Archiv der Kategorie: Oper

Theaterapplaus

Ist das „Buh“ eine ernstzunehmende Reaktion?

Es ist bestimmt originell, einen solchen Zeitungsartikel zu schreiben, – aber will man ihn auch lesen? Ich habe das authentische Buhen nur ein ein- oder zweimal miterlebt (ich bin nicht der typische Opernbesucher), vor Jahrzehnten in Köln: wie dieselben Herrschaften, die an der Garderobe ihre Schuhe wechselten, nachher einen armen Tropf von Tenor, der einige hohe Töne nicht mühelos geschafft hatte, mit diesem Urlaut schmähten. Er tat mir leid. Aber auch die Opernbesucher:innen. Es erinnerte mich an Berlin, an die Uraufführung von Schönbergs „Moses und Aron“, Hermann Scherchen hielt dem Publikum eine Standpauke, – und ich war sicher, die Buhs galten nicht der Oper an sich, sondern allein dem „Tanz ums Goldene Kalb“ und dabei nur der Tatsache, dass die Ausführenden nackt waren oder zu sein schienen, ein offen demonstrierter Sittenverfall. Ende der 50er Jahre, nein, 1960. Ich war begeistert. Doch das typische Opernpublikum ist eben anders (wir andern sind tumber, nein, viel zu etepetete), – unvorstellbar, dass ein Streichquartett ausgebuht wird. (Der Eclat mit dem Cembalisten Esfahani in Köln – das galt seinen Worten, dem Erklärenwollen Neuer Musik und einem Konglomerat von Missverständnissen.)

Was Brembeck über das Buh nach einer Bolero-Aufführung in Madrid schreibt, hat wohl mit dem Dilettantismus der typischen „Bolero-Freunde“ zu tun, die auch unruhig werden, wenn sie erleben, dass es vor und nach dem Adagio des „Concierto d’Aranjuez“ noch andere Sätze gibt. Vermutlich kommt das Buh – genau wie das Bravo – aus dem mediterranen Theaterleben, draußen ist schönes Wetter, kein Zufall, dass die im Artikel erwähnte Beifallspleite nach Kuijkens Zweitem Brandenburgischen beim Granada-Festival in der Alhambra passierte. Der arme Trompeter. Ich habe das vor Jahren woanders, aber bei demselben Stück erlebt (in Aachen) und beim Schluss-Chor des Weihnachts-Oratoriums – ich glaube in Bellinzona – , dass nämlich die lahmen Lippen dieses einen Musikers ein abschließendes Desaster verursachten, das man nie vergisst. Man wollte als Mitwirkender und Ohrenzeuge vor Scham im Bühnenboden versinken. Aber niemand im Saal hätte die Idee goutiert, den Unglücksraben mit Sitzkissen zu bewerfen. Ekelhaft.

Ein Triumph darf nicht misslingen. Wenn doch, sollte er auch nicht bewertet werden. So wenig wie ein Flugzeugabsturz.

Ich vermute, der Rezensent hat das Buh so allgemein zum Thema gemacht, um sich nicht von völlig inakzeptablen Geniestreichen distanzieren zu müssen. Er meint, der Protest sei in jedem Fall produktiv, jedenfalls immer geeignet, ein verschnarchtes Publikum aufzurütteln und die mutigen Regie-Täter durch Zurufe zu markieren. Ja, es ist richtig, das liegt nur

daran, dass deren in der Oper gängigen Abweichungen von den Regieanweisungen der alten Stücke sofort ins Auge stechen. Fast schon Randale gab es, als der Regisseur Jossi Wieler den Protagonisten in Wagners „Siegfried“ das neu geschmiedete Schwert Nothung in einem Klosett abkühlen ließ. Im derzeitigen Bayreuther „Ring“ hat Wotan keinen Speer, er wird genau so wie das Schwert Nothung durch eine Pistole ersetzt, und der Feuerzauber auf eine Kerze reduziert. Auch diese Verbannung lieb gewonnener Utensilien ist manchem ein buhwertes Sakrileg.

Wieso muss man eigentlich die Musik ernstnehmen und in der Substanz unangetastet zur Wirkung bringen, wenn alles andere destruiert wird? Warum darf man nur das musikalische Libido- und Feuer-Pathos nicht deutlicher ironisieren und z.B. mit Sirenengeheul anreichern? Spürt denn niemand sonst in der lammfrommen Herde des Publikums etwas von der satanischen Bedrohung, die vom Orchestergraben ausgeht? Seid ihr noch alle da!? – – – Zurück ins Kasperletheater!

… ach vorüber, Nacht der Liebe

Vom Lohengrin zum Tristan

Meine Assoziationen sind für Außenstehende vielleicht nicht interessant, mich dagegen begleiten sie unentwegt, und für Nahestehende waren sie schon vor 55 Jahren unvermeidlich. Ich beanspruche jedoch weiterhin mildernde Umstände, wenn ich auch die aktuelle ZEIT und das heutige Bayreuth egozentrisch historisierend lese und sehe.

Googeln Sie doch den ganzen Artikel, nachdem Sie den kleinen mittigen Abschnitt gelesen haben, der mit der Titelzeile beginnt. „Die Musik sagt ja alles“. Ich dachte an das, was ich mir bei den letzten Zeilen meiner Schulmusik-Staatsarbeit gedacht habe: dass dort nach dem letzten Liebestod-Akkord die wahre Mystik ihr Werk vollenden könnte, aber sicher nicht in Bayreuth. Oder was auch immer ich gedacht habe. Im Jahre 1967 änderte sich ja gerade die ganze Lebensausrichtung, wie ein Brief erzählt, der in dieser Arbeitskopie damals wieder an mich zurückkam. (Daher die Namen Hans Hickmann und Marius Schneider) .

Die Musik sagt ja alles. Auf dem Papier mag das ein wenig ideenlos wirken, im Zuschauerraum sorgt es (abgesehen von den notorischen Zuspätkommern nach den Pausen und vom kollektiven Klatschen in den Liebestod-Schluss hinein) für enorme Ruhe und Konzentration. Das ist nicht immer leicht auszuhalteb bei Außentemperaturen von bis zu 36 Grad, es wäre aber unfair, dies der Regie anzulasten. (ZEIT Florian Zinnecker)

Immerhin: neben Adorno – Simone de Beauvoir und Sir Galahad

Ja, und dann interessierte mich heute noch, was mir im Lohengrin der frühen Jahre nie aufgefallen war:

In den letzten Takten der Lohengrin-Generalprobe habe Klaus Florian Vogt in der Titelpartie librettogetreu das Wort »Führer« gesungen, zum Missfallen einiger Zuschauer, so wurde berichtet. Die Zeile »Führer-Skandal im Festspielhaus« mag der Zeitung einige Klicks beschert haben, auch wenn die Diskussion um die fragliche Stelle seit Jahrzehnten ergebnislos schwelt. Natürlich ließe sich ein Wagner-Text von 1853 verändern. Aber wo dann damit aufhören? Im Zweifel ist doch das Störgefühl an den fraglichen Stellen weit wichtiger als die Illusion, es gebe zwischen Wagners Weltbild und unserem heutigen nicht wenigstens ein paar kleine Differenzen. (ZEIT Florian Zinnecker)

Das finde ich auch und lese nochmals im Text-Buch nach. Tatsächlich, da spüre ich Differenzen.

Seite 172  Der König und die Edlen (Lohengrin umringend):

O bleib! O zieh uns nicht von dannen! / Des Führers harren deine Mannen!

Seite 174 Lohengrin:

Seht da den Herzog von Brabant! Zum Führer sei er euch ernannt!

Bitte nicht missverstehen! Ebensowenig wie Elsas abschließendes: „Mein Gatte! Mein Gatte!“

Von Oper und Regie

Christian Gerhaher, befragt von Axel Brüggemann

Abschrift nach Gehör, keine Garantie für Fehlerlosigkeit (JR)

Ich (JR als Blog-Autor) beziehe mich auf das Gespräch, das der Journalist Axel Brüggemann mit dem Sänger Christian Gerhaher in der März-Sendung des Magazins Crescendo geführt hat (ausgehend von dem Blog-Artikel, in dem es auch verlinkt ist). Vorangegangen ist ein Gespräch mit Katharina Wagner, in das ich mich nicht vertieft habe, weil sie für mich die Problem-Regie verkörpert, die ich mit keinem – ihr gewidmeten – Artikel ernst nehmen will. Der Ärger über ihren Tristan sitzt tief. Christian Gerhaher gehört für mich zu den eindrucksvollsten Künstlern unserer Zeit. Seine Liederabende sind „Regieleistungen“ ersten Ranges: wer eine abendfüllende Aufführung so gestaltet wie er, muss sich eigentlich nicht auf eine Diskussion einlassen darüber, wie man Musik aus einer anderen Zeit glaubwürdig ins Heute transportiert. Dass er es trotzdem tut, finde ich doppelt bewundernswert. Und was Axel Brüggemann versucht, könnte man einen Balance-Akt nennen. Aber nur wenn man daran glaubt.

ENDE des ersten Teils (Verabschiedung) Katharina Wagner: Danke Dir, Axel! 31:52 Fortsetzung 31:56

BRÜGGEMANN So, und ich muss nun erstmal die Reihenfolge klarstellen: Am Anfang der Beschäftigung mit dem Regietheater in diesem Vortrag stand ein Interview, das der Sänger Christian Gerhaher dem dem Münchner Merkur gegeben hat, er hat darin gesagt, er will keinen Lohengrin sehen, der im Fitnessstudio spielt. Das hat mich n bisschen irritiert, und ich hatte große Lust mich mit Christian Gerhaher zu streite. Also habe ich ihn angerufen, und hier ist das Gespräch: Hallo, Christian Gerhaher. (Hallo, Herr Brüggemann). Sagen Sie: was haben Sie eigentlich dagegen, wenn Parsifal im Fitnessstudio spielt?

GERHAHER Äh ich frag mich, warum das sein muss. Und ich hab eine – das ist sicher eine Unterstellung – eine Vermutung, dass die Inhalte im Parsifal jetzt im Vergleich zu vielen anderen Opern oder Theaterstücken nicht so auf besondere Weise sympathisch wirken, dass diese Inhalte den Regisseuren, die sowas machen, nicht attraktiv genug erscheinen, um Publikum zu generieren oder um Publikum anzusprechen. Und ich verbinde damit – das sind natürlich alles Unterstellungen – diese oft gehörte Frage: Wie kann man Oper heute noch aktuell halten, wie kann man sie aktualisieren, oder wie kann man heutige Leute noch mit Opern von gestern anspreche? BRÜ Ja, muss denn Parsifal immer im Gral spielen, sollen da alte Männer vor sich hin siechen in dieser grauen Landschaft und auf den Erlöser mit dem Speer warten?

GER Also: siechen tun eigentlich nur zwei, einer tatsächlich, das ist der Amfortas, und der andere prospektiv, das ist sein Vater Titurel, – BRÜ fällt ein, GER weiter – ich verstehe die Frage schon! 33:45 aber ich akzeptier sie nicht, weil ich finde, dass die Inhalte im Parsifal tatsächlich einfach mit Männern zu tun haben, die eine gewisse Gesellschaft abbilden, im Vergleich zu den Frauen, Blumenmädchen, die sie umgeben, warum muss man das irgendwie anders erzählen, ein Mensch ist ein historisches Wesen, um Erzählungen und Mythen nie gescheut hat, heranzugehen und sie verstehen zu wollen, warum muss man das beim Parsifal negieren?

