Schlagwort-Archive: Byung-Chul Han

Han: Was ist Macht?

Durchbruch in der Strahlentherapie

Der pathetische Untertitel macht nur für mich Sinn: denn dort habe ich heute in der Klinik gesessen. Schier unendliche Wartezeit, die ich durch dieses Büchlein strukturieren wollte, das ich hauptsächlich wegen seiner Handlichkeit gegriffen und in der Jackentasche mitgeführt hatte. Reclam! Vielleicht der dritte Versuch seit 7. Nov. 2014: immer wieder hatte ich die Lektüre wegen Überforderung oder Langeweile aufgegeben. Zu früh, wie ich heute weiß!

Han: Was ist Macht? Reclam Stuttgart 2005

Beim letzten Mal hatte ich etwa bei Seite 30 (ich sehe es an meinen Unterstreichungen) aufgegeben, nachdem Luhmanns Theorie den Gedankengang bestimmt hatte. Hatte ich etwa nicht realisiert, welche Rolle darin Kafka spielt? Heute

verschmolz er mit der Situation: nach der Einnahme eines halben Liters von dem Kontrastgetränk, das mich für Durch-Sichtigkeit in der Röhre des Computer-Tomographen präparieren sollte, saß ich mit 6-7 Personen im engen Wartezimmer, der Rücken (Vorstufe Hexenschuss) tat weh, während ich versuchte, in die Buchstabenwelt, die sich in meiner Hand befand, einzutauchen. Es gelang, sobald der Philosoph sich mit Elias Canetti beschäftigte, dessen Buch „Masse und Macht“ mich jahrelang begleitet hatte (seit 1983). Interessantes Beispiel von der Macht der Katze über die Maus.

Canetti verfügt offensichtlich nur über einen sehr beschränkten Machtbegriff. Er setzt die Macht weitgehend mit Zwang, Unterdrückung und Unterwerfung gleich. So geht die Machtbeziehung über die Beziehung zwischen Katze und Maus nicht hinaus. (…)

Die Macht ist „geräumiger“ als die Gewalt. Und die Gewalt wird zur Macht, wenn sie „sich mehr Zeit lässt“. Die Macht beruht, so gesehen, auf einem Mehr von Raum und Zeit. Beim Katz-und Maus-Spiel hat aber der Raum nur die Enge eines Vorraumes zum Tod. (…)

Todesversessen vergißt Canetti offenbar, daß die Macht nicht einfach nur tötet, sondern vor allem leben läßt.

Han Seite 35 f

Dann zu Nietzsches Auffassung des „Willens zur Macht“, völlig anders als ich bisher gedacht habe, viel komplexer, ich kann nicht glauben, dass es im Nietzsche-Buch von Jaspers (s.u.) auch nur andeutungsweise ähnlich dargestellt war. Dann Foucault.

Dann wieder zuhaus, instinktiver Griff nach einem vergessenen Heft, in dem sich auf Anhieb ein Essay auftut, den ich als Pendant zu Byung-Chul Han’s Nietzsche-Sicht betr. Wille zur Macht herausfordern oder überprüfen kann. (Ich bin voreingenommen, da es in Wikipedia hieß, Heinrich Meier habe zeitlebens eine rechte Position verfochten.)

in mehr davon hier

Wie Han zur Semantik der Macht bei Nietzsche kommt, sieht man im folgenden Text:

Im Gegensatz zur nackten Gewalt kann sich die Macht mit Sinn verbinden. Vermittels ihres semantischen Potentials schreibt sie sich einem Verstehenshorizont ein. Was bedeutet aber Sinn?

selbst thematisch sein. Die Macht wird sich also einem Sinnhorizont einschreiben oder gar einen Sinnhorizont bilden müssen, um den Verstehens- und Handlungsprozeß effektiv steuern zu können. Sie gewinnt nur dann an Stabilität, wenn sie im Lichte des Sinns oder des Sinnvollen erscheint. Darin unterscheidet sie sich von der Gewalt, die deshalb nackt wirkt, weil sie jeden Sinnes entkleidet ist´. Eine nackte Macht gibt es dagegen nicht.

Nietzsche hat gewiß als erster den komplexen Zusammenhang zwischen  Macht und Sinnerzeugung eindringlich formuliert.

Byung-Chul Hang: Was ist Macht a.a.O. Seite 37 f

Man muss dies an Ort und Stelle nachlesen. Ich habe mir die folgenden Seiten geradezu aufdringlich markiert. Zum Auswendig-Lernen gewissermaßen. Danach folgt auf Seite 40 Han’s Statement:

Der Sinn ist Nietzsche zufolge kein zu nichts gedrängtes Es-ist-so, kein So-sein-der-Welt und der Dinge, das in einer interesselosen Anschauung nur zu entdecken wäre. Beruhte der Sinn auf dem So-sein und nicht auf dem Besitz oder der Herrschaft, so wäre der Namensgeber kein Machthaber, sondern ein Sehender oder Hörender. Nietzsches Monismus der Macht nimmt den Dingen jedes So-sein. Der fehlende Wille zur Macht führte zu einer Sinnleere. (…)

Macht stiftet Bedeutsamkeit.

Mein Fehler lag darin, Nietzsches Formel vorschnell als kryptisch-politische Diagnose im Sinne Macchiavellis zu verstehen, statt ihr „Verständnis“ ständig zu revidieren. Kindisch, – das kommt, wenn man Nietzsche in früher Jugend zu lesen beginnt und es nicht schafft, beizeiten zu Schopenhauer und weiter zu Kant zurückzugehen, um sich methodische Zusammenhänge zu erschließen. Damals gab es noch keinen Byung-Chul Han…

Für wenig Geld erstanden in der „Brockensammlung“ zu Bethel. Der Lehrer Gutberlet, bei dem wir Religion hatten, kommentierte: „Gut, Reichow, mit Schopenhauer kann man anfangen.“ Ich war beleidigt, denn seine Religionsthemen waren durchaus nicht mein eigentliches Ziel.

Im Nietzsche-Buch von  Jaspers hätte ich schon frühzeitig (1965) auf den „richtigen“ Weg kommen können. Letztlich war ich aber noch nicht reif dafür, ich musste mich – wie hier – erst von einer anderen Seite nähern. Siehe dort ab Seite 272 („Die Auslegung der Welt als Erscheinung des Willens zur Macht“). Kopieren!

(Satz vom Grund: Wikipedia hier) incl. Schopenhauers Interpretation

(Satz vom Widerspruch: Wikipedia hier)

  

   

Quelle Karl Jaspers: Nietzsche / Einführung in das Verständnis seiner Philosophierens / Verlag Walter de Gruyters & Co. Berlin und Leipzig 1936

Computerspiele u.ä.

Ein philosophisches Thema?

