Zeit zum Musizieren nahmen, ist von existenziellem Wert, es hat der Spezies Homo sapiens einen unschlagbaren Vorteil verschafft und ihr, so vermuten einige Wissenschaftler, vielleicht sogar das Überleben gesichert. Es hat ihr ein Bindemittel geschenkt, das sie bis heute zusammenhält.“
Kritik: das Wort Musizieren führt irre. Bindemittel ist angemessener. Es könnte lebensnorwendig gewesen sein, muss aber nicht Vergnügen bereitet haben.
2 der Chorsänger H.R. / „die Lieder sind ihm über die Jahre zu treuen Gefährten geworden. Und der Chor bietet ihm mehr als Geselligkeit, mehr als ein Skatclub oder ein Kegelverein.“
3 Musik in der Pandemie, im Krieg oder angesichts anderer Katastrophen / „Sie spielten Tuba und Cello, trommelten auf Pfannen und Töpfen – ein Volk, das sich nicht mehr umarmen durfte, fand in der Musik Zusammenhalt.“ „Zwei verfeindete Truppen[stimmten ein Weihnachtslied an], ein und dieselbe Melodie.“ Gemeinsame Musik – nach Eckart Altenmüller – wirkt über den „Nucleus accumbens“ – Belohnungssystem – Dopamin – einige bekommen Gänsehaut, die evolutionsbiologische Funktion der Musik, sagt E.Altenmüller: „die unentwegte Schulung der Fähigkeit, soziale Laute zu erkennen, sie richtig zu deuten und abzuspeichern. ‚Musik ist die Spielwiese, auf der wir all das üben.‘ Weil Dopamin die Verschaltung der Synapsen fördert, ist der Lernerfolg besonders groß – und eine Erinnerung, die an Musik gekoppel ist, besonders lange abrufbar.“ Gemeinschaft. Die komplexe Arbeitsteilung verschaffte dem modernen Menschen einen evolutionären Vorteil – und stellte ihn vor ein Problem: Je größer die Gruppe, desto schwieriger wurde es, Konflikte einzuhegen. Damit die Gemeinschaft nicht auseinanderfiel, brauchte es etwas, das über die Sprache hinaus Identität und Verbundenheit schuf. Dieses Etwas (… ) war die Kultur. Kunst, Religion – und Musik. (…) Musik als kollektive Selbstvergewisserung.“
4 In der Pandemie werden Interpreten weltweit zusammengeschaltet, um in einer Aufführung der Bachschen H-moll-Messe zu kooperieren. „Sie singen, flöten, geigen mit und filmen sich dabei. Die Videos werden einige Monate später zusammengefügt und auf dem Leipziger Marktplatz gezeigt.“
5 Bach im Weltraum: „ein beinahe universeller Komponist“, Datenplatte in Raumschiff Voyager 1. 1977. Eine „Botschaft an mögliche außerirdische Zivilisationen“. Sie dient „noch immer als Symbol für die alles transszendierende, ätherische Kraft der Musik.“ Fragwürdig! – Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann sucht „herauszufinden, ob es so etwas wie eine universelle Musiksprache [auf der Erde!] tatsächlich gibt.“ Bach und die weltweiten Unternehmungen? „All das „habe nicht nur mit der Macht der Musik zu tun – sondern vor allem mit der Macht derer, die den Kanon der europäischen Musikkultur in den vergangenen Jahrhunderten verbreitet haben.“ Frühe musikethnologische Sammlungen in Berlin. Beispiel: Aufnahmen von Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg. Das Koreanische Lied Arirang. Heute verwestlicht, in Dur verpackt. „Das ist ein bisschen exotische Oberfläche, aber darunter liegt das westliche Tonsystem.“ – „Die abendländische Musikkultur hat sich, spätestens seit dem Aufkommen moderner Tonträger und dem Boom der westlichen Musikindustrie weltweit breitgemacht.“
Kritik: Man sollte es nicht verallgemeinern, – Arirang erscheint immer noch in verschiedensten Versionen, auch traditionellen. Siehe das folgende Video. – In Südindien z.B. sucht man Produkte der westlichen Popkultur vergebens, die eigene Klassik steht weiterhin hoch im Kurs. Die Überlagerungen sind viel komplizierter.
6 Im Westen gibt neue Versuche der kulturellen Begegnungen: ein Beispiel (unter vielen!) wird hier herausgegriffen: der Schlagzeuger Ketan Bhatti und sein Orchester, 15 Musiker und Musikerinnen aus sieben Ländern. „Sie nutzen traditionelle Spieltechniken ihrer Heimat, bedienen sich aus Jazz, Zwölfton- und serieller Musik. Sie improvisieren, suchen, finden und verlieren sich, ein babylonische Sprachverwirrung auf musikalischem Spitzenniveau. „Die universelle Sprache der Musik, in der Welt von Ketan Bhatti gibt es sie. Aber sie ist eine, die man gemeinsam erschaffen muss.“
Kritik: dieser Versuch wird herausgegriffen und wahrscheinlich überbewertet. Es gibt andere, die überzeugender sind, aber eben auch nur Einzelfälle. Siehe z.B. in diesem Blog hier, Stichwort „Identigration“.
7 „Tanzen ist etwas, das es in allen Kulturen gibt.“ Hier fehlt eine Differenzierung: die Möglichkeit, dass Tanzen in einem anderen Areal als die Musikalität beheimatet ist (z.B. vom Gehen/Wandern abgeleitet ist, während die Musikalität von Mund/Atmen/Sprechton). Es wird behauptet: „Und auch bei Tieren. Kakadus, Schimpansen, Seelöwen, sie alle haben in Experimenten ein zumindest rudimentär ausgeprägtes Taktgefühl bewiesen. Einige sind sogar in der Lage, ihre Gesänge in wiederkehrende Strukturen zu gliedern.“ Hat eine Wiederkehr von Strukturen zwingend mit „Taktgefühl“ zu tun, also mit einer regelmäßigen Folge oder wird das hier bewusst verundeutlicht?
8 Wiegenlieder als Archetyp der musikalischen Kommunikation – „Eine Urform der Musik, die sagen soll: Du bist nicht allein.“
Kritik: Effektvoller Abschluss des Dossiers, aber nicht von grundsätzlicher Aussagekraft
Die am Ende des Wiki-Artikels gesprochene Textfassung unterscheidet sich im Wortlaut von der gedruckten , und zwar folgendermaßen:
Die Universalien der Musikwahrnehmung sind die Elemente der Musikwahrnehmung und -verarbeitung, die als angeboren, d.h. kulturunabhängig betrachtet werden.
Vielfach begegnet uns die Ansicht, Musik sei eine universale Sprache. Dies impliziert die Annahme, dass Musik universale Merkmale besitzt, also Merkmale, die nahezu allen musikalischen Systemen auf der Welt gemeinsam sind und dass es universale mentale Strukturen für die Verarbeitung von Musik gibt. Von einem universalen Merkmal spricht man, wenn das Merkmal nicht gelernt wird, sondern spontan erscheint, latent in allen normalen Personen vorhanden ist oder angeboren ist.
Hinsichtlich der Unterscheidung angeborener oder universaler Prozesse von erworbenen, ist die Überlegung hilfreich, dass Prozesse, die schon bei der Geburt funktionieren, sehr wahrscheinlich angeboren und damit unabhängig von Erfahrung sind. Infolgedessen könnte man aus Vergleichen von Säuglingen und Erwachsenen oder von Personen aus verschiedenen Musikkulturen schließen, dass der Prozess vermutlich angeboren ist, wenn diese die gleichen Funktionsweisen zeigen, und dass bei Unterschieden zwischen den Populationen der Prozess durch Enkulturation erworben sein könnte. Aus dieser Perspektive ist Musik keine universale Sprache, sondern die Universalien der Musikwahrnehmung und -verarbeitung umschreiben vielmehr die Grenzen, innerhalb deren die Merkmale der Musik zwischen verschiedenen Kulturen variieren.