BRÜ Sie meinen, das wäre so, als würde man der Mona Lisa eine Sonnenbrille aufmalen, oder sowas. Wenn wir mal in so’ner Grundkonstellation anfangen, also: Musik machen bedeutet ja immer etwas im Jetzt zu machen, ja, da sind wir einig, wir werden nie den gleichen Klang haben wie zu Beethovens Zeit oder zu Wagners Zeit oder zu Mozarts Zeit, sondern es geht ja immer darum sozusagen in der Gegenwart eine Konfrontation mit der Partitur aus der Vergangenheit herzustellen. Das ist ja erstmal die Grundidee von Musik auch, oder?

GER Ja und nein. Die Musik ist zwar momentan und der Klang ist sofort am Verschwinden, aber die Rezeption des Klangs ist nicht momentan, die ist immer prospektiv und ist auch immer in Retrospektion, Reflexion des gerade Gehörten eingebunden, und insofern ist keine Kunstform, auch diese ganz momentane Musik [nicht] rein momentan und in der Gegenwart begriffen, sondern ist immer in einem Spielfeld der Zukunft (das ist klar!) und der Vergangenheit (das ist klar!)

BRÜ Aber aber im Gegensatz zum Bild nochmal zur Mona Lisa, die im Museum hängt, hängt da seit 500 Jahren so wie sie ist, im goldenen Rahmen, wird vielleicht n bisschen anders beleuchtet, vielleicht andere Bilder neben ihr, aber sie bleibt da Vinci, da Vinci, da Vinci! (aber) Mozart bleibt ja nicht Mozart, Mozart Mozart! Sondern Mozart wird mal Gerhaher, mal eh eh weiß was ich, was! Mal Rattle, mal Böhm, mal Karajan. Das sind ja unterschiedliche Mozarts (jo) können wir uns darauf verständigen, dass erstmal Ihre Aufgabe, also die Aufgabe vom Regisseur, die Aufgabe vom Dirigenten darin besteht, etwas sich zueigen zu machen und gleichzeitig dem gerecht zu werden.

GER Ich versteh natürlich, was Sie meinen, trotzdem muss ich auch hier widersprechen: die Mona Lisa ist nicht dieselbe, sie wird immer in unterschiedlichen Kontexten aufgehängt, natürlich die Mona Lisa weniger als andere Kunstwerke, wei sie so teuer und deswegen so schwer verleihbar ist, aber unter den Kästen, unter denen sie mittlerweile hängt, war sie früher nicht zu sehen, und die Zusammenstellung von Werken verschiedenster Künstler oder von einem Künstler innerhalb von Ausstellungen ist eigentlich auch ein vergleichbar interpretatorischer Akt wie die Neubeleuchtung eines Werks, dessen eine Aufführung bedarf, um es so ein bisschen zum Leben zu kommen (klar!)

BRÜ die Augen, die Fernsehen gesehen haben, können auch die Mona Lisa nicht ankucken wie die Augen, die kein Fernsehen gesehen haben zum Beispiel, ne?

GER zum Beispiel auch dieses, oder die Augen, die die Austellung da Vinci von dem Kurator XY sehen, sehen eine Ausstellung von einem andern Kurator, der dasselbe Werk einschließt, anders, und insofern hat das Werk einen andern interpretatorischen Kontext, eine andere, leicht andere Gewichtung und Wertung. Und, worum es mir geht, ist vielleicht doch die Gegenüberstellung von schöpfender Kunst, und das heißt sowas wie ein Maler, ein Schriftsteller, ein Komponist, oder ein Bildhauer, und interpretativer Kunst , (repr) was die darstellenden Künste, Musiker, Sänger, Schauspieler, Tänzer, ja, das heißt: ich würde dann doch hier von einer grundsätzlichen Wertung ausgehen, nämlich dass man sagt, die an sich schöpfende Kunst, das heißt wirklich etwas aus dem Nichts erschaffen, wir können als Darsteller und Interpreten nicht denselben Rang in der Kunst beanspruchen, und Regisseure gehören natürlich da auch dazu. (Um die geht’s ja!)

BRÜ Ich hab die Frag ja auch nur gestellt wegen des Raums des Museums, wird ja auch oft vorgeworfen: die Oper ist kein Museum. Ist n Museum

GER (heftig) Natürlich ist die Oper ein Museum, Entschuldigung, was soll die denn sonst sein!? (BRÜ lacht- das ist klar, das ist klar)

BRÜ das ist etwas, worauf man sich erst verständigen muss, genau, immer, da muss man sich erstmal überlegen, wer hat welche Rolle in diesem Museum, meine Idee war schon zu sagen, wir hängen die Oper ja nicht an die Wand als das ewig gleiche Bild, wir müssen wieder neu malen. Sie sagen, aber natürlich haben wir einen kuratierten Raum in der Oper, der dem des Museums gleicht. 38:09 Gut, sagen wir die Oper ist ein Museum. Das heißt, dann geht es ja jetzt darum zu kuratieren. Hn? Von den wiederschöpfenden Künstlerinnen und Künstlern, Ihnen als Sänger, von den Dirgenten, von den Regisseuren. Und da wäre ja nun der nächste Schritt: wie sollen denn die damit umgehen? sollen die die Patina drauflassen, sollen sie die Patina abnehmen, sollen sie den… die… die… Mona Lisa neben einen Picasso hängen, oder können sie machen, was sie wollen, oder wer erklärt die Regeln dieses Museums Oper?

GER Ja, ich verstehe, glaube ich, ein bisschen, was Sie meinen, Herr Brüggemann, und ich stimme Ihnen natürlich auch grundsätzlich zu, man wird hier keinen Limes finden, und sagen, auf der einen Seite sind die Römer und auf der anderen Seite die Barbaren, eh, eh, man wird das nicht finden. Das, es sind Übergänge, und natürlich kann das nicht immer gleich gehen, aber ich glaube, das ist vielleicht sogar ein Argument, denn natürlich kann eine Belebung der Oper wie unter Schlingensief einfach grandios sein und diese Oper tatsächlich in einen neuen Verständniskontext bringen, der vieles berührt und aufwühlt, aber…. (BRÜ ist das Ihre Meinung??) Es ist meine Meinung! Ich find, was ich von Schlingensief kenne, 39:29 natürlich wild und verrückt, und verstörend, aber ich finds immer von einem großen künstlerischen Gestus getragen. (Hmhm) Das ist für mich außer Frage, aber was mich besonders an dieser ewigen Aktualisierung nervt, dass es immer in dem Fahrwasser einer schon mal erfolgten Argumentation fährt. Ja, man kann aktualisieren, man kann auch mal einen Aktenkoffer auf die Bühne, man kann auch mal eine Nazi-Uniform auf die Bühne bringen oder mal einen glänzenden Anzug, aber wenns immer ist… ist es genau so doof und zopfig wie die eh wie (die…) die Bärenfelle in den frühen Wagner-Inszenierungen.

BRÜ Da sind wir an einem spannenden Punkt, da wollt ich auch, und vielleicht können wir von da auch auch wieder gemeinsam denken, das ist ja auch so, wenn wir mal wieder über Akzeptanz reden, zeigt sich ja, dass die Ländern, denen Oper noch wirklich – der König hat ne Robe an und hat nen goldenen Szepter und geht mit Hand am Herz Arie durch irgendwelche Palazzi ja meist nicht so erfolgreich, also Frankreich, Italien, Amerika, die Länder, die am meisten unter Publikumsschwund leiden, in denen auch dieses German Trash Theatre , dieses was wir Regietheater nennen, nicht existiert. Also es ist ja kein Garant, immer konservativ oder immer gleich zu bleiben, denn das ist ja das, denn Sie fordern ja auch, wir wollen nicht immer den gleichen Aktenkoffer haben, ist auch keine Lösung. Da sind wir auch einer Meinung, ne?

GERHAHER Absolut! Ich find nur, dass die Aussage „wir müssen die Oper aktualisieren“, dass die einfach total hohl ist. Das ist spießig und doof und einschichtig, und kein Mensch, kein Regisseur, kein Intendant sich auf dieses Niveau herunterlassen, wir können Oper nicht mehr vermitteln, wenn wir sie nicht aktualisieren. Es geht doch um die Bedeutungsverwerfungen, nicht um die mögliche Bedeutung, die einmal festgenagelt werden kann. Was interessant ist, z.B. an einem Wozzeck, ist die Frage, inwieweit erstens die Textgrundlage von Büchner einfach ein Frevel, ich finde, das ist schon mal ein großer Zwiespalt, und der führt dann natürlich dazu, dass man sagt, man kann beispielsweise die ursprünglichen Texte – ich nehmn einfach ein ganz konkretes Beispiel vom Doktor, wo er gesagt hat: Wozzeck, hat er wieder gepisst, gepisst wie ein Hund auf die Straße gepisst, – was Berg nicht gefallen hat, weil er glaub ich auch ein bisschen zu sehr Ästhet war, und sagt, diese Schimpfworte kommen für mich nicht infrage, dass man die ausgestrichen hat und früher dann [mit] „gehustet“ statt „gepisst“ diese Szene bestritten hat, – das ist nur der Wille des Komponisten, und dann gibt es aber auch den Willen des Autor, vielleicht aber auch den Willen einer logischen Erklärbarkeit, denn die Experimente, die der Doktor mit dem Wozzeck anstellt, dass er ihm nur Hülsenfrüchte gibt, die haben eben auch dazu geführt, bei dem Wozzeck, dass er solche eine Hyperurie hat (BRÜ dass Husten?), dann gings natürlich nicht um Husten, dann wirklich den Sinn des Kunstwerks Büchners verschleiern .. diese Setzung, die heute gang und gäbe ist, das heißt natürlich nicht, dass sie richtig ist. Es ist immer eine Interpretation, die Wahrhaftigkeit ausdrückt, aber immer an der Wahrheit vorbeigeht, weil ja die Wahrheit wird sich nicht finden lasssen.

BRÜGGEMANN Genau! Das ist doch auch das Schöne, und ich glaube das haben wir manchmal in der Diskussion, die wir führen, so schief, Regietheater – Nicht-Regietheater, das ist ja n Topos, der sich überhaupt nicht haltbar ist. Und Schlingensief, der durchaus inspirierend sein kann, ich kanns auch sagen, für mich waren die Ratten in Bayreuth, als Hans Neuenfels, auch selbst der [Tobias] Kratzer mit dem Tannhäuser in Bayreuth war für mich auf jeden Fall Inszenierungen, die mir angeregt und auch in Verbindung mit dem Wagner-Urtext gebracht haben. Aber das heißt nicht. Dass jede moderne Inszenierung grundsätzlich schlecht ist, und wir müssen auch…

GERHAHER Nein, darum geht’s mir überhaupt nicht. Es geht mir nur um diese Borniertheit, die sich aus vielen Inszenierungen mir sprechend entgegenstellt, dass ich sag: ich hab eigentlich keine Lust, mich in die Tiefen eines Werks hineinzubegeben und wirklich um die mögliche Bedeutung zu ringen.

