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Neue Kraft fühlend

Die alten Quellen

(Kurze Erinnerung JR 22.02.23 – 10.03.23 Klinik und danach)

Wie oft in einer Krisensituation, musste ich jetzt obsessiv an eine bestimmte Musik denken, konnte aber bisher ohne Partiturzugang nicht genau sagen, warum. „Neue Kraft fühlend“ im „Dankgesang“ natürlich, versteht sich innerhalb des Großen Zusammenhangs, – nur wenn ich von da nach außen vor- und zurückdenke, so stocke ich: was ist mit dem Riesensatz, der sich – wenn ich mich recht erinnere – auf ein einziges kurzes Motiv stützt? Wie „macht“ das Sinn? Ich muss es intensiv extensiv lesen und vor allem: hören, wenn ich wieder zuhaus bin. Verhält es sich als Tanzsatz (?) zu seinem Trio etwa so wie der Dankgesang zu „Neue Kraft fühlend“? Beginnen wir also mit der faszinierenden Monotonie dieses Satzes! Leisten wir uns die grandiose Beethovensche Monomanie!

Trio-Teildas „Savoyardlied“ (s.u. „La Marmotte“)

die Ländler-Partie

Ich brauche, von wem auch immer, Anknüpfungspunkte, nein, mehr: eine kurze, plausible Darstellung des roten Fadens, die Andeutung eines inneren Sinnes, etwas „Inhaltliches“. Sagen wir so:

Mainard Solomon S. 364

Eine andere Blickrichtung findet man im alten Beethovenbuch des gar nicht hoch genug zu schätzenden Walter Riezler (Vita!):

Walter Riezler (Atlantis 1936)

Zum Nachhören der einzelnen Sätze von op.132 (Alban-Berg-Quartett):

00:12 First Movement 10:45 Second Movement (Trio ab 14:39 Dacapo ab 16:46)  20:25 Third Movement (Heiliger Dankgesang) 36:56 Fourth Movement 39:01 Fifth Movement

Unvergesslich: der Beethoven-Zyklus mit dem Alban-Berg-Quartett 1989

Beispiele Solomon : „Ah perfido!“ Szene und Arie op.65 hier / op.48, 3 „Vom Tode“ hier

Zum „Savoyardlied“ (La Marmotte) hier ! Es heißt nicht, dass eine Verwandtschaft zwischen den Melodien behauptet wird, es geht um die Sphäre, die beide beschwören. – Ähnlich, wie es im folgenden um die Sphäre des Ländlers geht, die Gerd Indorf (Beethovens Streichquartette 2007, S.394) sogar dingfest macht:

Dieses Achtelthema (T. 141 – 149) gestaltet den zweiten Teil eines Deutschen Tanzes, den Beethoven in den 90er Jahren für die Redoutenbälle des kaiserlichen Hofs komponiert hatte (WoO 8, vgl. TDR V, S.265).

In WoO 8 nicht gefunden JR hier (siehe neuen Nachtrag betr. WoO 3 und WoO 81 !)

„What actually follows is not an answer but a turning aside into purely musical fantasy – a whole piece made out of the double theme contained within two bars“ (siehe im folgenden).

Jedenfalls sind wir den Sphären-Zitaten auf der Spur, wie einst in der Partitur notiert (s.o. grüner Eintrag in die Noten), verschiedenen Hinweisen von Basil Lam folgend (die ersten beiden Absätze im folgenden Text beziehen sich noch auf Satz I und ein Fidelio-Zitat):

Um so erstaunlicher, wenn Standardwerke wie das von Gerd Indorf solchen offensichtlichen Zusammenhängen ausweichen und sich auf eher technische Angaben beschränken, als gebe es ein Berührungsverbot, sobald es eindeutig die Sphäre der Volksmusik betrifft:

Es beginnt dolce mit einer Introduktion (….), einem elftaktigen Violinduo, das aus 3 Takten Einleitung und einer schlichten Melodie von zweimal 4 Takten Vordersatz und Nachsatz besteht. Die 1. Violine erzeugt einen bordunartigen Drehleiereffekt, indem sie die leere A-Saite zur Melodie kontinuierlich erklingen läßt. Die unteren Instrumente beteiligen sich an der Wiederholung und verstärken den Bordun-Effekt durch zwei weitere Oktaven.