Erinnerungen, Essays, Dokumente, Werkstattgeheimnisse, eine Welt hinter der Musik tut sich auf, ein Lebenswerk mit allen Materialien, eine magische Werkstatt und eine faszinierende Persönlichkeit, die jedes der 1000 Holz- oder Metallteile, die um ihn wahllos herumgestreut scheinen, kennt, als gehörten sie zum eigenen Körper. Nichts könnte das besser veranschaulichen als die beigefügte DVD, auf der wir Rudolf Tutz und immer wieder den mit ihm befreundeten Meisterflötisten Barthold Kuijken in Aktion erleben. Die Flöte als Mittelpunkt einer Welt, die Klang werden will. Buchsbaumäste, Holzblasinstrumente, hartnäckige, feinfühlige Arbeitshände, zauberische, unfassbare Töne im Raum. Innsbruck! Wer klassische Musik liebt, wird viel Zeit mit diesem Buch verbringen. Und wer sich vielleicht nur mit Streichinstrumenten (Stradivari!), Klavieren (Steinway!) und einer CD-Sammlung auskennt, wird den Horizont auf unerhörte Weise erweitern. Der Film ist ein Denkmal großer Handwerkskunst und selbst ein Meisterwerk.
Das Buch: die Beiträge
Aus Barthold Kuijkens Beitrag: Die Anfänge 1972, Harmonia Mundi, das Collegium Aureum und Dr. Alfred Krings, ein Name, der untrennbar zur Geschichte der „historischen Aufführungspraxis“ gehört.
Screenshots aus dem Film: die Freunde bei der Arbeit
Dieser Film ist bemerkenswert und kann noch ein Jahr lang abgerufen werden (bis 14.5.2022): HIER(Dauer 37 Minuten)
Pressetext (ergänzt v. JR):
Ein Film von Hannah K. Friedrich
Die klassische Musikszene gibt sich gern weltoffen und divers. Und auf den ersten Blick scheint es tatsächlich nur wenige Orte zu geben, an denen Menschen verschiedener Nationalität und Hautfarbe so harmonisch zusammenwirken wie etwa in einem Sinfonieorchester oder Opernensemble. Der zweite Blick aber zeigt, dass hier eine Farbe fehlt. Gibt es deshalb so wenige Schwarze Dirigenten und Instrumentalisten, weil die Barrieren zu hoch sind? Sind Vorbilder aus anderen Bereichen zu mächtig? Oder liegt es an einem strukturellen Rassismus, der Schwarzen Musikerinnen und Musikern die „hohe klassische Kunst“ nicht zutraut – ein Rassismus, der vielen in der Branche vielleicht gar nicht bewusst ist?
Schwarze Klassikstars bilden absolute Ausnahme
Sheku Kanneh-Mason (ab 8:35 und 32:23) ist als Schwarzer Cello-Star absolut solitär in der Szene. Doch auch er hat in seiner noch jungen Karriere schon versteckte rassistische Anfeindungen erlebt. Auch der Dirigent Kevin John Edusei (ab 27:40 zunächst über Dean Dixon, Roderick Cox) erfährt regelmäßig Rassismus: Ein „Obama für München“, titelte die Presse, als er 2014 Chef der Münchner Symphoniker wurde – für ihn eine rassistische Stigmatisierung, und zwar noch eine der harmloseren Art. Immer wieder, so erzählt er, werde er aufgrund seiner Hautfarbe als Reinigungskraft angesprochen. Stardirigent Christian Thielemann würde sich deutlich mehr Diversität in den Orchestern wünschen. Wie weit der Weg dahin sein kann, weiß die Geigerin Midori Seiler (ab 23:05) nur zu gut. Denn auch Musikerinnen und Musiker asiatischer Herkunft waren und sind immer noch rassistischen Vorurteilen ausgesetzt. Dennoch kann heute kein Orchester mehr auf sie verzichten. Diesen Weg haben Schwarze Musiker noch vor sich – so wie der 22-jährige Flötist Matthew Higham (ab 4:44). Er ist der einzige Schwarze Musiker im hr-Sinfonieorchester. Auch er erlebt immer wieder rassistische Diskriminierung und beklagt das Fehlen von Vorbildern, die bei jungen Schwarzen ein Interesse für klassische Musik wecken könnten. Schwarze Musiker, davon ist Higham überzeugt, könnten der Klassikbranche ganz neue Impulse geben.
ab 20:30 Jonathan Heyward
Ab 25:36 über das Londoner CHINEKE! Orchestra und Gründerin Chi-Chi Nwanoku
Beachten Sie – als Ergänzung – doch bitte auch diesen Beitrag :
Ich nutze diese Gelegenheit, auch einen anderen Film greifbar zu halten, der sich mit der Geschichte der Globalisierung befasst. Allerdings nicht im Zusammenhang mit Musik, sondern an einem bestimmten Beispiel der bildenden Kunst: VERMEER, der sich schon bei Marcel Proust als Pfadfinder „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ nützlich zeigte. Die ganze Welt in einem Bild: Vermeers spätes Vermächtnis Doku (2020), zur Zeit noch abrufbar auf ARTE (bis 14. Juli 21), danach zumindest noch als Youtube-Video hier.
Screenshots von Anfang und Ende des Films
Und mein eigener Rück-Blick auf die Globalisierung? Hier mein ältester Pfadfinder, auf aktuellem Lesestoff ruhend oder daran lehnend.
Ich gebe mir einen geharnischten Ruck und mache den Anfang, ohne Ehrgeiz und Vorsatz der Vollständigkeit, eher die eigenen (zufälligen) Stationen memorierend. Keine gepflasterte Heerstraße. Eher Bruchstücke, die gewisse Spuren hinterlassen haben. Aktueller Anlass war die Lektüre des Vortrags von Hans Darmstadt (Skript siehe ganz unten).
1970
Quelle: Der Wandel des musikalischen Hörens Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt / Verlag Merseburger Berlin 1962
Stilistische Voraussetzungen, die man kennen sollte (nach Dahlhaus):
Das um 1500 herrschende Formgesetz war, nach Johannes Tinctoris, das der Varietas, der Verschiedenheit. Die Repetition oder Wiederkehr von Teilen war suspekt; und der Versuch, in einem Werk von Josquin des Prés ein formales Gerüst zu entdecken, das durch ein Buchstabenschema darstellbar ist, wäre vergeblich und würde den Sinn der Komposition verfehlen. (…)
Die Ergänzung zum Prinzip der Varietas bildete die Forderung der Kontinuität, des lückenlosen musikalischen Fortgangs. Deutliche Einschnitte waren ebenso wie einfache Repetitionen Merkmale der niederen Musik, von der die artifizielle sich abzuheben suchte.(…)
Ist im 18. und 19. Jahrhundert das Wiederholen und Sequenzieren primär formal begründet und musikalischer Ausdruck an die Differenz von bereits Bekanntem gebunden, so gilt um 1500 gerade umgekehrt die Varietas als Regel des Komponierens und die Repetition als expressive Ausnahme.