BRÜGGEMANN Jetzt sind wir an einem ganz spannenden Punkt scheint ja manchmal zu funktionieren. 44: 00 wir können das an einem ganz konkreten Beispiel machen. Letzte Salzburger Festspiele Don Giovanni Castelucci irgendwelche Mercedesse aus dem Schnürboden und Basketbälle und ich weiß nicht was

GERHAHER hab ich auch schon von gehört…

BRÜGGEMANN Genau, und dann gibt’s auch noch so’nen Dirigenten, der das sozusagen auch noch so orgiastisch dirigiert, die Leute toben danach, und dann komm ich tatsächlich als Gerhaher hinaus und bin grundwütend, ab des Spektakels, das da komplett hohl ist und bejubelt wird, und versteh die Welt im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr.

GERHAHER Ja, aber es gab viele Leute, die gesagt habe, das ist der Gipfel der Oberflächlichkeit,… ich hab keine Meinung KKKK natürlich, ich hab auch mal einen Wozzeck gesehen, wo alle gesagt haben, das ist der Wozzeck wie er sein muss, und ich dacht mir, das ist doch nur ödes Bildergeklingel, rund um die möglichen Inhalte hat sich der jeweilige nicht geschert, das find ich nun doch einen Punkt, an dem man n bisschen sich entscheiden muss. Ich habe viele Regisseure erlebt, die von dem Werk keine große Ahnung haben, die das inszenieren, die dann mir im Laufe der Produktion so erschienen, als hätten sie sich die Mühe gemacht, dieses Defizit – und als solches muss ich sagen, dazu stehe ich, das irgendwann auszugleichen. Und jeden Quatsch müssen wir beklatschen, da mach ich nicht mit, ein Werk muss eigentlich bei einem Darsteller und bei jedem Interpreten, muss den größtmöglichen Einsatz herausfordern, um die Bedeutung dieses Werks möglicherweise so n bisschen anzufassen…

BRÜGGEMANN: Genau, wir holen ja den Wozzeck in unsere Zeit, oder die Zauberflöte, oder die Poppaea, was auch immer, das heißt, (beide gleichzeitig) befugt, wer von diesem Betrieb Oper, der Regisseur, das irgendwie neu zu deuten, und jetzt sind wir einig schon, schnurz, ob man das modernisiert oder – er muss, und jetzt geht’s darum, er muss eigentlich Wahrhaftigkeitsgehalt in der Grundquelle finden, er muss eine gültige Verbindung von der Partitur. Der Zeit der Partitur, der Aussage der Partitur ins Heute holen, was sind unsere Kategorien, wir wollen das ja debattieren, den Limes, den Sie eben genannt haben, wie sind denn unsere Bewertungskriterien dafür? 45:33

GERHAHER: Ich kann die nicht definieren, ich seh aber, ich seh gewisse Grenzen. Wenn ich zum Beispiel sag, der Darsteller ist ein Sänger, ist auch n Interpret, hole ich das Werk, das ich aufführe, mit meinen Mitteln in die heutige Zeit, – kann man natürlich machen, also: das Naheliegendste für dieses Anliegen wäre meines Ewrachtens, dass man es so gut darstellt, wie möglich! Das heißt: so textgetreu, so notengetreu und anweisungsgetreu wie möglich. Und dann einen gewissen Sinn zu finden, und den vielleicht noch durch einige kleine Werkzeuge, die man als Darsteller auch noch hat, außer Noten, Aussprache und Intonation in einer gewissen Weise des eigenen Verständnisses hinzufügt. Gut, sowas würde ich als Aktualisierung begreifen.

BRÜGGEMANN Machen wir die Dystopie vollkommen: denn das Absurde ist doch auch, dass genau das bei einem großen Teil des Publikums auch ankommt, und wenn Sie mich auffressen, wenn ich dieses Wort sage: einen Zeitgeist trifft, ja?

GERHAHER Wieso soll ich Sie da auffressen, so nen Zeitgeist kann es ja geben, die Tatsache, dass man ein Werk inszeniert oder aufführt, ist eigentlich n Beweis dafür, dass man es in die heutige Zeit holt, ich rechne?? das nicht

BR (lacht) Ja aber es geht ja ums WIE, Herr Gerhaher, es geht ja ums Wie, und ich glaube tatsächlich, es gibt (fallen sich ins Wort, dann gleichzeitig) Werder gegen Hamburg geht 0:0 aus, würde ich vielleicht gar nicht hingehen, ja aber es kann ja auch 5:1 ausgehen, und so ist es bei der Oper auch manchmal. (beide zugleich) kann ja auch scheitern oder nicht?

Natürlich, aber Kunst ist kein Sport. Wir sind immer mit einer Bedeutungssuche verbunden, das ist der Sport nicht. Wir sind nicht nur ein körperliches, physisches Ereignis, sondern genau ein geistiges Ereignis. BR Umso mehr auch zu scheitern. Bedeutungssuche ist ja auch schwierig, nicht…

GERHAHER Jede Interpretation, jede Produktion, jede Ausführung ist ein Beitrag zu einer Diskussion eines Werkes. Ist doch klar, dass ein Scheitern da mit inbegriffen ist, dass da auch inbegriffen ist, dass es niemals vollkommen sein kann. Ich finde, diese Inszenierungen, die immer dasselbe machen, die, seit Hans Neuenfels damit einmal angefangen hat, in einer genial verunsichernden Weise, bei einer Produktion der Entführung aus dem Serail in Stuttgart, seit er damit angefangen hat, mal die Sänger-Darsteller mit Schauspielern – Pantomimen – zu doppeln, macht das jeder Idiot! Jeder macht diesen ollen Scheiß wieder…

BR aber gleichzeitig macht dann die MET jedes Mal den ollen Scheiß auch wieder irgendwelche komischen … buckligen … Rigolettos durch irgendwelchge komischen Palaste von früher zu führen. Ist ja auch…

GERHAHER Also Entschuldigung, der Rigoletto ist halt nun mal bucklig, (lachen beide) würden Sie denn irgendein Walt Disney Verfilmung vom Glöckner von Notre Dame sehen wollen, wo da ein strahlender Held? … interessiert doch überhaupt nicht! Dann sollen sie doch was Eigenes schreiben..

BR …die Argumentation: das Immergleiche … das das das , sonst machen wir auch das Immergleiche, das gleich machen wie 1870 bis heute, dann machen wir doch auch das immer Gleiche.

GERHAHER Es ist nicht das Immergleiche, ich finde, je mehr man sich zugesteht, austreten aus einer Erwartungshaltung und Rezeptionshaltung, desto mehr gibt’s natürlich die Gefahr, dass man das Alte nicht mehr als solches ansehen kann. Die Sinne werden desensibilisiert, es ist so ne Art Erziehungseffekt und ein Entziehungseffekt einer gewissen Bildungshaltung, die nicht spießig ist, die nicht mit auftoupierten Haaren in der Oper und irgendwelchem Schminkzeug rumgeht – das hat damit nichts zu tun. Ich glaube, hier werden einfach irgendwelche Rezeptionen miteinander vermischt. Wie undifferenziert betrachtet man eigentlich das Publikum. Sinds alle nur Idioten, die da nur noch sitzen und warten, dass da n genialer Typ kommt und sagt: Ich setze eh setze jetzt den Parsifal ins Fitnessstudio, und dadurch wird mal endlich mal klar, was das alles bedeutet…ich glaube, auf beiden Seiten dürfen nicht den gleichen Fehler machen alles in diese Kategorien … links und rechts des Limes … zu kategorisieren … was Sie ja schon gesagt haben, es gibt halt auch gute Adaptionen , und es gibt schlechte, und es gibt schlechte alte Inszenierungen und es gibt gute neue …

GERHAHER Ich nehme Künstler nicht als Künstler ernst, wenn sie immer denselben Schmarren machen. Das ist wirklich eines der notwendigen Kriterien von Kunst, dass es immer eine gewisse Neuerung ist, nicht im Sinne von Fortschritt, aber immer von einem anderen Blickwinkel. Man kann nicht immer denselben Quatsch machen.

BR Bleiben wir beim alten Credo: Macht Neues, Kinder! Was Wagner glaub ich mal gesagt hat, und es bleibt die Frage: aber wie? Oder?

GERHAHER Klar. Aber mit Kunst halt.

BRÜGGEMANN Darauf können wir uns einigen. Und ich glaube auch wie werden nicht an Debatten vorbeikommen, die sind wichtig, dass sie geführt werden. Herr Gerhaher, vielen herzlichen Dank, danke für dieses Gespräch.

GER Danke. Ebenfalls. Tschüss.

ABSAGE

BRÜGGEMANN Ist das nicht das Schöne an unserer Kunst und Kultur? wir müssen nicht immer einer Meinung sein, aber es ist großartig, dass wir miteinander streiten können. Danke nochmal, Christian Gerhaher. Das war es erst einmal. Ich hoffe, wir konnten euch mal so ein bisschen die Perspektiven aufzeigen von dem, was auf deutschen Opernbühnen momentan diskutiert und natürlich auch gezeigt wird. Ich freu mich schon jetzt auf die nächste Woche usw. usw.

Ausblick zum vorläufigen Überblick

Wikipedia über Regietheater HIER

Über Hans Neuenfels hier

Weiterführend: die Nachtkritik hier betr. Ulrike Hartung: Postdramatisches Musiktheater – Argumente für ein Musikerforschungstheater

(Fortsetzung folgt)

Elviras bekannter Lauf

Was meinte Kierkegaard?

Dieser Beitrag ist und bleibt ein Provisorium, der auf Umwegen vielleicht einer Wahrheitsfindung persönlicher Art dient. Am Ende müsste ich alles neu fassen. Und die Arie am Anfang der beeindruckenden Gesamtaufführung des „Don Giovanni“ in Salzburg hatte mir nicht einmal besonders gefallen, – ich wollte nur einen philosophischen Text besser verstehen, als es mir in früheren Jahren möglich war. (Anknüpfend an den Salzburg-Artikel hier.)

Zum Hören als erstes dies hier einstellen 31:24 Szene V Elvira „A chi mi dice mai“ (38:05)

Zitate aus dem Buch“Don Giovanni / Texte, Materialien, Kommentare / mit einem Essay von Attila Csampai“ / rororo Opernbücher 1981/1986), darin der Text von Søren Kierkegaard über den inneren musikalischen Bau der Oper, aus „Entweder-Oder“ (1842):

Ich habe beim Wiederlesen des Artikels meine Notiz von einst (oben auf der wiedergegebenen Seite 238) sicherlich zu wichtig genommen, es war ja im Grunde nur ein Wort, über das ich stolperte. Das Wort Lauf, das in der Musik eben keinen Dreiklang meint, sondern ein Reihengebilde virtuosen Charakters aus nebenanderliegenden und aufeinanderfolgenden Töne. Am Ende der ersten Arie, die Donna Elvira singt, – „A chi mi dice mai“ – befindet sich jedoch kein „Lauf“, sondern eine Dreiklangsbrechung über drei Takte hinweg, nebst einer sofortigen Wiederholung, der eine ebenfalls doppelte Abschlusskadenz folgt.

Das Wort „Lauf“ ließ mich vermuten, dass der Autor die Abschlüsse der beiden Elvira-Arien verwechselt hat, denn die zweite – „Ah fuggi il traditor“ –  endet tatsächlich mit Läufen, die dieselbe Funktion haben, nämlich den virtuosen Ausbau der abschließenden Kadenz. Eine Verwechslung hätte mich ermutigt, auch andere Unklarheiten des Textes dem schwächelnden Erinnerungsvermögen des Autors zuzuschreiben (der natürlich über keine Tonaufnahme verfügte, vielleicht aber auch nicht einmal über einen Notentext), andernfalls blieb der Schwarze Peter bei mir allein. Das war schwer zu ertragen.  Ende der Szene X „Ah fuggi il traditor“:

Bliebe noch der Strohhalm eines Übersetzungsfehlers. Und in der Tat erweist sich die Stelle in einer anderen Übersetzung als anders gemeint (im folgenden rot markiert). Darüberhinaus gibt es neue Verständnisprobleme und Fehler der drucktechnischen Übertragung, z.B. Lust statt Luft, seiner statt feiner ebenfalls rot markiert).