Ich habe eine Abneigung gegen Computerspiele, vielleicht sogar gegen Spiele überhaupt. Hauptgrund: Zeitverlust, ohne erkennbaren immateriellen Gewinn. Damit bin ich zufrieden…  und werde erst stutzig, wenn ich höre, dass andere womöglich das Klavierspielen als überflüssig bewerten. Ein irritierender Gedanke. Der Hinweis auf den Ernst des Spiels läge auf der Hand, ist aber kein Argument.

https://de.wikipedia.org/wiki/Computerspiel hier

Daniel Martin Feige:

https://media.suhrkamp.de/mediadelivery/asset/755c720198454b66abad0fa507d130db/computerspiele_9783518297605_leseprobe.pdf?contentdisposition=inline HIER

Auszug:

Mit Computerspielen ist ein neues ästhetisches Medium entstanden – und die Geburt ästhetischer Medien ist seit jeher von kritischen Stimmen begleitet worden, denen der kulturelle Wandel, der mit diesen Medien einhergeht, nicht geheuer war. Schon bei der Erfindung der Fotografie und des Films wurde der Untergang des Abendlandes ausgerufen. Natürlich lässt sich aus dieser Beobachtung nicht schon eine Apologie des Computerspiels stricken. Damit würde man einer Gleichsetzung des Ungleichen das Wort reden, insofern historische Genesen unterschiedlicher ästhetischer Medien keineswegs bloße Variationen eines letztlich identischen Vorgangs sind. Eine Analogisierung kann aber zumindest den Blick dafür schärfen, kritische Reaktionen gegenüber Computerspielen vorgängig ins rechte Licht zu rücken und sich von pauschalen Verurteilungen dieses Mediums freizumachen, wie sie etwa für die unsägliche, weil von jeglicher Kenntnis des Gegenstands freie Diskussion um so genannte »Killerspiele« charakteristisch sind. Es kann, kurz gesagt, nicht darum gehen, das Computerspiel als solches und das heißt alle Computerspiele entweder als Ausdruck einer defekten Lebensform oder als wertvoll anzusehen. Denn offensichtlich sind Computerspiele sehr unterschiedlich und können zudem in ausgesprochen unterschiedlichen Hinsichten als misslungen oder gelungen, als förderlich oder schädlich angesehen werden.

– – – – – –

Das Buch unternimmt somit den Versuch, aus der Perspektive der philosophischen Ästhetik zu explizieren, was für Computerspiele wesentlich ist. In diesem Sinne konkurriert oder konvergiert es in seinen Thesen nur dort mit Beiträgen der Game Studies, wo diese explizit oder implizit als philosophische Thesen zu Fragen der Ästhetik oder Kunstphilosophie gelesen werden können. Das wirft die Frage auf, was eine philosophische Beschäftigung mit Computerspielen von anderen Arten der Beschäftigung mit Computerspielen und damit auch von denjenigen Beiträgen der Game Studies, die keine philosophischen Thesen entwickeln, unterscheidet. Die Antwort darauf lautet kurz und bündig: Einer philosophischen Analyse des Computerspiels in seiner ästhetischen Eigenart geht es um eine reflexive Klärung der für unser Verständnis dieser ästhetischen Eigenart unverzichtbaren Grundbegriffe. In diesem Sinne ist die bereits erwähnte Kontroverse zwischen Deutungen, die Computerspiele primär in Begriffen der Tätigkeit des Spielens erläutern, und Deutungen, die Computerspiele primär in Begriffen interaktiver Erzählungen verstehen, durchaus eine philosophisch relevante Kontroverse. Denn es scheint bei ihr darum zu gehen, was Computerspiele im Kern sind. Die Frage hingegen, was
für die sozialen Interaktionen bei Multiplayerspielen übers Internet oder im Fall der leiblichen Ko-Präsenz bei Lan-Partys relevant ist, ist dort richtig aufgehoben, wo sie ohnehin in weiten Teilen bereits diskutiert wird: in der Soziologie. Die Frage, ob der exzessive tägliche Konsum von Computerspielen einen schädlichen Einfluss auf die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern hat, ist ebenfalls dort am besten aufgehoben, wo sie ohnehin diskutiert wird:
in der Pädagogik und Psychologie. Auch wenn die Grenzen keineswegs bei allen Fragen so deutlich liegen mögen – bei der Frage der Schädlichkeit des exzessiven Konsums von Computerspielen könnte man zum Beispiel die Rückfrage stellen, warum so etwas nicht auch beim exzessiven Konsum von Romanen oder von Musik untersucht wird und ob eine  Vorentscheidung in dieser Frage nicht subkutan eine bestimmte problematische medien- und kulturpolitische Agenda kolportiert: Die Tatsache, dass das vorliegende Buch zu vielen derartigen Fragen schweigt, ist keineswegs Ausdruck einer Borniertheit oder Ignoranz, sondern vielmehr der Tatsache geschuldet, dass die Philosophie zu solchen Fragen schlichtweg gar keine Auskunft geben kann, weil sie nicht in der Reichweite ihrer theoretischen Mittel liegen.

– – – – – – – – – – Zitatende – – – – – – – – – –

Oder besorge ich mir zunächst was anderes, was mir noch zur Bewältigung der aktuellen Krise fehlt? Mal sehen: Byung-Chul Han in seinem Buch „Infokratie – Digitalisierung und die Krise der Demokratie“ (Berlin: Matthes & Seitz 2021)

Zu Computerspielen befrage ich erstmal die Enkelgeneration, ich kenne da sehr gesprächsbereite menschliche Exemplare.

So geht es los:

s.a. hier

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Nachholen (bis 22.03.2024) den Film über K-Pop:

https://www.3sat.de/gesellschaft/politik-und-gesellschaft/suedkorea-milliardengeschaeft-k-pop-102.html hier

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

TUVA Bernard Kleikamp: ab 25.2.24 anschauen siehe unten LINKs rechts neben dem Foto

At WDR Folk Festival in Cologne, Germany, 4 July 1991. Gennadi Tumat was born on 25 February 1964. This video premiered on what was to be his 60th birthday, 25 February 2024

HIER und Hier

WDR Folkfestival 1991

Zu dem interessanten pansdelight blogspot hier

Meditation als Übung des Alltags

Die Instrumente

Arme und Beine und deren Ansatz-„Scharniere“, Schultern und Hüfte, Bewegung – auch das Dehnen! – genießen. Und die Finger? In meiner Situation bedeutet die „Harfenetüde“ auch, das Strecken, Spreizen und Anspannen in der Hand wahrzumehmen.

Die Pianistin Danae Dörken in ihrem Tutorial

Was will ich in dieser Form umschreiben oder benennen? Nur nicht höher einstufen, als es anzusetzen ist, nicht wichtigtuerisch vorbereiten, nicht wie eine Andacht oder Betstunde, nur das Bewusstsein „im Auge behalten“, den Fokus wandern lassen, wenn er wandern will; beobachten, was von selbst geschieht.

Wie der Besen des Zen-Schülers: mit der Tätigkeit des Fegens zusammenwachsen lassen, eins werden, keine Good-Will-Zusatz-Muskeln des Oberkörpers einsetzen, die Banalität der Banane auf dem Frühstückstisch, die mit der Gabel auf dem Teller flüssig geknetet werden kann (nicht mit den Armen, sondern so weit weit möglich vorn, rechts herum und links herum).

Wie komme ich wieder auf Zen? Nur durch alte und erneute Lektüre, hier. Auch durch die ZEIT vom 9. November, die neben dem Schreibtisch liegt und in der ich in Pausen nachlese, was ich vorige Woche unterstrichen habe. Oder in dem dicken Buch, das hinter mir im Regal steht, das von Thomas Metzinger herausgegebene, was ich darin vor Jahrzehnten bemerkenswert fand. Fehl-Alarm bei Ikebana-Ästhetik. Aber es geht nicht um Zen. (Doch! ich komme weiter!)

In der ZEIT verweist er heute auf Karl Friston und hat die Zitationen nachgesehen, zu denen ich jetzt womöglich auch beitrage. Oder? Es geht nicht um mich.

Quelle DIE ZEIT 9.November 2023 Seite 58 Thomas Metzinger: „Meditation wird als irgend so ein Schnuller für Erwachsene betrachtet. Es geht aber um Erkenntnis“ (Interview: Johannes Gernert)

Zitate

„Einfach weitermachen, selbst wenn es nur alle drei Wochen mal ein kleines bisschen schön ist. Selbst wenn Sie oft denken: »Das ist doch alles irgendwie scheiße!« Genau in diesen Momenten einfach total stur weitermachen – die schlechten Gefühle anschauen, den Zweifel spüren, bei der Unruhe verweilen.“  [20 Minuten, zweimal täglich.]

