Archiv der Kategorie: Oper

Gegeigte Opernszenen

Nochmals zu Goebels Booklettext

Angesichts mancher Missverständnisse bei der gründlicheren Lektüre, ist meine These: die meisten Mozart-Fans geben sich zu wenig Mühe mit den Frühwerken, und Reinhard Goebel setzt zuviel voraus, verrät seine fabelhafte Kenntnis in Anspielungen. Man nimmt es hin, aber niemand folgt seinen Spuren (behaupte ich – und fange erst heute an).

Es geht um die beiden Violinkonzerte KV 207 B-dur und KV 211 D-dur, die noch nicht zu der berühmten Dreiergruppe zählen (in G, D, A), die insgesamt im Jahr 1775 entstanden sind. Von den anderen beiden gehört das zweite ebenfalls in oder vor die Dreiergruppe, ich behaupte einfach: als Lernstück; das erste aber in eine andere Zeit, wie Wikipedia sagt: Dieses Violinkonzert entstand im Frühjahr 1773 auf einer Italienreise Mozarts; es wurde am 14. April 1773 fertiggestellt. Siehe hier (mit Notenbeispielen). Noch einmal Wikipedia:

Vom 24. Oktober 1772 bis zum 13. März 1773 folgte die dritte Italienreise zur Uraufführung des Dramma per musica Lucio Silla (KV 135), die am 26. Dezember 1772 im Teatro Regio Ducal in Mailand stattfand. Während dieser Zeit komponierte er auch das Exsultate, jubilate für den Sopranisten Venanzio Rauzzini. Nach einigen Monaten in Salzburg folgte von Mitte Juli bis Mitte Ende September 1773 die dritte Reise nach Wien.[19] Im selben Jahr entstand sein erstes Klavierkonzert.

Goebel bezieht sich auf genau diesen Zeitraum, und ich wage zu behaupten, dass da, hier oder dort, ein kleiner Fehler vorliegt. Booklet Seite 5, unten linke Spalte:

Doch zurück ins Salzburg des Jahres 1773. Gleich im Frühjahr komponiete Mozart sein erstes eigenhändiges Konzert, das Konzert KV 207 in B-Dur für Violine. Es figuriert chronologisch falsch im Köchelverzeichnis, steht hinter den später entstandenen Konzerten für Klavier KV 175, Fagott KV 191 und dem Concertone KV 190, da sowohl Vater als auch Sohn an den ursprünglichen Datierungen manipuliert haben, so auch bei den Autographen der vier folgenden Konzerte, die wohl alle in einer Tour de force zwischen Juni und Dezember 1775 komponiert wurden.

Dann spricht Goebel vom Gebrauch „kriminaltechnischen Methoden“, die bei der Ermittlung der Datierung zur Seite standen. Da strecke ich die Waffen…

… zwischen Juni und Dezember 1775…, ja, wenn ich mit dem KV 211 beginne, aber da gerade von dem KV 207 die Rede war – da schien doch der 14. April 1773 gesichert – nach Wikipedia und wohl auch nach Goebel („Frühjahr“).

Worum es mir geht – und wo ich genau das lernen will, was Goebel so plausibei entwickelt, und was bei mir unter dem Stichwort Entwicklung der „Ereignisdichte“ haften blieb, das finde ich im Booklet ab Seite 7 rechte Spalte und betrifft die Anlage der Kopfsätze . . . – „ein wenig bieder noch im Konzert KV 211, stets riskanter, übermütiger und buffonesker dann in den Folgewerken.“ Ja ! wunderbar !

Aber irgendetwas war ja schwer zu begreifen, an der formalen Anlage der Kopfsätze, und Goebel gibt sich alle Mühe, den dramaturgischen (!) Aufbau dieser Sätze plausibel zu machen, nicht ohne die üblichen Fehlversuche zu brandmarken. Ich zitiere:

Um die formale Anlage dieser Sätze hat man lange weniger gerungen als vielmehr herumgeredet, entziehen sie sich doch aufgrund ihrer Kleinteiligkeit der klassischen Sonatensatz-Diskussion und dem damit verbundenen Wortschatz. Konrad Küster wies 1991 darauf hin, dass in einzelnen Bravour-Arien des Mailändere Lucio Silla aus dem Jahr 1772 das dem Wort der Dichtung verpflichtet folgende Form-Vorbild der Violinkonzert-Kopfsätze zu finden sei. Atmosphärisch war dieser repräsentative, darstellende, ja fast poykinetische Bühnen-Gestus wohlbekannt, aber anstatt ihn „auszuspielen“, wurde lange Zeit alles daran getan, dem zerklüfteten Material Glätte und Klassizität nicht nur einzuhauchen, sondern mit Gewalt aufzuoktroyieren: eine Quadratur des Kreises, die zu den wunderlichsten Verspannungen geführt hat.

Bezeichnet man Vivaldis Opern-Arien als gesungene Violinkonzerte, so sind Mozarts Violinkonzerte also „gegeigte Szenen“, die ein deutlich anderes Verhältnis zwischen Solist und Orchester fordern, als es beim „echten“ Violinkonzert der Fall ist. Im „solistischen“ Idealfall kann ohne Punkt und Komma durchgefiedelt und das Accompagnement von allenfalls zwei Violinen ohne Viola und Basso, geschweige denn Blasinstrument bis zur völligen Unhörbarkeit zurückgedrängt werden. Hingegen muss es selbst in den vokalen Hauptteilen einer Arie kurze, wohlgemerkt gesungene Ruhestellen geben, in denen das Orchester thematische Aktivität übernimmt, entfaltet und wieder zurückspielt:  es sind also immer wieder meist zweitaktige Einschübe mit Rollentausch zu finden. Ökonomischer und kunstvoller noch ist bisweilen die lang ausgehaltene Note, die mit einem messe di voce bzw. einem Triller verziert gleich zum Ereignis, vor allem aber auch zum Einstiegspunkt von höchstem dramaturgischen Effekt ist.