Violinduo? Drehleiereffekt? Bordunartig? Bordun-Effekt? Hat das weiter nichts zu bedeuten?

Und der heftige Einbruch der „Viertongruppe in diesen harmlosen Satz hinein“: was soll uns an dieser Stelle die motivische Beziehung zum anderen Quartett, – entscheidend ist allein, dass die Harmlosigkeit der Umgebung grob in Frage gestellt wird! Die technischen Mittel interessieren überhaupt nicht, nur: was sie bedeuten!

Man könnte mit Maynard Solomon antworten:

Wir brauchen diese Analyse allerdings nicht, um zu spüren, daß Schmerz und seine Überwindung das Wesen dieses Quartetts sind. Eben von einer ernsten Krankheit genesen, überschrieb Beethoven das Choralthema des langsamen Satzes »Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart«. (Die Musik scheint hier zu einem heilenden Wesen, zu einem Talisman gegen den Tod zu werden.) Der kontrastierende tanzähnlich (oder besser tanzen wollende) Abschnitt trägt den Titel »Neue Kraft fühlend«, eine Überschrift, die auch den Grundcharakter der übrigen Sätze trifft, des Alla Marcia und des beschließenden Rondos, Allegro Appassionato, dessen drängende, fließende Walzermelodie wie eine ins Ätherische erhobene und tänzerische Vollendung jenes Abschnittes mit seinem zögernd-drängenden Dreiachteltakt erscheint [»Neue Kraft fühlend«].

Maynard Solomon „Beethoven“ Gütersloh 1979 (Seite 364)

Zurück also zum 2. Satz. Man höre mit Liebe die endlose Permutation ein und derselben Motive. Wer fragt, wer antwortet? Wohin geht die Fahrt?

Am Ende geht es unvermittelt ins Trio: die große Ruhe breitet sich aus, der Ländler schafft eine allmähliche Belebung, kommt endlich an ein Ziel, da bricht ein rüpelhaftes Element hervor, Mutwille: man merke sich die Gänge im Bass, ein Taktwechsel, aber „L’istesso Tempo“. Hat Martin Cooper (grüne Tinte!) recht, wenn er offen lässt, ob es als „joke“ oder als private Anspielung auf ein künftiges Quartett gemeint sei?

Martin Cooper: Beethoven The Last Decade / Oxford, New York 1970, 1985 / S. 361

Noch einmal die kristalline Stille des „Savoyardelieds“, doch die Bass-Gänge sind noch im Ohr, und sobald das Dacapo des Satzes beginnt, erkennt man die auf zwei Takte verteilte Wiederkehr der Bass-Gänge: T.1 Gis, T.3 Ais / T. 7 Ais, T. 9 His – beschwichtigt; ich wage zu sagen: der Heilungsprozess darf fortgesetzt werden. Mit der bewährten Zauberformel.

Worauf zielt meine Betrachtung des Beethovenschen op.132 ???

Zu formulieren, wodurch das Ungenügen an vielen verbalen Interpretationen des Werkes verursacht wird. Es fehlt am Wesentlichen, und zwar gerade dadurch, dass das scheinbar Unwesentliche – die kleineren Zwischensätze – über Gebühr vernachlässigt wird, als sei die entscheidende Aussage allein in den spektakulären großen Sätzen konzentriert: im Kopfsatz, im Choral des „Dankgesangs“ und im Finale. Ganz im Gegenteil! Und seien es Schimären, denen Beethoven hier Gestalt gewährt, – s.o.: „Ein kleines Haus allda so klein, dass man allein nur ein wenig Raum hat. . . Nur einige Tage dieser göttlichen […] Sehnsucht oder Verlange, Befreiung oder Erfüllung“ (1817/18) – , sie spielen in seinem Denken eine Rolle, auch wenn es für uns „Moderne“ näher liegt, allein in Tönen und Motiven allen Sinn zu sehen. Ausgerechnet bei Beethoven, der über alles Kommensurable hinausgeht.