Wiedergabe nach ZENO siehe hier. Erstdruck des Originaltextes: Kopenhagen 1843 (unter dem Pseudonym Victor Eremita). Es handelt sich um die  erste deutsche Übersetzung durch Alexander Michelsen und Otto Gleiß von 1885. Dieselbe wie in Textlog.

Da die in der Oper auftretenden Personen nicht so durchdacht zu sein brauchen, daß sie als Charaktere durchsichtig werden, so folgt auch hieraus, was schon vorher hervorgehoben wurde, daß die Situation sich nicht vollkommen entfalten kann, sondern bis zu einem gewissen Grade von der Stimmung getragen wird. Dasselbe gilt von der Handlung in der Oper. Was man in strengerem Sinne so nennt, die mit Bewußtsein eines Zweckes ausgeführte Handlung, kann in der Musik ihren Ausdruck nicht finden, wohl aber, was man unmittelbare Handlung nennen darf. Beides ist im Don Juan der[118] Fall. Daß die Handlung hier durchweg eine unmittelbare ist, ergibt sich aus dem, was von ihm als Verführer gesagt ist. Daher ist es auch völlig in der Ordnung, daß in dieser Oper die Ironie so vorherrschend ist: denn die Ironie ist und bleibt der Zuchtmeister des unmittelbaren, gedankenlosen Lebens. So ist die Erscheinung des Kommodore eine ungeheure Ironie: denn Don Juan kann zwar jedes Hindernis besiegen, aber ein Totengespenst läßt sich bekanntlich nicht totschlagen. Zum Beweise, daß die Situation durchweg von der Stimmung beherrscht ist, darf ich an die Bedeutung erinnern, die Don Juan durchgehend für das Ganze hat, und an die nur relative Existenz der übrigen Personen im Verhältnis zu ihm. An einer einzelnen Situation will ich nachweisen, was ich meine. Ich wähle Elviras erste Arie. Das Orchester stimmt das Vorspiel an; Elvira tritt auf. Die in ihrer Brust wütende Leidenschaft muß sich Lust [Luft?] machen, und ihr Gesang hilft ihr dazu. Dies wäre je doch zu lyrisch, um eigentlich eine

Situation zu bilden; ihre Arie würde dann denselben Charakter tragen, wie ein Monolog im Drama. Der Unterschied bestände nur darin, daß der Monolog zunächst das Universelle in individueller Form gibt, die Arie aber das Individuelle in universeller Fassung. Dies würde, wie gesagt, für eine Situation zu wenig sein. Daher bleibt’s auch nicht dabei. Im Hintergrunde sieht man Don Juan und Leporello, voll gespannter Erwartung, das [daß] die Dame, welche sie schon durchs Fenster bemerkt hatten, ihnen vor Augen trete. Wäre es nun ein wirkliches Drama, was wir vor uns haben, so würde die Situation nicht darin liegen, daß Elvira auf der Bühne steht. [ , ] Don Juan im Hintergrunde, vielmehr in dem unerwarteten Zusammentreffen. Und das Interesse beruhte dann auf der Art und Weise, wie Don Juan sich heraushelfen würde. Auch in der Oper erhält das Zusammentreffen seine Bedeutung, aber eine sehr untergeordnete. Die Begegnung will gesehen, die Situation aber gehört werden. Die Einheit der letzteren ist nun die Harmonie, in welcher Elviras und Don Juans Stimmen ineinander tönen. Es ist daher auch ganz richtig, daß Don Juan sich so weit wie möglich zurückhält; denn er soll womöglich gar nicht gesehen werden, so wenig vom Publikum als von Elvira. Die Arie der letzteren[119] setzt sich fort. Ihre Leidenschaft weiß ich nur als Liebeshaß zu charakterisieren, eine gemischte, aber doch metallreiche, tönende Leidenschaft. Ihr Inneres ist in unruhiger Wallung. Nachdem sie sich Lust [Luft] gemacht hat, ermattet sie einen Augenblick, sowie jeder leidenschaftliche Ausbruch ermattet: es folgt in der Musik eine Pause. Aber ihre innere Bewegung läßt ahnen, daß ihre Leidenschaft sich noch nicht erschöpft hat: das Zwerchfell ihres Zornes muß noch stärker erschüttert werden. Wodurch aber, durch welches Incitament kann diese neue Erschütterung bewirkt werden? Hierzu kann mir eines dienen – Don Juans Spott. Mozart hat daher – möchte ich ein Grieche sein! denn alsdann würde ich sagen: ganz göttlich – die Pause benutzt, um den Spott des Kavaliers anzubringen. Jetzt lodert die Leidenschaft stärker auf; noch gewaltiger bricht sie in ihrer Brust, noch gewaltiger in Tönen hervor. Einmal noch wiederholt sie sich; dann erbebt ihr Inneres, dann ergießen sich ihr Zorn, ihr Schmerz, einem Lavastrome gleich, in jener bekannten, den Schluß der Arie bildenden, Kadenz (Triller). Hier sieht man, was ich mit den Worten sagen wollte: Don Juan wecke in der Elvira seinen Widerhall, und daß dies etwas andres ist als bloße Phrase. Der Besucher der Oper soll Don Juan nicht zusammen mit Elvira sehen noch hören, in der Einheit der Situation soll er ihn in der Elvira, aus der Elvira hören. Wohl singt Don Juan, aber so, daß es dem seiner [feiner] entwickelten Ohre klingt, als komme es von Elvira selbst. Sowie die Liebe ihren Gegenstand schafft, ebenso auch der bittere Groll. Sie ist von Don Juan besessen. Jene Pause und Don Juans Stimme machen die Situation dramatisch; aber durch die Leidenschaft Elviras, in welcher die des Don Juan widerhallt, wird die Situation erst musikalisch. Als solche beurteilt, ist sie unvergleichlich. Wird hingegen Don Juan als Charakter betrachtet, und Elvira ebenfalls, so muß die Situation für verfehlt gelten; dann ist es unrichtig, Elvira sich im Vordergrunde expektorieren [Gefühle aussprechen] und Don Juan im Hintergrunde spotten zu lassen; denn alsdann wird verlangt, daß ich sie zusammen hören soll, ohne daß doch das Mittel hierzu vorhanden ist, da sie beide Charaktere sind, die unmöglich einen solchen harmonischen Einklang herstellen können. Sind sie Charaktere, so bildet ihr Zusammenstoß die Situation.[120]

*     *     *

Allerdings sind die Verständnisprobleme noch nicht gelöst, im Gegenteil: es tauchen neue auf (abgesehen einmal von Übertragungsfehlern). Hört (sieht) Elvira den „spottenden“ Don Giovanni überhaupt, der zu Leporello spricht? Ist er für sie nicht erst vorhanden, wenn er sie mit „Signorina!“ anspricht? Auch er erkennt sie ja erst im nächsten Augenblick: „Himmel! Was seh ich!“ – und offenbar berücksichtigt der Philosoph nicht die Anwesenheit und Einbeziehung Leporellos in die Harmonie der Stimmen.

Dennoch sind Kierkegaards Anmerkungen viel hintergründiger als mir bisher aufgegangen war. Die Frage ist nur, ob er Ironie und Spott als gleichbedeutend behandelt. Wieso ist „die Erscheinung des Komturs eine ungeheure Ironie“ ?  Was meint er mit dem Wort „Situation“? Offenbar meint er: „psychologische Situation“, nicht eine äußere Konstellation. Man muss die kleingedruckte Anmerkung dazu gründlich verstehen:

Er reflektiert also im Ernst, dass der „Zuschauer“ nicht darüber informiert sein könnte, dass Elvira seine Ehefrau ist. In der Salzburger Aufführung wird dies überdeutlich gemacht durch die Nacktheit einer „imago“, eines zweiten Elvira-Ichs, die sichtbare Schwangerschaft und durch das sichtbar herumwandernde Kind, die Frucht der „ehelichen“ Begegnung, wenn man es so nennen darf. Zudem hebt Elvira wenig später, Im Rezitativ, – beiläufig? für „den Zuschauer“ – sogar den gemeinsamen Wohnort Burgos hervor, „in casa mia“, wo er sie nach drei Tagen Ehe verlassen habe). Und Leporello meint abfällig: „sie redet wie ein Buch“. Man sollte genau beachten, wann die Personen einander real wahrnehmen, wann weiterhin beiseite gesprochen wird (in Klammern) und wo es heißt: (In der Zwischenzeit flieht Don Giovanni) und Elvira dennoch zu Don Giovanni spricht (den sie noch anwesend glaubt).

 

Das Wort Ironie gebraucht Kierkegaard offenbar im Bedeutungsumfang der deutschen „romantischen Ironie“, die ich erst in meiner „Germanistik-Zeit“ Anfang der 60er Jahre zu begreifen begann, als ich Kluckhohn studierte: es handelt sich eben nicht um Ironie als eine „mutwillige Zerstörung der Illusion“:

Quelle Paul Kluckhohn: Das Ideengut der deutschen Romantik / Max Niemeyer Verlag Tübingen 1961

So heißt es auch auf der Seite vorher: „Gerade aus dem Sinn für das Unendliche, das weit erhaben ist über jedes menschliche Werk und jede menschliche Liebe, erwächst die Ironie.“

Im „Lexikon der Grundbegriffe“ von Otto Bantel (Hirschgraben Verlag Frankfurt am Main 1962 eite 38) steht der treffende Hinweis:

Eine tragisch-ironische Situation ergibt sich häufig im Drama; dramaturgisch wird sie auch dadurch herbeigeführt, daß der Zuschauer »im Bilde « ist, die Figur auf der Bühne aber nicht.

Das gilt auch für den leidenschaftlichen Menschen, der leicht von hoher Warte aus gedemütigt werden kann, wenn er „außer sich“ gerät. Donna Elvira zum Beispiel. Daher verzeiht man der Darstellerin unwillkürlich auch das große Vibrato, die Kraft der Stimme, die gerade noch gebändigt wird, bis hinein in den „Lauf“, die Kadenz-Koloratur.

Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch der Essay „Tragische Ironie in Mozarts Don Giovanni“ von Ernst Lert, siehe rororo-Dokumentation S.246-250, wo insbesondere die Ironie der Komtur-Szene benannt wird, die Doppelbödigkeit in der Distanzierung zwischen Subjekt und Welt:

Heute ist es einfacher, die verschiedensten Kontexte der Ironie zu bedenken, indem man Wikipedia befragt und von einem Artikel zum nächst verlinkten übergeht. Ironie , romantische Ironie usw.