Autor: Reinhard Goebel im Booklet zu „MOZART 6 Concerti per il Violino“ mit Mirijam Contzen und der Bayerischen Kammerphilharmonie. OEHMS CLASSICS OC 862

Machen Sie die Probe aufs Exempel: die Oper „Lucio Silla“, und  daraus eine groß angelegte Sopran-Arie, die derartig von Leidenschaft und wechselnden Affekten überquillt, dass man kaum der Idee nachgehen mag, dass sie als Vorbild eines Konzertes für die feinsinnige Geige dienen könnte. Aber wieso eigentlich nicht? Wenn ein ganzes Orchester ihr Schützenhilfe leistet und im steten Wechselspiel die lebhaftesten Phantasien entfesselt. Hören Sie von 9:20 bis 16:40 und denken Sie sich eine durchdringende, aber edle Violine im Vordergrund, die alle hören wollen, weil sie wirklich etwas zu sagen hat… Nicht um die Lautstärke geht es, – es geht um Ereignisdichte.

Und dann hören Sie bitte in das Violinkonzert  KV 211, danach wieder die Arie, anschließend das Violinkonzert KV 218. Erkennen Sie, wie das vielteilige Gewebe entsteht und wächst?

Zu allem Überfluss muss ich noch zwei weitere Aufnahme heranziehen, mit dem (für mich unvergesslichen) Andrew Manze (2006), den ich an anderer Stelle schon ausgiebig gewürdigt habe, und mit der wahrhaftig unvergleichlichen Geigerin Isabelle Faust (2016). Obwohl ich keinen Augenblick versucht bin, ihr zuliebe das Mozartspiel von Mirijam Contzen zurückzustufen.

Was mich an der CD von vornherein besticht, ist die Beteiligung eines kompetenten Geistes, der in diesem Fall auch verantwortlich für die Kadenzen zeichnet, nämlich Andreas Staier. Bei Mirijam Contzen finde ich keinerlei Hinweis, – soll das heißen, dass sie selbst tätig wurde? Das wäre erstaunlich. Darüberhinaus gibt es hier auch einen in aller Kürze (!) lesenswerten und zuverlässigen Text von Florence Badol-Bertrand.

Andrew Manze

Kostümkunde mit Verdi

Nicht ganz ohne Kostümzwang…

https://www.arte.tv/de/videos/120902-001-A/giuseppe-verdi-don-carlo/ hier ab 1:52:00 bzw. 1:44:00 (abrufbar bis 28.12.24)

Wenn ich mich nicht irre, sind 60 Jahre vergangen, seit ich bei meiner Freundin eine ihrer Lieblingsschallpatten hören musste oder durfte – und keinerlei Wirkung verspürte. Da ich nunmal auf Wagner eingeschworen war, hatte ich für Verdi kein offenes Ohr, erst recht nicht – nach dem Monate währenden Tristan – für solchen Gesang: „sie hat mich nie geliebt“. Womöglich angestimmt von Gottlieb Frick. Jahrzehnte später hörte ich den Folkfestival-Regisseur warnen „Kinder, singende Menschen sind nicht schön!“ und dachte „wozu denn auch? Vielleicht nur, wenn man den Ton abdreht.“

Und wiederum Jahrzehnte später hat es mich ausgerechnet an dieser Stelle gepackt, als ich mit Mühe und Ach zumindest die inhaltliche Aufarbeitung bis hier geleistet hatte. Im Überschwang glaubte ich es allein der verhaltenen Interpretation des Sängers zu verdanken: Roberto Tagliavini (Philipp II.).  Oder ich war reif, und es war womöglich die heimlich wachsende Wirkung der seltsamen Inszenierung? Regie: Kirill Serebrennikov.

Ein Mangel der Deutungsandeutungen: nicht der Konsumzwang (! nur für Minderbemittelte !) dürfte gemeint sein, sondern die Unzulänglichkeit jeglichen Charakters, Tragik der Austauschbarkeit der Differenzierung einer Schauspielerindividualität. Die unglaubwürdige Vertauschung der Frauen. Man interessiert sich vergeblich für die nackte Existenz. Keine Wahrheit. Auch die Forderung der „Freiheit“ bleibt hohl. Ebenso in der anderen Sprache, „Libertà“.  Wo bleibt Rodrigo? Etwa in Flandern? Ich sehe ihn nicht einmal sterben.

Mein Missverständnis der Sentenz „Sie hat mich nie geliebt“ bezieht sich nicht auf die gängige Diskrepanz in der unglücklichen Liebe, sondern auf die gesamte Rollenverteilung in der menschlichen Gesellschaft.

Weil dieser Sänger sich nicht, wie früher üblich, zum „hohen“ männlichen Pathos aufschwingt, dem schwarzen, sondern im referierenden Tonfall mit entsprechender Gestik verbleibt, wirkt er so überzeugend.

Daher wirkt auch – rückwirkend – die charmant schmeichlerische Moderation der allzunetten Ansagerin so passend. Auch sie gehört zur Klasse der adäquat Kostümierten. Ergreifend museumsreif, ähnlich wie das zuschauende Pubikum.

Daher wirken auch die „Bu’s“ so deplatziert: Verdis romantische Originalmusik unterstützt den schmerzlich mitleidlosen Blick auf das ganze Geschehen.

mehr hier

Don Carlos

oder Don Carlo? Welcher Text gilt überhaupt?

Aus Schillers „Werken in zwei Bänden“ auf die Verdi-TV-Bühne

Naiv, im Schillerschen Werk nach einem Hinweis zum Anfang der Verdi-Oper zu suchen. Deren Text stammt von Joseph Méry und Camille Du Locle. Weitere Umdeutungen vom Regisseur. Ich kann mich diesbezüglich den lobenden Worten des Pressetextes nicht anschließen.

ARTE TV ZITAT PRESSETEXT

„Für mich erzählt Don Carlo mehr als jede andere Oper über Macht als Antithese zur Freiheit und über all das, was diese Macht verursacht: Unterdrückung, Gewalt, Inhaftierung, Mord.“ So der Regisseur Kirill Serebrennikov. Unter der musikalischen Leitung von Philippe Jordan und einer herausragenden Besetzung verspricht diese Produktion musikalisch wie szenisch Spektakuläres.