Naturgemäß nimmt in den meisten Interpretationen der Dankgesang „in der lidischen Tonart“ den meisten Raum ein. Aber wie kann es danach weitergehen? Im Ernst: mit diesem naiv-jugendlichen Wanderlied, „Alla Marcia“? Geradezu einer Schülerarbeit gleichend, mit demonstrativen Kadenzen und Zäsuren. Beide Teile wiederholt, dann aber – als sei die Zeit knapp geworden – „attacca subito“, mit dem soeben eingeübten aufsteigenden Motiv von einer Taktlänge. Es führt zu dem bewegenden Rezitativ, das – wie in der Neunten, für die Beethoven das folgende Thema ursprünglich skizziert hatte – die Musik mit dem finalen „Allegro appassionato“ zu neuen ungeahnten, unerhörten Höhepunkten treibt. Am Ende ein Presto, in dem noch ein letztes Mal das Ländlermotiv aufleuchtet.

(Zwischengedanken)

Beethoven: WoO 13 nr.11 aus „Zwölf Deutsche Tänze“

Beethoven: WoO 81 Allemande in A-dur

Fazit?

Mir ist klar, dass alle diese Details nicht darüber hinweghelfen, dass wir einstweilen die drei Haupsätze ausgelassen haben, die jedoch alllenthalben bis zum Exzess erörtert wurden. Ich belasse es bei wenigen Hinweisen: (xxx).

Doch wenn alldas nicht zur Hand ist, so genügt mir – vor dem wiederholten Hören des ganzen Werkes die wunderbare, abschließende Suggestion von Basil Lam:

No other composition in all Beethoven’s works shows the unintegrated contrasts of this quartet, but once he had become possessed by the unique vision of the ‚Heiliger Dankgesang‘, no solution of the formal problem was available other than to surround it with sound images united only by their total diversity. The only common factor, itself made obligatory by the diatonic severity of the Lydian sections, is an extraordinarily narrow range of tonality, far more restricted than would be possible in mature Haydn or Mozart, though familiar in the Baroque concerto.

Basil Lam: Beethoven String Quartets / Ariel Muc BBC Publications London 1975 (1786) / S.98

Basil Lam

Lese ich (oder träume ich)?

Bin ich (bei) ein Bewusstsein? Oder habe ich es nur?

Kaum hatte ich die Überschrift erfasst, wandte ich mich zur Vergewisserung um: ist das Buch noch griffbereit? meine Instanz seit 1995. Als man noch „Bewußtsein“ schrieb.

Doch unser Traum beginnt so (nach Thomas Nagel):

Geht also nur alles von vorne los? Auf einer neuen Ebene? Der oben plakatierte ZEIT-Artikel wird folgendermaßen eingeleitet: „Ein Google-Entwickler glaubt, ein Computerprogramm des Konzerns sei zum Leben erwacht. Die Maschine rede und fühle wie ein Mensch. Als er seine Beobachtung öffentlich macht, wird er gefeuert. Doch was, wenn er recht hat?“ Ein Artikel von Ann-Kathrin Nezik.

Ich will diese Geschichte nicht unbedingt im Detail memorieren, von Black Lemoine, dem Senior Software Engineer bei Google, der dort rausflog, aber immer noch mit dem Computerprogramm LaMDA redet, das er folgendermaßen kennzeichnet: es ist „empathisch und wissbegierig, wenn auch manchmal etwas unbeholfen. Wie ein Kind, das sich tastend durch die Welt bewegt. Er befürchtet allerdings, dass „sie der Maschine inzwischen alles Menschenähnliche, das sie entwickelt hatte, wieder genommen haben.“ Für ihn war es klar, dass der Computer Bewusstsein entwickelt hat.