Exkurs I: Salzburg in der ZDF-Aspekte-Sendung 13.08.21 mit Jo Schück Hier

Betr. Don Giovanni-Produktion

Sonderthema Teodor Currentzis hier (6:45 min) ab 1:45 + Thema Trakl bzw. ab 3:41 über „Don Giovanni“, bei 5:24 „für die zahlreichen Vergewaltigungsopfer“? vgl. hierzu Attila Csampai über „das falsche Dogma vom gewaltsamen Verführer“ (rororo 1981/1986 Seite 12). Heute, unter dem Eindruck der „Me-too“-Debatte, neigt man dazu, auch Darstellungen der Vergangenheit anachronistisch zu beurteilen. Aber seit Erfindung des Theaters stehen auf der Bühne Verbrecher und sie werden so behandelt, wie es dem jeweiligen Stück entspricht, nicht nach einem Normenkatalog. Im wirklichen Leben bestehen wir auf dem Unterschied zwischen Mord und Totschlag, ob es Shakespeare recht ist oder nicht. Aber es wäre auch verständlich, wenn es uns womöglich mehr um Shakespeare und Mozart geht als um die Auslegung des Bürgerlichen Gesetzbuches.

ZDF Mediathek –  abrufbar bis 13.08.22

Exkurs II: Salzburger Festspiele Currentzis Mozart-Programm (!!!) 3sat Hier am Ende ab 01:13:58 Rezitativ u Arie “Non mi dir“ aus „Don Giovanni“, einzigartig gesungen von Nadezhda Pavlova, Sopran, derselben Sängerin die in der Don-Giovanni-Aufnahme als Donna Anna mit derselben Aria (und dem vorangehenden Rezitativo „Crudele?“) ab 3:09:46 bis 3:16:26 zu erleben war. Die Wirkung dieses Stückes steht und fällt mit dem hohen Register der Sängerin. Berückend schön, wenn nach dem Rezitativ-Anfang bereits im Orchester die Cantilene der Larghetto-Arie einsetzt, als sei es ein Zitat (ich glaubte, diese Melodie schon von Don Ottavio gehört zu haben), stattdessen scheint die Stimme zum Rezitativischen zurückzulenken, und dann steht plötzlich wie ein Vogelruf das hohe B im Raum, gleichsam einer anderen Welt angehörend, – „abbastanza“ : genug [Fürsprache] – und geht in die absteigende Wendung über, – „per te“ : für dich – , die dem delikaten Intervall der verminderten Quarte – auf „mi“ – den Rezitativabschluss „parla amore“ folgen lässt: das ist auf engstem Raum ein großes Psychogramm.

 

Anmerkung: völlig plausibel, dass die Sängerin im drittletzten Takt des Rezitativs auf der vierten Zählzeit den Vorhalt nicht als AS sondern als A auffasst. Den hohen Ton B, der einem in Erinnerung bleibt, übertrifft sie um eine Terz in der schönen Kadenz, die sie auf der Fermate vor der Reprise der Laghetto-Arie einfügt (01:17:48). Unvergesslich diese Rückkehr zum Thema „Non mi dir, bell‘ idol mio“.

Don Giovanni Salzburg 21

Hausaufgaben August bis November

Eine Bemerkung vorweg: ich bin kein Anbeter des heiligen Teo, auch nicht der gehypten Festivals, der frohgestimmt-feierlichen Ansager/innen, bin froh, in Salzburg oder Bayreuth nicht dabeigewesen zu sein. Ich schreibe auch keine Kritik. Ich lerne Mozart und auch immer noch: Wagner (ab Tristan). Schule des Lebens. Das ist alles.

HIER – neue Möglichkeit: HIER bis 5.11.21

Einführung bis 4:00, hier Blick auf Orchester, Publikum, Bühne, „Abbau des Christentums“, Anfang der Musik bei 8:54 ! (9:35 eine Ziege eilt von links nach rechts über die leere Bühne…) – Ende 3:41:05

Ich beginne mit dem Thema Elvira bei Kierkegaard, das ich damals im hier folgenden Text nie ganz begriffen habe, zumal es offenbar einen Erinnerungsfehler enthält; heute bin ich motiviert genug, dranzubleiben. Anders als im Jahre 2002 habe ich auch eine aktuell herausfordernde Aufnahme, damals musste ich darum kämpfen, der alltäglichen Rundfunkroutine thematisch auszuweichen und beim Thema Mozart die scheinbar klassische Harmlosigkeit zu untergraben (siehe hier). Der folgende Text aus Sören Kierkegaards „Entweder-Oder“ (1842) übers. von Christoph Schrempf, Leipzig 1939, bedeutete mir damals eine Irritation, die ich nicht unaufgelöst lassen möchte. Frage: hat es überhaupt Hand und Fuß, wie genau kennt er sich in den Noten aus? (Das werde ich in einem Extra-Artikel behandeln, vielleicht überflüssigerweise, aber dann bin ich zumindest das Problemchen erstmal los…)

Kierkegaard zu Szene V Quelle siehe unten „Hilfe“.

31:24 Szene V Elvira „A chi mi dice mai“ 38:05 Register-Arie (Leporello)

51:55 Szene IX Don Giovanni + Zerlina 55:10 „Là ci darem la mano“ 48:43 Szene X Elvira „Fermati scellerato“ 49:50 Arie: „Ah fuggi il traditor“ bis 1:00:45 Szene XI (bis Szene XX)

ZWEITER AKT nach der Pause : ab 02:02:22 Szene I

Achtung: Don Giovanni und sein Diener Leporello sehen sich zum Verwechseln ähnlich, zwei Seiten derselben Münze. ….zuletzt: 2:32:50 Beifall (Ende) 2:38:41 Szene IX Also du hast meinen Masetto verprügelt? Szene X 2:41:38 Don Ottavio „Il mio Tesoro“ Szene Xd KV 540c Elvira „In quali eccessi“ 2:46:00 / weiter (nach Elvira-Beifall) 2:53:31 beginnt mit Dissonanzenquartett! Weinen/Lachen 2:56:56 Szene XI Friedhof Don Giov./Leporello 3:00:26 Stimme des Komturs: „Vor dem Sonnenaufgang wird dir das Lachen vergehen!“ Applaus nach Gespensterpause 3:07:55 weiter 3:08:35 Don Ottavio Donna Anna! „Troppo mi spiace“ 3:09:46 bis 3:16:26 EINLAGE Klavier/Cello ab 3:17:25 Orch. auf 3:18:42 SAAL Szene XIII / Szene XV KOMTUR 3:26:51 bis 3:33:22 Schluss ab 3:33:55 bis 3:41:08 / Applaus…

Die (unsichtbare) Statue: Bereue! – Don Giovanni: Nein!

(Fortsetzung folgt)

Partitur meines Vater (1920)

Hilfe (1980 JR 1990)

Habe heute im Handelsblatt (!)  einen Spruch gelesen, der von Tolstoi stammen soll: „Wenn man glaubt, dass das menschliche Leben durch den Verstand regiert werden kann, so wird damit die Möglichkeit des Lebens aufgehoben.“

Der folgende Text von Laurenz Lütteken bezieht sich zwar auf Così fan tutte, kann aber unschwer auf Don Giovanni umgedeutet werden, wobei die Imagination des Vesuvs der des Höllenfeuers weicht. Oder auch aller gegenwärtigen Katastrophen.

Quelle Laurenz Lütteken: Mozart / Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung / C.H.Beck München 2017

Die Don-Giovanni-Rezension der Süddeutschen Zeitung ist lesenswert: HIER

Desgleichen die vom 20. August – leider hinter Bezahlschranke HIER

Der Fallensteller  /  Romeo Castellucci, Regisseur des aktuellen Salzburger „Don Giovanni“, schafft so betörende wie verstörende Bilderwelten. Als Provokateur sieht er sich jedoch nicht. Eine Begegnung. Von Christine Dössel

SZ 19. August 2021 (Detail)

Tristan vormerken (Isolde auch)

HIER

Der Regisseur Krzysztof_Warlikowski in Wikipedia hier

Zur Vorbereitung auf den Livestream neu gelesen mit Berthold Seliger in nd Die Woche hier

Wagner auf LSD

Stardirigent Kirill Petrenko erschafft mit »Tristan und Isolde« an der Bayerischen Staatsoper musikalische Traumwelten

Wie es anfängt:

   

Was sagt der Dramaturg Leipfinger in München? Hier sein Opernsteckbrief zum Tristan.

Demnächst online im Staatsoper TV HIER !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

nur zum Lesen anklicken!!!!

Es funktioniert!!! HIER!!!

Einleitung

Einleitung

Einleitung

Isolde (Anja Harteros)

Isolde & Brangäne

*     *     *

Eine Anmerkung zur Gattungsbezeichnung des Werkes, das natürlich nicht Oper genannt werden soll, aber vielleicht auch nicht „Gesamtkunstwerk“.  Wagner selbst hat es absichtsvoll bezeichnet, wie es im folgenden Textbuch überschrieben ist, als HANDLUNG (in der Sammlung „Richard Wagners Musikdramen / Sämtliche komponierten Bühnendichtungen“ Edmund E.F.Kühn Berlin 1914):

Das Wort „Handlung“ hat einen historischen Hintergrund, der in Vergessenheit geraten ist und wohl auch jede Neudeutung in eine unproduktive, mystizistische Ecke führen würde. Verständlich also, wenn sich Berthold Seliger in der oben verlinkten Rezension damit nicht aufhalten mag:

Die von Wagner fast schon ironisch so bezeichnete »Handlung« ist eher banal und kreist um Begriffe wie Ehre und Betrug. Eine erstarrte Gesellschaft bietet keine Lösungen jenseits ihrer Konventionen an, die Protagonisten, allen voran die Titelhelden, wanken und schwanken durch die Welt, ohne sich je gegen die Konventionen zu stellen, ohne auch nur einen Ausbruch zu versuchen.

Aber der große Carl Dahlhaus schrieb schon 1971 in seinem Buch „Richard Wagners Musikdramen“ (S.54):

Ich habe damals etwas besserwisserisch einen Namen drübergesetzt, der tatsächlich auf eine andere Fährte führt, und meine Quelle von 1962 hätte auch Dahlhaus zur Verfügung gestanden, – möglicherweise hat er den Autor Melchinger wegen seiner NS-Nähe gemieden. Aber das Faktum der Bedeutung Calderons für Wagner ist nicht zu ignorieren, wenn es auch in einem Beitrag über eine brandaktuelle, progressiv gedachte Tristan-Aufführung eher hinderlich wäre:

Quelle: Wieland Wagner (Hg.): Richard Wagner und das neue Bayreuth / Paul List Verlag München 1962 (S.108)

Es lohnt sich weiterzulesen, gerade im Kontrast und als Ergänzung zu Berthold Seliger:

 

⇑(Lesespuren JR: Juni 1964)  ⇓(Screenshots JR 3.8.2021)

Eine Kritik, die ich nicht teile, aber anregend finde, betrifft am Ende die Regie. Dort kann ich den Gedankengang am wenigsten nachvollziehen (nebenbei: das inszenatorische Gebilde „franzt“ keinesfalls aus), ich bin vollkommen begeistert von dieser Aufführung und finde den Hinweis auf ein spirituelles Jenseits oder eine virtuelle Realität im wahrsten Sinne des Wortes abwegig.