Giuseppe Verdis „Don Carlo“ basiert auf Friedrich Schillers Drama „Don Karlos, Infant von Spanien“ (1787) und entfaltet sich in einem komplexen Geflecht aus politischen, religiösen und persönlichen Konflikten. Die Oper spielt im Spanien des 16. Jahrhunderts und beginnt mit der geplanten Hochzeit zwischen Carlo und Elisabetta di Valois, die jedoch durch einen Friedensvertrag vereitelt wird, der Elisabetta zur Braut von Carlos Vater, König Philipp II., macht.
Carlo ist zerrissen zwischen seiner Liebe zu Elisabetta und seiner Loyalität zu seinem Vater. Die Situation wird weiter kompliziert durch die Intrigen der Prinzessin Eboli, die Carlos Liebe begehrt, und die politischen Spannungen zwischen Spanien und Flandern. Rodrigo, Carlos treuer Freund, versucht vergeblich, Frieden zu stiften und Carlos Ideale zu verteidigen.
Die Handlung gipfelt in einem tragischen Finale, das von Verdis kraftvoller Musik und intensiven, emotionalen Konflikten getragen wird. Diese Produktion an der Wiener Staatsoper garantiert durch die Inszenierung von Kirill Serebrennikow und die erstklassige musikalische Leitung von Philippe Jordan eine besonders packende und tiefgründige Interpretation dieses Opernklassikers.

Info zur Inszenierung im Programmheft

Inspiriert von einem Besuch im japanischen Kyoto Costume Institute, bringt Regisseur Kirill Serebrennikov die Handlung von Don Carlo in einen zeitgenössischen Kontext. Denn auch für sein Bühnenbild ließ er sich von diesem Institut inspirieren – werden dort doch Original-Objekte aus allen Epochen und Kulturen aufbewahrt und entsprechend präpariert und gelagert, um sie vor dem Verfall zu schützen.

Die Auseinandersetzung mit dieser Vergänglichkeit öffnete Serebrennikov eine weitere Dimension von Verdis Oper: Das Wissen um die Vergänglichkeit des Menschen, seiner Leidenschaften, seiner Anstrengungen und seiner Taten, den Fluss der Zeit, der merklich oder unmerklich alles von Menschen Gemachte auslöscht und zerstört. Neben diesen beiden Dimensionen – die in ihren Überresten präsente Zeit des 16. Jahrhunderts und die unserer heutigen Gegenwart – gibt es eine dritte Ebene, eine Zwischenzone, in der sich Vergangenheit und Gegenwart vermischen.

Eine wichtige Rolle nimmt in der Inszenierung auch Marquis von Posa ein, die einzige Figur, die historisch nicht belegt ist und die die Aufklärung und den modernen Menschen verkörpert. In Serebrennikovs Inszenierung stellt er einen Aktivisten dar, der die Konsequenzen der Überproduktion und des Überkonsums von Textilien und Kleidung thematisiert.

https://www.arte.tv/de/videos/120902-001-A/giuseppe-verdi-don-carlo/

HIER Musik beginnt um 5:05 Textbuch hier

dtv 31042

Quelle Johannes Jansen Giuseppe Verdi Deutscher Taschenbuch Verlag München 2000 Seite110f

Ich bin 25 Minuten dem Lauf der Wiener Aufführung gefolgt, bis dort, wo sich Carlo und Rodrigo (Posa) in den Ruf „Libertà“ hineinsteigern, und versuche vergeblich, dies in einem der vorgegebenen Texte wiederzufinden. Was ist mit den Fassungen…? Ich halte mich endlich im weiteren an die in Wien ins Netz gestellten Hilfen: hier – dann klicke ich auf „Vollständige Handlung“.

Kaiser Karl V. – einst der mächtigste Herrscher der Welt – legte im Kloster von San Yuste die Insignien seiner Macht nieder, um sein Leben in der Einsamkeit geistlicher Meditation zu beschließen.

Don Carlo, Infant von Spanien, gedenkt im Kloster von San Yuste der glücklichen Begegnung mit der ihm versprochenen französischen Prinzessin Elisabeth in Fontainebleau. Elisabeth wurde dann aber von seinem Vater, König Philipp II., geheiratet, zur Königin und damit zu Carlos Stiefmutter gemacht. Carlo wird von seinem Jugendfreund, dem Marquis von Posa angetroffen, der aus den von den Spaniern unterdrückten flandrischen Provinzen zurückkehrt. Posa überzeugt Don Carlo, als Retter des bedrohten Volkes nach Flandern zu gehen. Philipp und Elisabeth betreten das Kloster, um am Grabmal des vermeintlich gestorbenen Kaisers zu beten.

Ich vermute, dass ich hier etwa beim Abhören (fast) gelandet bin. Und müsste, wenn ich fortfahre, inhaltlich hier zurechtkommen:

In einem Garten unweit des Klosters unterhält die Prinzessin Eboli das Gefolge der Hofdamen mit einem maurischen Lied. Als die Königin erscheint, wird der Marquis von Posa gemeldet. Dem Marquis gelingt es, der Königin heimlich eine Nachricht von Carlo zu überreichen und für ihn eine heimliche Audienz zu erbitten.

Bei 40:32 beginnt die Szene Don Carlo mit Elisabeth.

Allein mit der Königin kann Carlo seine Gefühle nicht länger verbergen. Elisabeth, die den Prinzen immer noch liebt, sich ihrer Pflicht als Königin jedoch bewusst ist, beschwört den Verzweifelten, auf die Erfüllung seiner Liebe zu verzichten.

50:37

Als der König seine Gemahlin ohne Begleitung antrifft, verweist er die dafür verantwortliche Gräfin von Aremberg vom Hofe. Elisabeth nimmt Abschied von der Verbannten. (bis 56:20)

Posa schildert dem Herrscher das Elend des flandrischen Volkes. Philipp, der an der mutigen Sprache Posas Gefallen findet, beschließt, diesen als seinen Vertrauten in seine Nähe zu ziehen, warnt ihn jedoch vor der Macht der Inquisition. (bis 1:08:23)

1:08:50

Don Carlo ist einer Einladung zu einem Rendezvous im königlichen Park von Madrid gefolgt, in der Annahme Elisabeth habe sie ihm geschickt. Als eine Verschleierte naht, bestürmt er sie mit Liebeserklärungen. Zu spät muss er erkennen, dass er der Prinzessin Eboli sein Geheimnis verraten hat. Posa, der hinzutritt, will die gefährliche Mitwisserin zum Schweigen bringen, doch Carlo fällt ihm in den Arm. Die in ihrem Stolz gekränkte Prinzessin schwört Rache. Der Marquis lässt sich von seinem Freund alle ihn gefährdenden politischen Briefe aushändigen.