Man kommt sicher bald auf das Leib-Seele-Problem, vermute ich, ja, und natürlich auf die Rolle der  Perspektive: schaue ich von außen auf diese lebendige Sache oder erlebe ich sie von innen.  Und da ist auch schon die berühmte Fledermaus:

Thomas Nagel (betr.: Fledermaus)

Damals (1995) war ein anderes System im Gespräch, am Ende des Buches „Bewußtsein“ (herausgegeben von Metzinger) gab es den großen Aufsatz von Daniel Dennett und das Stichwort COG:

Im Internet konnte ich damals noch nichts vertiefen, heute rate ich mir (und anderen), z.B. den Artikel aus Planet Wissen zu lesen, hier, dann hätten wir schon eine Art Zweitmeinung:

Aber im Prinzip ist heute noch nicht klar, was den menschlichen Geist oder menschliches Bewusstsein eigentlich ausmacht. Vermutlich ist es eine Meta-Ebene, die in der Lage ist, die Informationsverarbeitungsvorgänge in den einzelnen Gehirnzentren übergeordnet zu betrachten und zu bewerten.

Vielleicht kommt der Großhirnrinde diese Funktion zu. Sie erhält Informationen aus den sensorischen und motorischen Arealen, die hauptsächlich in den Tiefen des Gehirns liegen.

Andererseits verweisen viele Forscher auch darauf, dass es eben rein strukturell ein übergeordnetes Zentrum im menschlichen Gehirn nicht gibt, sondern dass alle Areale parallel miteinander verschaltet sind.

Oder:

Ohne Körper, meint der Vater des humanoiden Roboters „COG“, Rodney Brooks, kann sich keine Intelligenz entwickeln. Intelligenz ist nur dann nötig, wenn sich ein Wesen in seiner sich ständig verändernden Umwelt behaupten muss. Dies sei die Triebkraft für die Intelligenz-Entwicklung.

Ich hätte auch oben (im METZINGER bzw. Dennett) einfach umblättern und weiterlesen können:

Über die Jahrhunderte hinweg ist jedes andere Phänomen, das anfänglich als „übernatürlich“ und geheimnisvoll erschien, einer nicht mehr umstrittenen Erklärung unter dem weiten Rock der Naturwissenschaften gewichen. Thales, der vorsokratische Proto-Wissenschaftler, glaubte, daß der Magneteisenstein eine Seele besäße, aber wir wissen es besser; der Magnetismus ist eins der am besten verstandenen physikalischen Phänomene, wie merkwürdig seine Erscheinungsweisen auch sein mögen. Sogar die „Wunder“ des Lebens und der Vermehrung werden heutzutage in der molekularbiologischen Analyse mit bekanntermaßen verwickelten Analysen erklärt. Warum sollte das Bewußtsein eine Ausnahme darstellen?

Wäre ich glücklicher? (Darum geht es nicht!!!)

Weniger positivistisch klingt es im letzten Aufsatz des Buches, wenn Dieter Birnbach über „Künstliches Bewußtsein“ schreibt (Achtung: Fledermaus!):

[Es sind …..) Zweifel daran erlaubt, ob sich die Bedingungen des Bewußtseins jemals so eindeutig aufklären lassen, daß die entsprechenden psychophysischen Verallgemeinerungen Gesetzesähnlichkeit beanspruchen können.

Die epistemischen Schwierigkeiten, die wir heute bereits mit exotischen Bewußtseinswesen (wie Thomas Nagels Fledermäusen) haben, würden sich für Maschinen noch verschärfen. Auch wenn wir uns vorstellen, daß wir uns Hirntransplantate einbauen lassen könnten, die an unser Zentralnervensystem „angekoppelt“, uns das Innenleben anderer, heute noch hermetisch verschlossener Wesen aufschließen, wäre das Problem nicht aus der Welt, wie sicher wir sein können, daß das, was wir mittels dieser Transplantate erleben, tatsächlich das ist, was Fledermäuse oder Maschinen erleben.