„Und man wirft sich hin, und alle Leute gucken. Das kommt davon, wenn man 30 Jahre zweimal täglich ein Bein in so eine Position dreht, nur weil man gedacht hat, die machen das in Indien auch so. Wenn Sie langjährige Meditationslehrer anschauen: Die sitzen oft alle nur noch auf Stühlen.“

„Sie müssen nur sichergehen, dass Sie kerzengerade auf den Sitzhöckern sitzen, nicht anlehnen. Ich habe auch oft im Büro meditiert und in Zügen und Flugzeugen. Man kann auch beim Autofahren meditieren, wenn man es schon ein bisschen gemacht hat.“

„Die Aufmerksamkeit ganz sanft, aber sehr präzise immer wieder in den Moment zurückbringen. Dann loslassen und im Erleben der Bewusstheit selbst verweilen. Nach ein paar Sekunden von neuen Gedanken weggetragen werden. Sich erinnern, zurückkehren in den Moment.“

„Nehmen wir etwa die »Sammlungs-Meditation«: Sie kehren mit der Aufmerksamkeit immer zu Ihrer Atemempfindung zurück. Wenn etwas Ruhe da ist, die »Einsichts-Meditation«: einfach nur die Gedanken beobachten, wie sie entstehen und vergehen. Die richtige Art, wie man die Aufmerksamkeit lenkt, ist: sanft und präzise, mit einer fast zärtlichen Einstellung. Nicht: Ich richte den Laserstrahl meiner Aufmerksamkeit dahin und brenne diese Gedanken weg, Ganz sanft, so anstrengungslos und unperfektionistisch wie möglich. Aber genau!“

„Es geht aber nicht um Eso-Quatsch, um Sterblichkeitsverleugnung und das, was ich in dem neuen Buch »narrative Selbsttäuschung« nenne – dass man sich selbst eine scheinbar sinnvolle, aber im Grund fiktive Lebensgeschichte erzählt.“

„Der Trick besteht sozusagen darin, ganz einfach den Geist sich selbst wahrnehmen zu lassen und nicht an den immer von Neuem entstehenden Inhzalten zu kleben. Auf einem Retreat hat jemand mal gesagt: Als ob Güterzüge durch den Kopf fahren, nie enden wollende Züge. Ketten von Waggons, wie man die als Kinder immer angeguckt hat. Meine Morgenmeditation war auch wieder so, völlig für die Füße.“

„Mir geht es auch nicht anders als den meisten – da kommt kein Erleuchtungs-Giga-Bingo, und alles ist gut. Es ist viel subtiler. Das, was einen beim Meditieren ja oft vollkommen rausreißt, ist soziale Kognition. Sie haben auf der Arbeit eine soziale Position, Sie habe Ihre Familie, und die mentale Simulation dieser sozialen Situation läuft beinahe permanent. Was glauben Sie denn, warum die Leute, die diesen Weg bis ans Ende gehen wollten, warum die Einsiedler geworden sind, also alle sozialen Interaktionen minimiert haben? Oder Mönche und Nonnen. Warum Retreats im Schweigen und möglichst ohne Blickkontakt stattfinden? Es gibt dafür einfach Rahmenbedingungen.“

Vor allem komplett offline?

… … … … …

*    *     *

Ja!

Die Verwechselbarkeit der Zen-Einstellung zur Natur mit einem sentimentalen Kitschgefühl hatte schon Alan W. Watts (1961) gesehen und die Toleranzgrenze zum Banalen bewusst herausgehoben:

Das Geräusch vom Scheuern / der Bratpfanne vermengt sich / mit dem Quaken der Laubfrösche. (Ryokan)

  die Formel Nianfo

Um noch einmal zu dem Philosophen Byung-Chul Hang zurückzukehren:

Das Haiku „ist nicht nach innen gekehrt. Im wohnt kein ›Tiefsinn‹ inne. Diese Abwesenheit des ›Tiefsinns‹ macht gerade die Tiefe des Haikus aus. Sie korreliert mit der Abwesenheit der seelenhaften Innerlichkeit. Die helle Offenheit, die ungehinderte Weite des Haiku entspringt dem ent-innerlichten, ent-leerten Herzen, der niemandigen Sammlung ohne Innerlichkeit.“ Han (a.a.O. Seite 80f)

Und zurück zu den Übungen am Instrument, am Musikinstrument, dessen Techniken samt und sonders ins Banale führen, in die schiere Wiederholung.

Was ist Satori? die Erleuchtung, – etwa beim Geist des Geigenspiels? Fragwürdig. Siehe Byung-Chul Han Seite 67, wo er es als Gegensatz des Hegelschen Geistes definiert, dessen Grundzug gerade die Innerlichkeit sei.

*     *     *

Physische Beispiele

Atmen – Liegen – Sitzen – Laufen – (Hängen)

Atmen: die Regel 4 – 7 – 8 = ein – halt – aus / wenn man als dritte Zahl die 11 bekommt, ist plötzlich nicht von Sekunden, sondern von Minuten die Rede und davon wie lange die Atemvorgänge wiederholt werden sollen – das ist für mich falsche Zahlenmagie.

Hängen: beim Rückweg vom Klavier Treppenstufe über dir greifen und „abhängen“! Aber vorsichtig, nur kurz verweilen, mit Zehenkontakt zur Treppe.

Schulter: z.B. https://www.liebscher-bracht.com/routinen/schulter/# hier Manche Musiker sind auch erfahrene Bewegungstherapeuten (geworden), ich halte allerdings mehr davon, professionelle Physiologen zu befragen, wenn es sich um Probleme des Körpers handelt. Zu der Übung des Kopfkreisens kann man sehr unterschiedliche Meinungen hören. Ich persönlich fand diese hier hilfreich, obwohl sie nicht aus der Physiotherapie, sondern aus der Sporterfahrung stammt. Ich glaube dem großen Klavierpädagogen Seymour Bernstein in dieser Frage eben nur bedingt… obwohl alles richtig ist, was da steht. Rot unterstreichen würde ich die Wörter „vorsichtig“ und „unter sanftem Druck“.

Bernstein: Mit eigenen Händen

Mit dem schönen Buch am Klavier aber habe ich das Gefühl, die Übungen halten mich nur auf, als trennten sie mich unnötig von der Musik. Im täglichen Leben wären sie selbstverständlich, ja, denn die Fehler, die man mit Kopf und Schultern macht, stören überall und werden schon im Kleinkindalter „erlernt“: Man zeigte damals, dass man sich richtig Mühe gibt, – nicht dass man erreicht, was man soll, mit geringstmöglichem Aufwand. Als Erwachsener will ich wissen, warum ich in vielem so linkisch geblieben, nein, geworden bin. Durch Mangel an Bewegung. An notwendiger und sinnvoller Bewegung. Mit der Geige in der Hand oder vollends: am Klavier sitzend, will ich Vergeistigung, die angeblich körperlose. Ohne Instrument aber wäre ich ganz und gar Körper, habe ich bis ins Alter den Gebrauch des Körpers zu üben. Auch wenn ich singe und spreche.

Der Irrweg: auf dieses Problem zu stoßen, wenn vor mir nicht das Buch, sondern die Noten der „Harfenetüde“ liegen. Zudem die Imagination einer meisterhaften Video-Vorführung mit mustergültigen Bewegungen: ich sollte nicht die speziellen Probleme – links und rechts eine Traube von Tönen, weitgriffig, schnelle Abfolge und jeweils in Sprünge mündend – mit dem allgemeinen der hochgezogenenen Schultern angesichts einer andauernden Schwierigkeit gleichzeitig zu lösen versuchen. Die Noten wollen klingen, produziert, gehört werden, die angezogenen Schultern arbeiten nur antiproduktiv: als Bremsklotz. Den sollte ich separat kennengelernt haben. Er gehört ins tägliche Leben. Zum Körpersein.