1:24:25 DIE STUNDE HAT GESCHLAGEN

Vor der Kathedrale von Madrid hat sich eine große Menschenmenge versammelt, um einem Autodafé, der öffentlichen Hinrichtung der von der Inquisition verurteilten Ketzer, beizuwohnen. An der Spitze einer flandrischen Deputation tritt Don Carlo dem König entgegen, um von ihm die Regentschaft in den unterjochten Provinzen zu fordern. Als der König dieses Ansinnen zurückweist, zieht der vom Zorn übermannte Prinz seinen Degen. Keiner der Großen des Reiches kommt dem bedrohten Herrscher zu Hilfe, bis Posa den Freund entwaffnet und daraufhin von Philipp zum Herzog erhoben wird. Das Autodafé nimmt seinen Fortgang. Die Flammen des Scheiterhaufens lodern empor, während eine Stimme vom Himmel den Opfern ewigen Frieden verheißt.

1:44:20 PAUSE Sprecherin erläutert des Konzept der Regie / ab 1:45:28 Gespräch mit dem Dirigenten Philippe Jordan über die Musik Verdis.

1:52:00 Fortsetzung (beginnt mit König Philipp – Roberto Tagliavini ! – „…sie hat mich nie geliebt“).

König Philipp beklagt die Einsamkeit und Bürde seines Amtes. Im Zwiespalt seines Gewissens sucht er Rat bei dem blinden Großinquisitor. Dieser bestärkt ihn in der Absicht, den Aufruhr des Infanten mit äußerster Härte zu bestrafen, fordert aber seinerseits das Leben des Marquis von Posa, den er der Freigeisterei verdächtigt. Philipp wehrt sich zunächst, unterwirft sich aber letztlich der Macht der Kirche.

Die Königin führt lebhafte Beschwerde bei ihrem Gemahl über die Entwendung ihrer Schmuckschatulle und findet diese auf dem Schreibtisch des Königs. Als Philipp die Schatulle öffnet und das Portrait des Infanten darin entdeckt, bezichtigt er die Gattin des Ehebruchs. Um der in Ohnmacht Niedergesunkenen beizustehen, eilen die Prinzessin Eboli und der Marquis von Posa herbei. Allein mit der Königin gesteht die Prinzessin ihren Verrat an Carlo und ihre heimliche Liaison mit dem König. Sie wird von Elisabeth in ein Kloster verbannt.

2:28:55

Posa sucht den gefangenen Infanten im Kerker auf, um ihm seine Handlungen zu erklären und von ihm Abschied zu nehmen. Mit Hilfe der ihm überlassenen Briefe hat er jeden Verdacht der Konspiration mit Flandern von Carlo auf sich abgelenkt, um dem Freund die Möglichkeit zu geben, als künftiger König den unterdrückten Völkern einst zu ihrem Lebensrecht zu verhelfen.

Ein Schuss aus dem Hinterhalt trifft den Marquis in den Rücken, sterbend verweist er den Freund an die Königin, die den Wunsch hat, Carlo ein letztes Mal zu sehen. Der König betritt den Kerker, um seinem Sohn den Degen zurückzugeben. Carlo klagt ihn als Mörder seines Freundes an. Das empörte Volk fordert die Befreiung des Infanten. Als es sich rebellierend gegen den König wendet, legt sich der greise Großinquisitor ins Mittel. Vor seiner Drohung sinkt das Volk in die Knie.

2:43:40

Im Kloster von San Yuste erwartet die Königin den Infanten, der nach Flandern aufbrechen wird, zu einem letzten Lebewohl. Die beiden Liebenden entsagen jeder Erfüllung ihrer Liebe. Der König und der Großinquisitor treten hinzu. Als die Schergen der Inquisition Hand an den Prinzen legen wollen, entzieht ein geheimnisvoller Mönch, dessen Stimme an die des abgeschiedenen Kaisers gemahnt, Don Carlo seinen Verfolgern.

3:08:00 Ende + Beifall („Allegorie der Freiheit“)

*     *     *

Turandot HIER an anderer Stelle

Locatelli: Il pianto d’Arianna

Versuch eines Zugangs

Wikipedia L’Arianna hier

Youtube Isabelle Faust hier / Igor Ruhadse hier

Mela Tenenbaum ? Um noch eine andere Art der Interpretation vorweg kennenzulernen und den Noten glauben, dass wirklich in der hohen Oktave gespielt werden soll…

Isabelle Faust

Tr.8 Andante – Allegro – Adagio – Andante – Allegro / Tr.9 Largo – 10 Largo Andante – 11 Grave – 12 Allegro – 13 Largo

folgende Anmerkungen 2, 3, 4, 5, 6 und 7 (mit Bezug auf oben Tr.8 bis Tr.13 zu lesen)

Zur Vorgeschichte des Lamentos überhaupt: „Lamento d’Arianna“ hier (Monteverdi)

Les Arts Florissants, Paul Agnew

Lamento d’Arianna
Italian source: Ottavio Rinuccini

PRIMA PARTE
Lasciatemi morire!
E che volete voi che mi conforte
In così dura sorte,
In così gran martire?
Lasciatemi morire!

SECONDA PARTE
O Teseo, O Teseo mio,
Si, che mio ti vo‘ dir, che mio pur sei,
Benchè t’involi, ahi crudo, a gli occhi miei
Volgiti, Teseo mio,
Volgiti, Teseo, O Dio!
Volgiti indietro a rimirar colei
Che lasciato ha per te la Patria e il Regno,
E in queste arene ancora,
Cibo di fere dispietate é crude,
Lascierà l’ossa ignude.
O Teseo, O Teseo mio,
Se tu sapessi, O Dio!
Se tu sapessi, ohimè, come s’affanna
La povera Arianna, forse pentito
Rivolgeresti ancor la prora al lito:
Ma con l’aure serene
Tu te ne vai felice et io quì piango.
A te prepara Atene
Liete pompe superbe,
Ed io rimango
Cibo di fere in solitarie arene.
Te l’uno e l’altro tuo vecchio parente
Stringeran lieti, ed io
Più non vedrovvi,
O Madre, O Padre mio!