ZITAT

Schlussendlich bleibt die Regie unbestimmt. Während der musikalische Strom in all seinen Läufen und Bewegungen verwoben ist, franzt das inszenatorische Gebilde aus, ehe Bezüge stark genug geknüpft sind. Damit sind komplexere Zusammenhänge kaum erzählbar. Ein so viel rezipiertes Werk bedarf einer strukturierten Anlage, denn viele der Assoziationen aus dem Flickenteppich sind schon etliche Male bemüht worden. Unter den verschwommenen Ansätzen am meisten von Interesse dürfte der Antagonismus zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit sein: Dass Potenzial in diese Richtung im Werk selbst steckt, wird spätestens deutlich, wenn die Hirtenweise erklingt – so fein und klar von Simone Preuin auf der Bühne gespielt. Doch was bildet hier den Gegensatz der Künstlichkeit? Im Anschluss an den Liebestod sinken alle zu Boden, doch in der Projektion schlagen Tristan und Isolde schlagen die Augen auf! Ob sie nun doch irgendwo vereint sind, ob in einem spirituellen Jenseits oder gar in einer virtuellen Realität?

Ein „Potential in diese Richtung“? Da stimmt kein Satz, abgesehen davon, dass es gut ist, das fabelhafte Orchester selbst pars pro toto auf der Bühne zu sehen. Trotzdem in den Assoziationen empfehlenswert, denn auch dieser Text ist vollständig nachzulesen – und mit einem großartigen klingenden Ausschnitt der Aufführung versehen nachzuvollziehen –  hier .

Die doppelbödige Wirklichkeit, – das, was man wie von außen sieht, und die Imagination. Ich erinnere mich an den schrecklichen Tristan von Bayreuth, als am Ende, nach dem sogenannten Liebestod, König Marke die offenbar Überlebende ins Hinterzimmer zog (wohin auch immer), um seine Rechte einzufordern. Hier sieht man die beiden Protagonisten am Ende, ob tot, ob irgendwie lebendig, rücklings auf dem Bett liegen, und was bleibt, ist: dass sie einander anschauen und schließlich einander anlächeln. Mir scheint, die Idee dieses unglaublichen Kunstwerkes bleibt erhalten. Die Anspielung an Christus im letzten Akt der Handlung, die Wunde, behält ihre Bedeutung, die Schar der künstlichen, automatenhaften Wesen denunziert nicht den trügerischen Ideen-Inidividualismus, die Tafelrunde und die Zahl der Jünger, – ist das richtig? Ich denke an Gottfried Benn und sein großes Gedicht, das ich mir seit dem 16.9.59 aus dem Bändchen „Statische Gedichte“ aneignete, unverschämt mit dem gedruckten Text umging und ihn schlecht und recht interpretieren lernte, mit Hans Mauritz auf Langeoog diskutierte.

Über Richard Wagner lernt man nichts Neues in Bayreuth, sondern in München. Das wurde hier wieder exemplifiziert, als ein Aktionswirrkopf der 60er Jahre über die „Walküre“ noch einmal seine Farbkübel ausgießen durfte, fast synchron zur Verifizierung der Handlung „Tristan und Isolde“ in München.

Dass Benn in demselben Zusammenhang der Statischen Gedichte (1948) ein Gedicht mit der Überschrift „Liebe“ veröffentlichen konnte! Und nie vergesse ich die Wirkung der Berliner Aufführung 1960, als der „alte“ Ludwig Suthaus zum letzten Mal den Tristan sang, und wie Kerstin Meyer – die erst voriges Jahr mit 92 Jahren verstarb – das Habt-Acht-Wachlied im zweiten Akt gesungen hatte, und wie, für immer und immer wieder erschütternd, Tristan in all seinem Wahnsinn des dritten Aktes mit der Vision innnehält: „Ach, Isolde! Isolde! wie schön bist du!“ So simpel, so unverbesserlich, so indiskutabel klar.

Hier fehlt noch ein für mich persönlich fast tragischer Ausgang der Realisierung dieses Notenbildes im Blog. (Wie der Alltag einen unvermittelt – ohne Kunst des Übergangs – auf den Boden der Tatsachen zurück versetzt.) Ein Sturz auf die Knie, beim linken mit einem rundlich blutigen Effekt. Was soll man dazu sagen? Man holt das Handy und denkt an die Geschichte vom Philosophen, der in den Brunnen fällt. Ich zitiere sie lieber als das Märchen von den blutigen Knieen.

Und da im wirklichen Leben auf „Tristan und Isolde“ die „Meistersinger“ folgten, darf hier wohl das Originalzitat aus Peter L. Bergers Buch „Erlösendes Lachen / Das Komische in der menschlichen Erfahrung“ (Verlag Walter de Gruyter, Berlin New York 1998) stehen:

ENDE 5. August 2021 (seit 24. Juli Anfang)

Mozart aus Aix-en-Provence

Ernsthafte Einladung zu Figaros Hochzeit

Im Geist folgendes: der Spazierweg nach dem großen Regen hier und vorher „Voi che sapete“ in „Mozart“ hier. Vielleicht auch das „Experiment mit Cosí“ hier. Schon wieder Mozart?

Warum also? Diese Behandlung, oder dieses Sammelbecken der musikalischen Ideen, wurde vorbereitet aus dem Alltag heraus; ich betone die Ernsthaftigkeit, weil es eine Komödie ist, zu der man sich heutzutage aufraffen muss. Die Handlung scheint uns unterhalten und lustig stimmen zu wollen, widerstrebt also eigentlich einer Versenkung, zu der die Schönheit der Musik zwingend hinführt. Es ist eine Freude zuzusehen, und es ist ein Ärgernis, nicht recht zu verstehen, was da gespielt wird. Wie seltsam ausgeklügelt. Man muss sich so intensiv vorbereiten, als gehe es um die Kunst der Fuge, es geht aber um ein Gesellschaftsspiel, dessen Regeln uns nicht einleuchten, wir sind gezwungen, uns historisch und handlungstechnisch bis ins Detail zu informieren und halten die Ränke und Verwicklungen insgeheim für albern. So geht oder ging es mir jedenfalls, und ich überwinde den inneren Schweinehund nur, weil die ganze Aufführung so liebevoll inszeniert und musiziert ist, dass man gern bei jedem Detail verweilt.

Liebevoll? Ich kann es mir leisten, kindlich vorzugehen, weil ich mit niemandem in Konkurrenz stehe. Auch eine professionelle Kritik, die auf ganz anderen Erfahrungen (und Verpflichtungen!) beruht, muss ich mir nicht zu eigen machen. Ich kann sie ohne Widerspruch zur Kenntnis nehmen. (Siehe unten nach der Ablaufliste).

Ah, mir ist zum Glück das Buch von Laurenz Lütteken eingefallen, das zu einer meiner regelmäßig wiederkehrenden Wellen der Mozart-Begeisterung gehört. (Siehe einst hier: Das Neue Jahr mit Mozart, 2017). Und jetzt Medias in res:

Quelle Laurenz Lütteken: MOZART Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung / C.H.Beck München 2017

ZITAT Seite 178f (rote Lesehilfen JR)

Die Repräsentation menschlicher Verhältnisse auf dem Theater bedurfte allerdings, dies die entscheidende Weiterung bei Mozart [gegenüber Beaumarchais], der Musik, weil man nur ihr, so der zentrale musikästhetische Paradigmenwechsel um 1780, zutraute, das Ungenaue, Unscharfe, Changierende dieser Verhältnisse für den Zuhörer, wenigstens im Augenblick des Erklingens, glaubhaft darzustellen. Genau dies führt aber zu einer Verdichtung, die weit über das Drama hinausreicht.

Ein wesentlicher Charakterzug des Figaro von Mozart und Da Ponte liegt in der bedingungslosen Zuspitzung der aristotelischen Einheit von Raum, Zeit und handlungt, weil die Repräsentation auf der Bühne keinerlei Lücken mehr kennt, dargestellte Zeit und Darstellungszeit vollständig deckungsgleich werden und ihre Dehnung im Sinne einer Seelenschilderung einzig der Musik verdanken. Dabei wird die Tradition der Opera buffa zwar heraufbeschworen, jedoch in einer seltsamen Distanz. Das wirkungsästhetische Potential der Buffa wird in dem Maße geltend gemacht, indem ihre Mechanismen in Frage gestellt werden. Das Irritierende dieses Neuansatzes wurde durchaus wahrgenommen, war der Figaro [auch] nicht ein Werk des sofortigen, sondern des langsamen, wachsenden Erfolgs, der erst in der besonders ungebundenen, für solche Konzepte empfänglichen Prager Gesellschaft geradezu esxplosionsartig hervortrat.

Ich werde noch mehr zitieren, ich erlaube mir das, denn ich werde nie aufhören, für dieses Buch die Werbetrommel zu rühren (siehe obigen Link zum Jahr 2017). Heute allein wieder die Tatsache nachlesen und einschätzen zu können, dass Haydn nachweislich von Mozarts Musik – vom Figaro – geträumt hat, und zwar in der Nacht zum 9. Februar 1790. Doch davon später.

https://www.arte.tv/de/videos/104589-000-A/festival-in-aix-en-provence-die-hochzeit-des-figaro/

HIER Trailer 3′ abrufbar bis Juli 2022

HIER ab 2:50 (Ouv.beginn) Aufnahme bis 8. Juli 22 abrufbar!

With : Gyula Orendt, Jacquelyn Wagner, Julie Fuchs, Andrè Schuen, Lea Desandre, Emiliano Gonzalez Toro, Monica Bacelli, Maurizio Muraro, Elisabeth Boudreault, Leonardo Galeazzi

Director : Lotte de Beer  / Music director : Thomas Hengelbrock

Orchestra : Balthasar Neumann Ensemble / Choir : Chœur du Cnrr de Marseille

Presenter : Saskia de Ville

 Thomas Hengelbrock Wikipedia hier

Figaro-Dirigier-Partitur meines Vaters ca. 1920

Zur französischen Quelle hier „Le mariage de Figaro“ (Beaumarchais)

Wikipedia Le nozze di Figaro Inhalt

Material (gute Inhaltsangabe u.a.) für die Schule https://oper-frankfurt.de/media/pdf/Figaro_Lehrermappe.pdf

Über die sog. Fandango-Szene am Ende des dritten Aktes: engl.Text hier (The Fandango Scene in Mozart’s Le nozze di Figaro / Author: Dorothea Link / Source: Journal of the Royal Musical Association, Vol. 133, No. 1 (2008), pp. 69-92 // s.a. Glucks Fandango.