Quelle: Diether de la Motte: Musikalische Analyse / mit kritischen Anmerkungen von Carl Dahlhaus / Bärenreiter Kassel Basel etc. 1968 (Dahlhaus-Zitat S.123f)
„Der Name der Messe bezieht sich auf den Begriff ‚prolatio‘. Im Notationssystem der Zeit konnten Notenwerte entweder dreizeitig oder zweizeitig sein. Auf jeder Notenwertebene ergaben sich neue Kombinationsmöglichkeiten. Eine dieser Ebenen wurde mit ‚prolatio‘ bezeichnet.“ (Clemens Goldberg)
Soeben ausgezeichnet:
Siehe Preis der Deutschen Schallplattenkritik Bestenliste Mai 2021 HIER
Immer auf der Suche nach Hör-Hinweisen, muss ich aus dem schönen Booklettext von Clemens Goldberg zitieren, der mich wiederum an einen Text von Hans Blumenberg erinnert (darüber später):
Die philosophische Deutung von Identität und Differenz in dieser Komposition ist faszinierend. je nach Standpunkt im vorbestimmten Taktsystem kann Identisches sich völlig verschieden entwickeln, gleichzeitig muss aber darauf geachtet werden, dass die Stimmen miteinander wohlklingend korrespondieren. Grundvoraussetzung ist dabei ein Grundwert, der in allen Stimmen identisch ist, eine pulsierende Schwingung, die alle Stimmen vereinigt. Was wäre das für eine produktive und glückliche Gesellschaft, in der jeder sich individuell entwickeln könnte, aber mit Achtsamkeit für seine Umwelt und die Mitmenschen!
(Natürlich klingt das leicht ideologisch, hineingelegt und untergeschoben, – aber vielleicht auch mutig in die richtige Richtung weisend? JR)
Ockeghem hat nun aber noch eine weitere Schwierigkeit eingebaut. In jedem Satz verändert sich das Einsatzintervall der Kanonstimme. (…) Die Welt des 15. Jahrhunderts ist voller Symbole. Die Oktave gilt im Verhältnis 1:2 als perfektes Intervall. Sie ist vor dem Osanna erreicht. Hier geschieht die Wandlung in der Messe. Ihr magischer, göttlicher Moment. Die Zeit des Menschen wird von der göttlichen Zeitlosigkeit abgelöst. Nach der Wandlung und der Kommunion sind die Menschen wieder offen für die Sünde, deshalb verändern sich die Einsatzintervalle in die als konsonant angesehenen Intervalle Quart und Quint zurück, die gleichwohl nicht so perfekt wie die Oktave sind. Zum zeitlichen Aspekt tritt also ein räumlich-symbolischer Aspekt hinzu.
Die mathematische und symbolische Ordnung war für Ockeghem sicherlich gottgegeben. Sie aber zur Grundlage des menschlichen Schöpfergeistes zu machen, der diese Ordnung letztlich als Ordnung vergessen lässt und zu völliger Freiheit führen kann, dies ist die einzigartige Erfahrung in der Missa Prolationum.
Der Text stammt von Clemens Goldberg und sollte, wenn sich die Skepsis gelegt hat (oder gestiegen ist?), als Ganzes zu lesen sein…
Andererseits mache man sich keine Illusionen: ein solcher Text allein hilft einem nicht viel, wenn man diese Musik auch nur im entferntesten ähnlich wie – sagen wir – ein Werk von Bach verstehen will. Was den lateinischen Text der Messe angeht, wird man sich relativ schnell im Internet helfen können (eine Übersetzung gibt es im Booklet nicht). Aber völlig im Dunkeln tappt man, wenn man nach der Bedeutung des letzten Stücks fragt, das die CD bietet, und es dauert immerhin fast eine Viertelstunde: „Mort tu as navré“, – keine Übersetzung und auch kein Sterbenswörtchen über den Typus, nicht einmal ob geistlich oder weltlich: man sieht den Namen BINCHOIS und in der letzten Strophe die Anrufung „Jhesu“. Französischkenntnis vorausgesetzt, was bedeutet „feaulté“? Fidelitas? Erste Schritte siehe hier. Zu Binchois hier, dort auch der Satz:
Johannes Ockeghem komponierte auf Binchois‘ Tod die „Deploration sur la mort de Binchois“ und Guillaume Dufay, den Verlust eines Freundes beklagend, das Rondeau „En triumphant de Cruel Dueil“.
Schon vorher war dort zu lesen:
Aus dem musikalischen Nachruf („Deploration“) des Komponisten Johannes Ockeghem auf Binchois geht die Aussage hervor, Binchois sei in seiner Jugend Soldat gewesen.
Damit sollte nun auch auf den Wikipedia-Artikel zu Ockeghem verwiesen sein…
Man glaube nicht, dass man mit dem Lexikon MGG ausreichend gerüstet ist: da wird z.B. über die Kanon-Technik der Missa prolationum berichtet und doch steht 3 Seiten später unter der Überschrift „Irrationalität, Imitation, Motivik und Form“:
Bekanntermaßen enthält Ockeghems geistliche Musik fast keine Imitation. (…) Riemanns kuriose Apostrophierung von Ockeghem als »Vater des durchimitierten Stils« basierte auf der Missa »Pour quelque paine«, die fast sicher nicht von Ockeghem stammt…
Quelle MGG (2004) Band 12 „Ockeghem“ (David Fallows) Sp.1297
ZITAT
Johannes Ockeghem (um 1430-1495), Schüler Dufays, und Zeitgenossen führen diese Entwicklung zur „Durchimitation“ weiter, zunächst in der Steigerung des Kanons.
Forts.:
diem vertere“ läßt schwarze Noten als weiße lesen, also augmentieren. Solche „Spielereien“ kennzeichnen aber die Vorliebe für die Variierung einheitlicher Themen im Satz, die in größter Kunstfertigkeit die thematische Einheit der Stimmen im Satz herstellen. Der selbständigen Führung kontrapunktische Stimmen zu einem Cantus firmus wie in Ockeghems Missa Caput tritt eine Themenvereinheitlichung in der Variierung gegenüber.
Quelle Das Musikwerk / Karl Gustav Fellerer: Altklassische Polyphonie / Arno Volk Verlag Köln 1965 (Seite 7f) Missa Caput in Das Musikwerk R.B.Lennaerts (Die Kunst der Niederländer) Nr.5 – Hier folgt der Anfang der Messe:
Dazu im Anhang die Anmerkung:
Der im 15. Jh. vielbenutzte Tenor Caput wurde von M.Bukofzer identifiziert als das Schluß-Melisma des Responsoriums Venit ad Simonem Petrum für Gründonnerstag (Ad Mandatum), erhalten in [etc.]. Hier wurde zum ersten Male dargelegt, daß in der Praxis des 15.Jh. ein Choraltenor nicht immer der Anfang einer liturgischen Melodie zu sein braucht, sondern daß auch innere Fragmente und Schluß-Melismen gewählt wueden. Die Tenor-Struktur von Ockeghems Messe wurde unverändert von Obrecht in seiner gleichnamigen Messe übernommen [etc.]. Gegenüber Ockeghems Tenor in längeren Notenwerten bewegen sich die drei Oberstimmen in kräftiger linearer Führung mit selbständigem Rhythmus. (Lennaerts)
Also: man ist allein mit seinen Ohren und wird ohnehin vergeblich im Gesamteindruck des Klangraums (oder Raumklangs) nach Kanontechnik oder geheimen Künsten suchen… Auch deshalb die obige Beigabe einer Aufnahme mit Darbietung des Notentextes. Aber niemand muss darin den einzig wahren Schlüssel zur tieferen Einsicht wittern. Ich habe zum ersten Mal im Sept.1958 versucht, mir diese Klänge vorzustellen, die seltsamen Kadenzen, „Klauseln“ genannt, anhand eines Büchleins von Georgiades:
Seite 37
Heute rühren mich die Eintragungen von damals: was konnte das nützen? Immerhin die vage Ahnung: eine „Kadenz“ kann in anderen Zeiten völlig anders empfunden worden sein.