TERZA PARTE
Dove, dov’è la fede
Che tanto mi giuravi?
Così ne l’alta fede
Tu mi ripon degl’Avi?
Son queste le corone
Onde m’adorni il crine?
Questi gli scettri sono,
Queste le gemme e gl’ori?
Lasciarmi in abbandono
A fera che mi strazi e mi divori?
Ah Teseo, ah Teseo mio,
Lascierai tu morire
Invan piangendo, invan gridando aita,
La misera Arianna
Ch’a te fidossi e ti diè gloria e vita?

QUARTA PARTE
Ahi, che non pur rispondi!
Ahi, che più d’aspe è sordo a‘ miei lamenti!
O nembri, O turbi, O venti,
Sommergetelo voi dentr’a quell’onde!
Correte, orche e balene,
E delle membra immonde
Empiete le voragini profonde!
Che parlo, ahi, che vaneggio?
Misera, oimè, che chieggio?
O Teseo, O Teseo mio,
Non son, non son quell’io,
Non son quell’io che ì feri detti sciolse;
Parlò l’affanno mio, parlò il dolore,
Parlò la lingua, sì, ma non già il core.
Misera! Ancor dò loco a la tradita speme?
E non si spegne,
Fra tanto scherno ancor, d’amor
Il foco spegni tu morte, omai, le fiamme indegne!
O Madre, O Padre,
O dell’antico Regno superbi alberghi,
Ov’ebbi d’or la cuna,
O servi, O fidi amici (ahi fato indegno!)
Mirate ove m’ha scort’empia fortuna,
Mirate di che duol m’ha fatto herede
L’amor mio, la mia fede,
E l’altrui inganno,
Così va chi tropp’ama e troppo crede.

ZEN als Verwandlung

Sehr alte Geschichten

Einerseits will ich nicht meine frühe 1960er-Zeit aufwärmen, mit den damals verschlungenen Werken von Alan W. Watts über Zen-Buddhismus (rde) und „Mann und Frau“ (Dumont), andererseits endet der Anreiz von Zen auch heute nicht, wenn ausgewiesene Denker dahinterstehen und ihn in ihre Philosophie einschließen, wie Byung-Chul Han, der im westlichen „System“ gleichermaßen zu Hause ist.

Als ich 2008 auf dem durchaus westlichen Wege Rüdiger Safranki las, seine bewunderswert ausführliche Antwort auf die Frage „Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?“, freute ich mich über eine mir aus der „asiatischen Philosophie“ bekannte Geschichte, mit der er ein chinesisches Bild vor Augen führte. Oder gerade nicht vor Augen: nach wie vor war es mir einfach genug, von dem Bild nur zu hören.

Rüdiger Safranski

Woher er die Geschichte hatte, blieb also im Dunklen. Jetzt – plötzlich und unerwartet – wurde ich auf diesen Seitenweg zurückgeführt: durch die Klinik-Lektüre des Reclam-Büchleins von Byung-Chul Han! Darüberhinaus gemahnt an die Aufführung eines japanischen Noh-Spiels in der Kölner Philharmonie, und – Koinzidenz der Erinnerungsphänomene – durch die Mail eines getreuen WDR-Mitarbeiters, der gerade eine Gedenksendung anderer Thematik im WDR gehört hatte. Er hat selbst zum Thema Japan ungezählte luzide Radio-Sendungen gemacht, die – nicht nur – meinen Horizont erweiterten, auch den eines spezifisch interessierten Publikums, und so die Neugier auf ferne Welten weckten oder wachhielten. Und nun war alles wieder da! Ich las:

in das gemalte Bild hinein«.

Ich las also Byung-Chul Han’s „Philosophie des Zen-Buddhismus“ und darin den Hinweis auf das chinesische Bild (oder ein anderes, ähnliches) und die Wendung zum japanischen Noh-Spiel.

Ein Kreis war geschlossen. Zufällig mein letztes Jahr im WDR, ein Abend des Jahres 2005. Die unglaubliche Atmosphäre in der Kölner Philharmonie, die (nicht einmal) knisternde Stille, ein hörbares Nichts, ein atemloses Publikum, so hatte ich das noch nie erlebt (ausgenommen vielleicht in wenigen Quartett-Konzerten). Alldies mochte ich evozieren und durch Wissen vertiefen. Anhand eines einzigen großen Stückes IZUTSU und eines instruktiven Filmes, den das WDR-Fernsehen (Lothar Mattner) im Vorfeld produziert und gesendet hat. Hier ist er:

Heinz-Dieter Reese im Nachspann

Mehr über den Autor des Filmes Thomas Schmelzer hier. Mystica TV (?). Zur Diskussion…

https://de.wikipedia.org/wiki/Izutsu_(N%C5%8D) hier (Wikipedia über das Noh-Stück „Izutsu“)

https://www.youtube.com/@nohtheatreexplained8410 hier (Übersicht über die Reihe, in der das folgende Stück vorkommt)

Folgt: die Aufführung in der Kölner Philharmonie (Informelle Aufzeichnung, copyright-geschützt)

Weitere Daten zur Aufführung in Köln von Heinz-Dieter Reese:

Phil-Ankundigung  28|10 Freitag 20:00 Uhr
Zwischen Traum und Wirklichkeit
Japanisches Nô-Theater mit dem Ensemble
der UMEWAKA KENNÔKAI FOUNDATION

NohPRGHEFT  Freitag 28. Oktober 2005 20:00
Die Aufführung wird vom Westdeutschen Rundfunk für den
Hörfunk aufgezeichnet und am Sonntag, 12. Februar 2006,
20:05 Uhr auf WDR3 gesendet.