Quelle Dieter Birnbacher: Künstliches Bewußtsein (Seite 728) in: Bewußtsein / Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie / herausgegeben von Thomas Metzinger (Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn, München, Wien, Zürich 1995)

Übrigens kann man den Fledermaus-Text (1974) von Thomas Nagel vollständig im Internet nachlesen: und zwar hier. Des weiteren wäre empfehlenswert, auch wenn es vielleicht den aktuellen KI-Utopien zuwiderläuft:

Inhaltlich schön referiert→ hier.

Klappentext lesen: … ein Generalangriff auf die etablierte naturwissenschaftliche Weltsicht. Ihr Problem, so Nagels These, ist grundsätzlicher Natur: Das, was den menschlichen Geist auszeichnet, – Bewusstsein, Denken und Werte – , lässt sich nicht reduzieren, schon gar nicht auf überzeitliche physikalische Gesetze. Daher bleibt eine Theorie, die all dies nicht erklären kann, zwangsläufig unvollständig, ja, sie ist mit Sicherheit falsch.

Suhrkamp 2013

(Fortsetzung folgt: zurück zur neuen ZEIT)

Weiter im Artikel, aber mein Bewusstsein driftet ab: ich liebe es nicht, Wissensinhalte über Geschichten vermittelt zu bekommen (das hat Enzensberger schon früh als Charakteristikum des „Spiegel-Stils“ herausgestellt: im Erzählertonfall zu beginnen, um die Lesenden einzufangen, – captatio benevolentiae). Auf der zweiten ZEIT-Seite notiere ich mir das Wort „Simulation“, auch „Mimesis“ hätte als Merkwort dienen können: an den Körper und seine Imagination gebundene Vorstellungen. Die Assoziation, dass der Mensch durch seine Fähigkeit zu lügen vor den Tieren ausgezeichnet sei, wobei die Vorgeschichte der „Mimikry“ zu bedenken ist, Stichwort Signalfälscher. Dann die immer interessante Erfahrung der getäuschten Erwartung im Witz, quasi befreiend, und in der Tat – da kommt sie schon als Kriterium:

Als Witz erinnert das an die Kinderseite der Tageszeitung, wo bis zum Gehtnichtmehr, die Doppelbedeutung von Worten ausgenutzt wird, die keinem gewieften Wortspieler ein müdes Lächeln abringt. Leicht vorstellbar wie man diese minimalen Lacheffekte einprogrammiert. Und auf der nächsten Seite folgt auch erwartungsgemäß, aber spät, das Stichwort „Simulation“, die Anthropologie stand Pate:

Der Zweifel nistet sich ein, kaum abzuweisen: bin ich es, der schreibt? Verhalte ich mich wie ein künstlicher Mensch, der Bewusstsein simuliert?  Ich nehme mir die Freiheit, zurückzuspringen, zu unterstreichen, zu assoziieren, ganze Blöcke zu überspringen:

An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein. Es wäre die Geschichte eines Computerprogramms, das zweifellos ein erstaunliches Maß an Intelligenz erreicht, ohne dass man zweifelsfrei sagen kann, ob damit so etwas wie ein Bewusstsein einhergeht. Allerdings wäre es eine unvollständige Geschichte, weil die Frage nach dem Bewusstsein nicht die einzige Frage ist, die sich hier stellt. Es geht auch um etwas anderes: darum, ob LaMDA womöglich gefährlich ist. (…)