Quelle Thrasyboulos Georgiades: Musik und Sprache / Das Werden der abendländischen Musik / Dargestellt an der Vertonung der Messe / Berlin etc.1954
1436 Dom Florenz Dufay „Nuper rosarum flores“ Hilliard Ensemble
oben: The Early Music Consort Of London / David Munrow 1976
unten: Musik-Konzepte Heft 60 1988 Hans Ryschawy / Rolf W.Stoll: Die Bedeutung der Zahl in Dufays Kompositionsart: Nuper rosarum flores
CD Booklet Machaut / Dufay 1993 Helga Weber
HANS DARMSTADT Musikalisches Denken – Über Sehen und Hören Anhand von drei Klangbeispielen aus dem späten 12. bis 15. Jahrhundert (Perotin, Dufay, Ockeghem)hier
Vorweg zwei Zitate zum Kyrie der Missa prolationum, das zeigt, wie der Autor affectus und numerus aufeinander bezieht, also klanglicher Erscheinung [nach außen, für uns] und Konstruktion [Organisation, von innen]:
Was haben wir gehört und wahrgenommen? Es sind nur wenige Takte:eine schwerelose Musik in völliger Balance, in vollkommener Harmonie, in vollkommenemWohlklang, subtile Klangverschiebungen konsonanter Klänge, bewegter Stillstand, stehende Bewegung u.s.w.Vielleicht ließe sich so der affectus beschreiben. (Seite 4)
Zu bestaunen ist nicht nur die strukturelle Idee des Meisters mit ihren rhythmischen Komplikationen, sondern auch das lineare und harmonische Innenleben des Satzes. Die gestrichelten Linien (s. NB 1) folgen Tonhöhen, die durch die Stimmen wandern. Dem Einklang bzw. der Oktave f‘/ f werden zunächst die Quinte c‘, dann die Terz a‘/ a hinzugefügt. Wunderbar ist der Übergang vom F–Dur–zum a–Moll–Klang in der Mitte der Zeile! Verständlich wird, dass Ockeghem zu Beginn nicht mit Sekundschritten arbeiten konnte, da es durch die Kanonstruktur sofort zu dissonanten Klängen gekommen wäre, die sich nicht den Regeln entsprechend hätten auflösen können. Es ist kaum nachvollziehbar, wie Ockeghem sich diese Musik in ihrer Komplexität und mit allen satztechnischen Konsequenzen hat denken können! (Seite 5)
Zu Seite 8 dieses Textes dort über „Nuper rosarum flores“ (Dufay): anstelle der oft beschworenen Proportionsverwandtschaft zwischen der Motette und der Domarchitektur wird hier die Lehre von der Perspektive als maßgeblich betrachtet. Der englische Wikipedia-Artikel zu „Nuper rosarum flores“ bestätigt zumindest die Zweifel an der Proportionstheorie:
In 2012, the architect and musician Tiago Simas Freire presented a hypothesis in which none of the figurative relationships previously established between the motet and an architectural object are valid, from both theoretical and practical approaches. This was the result of two Master studies in both Architecture and Ancient Music and presented in NEXUS2012-Milano.
Der bekannteste musikalische Neuerer der Frührenaissance, Josquin Desprez, wurde um das Jahr 1440 geboren. Aus Cambrai in der Picardie stammend, gelangte er, wie zuvor Guillaume Dufay (um 1400–1470) und sein mutmaßlicher Lehrer Johannes Ockeghem (um 1420–1495), als Kapellsänger unter anderem an die Höfe der einflussreichen Sforza in Mailand, des Papstes in Rom und der mächtigen Este in Ferrara. Die letzten Jahre seines Lebens bis zu seinem Tod im Jahr 1521 verbrachte er in seiner Heimat, wo er in Condé eine Stelle als Dompropst innehatte. In dieser Zeit dürften die beiden reifen Messen »Pange lingua« und »Da pacem« entstanden sein, die wesentlich zum Ruhm Josquins beitrugen.
Es lohnt sich, diesen Notentext beim Hören der CD mitzulesen, auch die kleinen Abweichungen zu registrieren, z.B. ob h oder b; wesentlich, nicht nur Klänge zu hören, sondern auch Töne (Motive?). Natürlich haben wir hier nicht 1:1 den Notentext des Komponisten, sondern eine moderne Übertragung. Ein andere finden sie in einer anderen Youtube-Aufnahme, mit dem Ensemble um David Erler („The Sound and the Fury“) hier
Quelle Das Musikwerk – DIE MESSE von Joseph Schmidt-Görg / Arno Volk Verlag Köln 1067 Seite 54 ff
„However, not one iota of this structural tour de force is actually audible. Ockeghem preferred the ‚hidden construction‘.“
Was und wozu Musikwissenschaft gut ist? Man verschafft sich einen schnellen Überblick mit Hilfe des Wikipedia-Artikels, der in etwa dem Artikel des MGG-Lexikons (1997) im Sachteil Band 6 entspricht: HIER (Wikipedia).
Bemerkenswert ebenso im MGG-Artikel die Rolle der Musikethnologie und auch die Bewertung der Musikrezeption, die heute besonders im Bezug auf die Repräsentation der Musiksparten in den Öffentlich-Rechtlichen Medien zu relativieren ist. (Meine private Einschätzung, kein weiteres Wort, JR).
Interessant der im folgenden Scan enthaltene kritische Satz:
Die Historische Musikwissenschaft wies aber auch den Anspruch der Musikethnologie zurück, in ihrer soziologischen und anthropologischen Ausrichtung grundlegend auch für die Historische Musikwissenschaft zu sein. Was für Musikkulturen ohne Schrift und Theorie von zentraler Bedeutung sei, würde dem notierten Werk, dem primären Gegenstand der abendländischen Kunstmusik, nur sehr bedingt gerecht.
Zurückgewiesen hat die Historische Musikwissenschaft auch den Anspruch der Systematischen Musikwissenschaft, mit dem statistischen Verfahren der Hörerbefragung – der empirischen Rezeptionsforschung – über die einzige einem heutigen Wissenschaftsverständnis genügende Methode der Werkbetrachtung zu verfügen, während die Historische Musikwissenschaft in einer dogmatischen Sicht auf den notierten Text befangen sei. Nach Ansicht der Historischen Musikwissenschaft ist vielmehr die statistische Hörerbefragung in ihrer Reichweite begrenzt: Die oftmals geringe Vorbildung der Hörer, aber auch die zur Quantifizierung unabdingbare Vereinfachung der Fragestellungen reichten an das komplexe Phänomen Kunst nicht heran. Der Vorwurf des Dogmatismus wurde mit dem Reduktionismus pariert. Musiksoziologie, -ästhetik und -theorie reklamiert die Historische Musikwissenschaft als Teilbereiche ihrer eigenen Disziplin. Carl Dahlhaus (1928-1989) stellte seiner Musikästhetik den provozierenden Satz voran: »Das System der Ästhetik ist ihre Geschichte« (K.1967; ³1976, S.10).
In der Kölner Originalausgabe (1967) – einem meiner studiertesten Lesefrüchtchen aus der Musikwissenschaft – steht der Satz noch nicht, – oder? Jetzt sehe ich ihn doch auf dem eingelegten Lesezeichen, das einmal zum Schutzumschlag gehörte; vielleicht ist er in der 3.Auflage als Motto an den Anfang der Schrift gewandert:
https://timberfestival.org.uk/soundsoftheforest-soundmap/ HIER
(nach Informationen aus der Süddeutschen Zeitung heute, 8.5.21, S.16 / Autor: Bernd Graff)
Fotos: Screenshots aus dem angegebenen Link s.o. „tree / forest“
Was Sie beim zweiten Link s.o. „timberfestival“ erwartet (Beispiel):
Standorte in der Welt
ZITAT
We are collecting the sounds of woodlands and forests from all around the world, creating a beautiful soundmap bringing together aural tones and textures from the world’s woodlands.
We invite you to visit your local forest or woodland, and record for us one minute of the sounds that you hear. If you already have existing recordings of forests then we’d love to hear those too.