Der Geist erinnert sich allerdings besser an Chopin und sein Verhältnis zu den kleinen, ornamentalen Notenwerten, – in geschriebenen Werken sind sie hart erkämpft. Es kommt auf jedes Pünktchen an, auch wenn es nachher wie beiläufig erscheinen soll.

Das Zitat aus George Sands Histoire de ma vie (Paris 1855) stammt aus dem wunderbar reichen und vielseitigen Bildband von Ernst Burger „Frédéric Chopin / Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten“ Hirmer Verlag München 1990  / Die Handschrift der Etüde op.25 Nr.1 ist auf Seite 146 f wiedergegeben und zwar mit folgendem Vermerk:

Die Noten gehören in allen Details zum Stoff der Meditation. Und so kann ich die Bemerkung von Ernst Burger nicht ganz unkommentiert lassen. In dem Autograph fehlt mir dies und das, was mir lieb und teuer ist. Vor allem der allererste Ton, ein Auftakt zur Melodie, das es“. Der kritische Kommentar am Ende meiner Paderewski-Ausgabe gibt mir die Lösung, – soviel Zeit muss sein! Ein Ausschnitt nur, bitte beachten Sie den Anfang des Textes und das Ende zu Takt 1.

Erster Takt der Etüde und viele praktische Anregungen zum Hören und Üben dieser Etüde op.26 Nr.1 siehe im Blog-Artikel http://s128739886.online.de/vorsaetze-beim-ueben-der-harfen-etuede/ →  hier

Täglich steige ich hinab in den Tiefkeller, wo der Flügel steht, mehr als 45 Stufen vom PC, hinab und hinauf, und nach 45 Jahren merke ich, dass ich die drittletzte Treppe ÜBER mir, das ideale Gerät zum Abhängen, bisher nicht erkannt habe. Die Übungen von Liebscher & Bracht haben mir die Augen und Arme geöffnet. Lächerlich. Auch alle Türen für Streck-Übungen. Und überhaupt das aufrechte Steigen von Stufe zu Stufe, freihändig, ohne zu schwanken.

Das alles geht doch ziemlich ins Lächerliche. So darf es auch sein, warum denn nicht? Byung-Chul Han Seite 34:

Am Treppenabgang Platz und Zeit für Kinderbilder:

ZEN als Verwandlung

Sehr alte Geschichten

Einerseits will ich nicht meine frühe 1960er-Zeit aufwärmen, mit den damals verschlungenen Werken von Alan W. Watts über Zen-Buddhismus (rde) und „Mann und Frau“ (Dumont), andererseits endet der Anreiz von Zen auch heute nicht, wenn ausgewiesene Denker dahinterstehen und ihn in ihre Philosophie einschließen, wie Byung-Chul Han, der im westlichen „System“ gleichermaßen zu Hause ist.

Als ich 2008 auf dem durchaus westlichen Wege Rüdiger Safranki las, seine bewunderswert ausführliche Antwort auf die Frage „Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?“, freute ich mich über eine mir aus der „asiatischen Philosophie“ bekannte Geschichte, mit der er ein chinesisches Bild vor Augen führte. Oder gerade nicht vor Augen: nach wie vor war es mir einfach genug, von dem Bild nur zu hören.

Rüdiger Safranski

Woher er die Geschichte hatte, blieb also im Dunklen. Jetzt – plötzlich und unerwartet – wurde ich auf diesen Seitenweg zurückgeführt: durch die Klinik-Lektüre des Reclam-Büchleins von Byung-Chul Han! Darüberhinaus gemahnt an die Aufführung eines japanischen Noh-Spiels in der Kölner Philharmonie, und – Koinzidenz der Erinnerungsphänomene – durch die Mail eines getreuen WDR-Mitarbeiters, der gerade eine Gedenksendung anderer Thematik im WDR gehört hatte. Er hat selbst zum Thema Japan ungezählte luzide Radio-Sendungen gemacht, die – nicht nur – meinen Horizont erweiterten, auch den eines spezifisch interessierten Publikums, und so die Neugier auf ferne Welten weckten oder wachhielten. Und nun war alles wieder da! Ich las:

in das gemalte Bild hinein«.

Ich las also Byung-Chul Han’s „Philosophie des Zen-Buddhismus“ und darin den Hinweis auf das chinesische Bild (oder ein anderes, ähnliches) und die Wendung zum japanischen Noh-Spiel.

Ein Kreis war geschlossen. Zufällig mein letztes Jahr im WDR, ein Abend des Jahres 2005. Die unglaubliche Atmosphäre in der Kölner Philharmonie, die (nicht einmal) knisternde Stille, ein hörbares Nichts, ein atemloses Publikum, so hatte ich das noch nie erlebt (ausgenommen vielleicht in wenigen Quartett-Konzerten). Alldies mochte ich evozieren und durch Wissen vertiefen. Anhand eines einzigen großen Stückes IZUTSU und eines instruktiven Filmes, den das WDR-Fernsehen (Lothar Mattner) im Vorfeld produziert und gesendet hat. Hier ist er:

Heinz-Dieter Reese im Nachspann

Mehr über den Autor des Filmes Thomas Schmelzer hier. Mystica TV (?). Zur Diskussion…

https://de.wikipedia.org/wiki/Izutsu_(N%C5%8D) hier (Wikipedia über das Noh-Stück „Izutsu“)

https://www.youtube.com/@nohtheatreexplained8410 hier (Übersicht über die Reihe, in der das folgende Stück vorkommt)

Folgt: die Aufführung in der Kölner Philharmonie (Informelle Aufzeichnung, copyright-geschützt)

Weitere Daten zur Aufführung in Köln von Heinz-Dieter Reese:

Phil-Ankundigung  28|10 Freitag 20:00 Uhr
Zwischen Traum und Wirklichkeit
Japanisches Nô-Theater mit dem Ensemble
der UMEWAKA KENNÔKAI FOUNDATION

NohPRGHEFT  Freitag 28. Oktober 2005 20:00
Die Aufführung wird vom Westdeutschen Rundfunk für den
Hörfunk aufgezeichnet und am Sonntag, 12. Februar 2006,
20:05 Uhr auf WDR3 gesendet.

WDR3Buehne Radio06-02-12   Bühne: Radio 12.02.2006
Konnichi wa, Japan
Zwischen Traum und Wirklichkeit:
Nô- und Kyôgen-Theater mit dem Ensemble der Umewaka Kennôkai
Aufnahme vom 28. Oktober 2005 aus der Kölner Philharmonie
vorgestellt von Heinz-Dieter Reese

Die Realisation im Radio

Zugang zum Skript der Radiosendung von Heinz-Dieter Reese, mit der freundlichen Erlaubnis des Autors:

NO Reese WDR3BR120206_Ms

„In Japan wird das Singen im Nô-Theater gelegentlich mit unaru, mit Brummen bezeichnet. Dem liegt eine durchaus zutreffende Beobachtung zugrunde. Der Nô-Sänger achtet bei seinem Vortrag darauf, dass die komplexen Obertöne der Stimme im gesamten Körper resonieren. Dadurch wird die simple Melodik durch vielfältige Klangfarben bereichert. Es entstehen klare, helle Töne, dann wieder getrübte, dunkle Töne, die bald kräftig, bald weich erscheinen. So werden die szenische Atmosphäre, aber auch die verborgenen Gedanken und Gefühle der Figuren zum Ausdruck gebracht. Und das gilt für den Solo wie den Chorgesang.“

Mail-Mitteilung (15.11.2023) Heinz-Dieter Reese:

Zum Noh-Spiel  “Izutsu” finden Sie auf meinem Kanal auch noch eine historische und eindrucksvolle professionelle Aufnahme (des NHK) mit dem legendären KANZE Hisao aus den 1970er Jahren, die ich komplett deutsch untertitelt habe:

https://youtu.be/LCtxXKYD96M  hier

*     *     *

Zurück zu Byung-Chul Han, anknüpfend an seine Bemerkungen zur chinesischen Landschaft:

https://de.wikipedia.org/wiki/Chinesische_Malerei hier

https://www.wikidata.org/wiki/Q11638255  hier Wer ist Kōichi Tsujimura? (s.u. pdf)

https://terebess.hu/zen/mesterek/TsujimuraKoichi.html  hier

https://en.wikipedia.org/wiki/Henry_Pike_Bowie  hier

Henry Pike Bowie’s Werk „ON THE LAWS OF JAPANESE PAINTING“ (1911) Gutenberg hier

https://leopard.tu-braunschweig.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbbs_derivate_00031277/Tsujimura_Yue-chiens_Landschaftsbild.pdf hier / Zitat:

KI – steckt doch mehr dahinter?