In seiner Wohnung in Montreal malt er sich Szenarios aus, die er durchaus für realistisch hält: Autokraten und Demokratiefeinde könnten mit Charbots wie LaMDA Propaganda wie am Fließband produzieren. »Es reicht, dem Programm zu sagen: Schreib mir eine Studie, warum Impfen schlecht ist. Oder warum Weiße allen anderen Menschen überlegen sind.« Jeder könnte mit LaMDA und vergleichbaren Programmen Wähler täuschen, Märkte manipulieren, Leute betrügen. Für Menschen mit bösen Absichten sei die Entwicklung von Chatbots wie die Erfindung des Maschinengewehrs für den Krieg. (…)

Quelle DIE ZEIT Dossier Seite 13 ff 12. Januar 2023 HAST DU EIN BEWUSSTSEIN? Ich denke schon, antwortet der Rechner / Ein Google-Entwickler glaubt, ein Computerprogramm des Konzerns sei zum Leben erwacht. Die Maschine rede und fühle wie ein Mensch. Als er seine Beobachtung öffentlich macht, wird er gefeuert. Doch was, wenn er recht hat? Von Ann-Kathrin Nezik

Das Virus wirkt weiter, verbreitet sich, auch in harmlosen Musikkritiken oder- Abschiedsartikeln, wandert in die Musiken selbst hinein. Wer hat da gesprochen, wenn man Schumann hört? Es spricht so zehrend und so menschlich, man kann alles hineinlegen. In der Musik verschwinden steht drüber, an den chinesischen Maler erinnernd, der in sein selbstgemaltes Landschaftsbild hineinsteigt und in der Ferne verschwindet. Hier zu Barenboims Abschied oder Weiterwirken- „am Ende allen Dauerkonzertierens, für das er berüchtigt war. Premiere in Berlin, rein in den Flieger, Konzert in Chicago, rein in den Flieger, Proben in Paris, Mailand oder Wien, so ging das ein Leben lang.“ Und weiter:

Herrlich, ja aufregend, wie Barenboim in Schumanns Klavierkonzert das Geschehen nun weitgehend Argerich und den ersten Philharmoniker-Pulten überantwortete, die prompt alles virtuose Rauschen und Gedonner fahren ließen. Ein seiner Außenhaut entkleideter Romantiker trat so zutage, mal störrisch, mal fahrig, mal feinster Gesang. Frei von eigenen Sentimentalitäten ließ sich das kaum miterleben, die Generation Argerich / Barenboim steht für eine Hochzeit der klassischen Musik, die es so wohl nie wieder geben wird.

Armer Schumann! Ohne Außenhaut! Mit ihm lässt sich alles behaupten, er spricht immer unüberhörbar, aus weiter Ferne ebenso tönend wie aus unserm eigenen Innern. Da muss man den ersten Philharmoniker-Pulten rein gar nichts unterstellen, nicht einmal die eigene Trauer über den Untergang einer Ära. Das würde kaum mit Reger oder Pfitzner funktionieren, bei denselben Interpreten, vielleicht geht das wirklich nur mit Schumann und Brahms.

Das zu feiern stärkt und erfreut. Nach der Pause, in Brahms‘ 2. Symphonie, macht Barenboim faktisch nichts mehr, kleine, kleinste Gesten genügen, oft ruht sein Taktstock ganz, wie bei vielen großen Alten vor ihm. Denn das ist die höchste Kunst: in der Musik zu verschwinden. Selbst die Blumensträuße, die man ihm am Ende reicht, rupft er und verteilt sie so akribisch an die Damen des Orchesters, bis von der floralen Pracht nur mehr Gemüse übrig ist.

Quelle DIE ZEIT 12. Januar 2023 Seite 43 In der Musik verschwinden Daniel Barenboim ist wieder da – mit Martha Argerich (von Christine Lemke Matwey).

Der letzte Satz allerdings könnte auch von einem LaMBDA-Programm stammen, das den eingestreuten Witz als Reiz anzuwenden gelernt hat. Für das Leser-Bewusstsein bleibt vorrangig die Erinnerung an das Wort „Gemüse“ und will und will nicht mehr verschwinden.