At the start of July 2020, on the weekend we would have been at Timber Festival, we released a soundmap of forests everywhere, listening and imagining ourselves in the heart of the National Forest with you.
The sounds form an open source library, to be used by anyone to listen to and create from. Selected artists are responding to the sounds that you gather, creating music, audio, artwork or something else incredible, to be presented at Timber 2021.
So visit a woodland, recharge under the canopy and record your sounds of the forest.
Ich denke oft an das Haus zurück, das meine Eltern mit uns Mitte der 50er Jahre hoch über Bielefeld bezogen, d.h. man überblickte die halbe Stadt und hatte vom Garten aus nur 50 Schritte bis zur Promenade, einem breiten, asphaltierten Kammweg, der bis zur Sparrenburg führte. Ich befand mich, ohne es benennen zu können, in der Pubertät, meine Mutter sprach von „Flegeljahren“, die angeblich ausblieben, dabei war ich zumindest gedanklich auf Höhenflüge eingestimmt, die Nachtigall sang gleich hinterm Gartenzaun und aus der Ferne kamen entsprechende Antworten. Der Eingangsbereich unseres Holzhauses war ein gemauerter Keller mit Heizungsraum, wo ich oft neben dem Kohlenverschlag Geige übte, außerdem gab es ein Klo, einen Abstellraum mit Putzgerät, eine Treppe nach oben und einen großen Keller, in dem ein Apfelregal stand, das den Duft der gehorteten Früchte verbreitete, ein großer alter Esstisch, meist mit Werkzeugen bedeckt, außerdem eine Schubkarre und verschiedene Fahrräder. Und eines Tages entdeckten die Freunde meines älteren Bruders diesen Raum als idealen Ort für Zusammenkünfte, besonders wenn man oben im Garten gefeiert hatte, vielleicht noch den Abschied hinauszögerte, ein paar Getränke aus dem oberen Wohnbereich beschaffte. Und genau dort unten entstand von einem bestimmten Abend an ein unglaubliches Zentrum, das eine neue Welt zu eröffnen schien. Vielleicht real nur zwei, drei Sommerwochen lang. Einer von den Freunden hatte ein riesiges Tonbandgerät mitgebracht, Grundig, kaum zu glauben, dass der schlaksige Junge es von der Straßenbahnhaltestelle aus den Berg herauf geschleppt hatte. Auch Mikrophone dabei, so konnte man sich selbst beim Feiern aufnehmen und sogleich wieder abhören. Sie improvisierten kleine Szenen, es gab viel Gelächter. Und eines Tages hatte dieser Freund namens Lönnendonker etwas vorbereitet, nämlich einige Langspielplatten überspielt, Musik, sie hatten eine Band gegründet, „The Skyliners“, und erste Versuche festgehalten. Aber da gab es auch eine Aufnahme, die mehrere Spulen füllte und merkwürdigerweise uns alle in den Bann zog, vielleicht bei den Älteren dank einer nachhelfenden Schullektüre. Aber ohne die hysterische Fieslingsstimme des Mephistopheles wäre der magnetisierende Effekt wohl nicht eingetreten: es war Goethes Faust in der Gründgens-Inszenierung. Vielleicht 1957? (Der Film kam erst 1960 heraus. Es muss diese Aufnahme gewesen sein: 3 LP Box-Set mit 36-seitigem Begleitbuch (mit Texten). Die Gründgens-Inszenierung des Düsseldorfer Schauspielhauses aus dem Jahre 1957. Mit Paul Hartmann (Faust), Gustaf Gründgens (Mephisto), Käthe Gold (Margarete), Elisabeth Flickenschildt (Marthe Schwerdtlein), Ullrich Haupt und anderen. Ich glaube, das Gerät verblieb wegen seines Gewichtes einige Tage dort bei uns im Keller, und auch ich durfte es offenbar bedienen, hörte stundenlang, konnte immer längere Passagen auswendig, die andern ebenso, und die etwas spröde Musik von Mark Lothar befremdete uns zuerst, ergriff uns schließlich genau so wie das strenge Pathos der Schauspieler. Selbst der Prolog im Himmel, den wir immer übersprungen hatten, begeisterte uns, weil die Stimme des Bösen so furchtlos und zynisch mit dem Herrn des Weltalls rechtete und räsonnierte. Unvergesslich die Szene mit den rettenden Chören: „Was sucht ihr mächtig und gelind, ihr Himmelstöne mich im Staube, klingt dort umher, wo schwache Menschen sind, die Botschaft hör ich wohl, allein: mir fehlt der Glaube!“ Das war der packende Monolog für mich, den Nietzsche-Leser, unbeschreiblich all dies, und wenn ich durch die Wälder lief, um mich sportlich stark zu machen, waren es diese recht physisch verstandenen Übermensch-Ideen, die mich umtrieben.
Szene III
Szene II
Szene I
Was konnte man damals wissen über die Entstehung des Textes? Eine vollständige Werkausgabe hatte sich schon meine Mutter besorgt („zeitlos“ wie manche Möbel, vielleicht ähnlich motiviert wie – nach dem ersten Gehalt – das Bild der Sixtinischen Madonna, das dann lebenslang über ihrem Bett hing): 20bändig herausgegeben von Theodor Friedrich 1922, Eintragungen aus ihrer Schulzeit (Abitur 1931), Unterstreichungen von meinem Bruder und mir. Im Anhang des dritten Bandes („Faust“) die folgende Chronik:
Und die Lesespuren im Text, die meiner Mutter (beflissen) und rechts – zum Gefühl – die meines Bruders (provokativ), auf der nächsten Seite die allerletzte Unterstreichung im ganzen Faust-Band: „Auch, wenn er da ist, könnt‘ ich nimmer beten“. Von wem wohl?
Andererseits muss ich mich daran erinnern, dass damals alles literaturwissenschaftliche Zubehör nicht interessant war am „Faust“. In der Gymnasial-Oberstufe gab es bei uns eine Theater-AG, der ich nicht angehörte; wir Altsprachler brachten allerdings die „Antigone“ des Sophokles auf die Bühne, mit dem Sprechchor, der die Aktionen kommentierte, archaisch, beeindruckend – die anderen dagegen spielten „Doktor Faustus“ von Marlowe, aus meiner Sicht enttäuschend abweichend von meinem schon anders gepolten Faust-Bild. Wie aber war es gepolt? In meiner Vorstellung spielte der Wissensdrang der Titel-Person eine große Rolle, die Loslösung vom leeren Ideal, von den Worthülsen des Guten, Schönen, Wahren, auch die Magie und die geheimnisvolle Phiole (über Jahre bis hin zu Gottfried Benns Verherrlichung des „Provozierten Lebens“). Aber entscheidend war seltsamerweise die Sexualität, die mir in Goethes Drama wilder und abgründiger erschien als irgendwo in der engen heimischen Außenwelt, die sich darüber vollständig ausschwieg, oder in den rüden Anspielungen aufgeklärterer Mitschüler. Im Drama gingen mir die gehässigen Bemerkungen über das „gefallene“ Gretchen nach, die unverstandenen Worte ihres Bruders „dass alle brave Bürgersleut / Wie von einer angesteckten Leichen / Von dir, du Metze, seitwärts weichen“, es war die von mir kaum begriffene moralische Bewertung im Verlauf der ganzen Verführungsgeschichte, die intensivsten Identifikationen mit dem Mädchen, mit dem leider nicht nur glorreich wirkenden Manne, dem störenden Teufel, der aber zwingend dazugehörte, ja, der alles aus nächster Nähe mitbetrieb. Die scheinheilige Rolle der Marthe. Gretchen, im Kerker, die sich nicht retten ließ, dem Wahnsinn verfallen. Lauter ungelöste Konflikte auch in mir, der ich alles immer wieder in der Phantasie auf eigene Wünsche und Vorstellungen hin extrapolierte, augmentierte, reduzierte, beschönigte. Der Zwang, im wirklichen Leben all diese inneren Bewegungen auf Null zu dimmen, Tarnkappenverhalten einzuüben. Außer in der Musik (Schumann, Puccini, „Tristan“). Merkwürdigerweise habe ich ab 1956 Einstein „Mein Weltbild“, Julian Huxley „Entfaltung des Lebens“ und Freud „Abriss der Psychoanalyse“ gelesen, ohne mich je um Widersprüche zu kümmern. Aufklärung um jeden Preis. Im Nachhinein – so dachte ich später – hätte ich eine Therapie gebraucht. (Nebenbei: meine Mutter auch, Goethe auch!)