Was unsere Sicht behindert

DIE ZEIT 7.09.23 Seite 47

auf Texel 19.6.22

  DIE ZEIT 7.09.23 Seite 57

in Solingen-Ohligs 10.11.22

Wo wird die Abwesenheit von realem Inhalt wirklich zu unwirklich? Künstlicher Tiefsinn? Geht es auch ohne den leeren Himmel? Kein Einwand: er ist gar nicht leer. Er deutet unsagbare Fülle an. Nichts. Nonsens. Besinnung auf frühere Begegnungen:

Der Caspar David Friedrich an der Wand (Hochzeit 1961)

  Lektüre1961

Caspar David Friedrich 2006 in Essen ; das unangenehm Missionarische , wie hier

Rauterberg ZEIT 7.9.23

Romantisches Missverständnis auch bei Haiku-Übersetzungen (Manfred Hausmann). Aber nicht hier:

1993

2014

Heute 2023 betr. David Chalmers – Frage: Bin ich mein Gehirn? ↓

(Englische Version des Gesprächs hier)

Darin bei 12:40 Daniel Dennett 27:10 website David Chalmers erwähnt / weiter ab 30:00

Der ZEIT-Artikel (2023) von Peter Neumann (mit David Chalmers) überzeugt mich weit weniger als das Youtube-Gespräch (2019). Woran liegt das? Der Punkt ist einfach:

Die Gewissheit des „also bin ich“ können wir keinen Moment hinnehmen, als ob das „ich“ über jeden Zweifel erhaben sei. Da hilft es auch nicht, wenn wir es wenig später wie eine Figur aus dem Computerspiel betrachten sollen. (Rechts im Bild taucht der Name Turner [s.a. hier] auf, ein Hinweis auf das Unechte der Kaufhauskunst, – der Kunstdruck, „feuerroter Himmel, eines dieser Wohnzimmerbilder, die man vor allem in Baumärkten kaufen kann“ , oder – füge ich hinzu – leicht selber produzieren kann, siehe oben). Wir wissen nicht, so erklärt Chalmers damals, wie

: die ganz subjektiv – Fortsetzung: – die Erfahrungen in diesen virtuellen Simulationen machen [wir ? die wir ein erfülltes, glückliches Leben darin führen??], und schließlich beruhen auch digitale Objekte auf realer Informationsverarbeitung in einem realen Computer: «Virtuelle Welten sind keine Realitäten zweiter Klasse».

„Immerhin sind immer noch wir es“? Ganz subjektiv?  Geht man so mit unserm scheinbar realen Kern um? Ich erinnere mich selbst – hier !

Ich frage mich nach dem Unterschied zwischen Realität und Imagination. Aber nicht im Ernst: die Schwierigkeiten entstehen, wenn man an Wunder glaubt: Von Petrus, der Jesus übers Wasser schreiten sieht, bis zu Rudolf Steiner, der seine Visionen als real Gesehenes weitergibt:

Meine Erkenntnisse des Geistigen, dessen bin ich mir voll bewußt, sind Ergebnisse eigenen Schauens. Ich hatte jederzeit, bei allen Einzelheiten und bei den großen Übersichten mich streng geprüft, ob ich jeden Schritt im schauenden Weiterschreiten so mache, daß voll-besonnenes Bewußtsein diese Schritte begleite. (…) Daß man von einer Imagination weiß, sie ist nicht bloß subjektives Bild, sondern Bild-Wiedergabe objektiven Geist-Inhaltes, dazu bringt man es durch gesundes inneres Erleben.

Siehe dazu: hier.

Siehe auch den Bewusstseinsphilosophen Thomas Metzinger hier„Wir halten unser Ich für real. Doch es ist nur ein Bild von uns selbst, das wir nicht als Bild erkennen.“

Nun schauen Sie, was über dem ZEIT-Artikel steht, aus dem ich zitiert habe:

Und nun das, worauf diese „Vision“ hinausläuft:

Und des weiteren a.a.O.:

Da sind wir wieder beim „simulierten Turner“  und müssen allein weiterdenken. Werden wir in zehn, zwanzig Jahren Chatbots und virtuelle Welten kaum noch unterscheiden können von der echten Realität und von echten Menschen? (Was ist „echt“ bei Gemälden? Zu wissen, wie es gemacht ist? gedacht ist…)

Anlässlich der Han-Lektüre

„Topologie der Gewalt“

Es gibt Schwierigkeiten, die eine philosophische Lektüre behindern, nur weil man die Möglichkeiten des Internets nicht nutzt. Manch einem erscheint es vielleicht anachronistisch, sich mit einem Buch vor den Computer zu setzen, mir durchaus nicht.

Wie soll ich denn das Wissen kompensieren, das Byung-Chul Han offenbar voraussetzt? Vielleicht auch nur, weil es ihm durch die Arbeit an seinem Thema derartig geläufig geworden ist. Und es finden sich zwar allerhand Anmerkungen, die dem wissenschaftlichen Anspruch genügen, aber keine Ermunterungen, die der unorthodoxen Selbsthilfe bei gedanklicher Arbeit zugute kämen. Das Gegenteil durchaus:

Auch die neuen Medien und Kommunikationstechniken verdünnen das Sein zum Anderen. Die virtuelle Welt ist arm an Andersheit und deren Widerständlichkeit. In den virtuellen Räumen kann sich das Ich praktisch ohne das ‚Realitätsprinzip‘ bewegen, das ein Prinzip des Anderen und des Widerstandes wäre. In den imaginären Räumen der Virtualität begegnet das narzisstische Ich vor allem sich selbst. Die Virtualisierung und die Digitalisierung bringen das Reale immer mehr zum Verschwinden, das sich vor allem durch seine Widerständlichkeit bemerkbar macht. Das Reale ist ein Halt in seiner doppelten Bedeutung. Es bewirkt nicht nur Unterbrechung oder Widerstand, sondern auch Halt und Rückhalt.

Quelle Byung-Chul Han: Topologie der Gewalt / Verlag Matthes und Seitz Berlin 2011 (Seite 45f)

Das ist schön und belehrend, verstärkt mich allerdings in einem Widerstand, der mir bei der Lektüre des Buches hinderlich ist, so reizvoll widerständig und wenig zielführend er sich auch anfühlt. Ich muss einen schnellen Begriff finden für bestimmte Grundgedanken und deren Urheber, die für Hans Gedankengänge eine wesentliche Rolle spielen. (Daher die schrittweise nachgetragenen Klicks, die eine Information ermöglichen, wie oberflächlich auch immer.)

Das wären im ersten Teil, Kapitel 2 René Girard, Kapitel 3 Sigmund Freud, Richard Sennett und Alain Ehrenberg, Kapitel 4 Carl Schmitt, Walter Benjamin und Giorgio Agamben.