Hier das Video der Aufführung in Aix, abrufbar bis 8. Januar 2022 (Achtung, seit heute – 20.7.21 doch nicht mehr abrufbar – schade! – habe gestern noch damit arbeiten können, zum Glück für mich privat ist der TV-Mitschnitt ab 3.Akt noch da, bedauerlich trotzdem)

ERSTER AKT ab 2:50 (Ouv.beginn) 7:05 / 9:40 / 10:26 / 13:22 / 15:45 / 18:20 Szene 3 – 4 Dr.Bartolo / 19:35 „La vendetta“ / 22:50 / 23:50 Nr.5 Duettino Marcellina/Susanna: „Via resti servita, Madama brillante“/  25:52 Cherubino 28:03 Nr. 6. Arie Cherubinos: „Non so più cosa son, cosa faccio“ / 31:23 / 35:05 Nr. 7. Terzett Graf/Basilio/Susanna: „Cosa sento! Tosto andate“ / 39:42 / 40:55 Nr. 8. [und Nr. 9.] Chor: „Giovani liete, fiori spargete“ / 42:00 / 43:44 Chor / 44:36 / 45:55 Nr. 10. Arie Figaros: „Non più andrai, farfallone amoroso“ / 49:48 ENDE ERSTER AKT

ZWEITER AKT  50:10 Szene 1–3 Nr. 11. Cavatine der Gräfin: „Porgi, amor, qualche ristoro“ / 53:24 / 57:53 Figaro ab / Cherubino 59:16 Nr. 12. Arietta Cherubinos: „Voi che sapete che cosa è amor“ / 1:01:52 / 1:03:19 Nr. 13. Arie Susannas: „Venite… inginocchiatevi“ / 1:06:20 Szene 4–9 / 1:10:50 Nr. 14. Terzett Graf/Gräfin/Susanna: „Susanna, or via, sortite“ / 1:14:46 / 1:16:12 Nr. 15. Duettino Susanna/Cherubino: „Aprite, presto, aprite!“ / 1:19:40 Nr. 16. Finale: „Esci, ormai, garzon malnato!“ / 1:27:38 / Szene 10–12 / 1:39:44 Applaus ENDE ZWEITER AKT Pause Gespräche mit den Protagonistinnen

DRITTER AKT 1:45:00 / 1:49:50 Nr. 17. Duettino Graf/Susanna: „Crudel! Perché finora farmi languir così?“ 1:52:36 /  1:55:20  Nr. 18. Arie des Grafen: „Vedrò, mentr’io sospiro“ 1:58:37 / 2:01:45 Nr. 19. Sextett: „Riconosci in questo amplesso“ /  2:06:40         Nr. 20. Rezitativ und Arie der Gräfin: „E Susanna non vien!“ / 2:10:55 „Dove sono i bei momenti“  2:15:57 / 2:17:20 Nr. 21. Duettino Gräfin/Susanna: „Che soave zeffiretto“/ 2:20:15 / 2:20:40 Nr. 22. Chor: „Ricevete, o padroncina“ / 2:21:52 / !!! 2:25:40 Nr. 23. Finale: „Ecco la marcia, andiamo“ 2:27:38 / Fandango 2:28:49 bis 2:30:20 / 2:30:34 Chor: „Amanti costanti, seguaci d’onor“ 2:31:42 ENDE DRITTER AKT

 

(oben) Finale Dritter Akt unmittelbar weiter in:

 

VIERTER AKT 2:32:05 Nr. 24. Cavatine Barbarinas: „L’ho perduta… me meschina“ 2:33:42 / 2:36:25 Nr. 25. Arie Marcellinas: „Il capro e la capretta“ 2:40:07 / 2:41:44 Nr. 26. Arie Basilios: „In quegli anni in cui val poco“ 2:45:26 / 2:45:40 Nr. 27. Rezitativ und Arie Figaros: „Tutto è disposto“ – 2:47:00 „Aprite un po’ quegli occhi“ 2:49:42 / 2:50:58 Nr. 28. Rezitativ und Arie Susannas: „Giunse alfin il momento“ – 2:52:25 „Deh vieni non tardar, oh gioia bella“ 2:55:48 / 2:56:38 Nr. 29. Finale: „Pian pianin le andrò più presso“ 3:13:38 Musik-Ende // 3:19:04 ENDE

Scan JR Schluss-Tableau

Kritik an dieser Aufführung: nmz (Joachim Lange) 3.7.2021 hier

…oder man lese im vorhergehenden Kapitel „Inszenierungen“ über die Definition eines neuen Genres, insbesondere anhand der großen Marschszene im „Figaro“, dem Finale des ersten Aktes (Noten s.o.):

…das folgende Stück KV 19d wird erwähnt auf Seite 202

Es geht in diesem Kapitel letztlich um ein anderes ›Verstehen‹, eine ›Analyse‹, die keine ›Zergliederung‹ mehr ist:

Übrigens: alle Vorbehalte gegenüber dieser Oper (und auch andere betreffend) sind bekannt. Ich selbst bin ja kein notorischer Operngänger, sondern im Innersten: Instrumentalist. Was ich gegen Opern habe? Das Publikum. Und die Fachkritiker. (So mache ich mir keine Freunde, ich weiß, daher meine Anstrengungen, mich selbst zu bekehren, mit Mozart müsste es gehen. Früher war es – im Ernst – Wagner. Inbegriff einer psychologisch spannenden Oper: Tristan. Einer dramatisch zwingenden  Oper: Tosca.) Im Figaro müssen wir uns das – in der damaligen Zeit – politisch Brisante mühsam rekonstruieren oder „übersetzen“. Und das unleugbar Erotische in unsere krasseren Verhältnisse transponieren: was sich eine moderne Regie nicht zweimal sagen lässt, wobei es eben auch „kaputt gehen“ kann. Vielleicht ist deshalb der Cherubino in seiner Unschuld so schwer zu interpretieren – in einer Zeit, wo das Pornografische grenzenlos alles Nackte dominiert. Weshalb es gern ins Lächerliche gezogen wird, zumal wenn hier z.B. die blonde Dame ins Bild gerückt wird, die mich irgendwie an Gottschalk erinnert.

Und so sitzt man doch nicht als Mädchen da, wie Barbarina auf dem Kubus!? Während zugleich die weiße Dame mit ihrem heraushängenden Stoffglied als Nahaufnahme sehr zu denken gibt usw. – die NMZ-Kritik fokussiert thematisch ähnlich.

Meine Mozart-Opern-Aufmerksamkeit wurde neu geprägt durch die HM-Produktion von 2003, die nicht auf der Opernbühne entstand, sondern als Hörfassung in der Stolberger Straße Köln – d.h. im WDR-Tonstudio – unter René Jacobs. Das umfangreiche Booklet enthält eine Fundgrube von Einsichten, das Titelbild allerdings evoziert eindeutig die galante Epoche der Andeutungen, abgesehen vielleicht vom Stier ganz oben. Oder ist es eine Kuh?

Ich folge jetzt dem Booklettext so, dass sich thematische Klärungen ergeben, wie wir sie oben kurz angesprochen haben. Zuerst die letzte Seite des historischen Textes von Andreas Friesenhagen, dann (rückwärts) René Jacobs. Eine Lektüre, die man gar nicht genau genug nehmen kann. Er weiß natürlich, woher der Fandango stammt und was es mit den Folkloreanteilen auf sich hat (Bordun) und wie schnell die Tempi aufzufassen sind. Wunderbar wie er hervorhebt, dass bei der Arietta „Vou che sapete“ die Zeit stillsteht, auch, dass das Pizzicato gegen Ende bei Susanna bedeutet, wie die Zeit (nicht) vergeht. Und vieles andere.

Text: Andreas Friesenhagen

Text: René Jacobs   Text: René Jacobs  Text: René Jacobs Text: René Jacobs  Text: René Jacobs Anfang des Textes

Der Rosenkavalier

Dank Mediathek ARTE abrufbar bis 23. April 2021

Pressetext

Barrie Kosky inszeniert „Der Rosenkavalier“ an der Bayerischen Staatsoper. Der flamboyante Regisseur schreckt vor Denkmälern bekanntlich nicht zurück. Eine Neuproduktion unter der musikalischen Leitung des designierten Generalmusikdirektors Vladimir Jurowski. Star-Sopranistin Marlis Petersen debütiert als Marschallin.

https://www.arte.tv/de/videos/102651-000-A/richard-strauss-der-rosenkavalier/

HIER  ⇐  ⇐  ⇐  ⇐  ⇐  ⇐  ⇐ abzurufen!

Gespräch der Mitwirkenden über diesen Rosenkavalier HIER ab 19:14 über Melancholie und das „Ja,ja“ der Marschallin. „Oktavian ist nicht ihr letzter Lover!“ (B.Kosky)

 

  • Marlis Petersen (Die Marschallin)
  • Christof Fischesser (Baron Ochs auf Lerchenau)
  • Samantha Hankey (Octavian)
  • Johannes Martin Kränzle (Monsieur de Faninal)
  • Katharina Konradi (Sophie de Faninal)
  • Daniela Köhle (Marianne Leitmetzerin)
  • Wolfgang Ablinger-Sperrhacke (Valzacchi)
  • Ursula Hesse von den Steinen (Annina)
  • Komponist: Richard Strauss
  • Inszenierung: Barrie Kosky
  • Fernsehregie: Henning Kasten
  • Dirigent: Vladimir Jurowski
  • Orchester: Bayerisches Staatsorchester
  • Chor: Chor der Bayerischen Staatsoper
  • Libretto: Hugo von Hofmannsthal
  • Bühnenbild / Ausstattung / Bauten: Rufus Didwiszus
  • Kostüme: Victoria Behr
  • Licht: Alessandro Carletti
  • Dramaturgie: Nikolaus Stenitzer
  • Land: Deutschland
Widmung des „Rosenkavaliers“

Meine private Vorgeschichte: es ist Ostern 2021, 1. Feiertag, und der München-Tatort am Abend war derart ärgerlich, grausam, sinnlos und dumm, dass nur der Dienst am bürgerlichen Kunstwerk einen gewissen Ausgleich schaffen konnte. Vielleicht als Exkulpation der Öffentlich-Rechtlichen. Morgen gehts weiter, aber nicht mit dem Feiertagsprogramm…

Eine Zumutung, bitte nie mehr wiederholen:

eine Strafe für jeden, der hineingerät. Ganz schlimm: das Pittoreske, die Pseudoschönheit im Elend. Der latente oder offene Sadismus (Fingerbrechen). Der medizinische Unsinn. Die Unlogik als Handlungsfaden, der Dilettantismus, die absurde Psychologie, die verkitschte Kindesliebe (die unbedarfte Kleine soll doch in Dresden studieren). Die „offene“ Dreier-Beziehung, die jugendliche Surfbrett-Freiheit, die lächerliche Nacktheit an Portugals wildester Küste.

*    *    *

1910/1911 Klavierauszug

Im „Rosenkavalier“: man erlebt zweifellos eine Sängerin, soll sie aber als jungen Mann akzeptieren, der sich dann als Frau ausgibt, die prompt von Ochs angebaggert wird. Geht das? Man könnte auch eigensinnig darauf beharren, dass es sich um die große Feier der lesbischen Liebe handelt. Wir hätten vielleicht ein bessereres künstlerisches Gewissen. Was für ein Unsinn, der sich an die sogenannten „Hosenrollen“ heftet. Stellen wir uns doch lieber vor, dass die wahre Octavia sich nur hinter einem kindischen Rollenspiel als Octavian verbirgt, der ja noch nicht mal den Stimmbruch erlebt hat. Müssten wir uns etwa mit einer verkappten Form des Missbrauchs auseinandersetzen? Bei wachsender Sympathie für die (angeblich) früh alternde Marschallin. Während uns die Figur des Ochs einen politisch korrekten Absturz anmaßender Männlichkeit lehrt? – Lauter Gedankenspiele, die vielleicht zu einer kritischen Reflexion des intendierten Handlungsablaufs führen, falls uns dabei nicht die komödiantische Idee völlig verloren geht. Wer war (was wollte) Hofmannsthal ? Seine Gedichte gehörten zu den ersten, die ich freiwillig lernte. Auch noch parallel zu Benn. In der Schule lasen wir den Lord-Chandos-Brief, als Auftakt der deutschen Moderne.