WDR3Buehne Radio06-02-12   Bühne: Radio 12.02.2006
Konnichi wa, Japan
Zwischen Traum und Wirklichkeit:
Nô- und Kyôgen-Theater mit dem Ensemble der Umewaka Kennôkai
Aufnahme vom 28. Oktober 2005 aus der Kölner Philharmonie
vorgestellt von Heinz-Dieter Reese

Die Realisation im Radio

Zugang zum Skript der Radiosendung von Heinz-Dieter Reese, mit der freundlichen Erlaubnis des Autors:

NO Reese WDR3BR120206_Ms

„In Japan wird das Singen im Nô-Theater gelegentlich mit unaru, mit Brummen bezeichnet. Dem liegt eine durchaus zutreffende Beobachtung zugrunde. Der Nô-Sänger achtet bei seinem Vortrag darauf, dass die komplexen Obertöne der Stimme im gesamten Körper resonieren. Dadurch wird die simple Melodik durch vielfältige Klangfarben bereichert. Es entstehen klare, helle Töne, dann wieder getrübte, dunkle Töne, die bald kräftig, bald weich erscheinen. So werden die szenische Atmosphäre, aber auch die verborgenen Gedanken und Gefühle der Figuren zum Ausdruck gebracht. Und das gilt für den Solo wie den Chorgesang.“

Mail-Mitteilung (15.11.2023) Heinz-Dieter Reese:

Zum Noh-Spiel  “Izutsu” finden Sie auf meinem Kanal auch noch eine historische und eindrucksvolle professionelle Aufnahme (des NHK) mit dem legendären KANZE Hisao aus den 1970er Jahren, die ich komplett deutsch untertitelt habe:

https://youtu.be/LCtxXKYD96M  hier

*     *     *

Zurück zu Byung-Chul Han, anknüpfend an seine Bemerkungen zur chinesischen Landschaft:

https://de.wikipedia.org/wiki/Chinesische_Malerei hier

https://www.wikidata.org/wiki/Q11638255  hier Wer ist Kōichi Tsujimura? (s.u. pdf)

https://terebess.hu/zen/mesterek/TsujimuraKoichi.html  hier

https://en.wikipedia.org/wiki/Henry_Pike_Bowie  hier

Henry Pike Bowie’s Werk „ON THE LAWS OF JAPANESE PAINTING“ (1911) Gutenberg hier

https://leopard.tu-braunschweig.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbbs_derivate_00031277/Tsujimura_Yue-chiens_Landschaftsbild.pdf hier / Zitat:

Zeit Raum

Ergänzung zu Parsifal hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Satz_vom_zureichenden_Grund hier

Schopenhauer: hier

Allgemein genommen besagt der Satz vom zureichenden Grunde, daß nichts ohne Grund ist, warum es sei oder auch, daß immer und überall Jegliches nur vermöge eines Andern ist… Mit einer treffenden Metapher gibt Schopenhauer dem Satz vom Grunde eine vierfache Wurzel.

(1) Dem Satz vom zureichenden Grunde des  Seins , d. h. von der Aufeinanderfolge der Zeit oder dem Nebeneinandersein im Raum folgt das

(2) Kausalitätsgesetz oder der Satz vom Grunde des  Werdens , d. h. von den Veränderungen, die in der Zeit eintreten und einander bestimmen, weiter, als drittes,

(3) das Motivations-Gesetz, das Gesetz vom zureichenden Grunde des Handelns , der die ganze Reihe der überlegten Handlungen erklärt, d. h. der Handlungen, die mit klarem Bewußtsein eines verfolgten Zieles und der zu seiner Erreichung gebrauchten Mittel ausgeführt werden, und schließlich, als viertes,

(4) das Prinzip der  Erkenntnis, das die vorangegangenen voraussetzt und umfaßt. *

RELIGION bei Wagner HIER

„Fragt ihr, was die Erkenntnis des Verfalles der Menschheit nützen soll, so fragt die wahrhaft großen Dichter aller Zeiten; fragt die Gründer wahrhafter Religionen“, schreibt Wagner und verweist auf Goethe und Schopenhauer. Er stellt dann erneut die Frage nach der „Regeneration“ eines der „Kriegs-Zivilisation“ verfallenen Menschengeschlechtes und wirbt vehement für die Ideen Schopenhauers, der Wege zur Umkehr des fehlgeleiteten Willens aufgezeigt hätte. Der richtige Weg sei zu finden, wenn man erkenne, dass die ganze Zivilisation aus Mangel an Liebe zugrunde geht und diese Lieblosigkeit der Welt als ihr eigentliches Leiden verständlich gemacht werden müsse. Verstehen aber hieße: Mitleiden, um dadurch das Leiden des Anderen mindern zu können. Dieses Verständnis könne die Musik fördern, in dem sie Gefühle und das Gemüt ansprechen könne.“

Eilige Bayreuth Notizen 2023

Parsifal Mediathek bis 23.08.2023 / auf BR bis 31.Dezember 2023

im Wohnzimmer: Doppelt verminderte Realität

Ich denke zurück an die Realität des Filmes über die Amzari-Sängerin

… an die ZEIT-Lektüre:

Auch Wagner hätte, angesichts des ungeheuerlichen Potentials von AR, VR (Virtual Reality) und KI (künstlicher Intelligenz), wohl keinen Parsifal geschrieben, der fünf Stunden lang um die Leerstelle des Weiblichen kreist und in dem Frauen nur als verdammte Verführerinnen oder notdürftig geläuterte Kräuterhexen vorkommen; kein Musikdrama, in dem es so pseudoliturgisch-kunstreligiös-buddhistisch-hinduistisch-alchemistisch wallt und wabert, dass man kaum den Plot mitkriegt: die Geschichte des Schwanentöters und Erlösers Parsifal, der durch Kundrys Kuss »welthellsichtig« wird und erkennt, dass es Amfortas, dem Gralskönig, und seinen siechen Rittern weniger an Energie gebricht oder an esoterischen Kraftquellen als an Menschlichkeit und Mitleid.

Christine Lemke-Matwey

Im Wohnzimmer (unter des Miniatur-Beethovens Aufsicht):

Am Schreibtisch mit Computer: Musik im Höreindruck viel besser („Reduced Reality“)

Wie wär’s mit Parsifal im Handy? Etwa als Bußübung.