Ich habe gelesen (aber wo?): wer Faust I auf die Bühne bringt und nicht die Szene 1 des Faust II dranhängt, hat den Sinn der Aufführung verfehlt…
Später (Faust zweiter Teil)
Im zweiten Teil bin ich immer steckengeblieben. Es war mir unmöglich, einen „klassischen“ Goethe anzubeten, ich war nicht selbst imstande, ihn wirklich „umzudenken“. Die Rede vom „Wahren, Guten, Schönen“ – oder was so ähnlich klang – war mir zuwider. Auch ein Gedicht, das scheinbar so ähnlich anfing wie die Sinnsprüche meiner Oma, mochte ich nicht weiterlesen: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“. Ich las Gedichte, ohne zu wissen warum. Aber dann war mir der Faust II in der Gründgens-Aufnahme auch wieder zu phantastisch und im Realismus zu hanebüchen, zu materialistisch. Ich habe ihn vollständig verfehlt! Hätte ich doch wenigstens in meiner neueren Goethe-Ausgabe der 60er Jahre mal das Nachwort gelesen: von Goethes Skrupeln und von Schillers Bedeutung für die Weiterentwicklung des Faust-Dramas um 1800. So arbeitet ja wohl kein „Klassiker“? (Ja doch! gerade! „bis ans Ende“!)
Aus dem Nachwort von Hanns W. Eppelheimer (1962). Daran ist aber nun auch wieder nicht viel Verlockendes. Frischer Wind kam erst auf durch Friedenthals Biographie (1963). Heute würde ich jedem raten, mit dem Buch von Rüdiger Safranski (2013) zu beginnen, unvergleichlich differenziert, auch wenn man es nur nach Stichworten aufschlägt; man muss nicht von A-Z lesen, – obwohl man bald dahin tendieren wird. Und das Dümmste wäre, vorsätzlich darauf zu verzichten, als erübrige sich die von Safranski geleistete Aufklärungsarbeit seit 2015. Man beginne mit der Figur des Mephistopheles! (Sobald man sich inhaltlich kursorisch vorbereitet hat, z.B. anhand von Wikipedia hier.) Ab Seite 606 etwa:
„Was den Teufel betrifft, so war in Goethes Weltbild für ihn eigentlich kein Platz. Er statuiere keine selbständige Macht des Bösen, pflegte er zu sagen, und als Kant das ‚radikal Böse‘ in seine Philosophie einführte, erklärte Goethe, nun habe der weise Mann aus Königsberg seinen Philosophenmantel beschlabbert. Für Goethe gab es keinen Teufel.“ Seite 607: „Mephisto bewahrt den Menschen vor Erschlaffung und hält ihn rege. Das Prinzip Mephisto gehört also zum Menschen. Und insofern gehört Mephisto auch zu Faust. Faust und Mephisto, treten zwar als eigenständige Figuren auf, bilden aber letztlich zusammen eine Person, so wie Goethe auch von sich selbst sagte, er sei ein Kollektivsingular und bestehe aus mehreren Personen gleichen Namens. [„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, etc.“] Die prekäre Einheit der Person hindert indes nicht, ihre einzelnen Pole gesondert ins Auge zu fassen, um zu verfolgen, was sie beitragen zur Steigerung des Ganzen.
Faust II Gründgens-Hörfassung (alle Szenen heutzutage abrufbar ab hier):
Der Text von Melchinger hat mich aufgeweckt und ermuntert, den „Faust“ nicht aus den Augen zu lassen…
Heute
In solcher Deutung war Faust nicht mehr ein vom Dichter verherrlichtes Idol oder womöglich der Dichter selbst, der sich in seinem Helden als Prototyp des Menschen gezeichnet wissen wollte. Das war in weit entfernter Zeit einmal so gewesen, als der „Urfaust“ entworfen worden war, in der Epoche von „Wanderers Sturmlied“ und „Prometheus“. Inzwischen hatte der Dichter Distanz zwischen sich und seinen Helden gelegt. Fausts Streben wurde von ihm ausdrücklich als „widerwärtig“ bezeichnet. (Aus dem vorhergehenden Text von Siegfried Melchinger 1959)
Und während ich das folgende Buch studiere, schweife ich immer wieder ab in die anregenden Goethe-Biographien von Safranski oder noch einmal: Friedenthal, weiche nicht aus (wie früher), wenn die Fakten seines Lebens gerade den Weg in die Moderne vorzeichnen (nach der Französischen Revolution, dem Kolonialismus, dem Industrialismus, des Totalitarismus), also nicht nur Italien oder „das Land der Griechen mit der Seele suchend“… Ich hebe die entsprechenden Passagen hervor:
Goethe läßt sich auf den alchemistischen Traum des Menschenmachens ein in einem historischen Augenblick, da in den Naturwissenschaften seiner Zeit die erstmals gelungene Harnstoffsynthese, also die Bildung einer organischen Substanz aus anorganischen Stoffen, Anlaß zu kühnen Spekulationen gab über die Möglichkeit, auch kompliziertere Organismen und am Ende vielleicht sogar menschliches Leben künstlich herstellen zu können. Deshalb bezieht sich Goethe in der 1828 geschriebenen Homunkulus-Episode nicht nur auf paracelsische Alchemie, sondern eben auch auf diese zeitgenössischen Versuche. Wagner erklärt: Was man an der Natur geheimnisvolles pries, / Das wagen wir verständig zu probieren, / Und was sie sonst organisieren ließ, / Das lassen wir kristallisieren. [S.614] Auch wenn Homunkulus ein Fabrikat Wagners ist, so gehört er doch in die Sphäre des Zusammenspiels von faustischer Metaphysik und mephistophelischer Physik. Ein anderes Beispiel ist die Erfindung des Papiergeldes, auch so eine moderne Idee, die Faust und Mephisto bei ihrer Weltbemächtigung aushecken. [S.614f] Goethe, der zeitweilig auch für die Finanzen des Herzogtums zuständig war, hatte sich anregen lassen von der finanztechnischen Revolution, welche die Band von England in Gang setzte, als sie dazu überging, die Menschen des umlaufenden Geldes nicht mehr allein auf Gold und bereits getätigte Wertschöpfungen zu gründen, sondern auf die Erwartung künftiger realer Wertschöpfung, wozu die vermehrte Zirkulation beitragen sollte. [S.616] … die innere Werkstatt der Einbildungskraft…. Die Machtergreifung des Eingebildeten kann sogar politisch geschehen, dann sprechen wir von der Herrschaft der Ideologien. Es kann aber auch vorpolitisch und alltäglich geschehen – auch hier läßt Goethe seinen Faust einiges voraussehen, was heute im Zeitalter der Medien Gestalt angenommen hat, wo jeder einen erheblichen Teil seiner Lebenszeit nicht mehr in der ›ersten‹ Wirklichkeit, sondern im Imaginären und in einer mit Imagination durchsetzten Wirklichkeit verbringt. Die Welt ist fast nur noch das, was einem vorgestellt wird. [S.617]
Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens / Carl Hanser Verlag München 2013
Die beiden letzten Szenen erleben: GRABLEGUNG hier BERGSCHLUCHTEN hier
Wichtiger Lese-Hinweis: den guten Wikipedia-Artikel zu Faust II nicht nur überfliegen, sondern inhaltlich Satz für Satz begreifen, mindestens – sagen wir – 1 Stunde lang verinnerlichen, inklusive aller Links – etwa zu mythologisch befrachteten Namen. (Es geht z.B. nicht ohne die Antike!) Leichter als heute war der Zugang nie in unserm ganzen Leben. Aber das Internet ist kein Ruhekissen. Schwierigste Voraussetzung in diesem Fall: keine Kundenmentalität, keine vorgefasste Meinung, was ein Goethe zu liefern hat.