Im zweiten Teil, Kapitel 1 Galtung, Bourdieu und Žižek, deren Vornamen – wie auch sonst – wir nicht erfahren, Kapitel 2 Foucault und wiederum Agamben. Kapitel 3 Baudrillard, Kapitel 5 Lévinas und Serres, Kapitel 6 Deleuze und Hegel, Kapitel 7 Hardt und Negri, Kapitel 8 Agamben und sein „Homo sacer“ mit einer ausführlichen, kleingedruckten Erläuterung.

Schon Seite 14 begegne ich dem „Muselmann“, mit dem ich nichts anfangen kann, es sei denn in Erinnerung an einen blöden Kanon oder ich schaue ins Internet. Oder ich springe zufällig in den Schluss des Buches (Seite 167), wo zu lesen ist:

Die Muselmänner sind die total entkräfteten, ausgemergelten und apathisch gewordenen Lagerhäftlinge.

Allerdings habe ich mich gerade kundig gemacht, nämlich unter dem Stichwort https://de.wikipedia.org/wiki/Muselmann_%28KZ%29, also hier. Wie auch zu all den Namen, sofern sie mir nicht ganz geläufig waren, und genau das werde ich jetzt oben nachtragen. Mir scheint unterdessen, dass Han weitestgehend Agamben folgt, insbesondere dessen Homo – sacer – Projekt, in dem auch die meisten von jenem genannten Namen auftauchen. (Dazu siehe auch hier – homo sacer – sowie hier – Zwölftafelgesetz der Römer – und schließlich, noch einmal auf Agamben bezogen, hier.)

Und was die islamistische Gewalt betrifft, die uns gerade in Paris erschüttert hat, sollte man sie nicht mit der verwechseln, die den „Muselmännern“ angetan worden ist.

Gewalt in der Gestalt des Terrors, der uns vor allem sinnlos erscheint, weil er nicht unmittelbar zu einer Ausweitung von Macht auf der einen Seite führt, sondern nur zu einem Bewusstsein der Ohnmacht auf der anderen Seite, ist offenbar nicht Gegenstand dieses Buches. Ein einziges Mal wird das Thema berührt, das im Augenblick zur gründlicheren Erarbeitung des Phänomens führen könnte, auf Seite 155 f:

Nach dem Untergang des Kommunismus hat der Kapitalismus kein Außen mehr, das ihn ernsthaft gefährden würde. Selbst der islamische Terrorismus ist keine Manifestation eines ebenbürtigen Machtlagers, das das kapitalistische System wirklich bedrohen würde. Es kann ihn sogar absorbieren und in systemische Energien umwandeln, die es stabilisieren. Denkbar wäre allein eine Implosion des Systems durch dessen Überhitzung und Übersteuerung.

Bildung!

Nur was fürs „Bildungsbürgertum“?

Das sogenannte Bildungsbürgertum erhebt sich gern über das, was Schülerinnen und Schüler, die heute Abitur machen, doch alles nicht wissen. Sie kennen nichts, sie verstehen nichts, reden aber viel und meistens sehr schnell. Ich verstehe sie auch nicht, halte das aber letztlich für belanglos. Über kurz oder lang ist man bei  den kleinen handlichen Medien, die den jungen Leuten angeblich die Illusion vermitteln, man brauche keine Bücher mehr, es genüge, ein bisschen zu googlen. In der Tat, man kann zu allem etwas sagen, wenn man nur Zeit genug hat, ein bisschen mit dem Smartphone zu spielen. Wäre Bildung vielleicht die Fähigkeit, ohne Hilsmittel etwas Triftiges zu einem Thema zu sagen, das sich zufällig ergibt? Zufällig, also wie das Leben so läuft. Im Gespräch zum Beispiel. Und nicht ständig die Formel „keine Ahnung“ einfließen zu lassen. Hier eine verwunderte Bemerkung, die aus der Schule stammen soll: „Denken ist wie googeln. Nur krasser.“ Genau, ist doch ganz richtig? Mehr dazu: siehe FAZ heute „Die digitale Amnesie“.

In meiner Schulzeit kam es Mitte der 50er Jahre plötzlich auf, von „Allgemeinbildung“ zu schwärmen. Man las „Das neue Universum“ oder „Durch die weite Welt“ oder löste wie besessen Kreuzworträtsel. Ich staune im Nachhinein, dass das Buch von Dietrich Schwanitz erst 1999 herauskam: „BILDUNG. Alles, was man wissen muss“. Und erst 2001 setzte der Wissenschaftler Ernst Peter Fischer dagegen: „Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte“. Und erst vor 2 Jahren fand ich in einem Blechschrank, der im Botanischen Garten stand und eine Gratisauswahl von gebrauchten Büchern anbot, ein Lesebuch, das seither bei mir zuhaus griffbereit auf einem stillen Örtchen liegt:

Lesebuch Oberstufe

Es begeistert mich immer aufs neue. Darin ist wirklich alles enthalten, was man zum Denken und Fühlen braucht. Ich übertreibe nur wenig. Viele Jahre auf einer einsamen Insel: dies Buch würde mir ausreichend Nahrung bereitstellen. Schwanitz hätte seine Freude an mir, und Fischer würde sagen: „Typisch Bildungsbürger! Keine Ahnung von Meeresströmungen und Navigation!“

Bildung Schwanitz  Bildung Fischer

Das Fatale an einem Bücherschrank ist, dass man ein herausgenommenes Buch nicht wieder zurückstellen mag. Man meint ihm doch noch ein Geheimnis entlocken zu müssen. Oder auch: man möchte ihm nicht Unrecht tun und es nur für ein Zitat verwenden, während man alles andere als weniger wissenswert abtut. Und so sammeln sie sich auf, neben und unter dem Schreibtisch Bücher im Wartestand; allen bin ich noch etwas schuldig. Das geht mir bei Google durchaus nicht so; bei Google spüre ich nichts, „null“ sagt man heute. Bei Wikipedia durchaus, da spüre ich menschliche Sorgfalt und gedankliche Akkuratesse.

Aber diese Lesebücher waren es immer, die mich faszinierten, selbst wenn sie wie dies da oben einfach als „Deutschbuch“ daherkamen. Schon die aus der Zeit meiner Mutter: meine – streng genommen – ungebildete kleine Oma las mir daraus vor oder lies mich später vorlesen und war selber fasziniert: Schiller-Balladen und Gesänge aus Homers Odyssee, – selbst wenn sie den Inhalt aus Glaubensgründen ablehnen musste. Sie freute sich, wenn ich an ihren Lippen hing. Anfang der 60er Jahre war es dann ein Buch wie dieses, französisch orientiert, da es die Übersetzung eines Originals von Gallimard 1957 war. Es war nicht die Suche nach dem Abstractum „Bildung“, sondern danach, mich anders zu prägen, einen Panorama-Blick zu entwickeln und ihn mit der interessierten Betrachtung „kleinster Zellen“ – etwa in der Musik (frei nach Adorno) – zu verbinden.

Panorama

Was würde ich heute an diese Stelle setzen? Wahrscheinlich das Buch von Ralf Konersmann über „Die Unruhe der Welt“. Es ist detailreich und schwer systematisch einzuordnen, aber gerade deshalb geeignet, für Unruhe im eigenen Innern zu sorgen und sie doch – zwischen zwei Buchdeckeln – vorbildlich gebannt zu wissen. Solchermaßen wird man vielleicht gehindert, sich bildungsbürgerlich zur Ruhe zu setzen, und zugleich Byung-Chul Hans Büchlein über Zen-Buddhismus auf dem Nachtschränkchen liegen zu haben, so dass ein Zen-Buch wie das von Alan W. Watts (August 61) in philosophischer Umgebung wiederkehrt und mir einen Rest von Kontinuität signalisiert – wie die Musik. Ruhe bewahren und Unruhe gewähren lassen.