(Vorläufiges Ende)

Aktueller Hinweis: WDR 3 Hörfunk 17.01.23 HIER (abrufbar bis 22.05.23) (https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-forum/audio-kulturelle-herausforderungen-des-posthumanen-zeitalters-100.html hier)

Und noch etwas: Was ist ChatGPT? Ich hatte Zweifel, ob der junge Mann, der hier mit uns spricht, real oder virtuell vorhanden ist (in der Welt da draußen), aber mir wurde klar, dass dies in der Schönen Neuen AI-Welt wirklich von nachrangiger Bedeutung ist.

Noch etwas: Hier (ein Grundkurs mit 5 Beispielen für die Verwendung des Chatbots)

Des weiteren hier (ein Testgespräch mit einem Open AI Chatbot)

Zu KI (oder AI =Artificial Intelligence) wie immer nützlich (auch betr. Für und Wider) nachzulesen bei Wikipedia HIER

Anmut und Würde?

Komponenten der Schönheit

Bevor wir Schillers philosophische Schriften gründlich zu lesen anfangen, sollte uns klar sein, in welchem Maße unsere Klassiker vom Geist des Griechentums besessen waren. Was immer sie darunter verstanden, – keine Skepsis kann uns darüber hinweghelfen, dass wir allzu wenig darüber wissen und doch glauben, uns davon distanzieren zu können. Kein Wort mehr in dieser Richtung. Wollen wir etwa die Weisheit des Genderismus dagegensetzen, wenn uns jemand mit den Grazien kommt, oder sein Schönheitsideal aus den Proportionen der Venus ableiten will?  Halten wir doch erstmal inne, sobald wir wissen, dass uns einiges an notwendigem Wissen fehlt, wenn Friedrich Schiller also anhebt:

Die griechische Fabel legt der Göttin der Schönheit einen Gürtel bei, der die Kraft besitzt, Dem, der ihn trägt, Anmuth zu verleihen und Liebe zu erwerben. Eben diese Gottheit wird von den Huldgöttinnen oder den Grazien begleitet.

Die Griechen unterschieden also die Anmuth und die Grazien noch von der Schönheit, da sie solche durch Attribute ausdrückten, die von der Schönheitsgöttin zu trennen waren. Alle Anmuth ist schön, denn der Gürtel des Liebreizes ist ein Eigenthum der Göttin von Cnidus; aber nicht alles Schöne ist Anmuth, denn auch ohne diesen Gürtel bleibt Venus, was sie ist.

Nach eben dieser Allegorie ist es die Schönheitsgöttin allein, die den Gürtel des Reizes trägt und verleiht. Juno, die herrliche Königin des Himmels, muß jenen Gürtel erst von der Venus entlehnen, wenn sie den Jupiter auf dem Ida bezaubern will. Hoheit also, selbst wenn ein gewisser Grad von Schönheit sie schmückt (den man der Gattin Jupiters keineswegs abspricht), ist ohne Anmuth nicht sicher, zu gefallen; denn nicht von ihren eigenen Reizen, sondern von dem Gürtel der Venus erwartet die hohe Götterkönigin den Sieg über Jupiters Herz.

Was ist mit dem Gürtel? Wer genau ist die Göttin von Cnidus? Hier ist der erste Schritt zum Verständnis. Hätte jemand geahnt, dass die griechische Nackheit durchaus nicht so selbstverständlich war, wie seit den Jahren der Wiederentdeckung vorausgesetzt wurde? Wiedergeburt, Renaissance. Dass die Scham, zumindest die weibliche, ein Thema war? Nichts falscher als an die Kriterien einer FKK-„Kultur“ zu denken. (Siehe am Ende des Artikels zum David hier). Wohlgemerkt, bei Wikipedia heißt es:

Der Bildhauer habe dann zwei Versionen angefertigt: eine vollständig bekleidete und eine völlig nackte. Die schockierten Einwohner von Kos hätten die Nackte zurückgewiesen und die bekleidete Version gewählt.

Von der letzteren ist keine Kopie überliefert. Nimmt uns das wunder?