Ein Beispiel der typischen Schwierigkeiten: Faust Zweiter Teil „Weitläufiger Saal“
Worum gehts? Man muss die szenischen Anweisungen genau lesen, z.B. Weitläufiger Saal mit Nebengemächern, verziert und aufgeputzt zur Mummenschanz. Direkt vorher heißt es (der Kaiser spricht): So sei die Zeit in Fröhlichkeit vertan! / Und ganz erwünscht kommt Aschermittwoch an, Indessen feiern wir, auf jeden Fall, / Nur lustiger das wilde Karneval. (Trompeten. Exeunt.) MEPHISTOPHELES. Wie sich Verdienst und Glück verketten, / Das fällt den Toren niemals ein; / Wenn sie den Stein der Weisen hätten, / Der Weise mangelte dem Stein. (Dann, im weitläufigen Saal, beginnt der HEROLD:)
Denkt nicht, ihr seid in deutschen Grenzen / Von Teufels-, Narren- und Totentänzen! Ein heitres Fest erwartet euch. / Der Herr auf seinen Römerzügen, / Hat, sich zu Nutz, euch zum Vergnügen, / Die hohen Alpen überstiegen, Gewonnen sich ein heitres Reich.
(Er wurde dort gekrönt, hat sich die Krone geholt, und da:) Hat er uns auch die Kappe mitgebracht. Nun sind wir alle neugeboren. Die Narrenkappe! Es bleibt doch endlich nach wie vor / mit ihren hunderttausend Possen / Die Welt ein einzig-großer Tor.
Die Welt der Narren also wird uns im Folgenden präsentiert, in sorgsam ausgewählten Gestalten und Symbolen.
Nach 75 Seiten beginnt die neue Szene LUSTGARTEN mit folgenden, an den Kaiser gerichteten Worten FAUSTs: Verzeihst du, Herr, das Flammengaukelspiel? Und der KAISER zum Aufstehn winkend(denn F. & M. haben gekniet), sagt: Ich wünsche mir dergleichen Scherze viel. – (und er repetiert:) Auf einmal sah ich mich in glühnder Sphäre: Es schien mir fast, als ob ich Pluto wäre. (und er beschreibt, was er gesehen hat, – auch für uns, damit wir es einordnen.)
Michael Jäger schreibt im Seitenblick auf dieses Kanevalsgeschehen: – „während zur selben Zeit die gesamte Gesellschaft dem allgemeinen Ablenkungstrubel des Mummenschanz erlegen war.“
Die gesamte Gesellschaft also (mit Herold = Ansager) im Karneval, nämlich: GÄRTNERINNEN – OLIVENZWEIG MIT FRÜCHTEN – ÄHRENKRANZ – PHANTASIEKRANZ – ROSENKNOSPEN – MUTTER (und Tochter) – HOLZHAUER – PULCINELLE – PARASITEN – TRUNKNER – SATIRIKER – DIE GRAZIEN AGLAIA, HEGEMONE, EUPHROSYNE – DIE PARZEN ATRIPOS, KLOTHO, LACHESIS – DIE FURIEN ALEKTO, MEGÄRA, TISIPHONE – FURCHT – HOFFNUNG – KLUGHEIT – ZOILO-THERSITES – KNABE WAGENLENKER (Begleiter des Plutus) – WEIBERGEKLATSCH – DER ABGEMAGERTE – HAUPTWEIB – WEIBER IN MASSE – PLUTUS – SATYR – GNOMEN – DEPUTATION DER GNOMEN AN DEN GROSSEN PAN
In dem oben gegebenen LINK der Gründgens-Aufnahme findet man alldies auf ein Minimum gekürzt: Sie erinnern sich? (alle Szenen heutzutage abrufbar ab hier), darin –
auf Filmteil 12:36 anklicken
„Denn wir sind Allegorien“
Tipp: Man gehe dem Link zu „Knabe Wagenlenker“ weiter nach und lese die Diplomarbeit von Susanne Fuchs (Wien 2009). Da hat man den Schlüssel zur ganzen „Mummenschanz“-Szene…
* * *
Weiteres ZITAT aus Michael Jaeger „Goethes Faust“:
In der den zweiten Akt abschließenden Szene Felsbuchten des Aegäischen Meers ereignet sich dann im Gewande der antiken Mythologie die Lebensentstehung als die «Vermählung» des Homunkulus «mit dem Ozean», dargestellt als dessen Vereinigung mit der göttlichen Nymphe Galatee. Auf den Wellen kommt diese Meerestochter venusgleich als «lieblichste Herrin» (8378) auf einer großen, von Delphinen gezogenen Muschel angefahren. Es umkreisen Galatees Wassergefährt die Doriden und Nereiden, auf Delphinen, Seepferdchen und Meereskentauren reitend. Die Sirenen blicken auf die Ägäis und kündigen die unmittelbar bevorstehende «Muschelfahrt» Galatees an: „Leicht bewegt, in mäßiger Eile …[etc]“
Oben: eine für mich höchst motivierende Schlüsselstelle (betr. 1987), jetzt zur Klassischen Walpurgisnacht. Der entsprechende Text hier in der Gesamtausgabe meiner Mutter:
Über meine soeben bezeichnete „Schlüsselstelle“ hinausgehend, wird mir ab Seite 108 in Jaegers Werk völlig klar, dass der „Schock“, den ich für mich auf 1987 datiert habe, genau dem entspricht, den Goethe selbst in seiner Zeit erlebte und mit dem er sich vor und nach 1830 auseinandersetzte. Kapitel Système Industriel: Fausts Plan und der Saint-Simonismus. Siehe dazu hier und hier (Saint-Simon). Entsprechend Jaeger, Seite 109:
Mit dem allergrößten Unbehagen las Goethe jene Pariser Manifeste, in denen eine technisch-industrieller Umbau von Natur und Gesellschaft angekündigt wurde. Dabei trat ihm die komplette Unzeitgenäßheit seines eigenen Wissenschaftsprinzips der Naturkontemplation vor Augen, wurde doch das neue Universalsystem von Saint-Simon gleichsam als Anwendung von Newtons physikalischem Weltbild auf die Gesellschaft konzipiert. Saint-Simon selbst gewann unter seinen Anhängern die Statur eines neuen »Newton der Geschichte«. Die Verzweiflung Goethes angesichts solcher vermeintlich naturwissenschaftlicher Sozial-, Wirtschafts- und Weltpläne, durch eine an Newtons Physik angelehnte »Physico-politique« die »Genesis zu überbieten« und das »irdische Paradies« herzustellen, muss grenzenlos gewesen sein […].