Konersmann Unruhe

Doch zurück zu meinem Deutschbuch für die Oberstufe:

(Fortsetzung folgt)

Oder vielmehr zur neuesten bildungsbürgerlichen Erregung: das Armida Quartett spielt am Donnerstag in der Kölner Philharmonie. „Meine“ Quartette von Schumann und Schubert.

Stuttgart 3

Machtgefälle im Alltag

Wir hatten ein Gespräch über Schule und Drogen geführt, beim Flammkuchen im Biergarten, hinter dem Damm, auf dem ein Fuß- und Fahrradweg mit Blick auf den Neckar verläuft. Rückweg. Es wird etwas eng, wenn man dort oben zu zweit mit Hund entlangspaziert, die Fußgänger müssen fortwährend zurück- oder vorausschauen, um den Fahrrädern auszuweichen; und man muss ganz am Rande stehenbleiben, wenn man den Blick in den trägen Fluss senken möchte.

In einiger Entfernung kommt uns eine buntscheckige Dreiergruppe entgegen, Punker, einer mit unglaublich dünnen Beinen trägt einen schlaffen Rucksack, in der Mitte eine rothaarige Frau, -hat sie eine allzugroße Spange in der Lippe? Sie sehen alle drei morbide aus, vielleicht drogenkrank, ausgerechnet. Als eine Fahrradklingel schrillt, drängen sie sich zur Seite und stehen etwas enger, der Fahrradfahrer aber schlägt, als sei er in Sturzgefahr, mit der rechten Hand gegen den Rucksack, er forciert, berührt möglicherweise auch den Rücken des jungen Mannes mit dem Lenker, man hört den dumpfen Kontakt, und schon ist der Kraftprotz vorbei. Die Fassungslosen schreien hinterher und schütteln die Fäustchen, Frauenstimme: „du blödes Arsch!“ oder so ähnlich.

Wir sind schon ein Stück hinter den Beteiligten, beim Zurückschauen sehe ich den Fahrradfahrer in etwa 50 m Entfernung, er hat sein Rad quer über die schmale Straße geworfen, ist bereits zu Fuß in unserer Richtung unterwegs, drohend aufgerichtet schreit er: „Hat da jemand ein Problem!!??“

Will er die drei nur einschüchtern? Ich weiß nicht, wie sie reagieren, beim nächsten Zurückschauen hat er jedenfalls sein Vorhaben aufgegeben und sich wieder dem Fahrrad zugewandt, vielleicht muss er die Fahrbahn für andere freimachen, ich habe es nicht mitbekommen.

Kurz danach sind wir an dem schrägen Abgang, in Richtung Kurviertel Bad Cannstatt.

Ganz allmählich schwenkt meine Einschätzung der Szene um: natürlich bedeuteten nicht die Punker eine Gefahr (sie irritierten nur, so lange ich ihnen entgegensah), sondern dieser Radfahrer; er gehörte zu denen, die mit dem Wort „Kuckstu!?“ schon übergangslos zuschlagen.

Eine Szene zwischen Machtanmaßung und scheinbar rechtsfreiem Raum. Mich beunruhigte die Vorstellung, dass ich eine bestimmte, eine andere Rolle hätte übernehmen müssen.

Zum Beispiel hätte ich, als der Radfahrer sich, offenbar gewaltbereit, anschickte zurückzukommen, ebenfalls die paar Schritte zurückgehen und mich neben die Punker stellen können: die bloße Anwesenheit einer vierten Person, die sich durch Kleidung und Alter vollkommen unterschied, hätte der Gruppe ein ganz anderes Image gegeben: einen imaginären (bürgerlichen) Machtzuwachs.

Sobald ich es so sehe, muss ich wieder an das Reclam-Büchlein denken, das ich für etwaige Wartezeiten in der Jackentasche trage: Ich habe es kürzlich wieder konsultiert, als ich die Indienfilme gesehen habe: rechtsfreie Räume in einer Demokratie?

ZITAT

Die Macht wird bald mit Freiheit, bald mit dem Zwang in Verbindung gebracht. Für die einen beruht die Macht auf dem gemeinsamen Handeln. Für die anderen steht sie mit dem Kampf in Beziehung. Die einen grenzen die Macht von der Gewalt scharf ab. Für die anderen ist die Gewalt nichts anderes als eine intensivierte Form der Macht. Die Macht wird bald mit dem Recht, bald mit der Willkür assoziiert.

Dies ist für Byung-Chul Han die Ausgangslage im Vorwort, – eine theoretische Konfusion. Dann beginnt er seine hochinteressanten Ausführungen mit der ersten Definition, wenn der eine (Ego) gegen den Anderen (Alter) steht:

Unter Macht versteht man gewöhnlich die folgende Kausalrelation: Die Macht von Ego ist die Ursache, die bei Alter gegen dessen Willen ein bestimmtes Verhalten bewirkt. Sie befähigt Ego dazu, seine Entscheidungen, ohne auf Alter Rücksicht nehmen zu müssen, durchzusetzen. So beschränkt Egos Macht Alters Freiheit. Alter erleidet den Willen Egos als etwas ihm Fremdes. Diese gewöhnliche Vorstellung von der Macht wird deren Komplexität nicht gerecht. Das Geschehen der Macht erschöpft sich nicht in dem Versuch, Widerstand zu brechen oder Gehorsam zu erzwingen. Die Macht muß nicht die Form eines Zwanges annehmen. Daß sich überhaupt ein gegenläufiger Wille bildet und dem Machthaber entgegenschlägt, zeugt gerade von der der Schwäche seiner Macht. Je mächtiger die Macht ist, desto stiller wirkt sie. Wo sie eigens auf sich hinweisen muß, ist sie bereits geschwächt.

Quelle Byung-Chul Han: Was ist Macht? Reclam Stuttgart 2005 (Seite 7 und 9)

In etwas einfacherer Form finde ich diesen definitorischen Ansatz in der Formel von Mallory, Segal-Horn & Lovitt: demnach sei Macht

die Fähigkeit von A, B dazu zu bringen etwas zu tun, was er ansonsten nicht getan hätte. – ] the ability of A to get B to do something they would otherwise not have done.

Natürlich löst sich dieser Gedankengang sofort von meinem simplen Fall, der mit Ohnmacht und angemaßter Macht zu tun hat. Im Fall einer Eskalation steht sofort die Möglichkeit bereit, die Polizei zu Hilfe zu rufen, also eine Macht über allen Beteiligten wirkungsvoll ins Spiel einzuführen.

Interessant scheint mir, dem Unterschied zwischen Macht(ausübung) und Gewalt nachzugehen. Es gibt eine Theorie des Dreiecks der Gewalt mit den Faktoren Täter, Opfer und Zeuge, deren Definition von Gewalt naturgemäß – nämlich abhängig von der jeweiligen Perspektive – unterschiedlich ausfällt. Siehe in dem Artikel „Ethnologische Theorien zur Gewalt“ (hier): David Riches. Auch Veena Das, die „im Sinne von Franco Basaglias Konzept der peace time crimes (…) die Gewalt nicht als Unterbrechung des Normalzustandes, sondern vielmehr als Implikation des Gewöhnlichen“ ansieht.

Siehe auch im Basaglia-Artikel den Abschnitt „Geisteskrankheit ohne Geist“, womit sich eine aufschlussreiche Verbindung zu Wölfli/Aperghis ergibt.