Hier Mediathek Gesamtaufführung bis 23.08.23

BR Hier bis 31.12.23

Weiteres zur Aufführung hier zu Augmented Reality hier

Inhaltsangabe lesen: Inakzeptables von vornherein – „im Kampf gegen den abtrünnigen Ritter Klingsor, der trotz seines Verlangens nach Heiligkeit nicht fähig war, ein reines Leben zu führen und sich deshalb selbst entmannte und eine Zauberburg geschaffen hat, den heiligen Speer verloren, als er sich von der dämonischen Kundry verführen ließ.“

Zwischen den Akten 1. Pausengespräch mit Jay Scheib 2. mit Sängerin der Kundry Elina Garanca

Gralsritter: „Gemeinschaft der Kobaltminenarbeiter“ siehe Anfang 1.Pausengespräch  mit Jay Scheib

Kobaltbergbau

Stichwort: „Coltan“ Jean Ziegler

Milo Rau Ausbeutung hier

Zu Wagners Vorstellungen über „Kunstreligion“ im Zusammenhang mit „Parsifal“ siehe HIER

ZEIT-Lektüre:

Die eigentliche Hypothek der Aufführung aber liegt, man staune, in der erschwerten Zugänglichkeit der Musik. Die Sinne sind an diesem Abend schlicht überfordert. Und so schiebt sich das Auge vors Ohr. Das mag eine Frage der Übung und der Erfahrung sein. Aber geht so Immersion? Entspricht das Wagner?

Christine Lemke-Matwey

Quelle DIE ZEIT 27. Juli 2023 Seite 39: PARSIFAL / Mit Brille sieht man doppelt: In Bayreuth wird Richard Wagners letztes Werk jetzt digital erweitert – Revolution oder Budenzauber? Von Christine Lemke-Matwey

Den Wagnerverächtern ins Stammbuch – die gewaltigste Stelle des Werkes (s.o.): Mediathek ab 1:04:39 / BR ab 01:00:22

der meistzitierte Satz: „Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“.

Der größere Text-Zusammenhang und die Motiv-Tafel:

Quelle: Richard Wagners MUSIKDRAMEN Sämtliche komponierten Bühnendichtungen / durchgesehen, mit den ursprünglichen Fassungen verglichen, mit Einleitungen sowie den hauptsächlichsten Motiven und Notenbeispielen versehen, nebst einem Vorwort, einem Anhang und einer Zeittafel aus Wagners Leben herausgegeben von Edmund E.F. Kühn / Globus Verlag G.m.b.H., Berlin W 66 / 1914 / JR Berlin 7.7.1960

Man muss zum Verständnis eigentlich keine Esoterik bemühen, auch nicht in kühnem Vorgriff auf Einstein dessen Relativitätstheorie beschwören, sondern vielleicht dasselbe tun wie Wagner, der sich an die Philosophie hielt, schon seit 1854, als er auf dem Weg zum „Tristan“ Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ viermal hintereinander las. Wir lesen den hier wiedergegebenen Dramentext, auch das Kleingedruckte: wie die beiden Protagonisten zu schreiten scheinen (!), „verwandelt sich die Bühne von links nach rechts hin in unmerklicher Weise: es verschwindet der Wald; in Felsenwänden öffnet sich ein Tor, welches nun die beiden einschließt; dann wieder werden sie in aufsteigenden Gängen sichtbar, welche sie zu durchschreiten scheinen“ (!). Verwandlung auch in der Musik, Chromatik („Heilandsklage“), Modulation, Diatonik, das feierliche Schreiten, das Glockenläuten, schließlich folgt der Ritus, den man in der katholischen Kirche Wandlung nennt. Und wir suchen Ähnliches in dem faszinierenden Text, der uns die Grundbedingungen unseres Bewusstseins und unserer Begriffsbildung zu erschließen scheint (!):

Quelle Arthur Schopenhauer: Werke in zwei Bänden Bandt 1 Herausgegeben von Werner Brede

Es kann nicht schaden, damit noch lange fortzufahren. Dann Musik mit verwandelten Ohren zu hören. Oder zu warten, bis man den zerschmetterten Kobaltblock zu Parsifals Füßen erlebt hat, den grünen Tümpel, den sie durchwaten, und Wagners Ideen von Erlösung beiseitezuwischen. Bayreuther Publikum strömt heraus. Die trostlose Erde hat uns wieder!

Begeisterndes aus Stuttgart

Saint François d’Assise

von Olivier Messiaen
Rezension von Roland H. Dippel in NMZ hier
ZITAT

Es stimmt nicht, dass das Publikum bei extrem langen Aufführungen generell schlappmacht. Das beweist neben den Bayreuther Festspiele und den Passionsspielen Oberammergau jetzt auch die Staatsoper Stuttgart. Die Neuinszenierung von Olivier Messiaens Jahrhundert-Heiligenoper „Saint François d’Assise“ dauert acht Stunden, inbegriffen die Wanderung auf dem Killesberg und die Vogelpredigt unter freiem Himmel mit echten Vogelstimmen-Interventionen. Anna-Sophie Mahler distanziert sich vom katholischen Mysterienspiel und rückt Messiaens spirituelle Schärfe in den Vordergrund. Großer Jubel für alle.

Theaterapplaus

Ist das „Buh“ eine ernstzunehmende Reaktion?

Es ist bestimmt originell, einen solchen Zeitungsartikel zu schreiben, – aber will man ihn auch lesen? Ich habe das authentische Buhen nur ein ein- oder zweimal miterlebt (ich bin nicht der typische Opernbesucher), vor Jahrzehnten in Köln: wie dieselben Herrschaften, die an der Garderobe ihre Schuhe wechselten, nachher einen armen Tropf von Tenor, der einige hohe Töne nicht mühelos geschafft hatte, mit diesem Urlaut schmähten. Er tat mir leid. Aber auch die Opernbesucher:innen. Es erinnerte mich an Berlin, an die Uraufführung von Schönbergs „Moses und Aron“, Hermann Scherchen hielt dem Publikum eine Standpauke, – und ich war sicher, die Buhs galten nicht der Oper an sich, sondern allein dem „Tanz ums Goldene Kalb“ und dabei nur der Tatsache, dass die Ausführenden nackt waren oder zu sein schienen, ein offen demonstrierter Sittenverfall. Ende der 50er Jahre, nein, 1960. Ich war begeistert. Doch das typische Opernpublikum ist eben anders (wir andern sind tumber, nein, viel zu etepetete), – unvorstellbar, dass ein Streichquartett ausgebuht wird. (Der Eclat mit dem Cembalisten Esfahani in Köln – das galt seinen Worten, dem Erklärenwollen Neuer Musik und einem Konglomerat von Missverständnissen.)