Und Rüdiger Safranski zum gleichen Thema :
Als Goethe an diesen Szenen des Untergangs des Großunternehmers Faust schrieb, war er seinerseits fasziniert von technischen Großprojekten und andererseits abgestoßen von der Saint-Simonistischen Industriereligion, worin das Individuum dem Kollektiv und die Schönheit dem Nutzen geopfert wird. Was die moderne Technik betrifft, so besorgte er sich ein Modell der ersten Eisenbahn und präsentierte sie wie einen Kultgegenstand. Mit Eckermann sprach er über den Bau des Panamakanals, über die Möglichleit eines kanals bei Suez und über die Verbindung von Rhein und Donau. Diese drei großen Dinge möchte ich erleben, sagte er, und es wäre wohl der Mühe wert, ihnen zu Liebe es noch fünfzig Jahre auszuhalten. Das waren für ihn Projekte, in denen er den Gipfel menschlichen Erfindungsgeistes und unternehmerisxcher Tüchtigkeit erblickte. Insofern diese Visionen auch bei den Saint-Simonisten im Schwange waren, begrüßte er das und gestand zu, daß an der Spitze dieser Sekte offenbar sehr gescheite Leute stünden.
Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens Carl Hanser Verlag München 2013 (Seite 621)
Hier die letzten Seiten der Arbeit von Michael Jaeger: Goethes »FAUST« Das Drama der Moderne / C.H.Beck München 2021
Das hier zuletzt beschriebene „wahre Wunderwerk der Faustphilologie“ ist tatsächlich als Online-Ausgabe aufzufinden und steht zum geduldigen Studium bereit:
Ich habe sozusagen ausgesorgt bis an mein Lebensende.
* * *
Gründgens Faust II 3.Akt, Szene 2.2 hier ab 16:25 Helena „…der leere Platz / Beruft den Herrn und sichert mir den meinen.“ FAUST „Erst knieend laß die treue Widmung dir / Gefallen, hohe Frau!“…
Zum Verständnis dieses Anfangs: es geht um den Ton der Rede, die „Sprechart unsrer Völker“, – die Griechin Helena kennt den Reim noch nicht. Zitat aus dem Kommentar (Schöne S.612): „Eine altpersische Legende erzählte von der Entstehung der ersten Endreime beim Liebesdialog des Sassanidenherrschers Behramgur und seiner Sklavin Dilaram (…). Hier wird dieser Vorgang in Szene gesetzt – als bilde in Fausts und Helenas Wechselrede und dem Einklang ihrer Reime geradezu der hochzeitliche Akt sich ab.“ Siehe hier Stichwort „Behramgur“. Der Chor danach stimmt „den Hymenaeus an: das antike Vermählungslied, das gesungen wird, wenn die Liebenden einander zugeführt worden sind.“ (A.Schöne) Hinter der vermummten Gestalt (Phorkyas), die bei 4:10 auftritt, verbirgt sich niemand anders als Mephisto. – Man sollte sich nicht beschämt fühlen: Fausts lange Rede an die Heerführer, die Benennung ihrer Länder und dann die verbale Vorbereitung auf das Land Arkadien, all das ist ohne Text und ohne Kommentar nicht zu verstehen, – ist aber schön zu hören und zu ahnen.
10. Juni – neue Phase: der Faust-Kommentar von Albrecht Schöne ist unterwegs …
Der Blick zurück – so leicht wie heute war der Zugang zum Faust II seit der (noch unvollständigen) Gesamtausgabe von 1828 noch nie. Meine (wirklich vollständige) Ausgabe von 1962 zum Größenvergleich (links).
Das alte 20bändige Original hat mir vor vier (?) Jahren die freundliche Nachbarin (*20. Juli 1943) geschenkt, die das Werk von ihrem Vater geerbt hatte. Sie ist am 14. Mai dieses Jahres gestorben; ich werde an sie denken, so oft ich einen dieser Bände in die Hände nehme.
zu guter Letzt dtv 1962 Seite 177 f
Fortsetzung folgt wirklich. Wird hier erst auf Seite 351 enden. Und die Interpretation der letzten, unerklärlichsten Verse werde ich bei Albrecht Schöne finden. „Ereignis“ = „Eräugniß“. Für immer „unzulänglich“.
In diesem Moment klingelt es, die Post ist da!!! 14. Juni 10.11 h :
Deutscher Klassiker Verlag 2017 (Antiquariat Lenzen Düsseldorf, 2 Bände neuwertig, 24.- €, d.h. wie geschenkt… nachschlagen:)
Und gleich die Probe aufs Exempel: beim Mitlesen der obigen Szene Faust II, 3.Akt, Szene 2.2. irritierte mich (abgesehen vom Inhalt, hören Sie ab 6:05 „Mit angehaltnem stillen Wüten…“) eine Abweichung im Text, – ein Fehler von Bruno Ganz oder in meinem dtv-Text? „Stahl“ oder „Strahl“ in Strophe 2 ?
Frage gelöst:
Ist es eine Kleinigkeit? Durchaus nicht! Und das Problem, weshalb sich Faust hier wie ein Oberbefehlshaber aufführt, ist auch alsbald gelöst…
Zum Abgewöhnen
Eine Besprechung hier und noch eine (Spiegel) hier
Vollständiger Programmablauf incl. Texte zu den Stücken HIER
Lou Harrison „Fifth Simfony“ (1939) ab 3:58
Alex Orfaly „Danzá Luna“ ab 25:35 (ab 21:36 Statement des Komp.)
Mitwirkende
Steve Reich „Drumming I“ ab 35:04 (Ansage) ab 37:09 (Aufführung)
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Zakir Hussain ab 56:59 Gespräch mit Michael Tilson Thomas ab 1:00:01 „Chadan No.1“ Musik-Start auf der Bühne ab 1:04:41 Ende 1:17:07
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Zakir Hussain (rechts)
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Kommentar Z.H.:
Chalan is a term in Indian music used to describe the improvised development of the characteristics of both a raag and a rhythm cycle. It also points to the salient feature (or face) of a raag known as pakkad. Every raag has a few landmark phrases with which the audience is familiar and, when arranged in the right order with improvisations spaced in between, the artist is able to draw the face of a raag. This process in a nutshell is known as chalan.
In the Indian rhythm repertoire, a tabla player sparsely uses some familiar patterns to draw a grid of a chosen rhythm cycle with a point identified from where the artist would slide right back into the grid. This said improvisation could be of one round of the rhythm cycle or as many as the performer chooses at the time, thus laying down a course to traverse through spontaneously. The length of the improvisation is similar to that of a jazz soloist taking one round around the course (changes) or as many as appropriate at that time. In this process, there is similarity between Indian music and Jazz.
Chalan No. 1 in D is laid out in the rhythm cycle (taal) of 16 beats; the name of this rhythm cycle is teentaal. In a solo rhythm performance in the Indian system, there is usually either sarangi (bowed) or harmonium used as instrumental accompaniment, known as nagma or lehra. The instrumental musician plays a composed melody of the same length as the rhythm cycle (taal) metronomically (like a bass line), keeping time for the tabla player and the audience. This is being performed here by the mallets; they also at points melodically amplify the patterns, thus signaling the arrival of the downbeat (the sum, first beat of the cycle).
The rest of the ensemble, after establishing the cycle with theka (the signature rhythm melody of 16) and reciting it for the benefit of the audience, uses various components of tabla repertoire like peshkar, to lay down the grid, and kaida (pre-composed theme) on which to improvise. They follow this up with gat and paran (fixed compositions). The tradition is to first recite these compositions to highlight their poetic beauty and grammar and then perform them, as the ensemble does here. Tihai (a phrase repeated three or nine times with or without space in between each repetition) is a frequently occurring feature used to arrive at the first beat of the cycle (the sum). The ensemble, after establishing the theka and peshkar theme then introduces various tihai’s before moving on to a kaida.
Als Einübung zum Mitdenken der Lahara-Melodie könnte man sich den folgenden Artikel dieses Blogs vornehmen: HIER. Man sieht zugleich, wie nahe an der traditionellen indischen Tala-Lehre (nicht etwa an Kumar Bose!!) sich der Großmeister Zakir Hussain bewegt. Er wirft nichts über Bord, etwa zugunsten einer von der Moderne propagierten oder zumindest suggerierten Globalisierungs-Idee.