Mein aufgescheuchter Blick auf den „Rosenkavalier“ ist garantiert nicht neu, das ist ja längst alles psychoanalytisch durchgehechelt und analysiert, mit Rückblick auf Salome und Elektra, in den langen Snack-Pausen, – was soll das Festival-Publikum noch diskutieren? man droht einander vielleicht neckisch mit dem Zeigefinger? Ja, man wird den kleinen Mohrenjungen vermissen, der abschließend, nach dem Tüchlein fischend, über die Bühne eilt, aber bitte, jeder weiß, was heute einfach nicht mehr geht… Ich habe den „Rosenkavalier“ 1960/61 in Berlin mehrfach gesehen, mit Grümmer und Greindl und anderen. Ein Kommilitone betrieb all die Opernbesuche, stellte sich nächtelang an, er spielte virtuos aus der Partitur, sang auch gut, gab mir inspirierenden Klavierunterricht, privatissime, leider war er homosexuell, wusste allerdings nicht, dass auch das Gegenteil nicht formbar ist, wurde allmählich zudringlich und war der Hauptgrund für meine Abwanderung nach Köln. Ich sollte abwarten, was mir während der kommenden Seancen so in den Sinn kommt und garantiere für nichts.

Ein Sprung ans Ende des Rosenkavaliers:

Kein Mohrenknabe taucht auf, nein, ein Greis mit Engelsflügeln. Und die Zeit wird abgeschafft.

1911
 
 

Einige Fixpunkte:

Pause vor dem zweiten Aufzug ab 1:19:20 GESPRÄCH mit Barrie Kosky und Wladimir Jurowski (Maximilian Mayer)  u.a. über Travestie (Hosenrolle)

Ab 1:23:20 Die Klingel zum Zweiten Aufzug

Und vorher, mit entsprechenden Textausschnitten zum Nachlesen:

59:00 Marschallin: Und in dem „Wie“, da liegt der ganze Unterschied…

01:04:56 Marschallin: Die Zeit, das ist ein sonderbar Ding…

Text siehe hier

26.04.21 trauriger Nachtrag als Review

Jenufa neu!

Die neue ZEIT

da steht es: Seite 48 „Scheiße, was für eine Sackgasse“, nein, ich meine gegen Schluss: „Was in und zwischen ihnen [den Hauptpersonen der „Jenufa“] vorgeht und in dieser Intensität nur die Oper vermitteln kann, das ist eigentlich auch nur in der Oper zu verkraften, als gemeinsames Erleben und Erlebnis. Das teilen sich nun zwar die Künstler (jederzeit on demand abrufbar), wir aber bleiben in unserer asymmetrischen Einsamkeit allein.“

Quelle DIE ZEIT 18. Februar 2021 »Scheiße, was für eine Sackgasse« Zwischen dem „Freischütz“ in München und „Jenufa“ in Berlin: Der Versuch, sich ganz allein zwei Opernpremieren im Livestream anzugucken / Von Volker Hagedorn

Im Livestream? „on demand“? Ja! bis 15. März.

https://www.3sat.de/kultur/musik/jenufa-oper-in-drei-akten-102.html HIER

*    *    *

Weiteres? Freischütz München HIER (bis 17. März 2021 11.55 Uhr)

Tiere und Todesarten

Was ich gerade wie vor 55 Jahren gelesen habe

ZITAT

Um halb vier Uhr des Morgens war es schon ganz hell, aber die Sonne war noch nicht zu sehen. Wenn man da oben am Berg an den Malgen vorbeikam, lagen die Rinder auf den Wiesen in der Nähe halb wach und halb schlafend. In mattweißen steinernen großen Formen lagen sie auf den eingezogenen Beinen, den Körper hinten etwas zur Seite hängend; sie blickten den Vorübergehenden nicht an, noch ihm nach, sondern hielten das Antlitz unbewegt dem erwarteten Licht entgegen, und ihre gleichförmig langsam mahlenden Mäuler schienen zu beten. Man durchschritt ihren Kreis wie den einer dämmrigen erhabenen Existenz, und wenn man von oben zurückblickte, sahen sie wie weiß hingestreute stumme Violinschlüssel aus, die von der Linie des Rückgrats, der Hinterbeine und des Schweifs gebildet wurden. Überhaupt gab es viel Abwechslung.

(…)

Unter einem Strauch am anderen Bachufer brannte ein Feuer, das man über das neue Ereignis vergessen hatte, während es bis dahin sehr wichtig gewesen war; als einziger Zuseher stand daneben jetzt nur noch eine junge Birke. An dieser Birke war mit einem in der Luft hängenden Bein noch das schwarze Schwein gebunden; das Feuer, die Birke und das Schwein sind jetzt allein. Dieses Schwein hatte schon geschrien, als es ein einzelner bloß am Strick führte und ihm gut zusprach, doch weiter zu kommen. Dann schrie es lauter, als es zwei andre Männer erfreut auf sich zurennen sah. Erbärmlich, als es bei den Ohren gepackt und ohne Federlesens vorwärtsgezerrt wurde. Es stemmte sich mit den vier Beinen dagegen, aber der Schmerz in den Ohren zog es in kurzen Sprüngen vorwärts. Am anderen Ende der Brücke hatte schon einer nach der Hacke gegriffen und schlug es mit der Schneide gegen die Stirn. Von diesem Augenblick an ging alles viel mehr in Ruhe. Beide Vorderbeine brachen gleichzeitig ein, und das Schweinchen schrie erst wieder, als ihm das Messer schon in der Kehle stak; das war ein gellendes, zuckendes Trompeten, aber es sank gleich zu einem Röcheln zusammen, das nur noch wie ein pathetisches Schnarchen war. Das alles bemerkte Homo zum ersten Mal in seinem Leben.

Wenn es Abend geworden war, kamen alle im kleinen Pfarrhof zusammen, wo sie ein Zimmer als Kasino gemietet hatten. (…)

Eine Stunde nach Beginn lag in dem Pfarrzimmer eine Wolke von Traurigkeit und Tanz. Das Grammophon räderte hindurch wie ein vergoldeter Blechkasten über eine weiche, von wundervollen Sternen besäte Wiese. Sie sprachen nichts mehr miteinander, sondern sie sprachen. Was hätten sie sich sagen sollen, ein Privatgelehrter, ein Unternehmer, ein ehemaliger Strafanstaltsinspektor, ein Bergingenieur, ein pensionierter Major? Sie sprachen in Zeichen – mochten das trotzdem auch Worte sein: des Unbehagens, des relativen Behagens, der Sehnsucht – , eine Tiersprache.

(…)

Da wurde es sogar still, und der Major ließ Tosca spielen und sagte, während das Grammophon zum Loslegen ausholte, melancholisch: „Ich habe einmal die Geraldine Farrar heiraten wollen.“ Dann kam ihre Stimme aus dem Trichter in das Zimmer und stieg in einen Lift, diese von den betrunkenen Männern angestaunte Frauenstimme, und schon fuhr der Lift mit ihr wie rasend in die Höhe, kam an kein Ziel, senkte sich wieder, federte in der Luft. Ihre Röcke blähten sich vor Bewegung, dieses Auf und Nieder, dieses eine Weile lang angepreßt Stilliegen an einem Ton, und wieder sich Heben und Sinken, und bei alldem dieses Verströmen, und immer doch noch von einer neuen Zuckung Gefaßtwerden, und wieder Ausströmen: war Wollust. Homo fühlte, es war nackt jene auf alle Dinge in den Städten verteilte Wollust, die sich von Totschlag, Eifersucht, Geschäften, Automobilrennen nicht mehr unterscheiden kann – ah, es war gar nicht mehr Wollust, es war Abenteuersucht -, nein, es war nicht Abenteuersucht, sondern ein aus dem Himmel niederfahrendes Messer, ein Würgeengel, Engelswahnsinn, der Krieg? Von einem der vielen langen Fliegenpapiere, die von der Decke herabhingen, war vor ihm eine Fliege heruntergefallen und lag vergiftet am Rücken, mitten in einer jener Lachen, zu denen in den kaum merklichen Falten des Wachstuchs das Licht der Petroleumlampen zusammenfloß; sie waren so vorfrühlingstraurig, als ob nach Regen ein starker Wind gefegt hätte. Die Fliege machte ein paar immer schwächer werdende Anstrengungen, um sich aufzurichten, und eine zweite Fliege, die am Tischtuch äste, lief von Zeit zu Zeit hin, um sich zu überzeugen, wie es stünde. Auch Homo sah ihr genau zu, denn die Fliegen waren hier eine große Plage. Als aber der Tod kam, faltete die Sterbende ihre sechs Beinchen ganz spitz zusammen und hielt sie so in die Höhe, dann starb sie in ihrem blassen Lichtfleck am Wachstuch wie in einem Friedhof von Stille, der nicht in Zentimetermaßen und nicht für Ohren, aber doch vorhanden war. Jemand erzählte gerade: „Das soll einer einmal wirklich ausgerechnet haben, daß das ganze Haus Rothschild nicht so viel Geld habe, um eine Fahrkarte dritter Klasse bis zum Mond zu bezahlen.“ Homo sagte leise vor sich hin: „Töten, und doch Gott spüren, und doch töten?“ und er schnellte mit dem Zeigefinger dem ihm gegenübersitzemden Major die Fliege gerade ins Gesicht, was wieder einen Zwischenfall ergab, der bis zum nächsten Abend vorhielt.

Quelle Robert Musil: Grigia / aus: Drei Frauen / rororo Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1952 (1964) Zitat Seite 19ff

Fotos: JR

Viele der Bilder und Szenen habe ich nie vergessen, – die Fliege, die am Tischtuch äste – , das Buch hatte ich damals intensiv (mit Kugelschreiber) gelesen, auch die Auswahl am Ende und das Nachwort von Adolf Frisé. Dass man Rindern ein „Antlitz“ zuspricht! Kühe „wie Violinschlüssel“ kannte ich schon aus Deschners „Kunst, Kitsch und Konvention“ (1965), die Musil-Lektüre überhaupt war für einige Jahre maßgeblich. Was ich nicht kannte: die Stimme der Sängerin Geraldine Farrar, – und was ich bis heute nicht entschlüsselt habe: „Malgen“. Anlass der Re-Lektüre: die neue Reise nach Südtirol (Völs). Musils Schauplatz war das Fersen[a]tal mit den alten venezianischen Goldbergwerken, die wieder erschlossen werden sollten. Er kannte sich dort aus, zumal er im Ersten Weltkrieg an der Dolomitenfront stationiert war. Dort will ich mich nicht auskennen. Musils wunderbare Erzählung „Die Amsel“ habe ich in den 80er Jahren ausführlich in eine WDR-Sendung einbezogen. Wie die Amsel sang, – was für eine Beschreibung! -, und wie sie sagte: „Ich bin deine Mutter.“ Oh, das passte in dieses Jahr der Abschiede.

Doch zurück zu Musils Kriegserfahrung, die sich auch in der „Amsel“-Erzählung niedergeschlagen hat (Stichwort Fliegerpfeil). Man weiß kaum etwas über diese Zeit des Wahnsinns in dieser herrlichen Landschaft. In der Vorhalle derPfarrkirche Völs gibt es eine seltsame Ehrung der Kriegstoten:

von Ignaz Stolz (1921) – man lese auch die Lebensläufe seiner Brüder und den Wikipedia-Artikel über den Gebirgskrieg 1915-1918 hier. Man ist kuriert.

Das Foto des rororo-Covers darf so dunkel bleiben wie meine Erinnerung an die eigene frühe Zeit. Mir fehlte zum Beispiel noch jede Orienterfahrung… Und das Tor zur Gegenwart. An meinem gemaserten Holztisch, dort oben links neben dem Balkon, hinter dem kleinen Fenster.