Was Brembeck über das Buh nach einer Bolero-Aufführung in Madrid schreibt, hat wohl mit dem Dilettantismus der typischen „Bolero-Freunde“ zu tun, die auch unruhig werden, wenn sie erleben, dass es vor und nach dem Adagio des „Concierto d’Aranjuez“ noch andere Sätze gibt. Vermutlich kommt das Buh – genau wie das Bravo – aus dem mediterranen Theaterleben, draußen ist schönes Wetter, kein Zufall, dass die im Artikel erwähnte Beifallspleite nach Kuijkens Zweitem Brandenburgischen beim Granada-Festival in der Alhambra passierte. Der arme Trompeter. Ich habe das vor Jahren woanders, aber bei demselben Stück erlebt (in Aachen) und beim Schluss-Chor des Weihnachts-Oratoriums – ich glaube in Bellinzona – , dass nämlich die lahmen Lippen dieses einen Musikers ein abschließendes Desaster verursachten, das man nie vergisst. Man wollte als Mitwirkender und Ohrenzeuge vor Scham im Bühnenboden versinken. Aber niemand im Saal hätte die Idee goutiert, den Unglücksraben mit Sitzkissen zu bewerfen. Ekelhaft.

Ein Triumph darf nicht misslingen. Wenn doch, sollte er auch nicht bewertet werden. So wenig wie ein Flugzeugabsturz.

Ich vermute, der Rezensent hat das Buh so allgemein zum Thema gemacht, um sich nicht von völlig inakzeptablen Geniestreichen distanzieren zu müssen. Er meint, der Protest sei in jedem Fall produktiv, jedenfalls immer geeignet, ein verschnarchtes Publikum aufzurütteln und die mutigen Regie-Täter durch Zurufe zu markieren. Ja, es ist richtig, das liegt nur

daran, dass deren in der Oper gängigen Abweichungen von den Regieanweisungen der alten Stücke sofort ins Auge stechen. Fast schon Randale gab es, als der Regisseur Jossi Wieler den Protagonisten in Wagners „Siegfried“ das neu geschmiedete Schwert Nothung in einem Klosett abkühlen ließ. Im derzeitigen Bayreuther „Ring“ hat Wotan keinen Speer, er wird genau so wie das Schwert Nothung durch eine Pistole ersetzt, und der Feuerzauber auf eine Kerze reduziert. Auch diese Verbannung lieb gewonnener Utensilien ist manchem ein buhwertes Sakrileg.

Wieso muss man eigentlich die Musik ernstnehmen und in der Substanz unangetastet zur Wirkung bringen, wenn alles andere destruiert wird? Warum darf man nur das musikalische Libido- und Feuer-Pathos nicht deutlicher ironisieren und z.B. mit Sirenengeheul anreichern? Spürt denn niemand sonst in der lammfrommen Herde des Publikums etwas von der satanischen Bedrohung, die vom Orchestergraben ausgeht? Seid ihr noch alle da!? – – – Zurück ins Kasperletheater!

… ach vorüber, Nacht der Liebe

Vom Lohengrin zum Tristan

Meine Assoziationen sind für Außenstehende vielleicht nicht interessant, mich dagegen begleiten sie unentwegt, und für Nahestehende waren sie schon vor 55 Jahren unvermeidlich. Ich beanspruche jedoch weiterhin mildernde Umstände, wenn ich auch die aktuelle ZEIT und das heutige Bayreuth egozentrisch historisierend lese und sehe.

Googeln Sie doch den ganzen Artikel, nachdem Sie den kleinen mittigen Abschnitt gelesen haben, der mit der Titelzeile beginnt. „Die Musik sagt ja alles“. Ich dachte an das, was ich mir bei den letzten Zeilen meiner Schulmusik-Staatsarbeit gedacht habe: dass dort nach dem letzten Liebestod-Akkord die wahre Mystik ihr Werk vollenden könnte, aber sicher nicht in Bayreuth. Oder was auch immer ich gedacht habe. Im Jahre 1967 änderte sich ja gerade die ganze Lebensausrichtung, wie ein Brief erzählt, der in dieser Arbeitskopie damals wieder an mich zurückkam. (Daher die Namen Hans Hickmann und Marius Schneider) .

Die Musik sagt ja alles. Auf dem Papier mag das ein wenig ideenlos wirken, im Zuschauerraum sorgt es (abgesehen von den notorischen Zuspätkommern nach den Pausen und vom kollektiven Klatschen in den Liebestod-Schluss hinein) für enorme Ruhe und Konzentration. Das ist nicht immer leicht auszuhalteb bei Außentemperaturen von bis zu 36 Grad, es wäre aber unfair, dies der Regie anzulasten. (ZEIT Florian Zinnecker)

Immerhin: neben Adorno – Simone de Beauvoir und Sir Galahad

Ja, und dann interessierte mich heute noch, was mir im Lohengrin der frühen Jahre nie aufgefallen war:

In den letzten Takten der Lohengrin-Generalprobe habe Klaus Florian Vogt in der Titelpartie librettogetreu das Wort »Führer« gesungen, zum Missfallen einiger Zuschauer, so wurde berichtet. Die Zeile »Führer-Skandal im Festspielhaus« mag der Zeitung einige Klicks beschert haben, auch wenn die Diskussion um die fragliche Stelle seit Jahrzehnten ergebnislos schwelt. Natürlich ließe sich ein Wagner-Text von 1853 verändern. Aber wo dann damit aufhören? Im Zweifel ist doch das Störgefühl an den fraglichen Stellen weit wichtiger als die Illusion, es gebe zwischen Wagners Weltbild und unserem heutigen nicht wenigstens ein paar kleine Differenzen. (ZEIT Florian Zinnecker)

Das finde ich auch und lese nochmals im Text-Buch nach. Tatsächlich, da spüre ich Differenzen.

Seite 172  Der König und die Edlen (Lohengrin umringend):

O bleib! O zieh uns nicht von dannen! / Des Führers harren deine Mannen!

Seite 174 Lohengrin:

Seht da den Herzog von Brabant! Zum Führer sei er euch ernannt!

Bitte nicht missverstehen! Ebensowenig wie Elsas abschließendes: „Mein Gatte! Mein Gatte!“