Geistesgröße

Mit Erstaunen hören wir, dass wir leicht den Globus umrunden könnten, wenn nur die Nervenbahnen unseres Gehirns in diesem Sinne nutzbar wären:

Die Länge aller Nervenbahnen des Gehirns eines erwachsenen Menschen beträgt etwa 5,8 Millionen Kilometer, das entspricht dem 145-fachen Erdumfang.  (Zitat)

Andererseits ist es verlockend, sich auf die faule Haut zu legen, zumal sie ja auf Dauer schwer zu tragen ist:

Mit einer Fläche von eineinhalb bis zwei Quadratmetern ist die Haut das größte Organ des menschlichen Körpers. Sie macht rund ein Sechstel des Körpergewichtes aus. (Zitat)

Aber mir wird ganz bang um die Welt, wenn ich an den Darm denke:

Der Verdauungstrakt hat eine Oberfläche von 300-500 m2. Damit stellt er die größte Kontaktfläche des menschlichen Körpers zur Außenwelt dar. (Zitat)

 Ob mein Geist mit seinen unglaublich dünnen Nervenbahnen ausreicht, diese Größenordnung zu erfassen?

Die Sorge wächst, wenn ich die Grenzen seiner Macht zu ergründen suche und auf Gewissheit in der Schrift „Was ist Macht?“ von Byung-Chul Han hoffe. Dieser wiederum wendet sich an den großen Philosophen Friedrich Hegel:

Die Tätigkeit des Geistes beschreibt Hegel interessanterweise in Analogie zur Verdauung. Hervorgehoben wird dadurch eine machtlogische Affinität zwischen Verdauung und Geistestätigkeit: „Alle Tätigkeiten des Geistes sind nichts als verschiedene Weisen der Zurückführung des Äußerlichen zu der Innerlichkeit, welche der Geist selbst ist, und nur durch diese Zurückführung, durch diese Idealisierung oder Assimilation des Äußerlichen wird und ist er Geist.“ Der Grundzug des Geistes ist die Verinnerlichung. Er hebt das Andere, das Äußerliche in seinen Innenraum auf. Dadurch bleibt er im Anderen bei sich zu Hause. Das Erkannte oder das Begriffene ist dem Geist nicht äußerlich oder fremd. Es gehört zu ihm. Es ist sein Inhalt: „Nämlich Erkennen heißt eben das Äußerliche, Fremde des Bewußtseins vernichten und ist so Rückkehr der Subjektivität in sich“. Die Verinnerlichung, die Aufhebung des Außen ins Innen, verbindet Digestion und Begreifen. Essen und Trinken ist, so Hegel das „bewußtlose Begreifen“ der Dinge.

Quelle  Byung-Chul Han: Was ist Macht? Reclam Stuttgart 2005  (Seite 71f)

Han zitiert Hegel aus folgenden Quellen: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, in: Werke, Bd. 10 (Seite 21) u. Bd. 9 (Seite 485); Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12 (Seite 391).

Geschrieben ab 9.30 Uhr während der Sonnenfinsternis, ohne Lampenlicht… Ich bitte Schreib- und Denkfehler zu entschuldigen… Aber nicht einmal die Vögel haben aufgehört zu singen, vor allem die Singdrossel nicht. Nimmt sie ihren Namen als Vorschrift? Oder nutzt sie listig den trügerischen Nebel da draußen?

(Doch! Sie haben aufgehört, ab 10.17 Uhr war Ruhe. Abgesehen vom Rotkehlchen.)

Organisches Denken?

Ich kann den Schock einigermaßen datieren, an dem ich vom Glauben abfiel, der mit einem gewissen Vertrauen in DIE NATUR zusammenhing. Dies hatte den Zweifel überdauert, den ein älterer Mitschüler mir in den 50er Jahren eingepflanzt hatte: die Philosophie sagt, dass Du nicht einmal sicher sein kannst, ob dieses Haus aus Klinkersteinen dort wirklich vorhanden ist, ob die Dünenkette dahinten wirklich existiert, ob das Meer, das wir rauschen hören, Realität hat. Ich war sicher, dass dieser Irrtum sich bald aufklären würde, aber die Diskussion lief sich tot. Der andere erinnerte an die Formel „Cogito ergo sum“, so heiße es korrekt, „ich denke, also bin ich“, und nicht „Sum ergo cogito“: ich bin nicht etwa zu allererst einmal da, und nur deshalb kann ich überhaupt anheben zu denken. Abgesehen von der Frage: ist es wirklich das Denken oder ist es der Gedanke der Eigen-Präsenz? Die Selbstgewissheit – und ist genau dies nicht „Sum“? Oder geht es um das nach außen gerichtete Denken, das die Objekte erfasst, nach Innen zieht, zu begreifen sucht und dadurch sich selber erfährt: das denkende Ich.

All dies kam mir jetzt in den Sinn, als ich einen bestimmten Satz bei Byung-Chul Han las und an den Schock zurückdachte, den ich weiter unten datieren werde. Aber zunächst der Satz:

Der Organismus ist für die moderne Biologie, wie auch Luhmann bemerkt, „nicht mehr ein beseeltes Wesen, dessen Seelenkräfte die Teile zu einem Ganzen integrieren, sondern ein adaptives System, das auf wechselnde Umweltbedingungen und -ereignisse durch Einsatz eigener Leistungen sinnvoll kompensierend, substituierend, blockierend oder ergänzend reagiert, um auf diese Weise die eigene Struktur invariant zu halten […].“

Han bezieht sich hier auf Luhmanns Soziologische Aufklärung I. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1984 S. 38f. Und er kommt – da es in diesem Kapitel um „Metaphysik der Macht“ geht – auf vorher behandelte Gedanken zur Macht bei Hegel zurück:

Die moderne Vorstellung des Organismus stellt Hegels Konzept der Macht jedoch nicht gänzlich in Frage. Der Organismus verdankt seine strukturelle Invarianz gerade jener Macht, die dafür sorgt, daß der Organismus bei wechselnden Umweltbedingungen und -ereignissen sich behauptet, d.h. sich invariant hält.  Sie erzeugt auch in diesem Fall eine Kontinuität des Selbst, befähigt den Organismus dazu, trotz der von seiner Umwelt erzeugten negativen Spannung bei sich zu bleiben.

Quelle Byung-Chul Han: Was ist Macht? Reclam Stuttgart 2005 S. 76

Es war ein Urlaub vom 26.7. bis 15.8. 1987 in Visperterminen / Wallis, für den ich mir das Thema Natur vorgenommen hatte. Insbesondere ein Band Goethe sollte mich „ganzheitlich“ leiten. Aber auch eine neuerworbene Grundsatzlektüre: „erforschtes leben“ , ein sachbuch der modernen biologie von barbara hobom (herder freiburg basel wien 1980 ISBN 3-451-18666-7), und schon im Vorwort stieß ich auf ein Denken, das sich mit Goethe durchaus nicht vertrug (bitte anklicken):

leben hobom

In dem Buch finde ich auch eine Abschrift aus dem Jahre 2003 (dazwischen lag das Jahrzehnt der Auseinandersetzung mit dem „Computerdenken“):

Als abstrakte Erkenntnis war all das höchst bemerkenswert: Die Natur, die noch bei Goethe ihr Wissen um die Prinzipien in verborgenen Urformen und in Tausenden von Ausprägungen sinnlich erfahrbar vorwies, hatte nunmehr die Halbbrille auf der Nase und arbeitete sich, wenn sie das Geheimnis der lebendigen Materie vollzog, durch einen drögen Buchstabensalat, eine Art überlanges Lochband von einigen Milliarden Elementen. Für Schöngeister und Naturfreunde war dieses neue Wissen keine weltanschauliche Kränkung (wie ein Jahrhundert zuvor die Theorie von Darwin), sondern eine bürokratische, die kein Federfuchser sich hätte penibler ausdenken können.“

Quelle DIE ZEIT 20.02.03 Seite 31 Autor Jens Reich

Quelle s.o. Hobom

Jetzt wäre die Farbe Grün eine Wohltat, nicht wahr? Auch dieses Buch stammt aus der Zeit vor dem „systemischen Schock“, vom 23.7.1987 (3 Tage vor der Abfahrt nach Visperterminen):

Leitfaden Pflanzen

(Fortsetzung folgt) siehe Weiteres hier!