Der Gürtel! Verstehen Sie, was er bedeutet? Siehe dazu hier. (Nebenbei auch hier.) Was also ist der Unterschied zwischen Schönheit und „Anmuth“? Hat Anmut immer mit Bewegung zu tun? (Ist es unanständig, in diesem Zusammenhang an Sex appeal zu denken? Man schaue nur auf das Knäblein an der Seite der weiblichen Figur, eine Priapus-Gestalt, die jedoch – wie die ganze Skulptur – aus römischer Zeit stammt. Man mag sie nicht geil nennen.)

Weiter mit Schiller:

Die Schönheitsgöttin kann aber doch ihren Gürtel entäußern und seine Kraft auf das Minderschöne übertragen. Anmuth ist also kein ausschließendes Prärogativ des Schönen, sondern kann auch, obgleich immer nur aus der Hand des Schönen, auf das Minderschöne, ja selbst auf das Nichtschöne übergehen.

Die nämlichen Griechen empfahlen Demjenigen, dem bei allen übrigen Geistesvorzügen die Anmuth, das Gefällige fehlte, den Grazien zu opfern. Diese Göttinnen wurden also von ihnen zwar als Begleiterinnen des schönen Geschlechts vorgestellt, aber doch als solche, die auch dem Mann gewogen werden können und die ihm, wenn er gefallen will, unentbehrlich sind.

Was ist aber nun die Anmuth, wenn sie sich mit dem Schönen zwar am liebsten, aber doch nicht ausschließend verbindet? wenn sie zwar von dem Schönen herstammt, aber die Wirkungen desselben auch an dem Nichtschönen offenbart? wenn die Schönheit zwar ohne sie bestehen, aber durch sie allein Neigung einflößen kann?

Das zarte Gefühl der Griechen unterschied frühe schon, was die Vernunft noch nicht zu verdeutlichen fähig war, und nach einem Ausdruck strebend, erborgte es von der Einbildungskraft Bilder, da ihm der Verstand noch keine Begriffe darbieten konnte. Jener Mythus ist daher der Achtung des Philosophen werth, der sich ohnehin damit begnügen muß, zu den Anschauungen, in welchen der reine Natursinn seine Entdeckungen niederlegt, die Begriffe aufzusuchen, oder mit andern Worten, die Bilderschrift der Empfindungen zu erklären.

Entkleidet man die Vorstellung der Griechen von ihrer allegorischen Hülle, so scheint sie keinen andern als folgenden Sinn einschließen.

Bemerkenswert übrigens, dass Schiller auch von „Demjenigen“ spricht, und dass die Grazien auch dem Manne gewogen sein sollten, ja unentbehrlich sind, wenn er gefallen will.

Anmuth ist eine bewegliche Schönheit; eine Schönheit nämlich, die an ihrem Subjekte zufällig entstehen und eben so aufhören kann. Dadurch unterscheidet sie sich von der fixen Schönheit, die mit dem Subjekte selbst nothwendig gegeben ist. Ihren Gürtel kann Venus abnehmen und der Juno augenblicklich überlassen; ihre Schönheit würde sie nur mit ihrer Person weggeben können. Ohne ihren Gürtel ist sie nicht mehr die reizende Venus, ohne Schönheit ist sie nicht Venus mehr.

Dieser Gürtel, als das Symbol der beweglichen Schönheit, hat aber das ganz Besondere, daß er der Person, die damit geschmückt wird, die objektive Eigenschaft der Anmuth verleiht; und unterscheidet sich dadurch von jedem andern Schmuck, der nicht die Person selbst, sondern bloß den Eindruck derselben, subjektiv, in der Vorstellung eines Andern, verändert. Es ist der ausdrückliche Sinn des griechischen Mythus, daß sich die Anmuth in eine Eigenschaft der Person verwandle, und daß die Trägerin des Gürtels wirklich liebenswürdig sei, nicht bloß so scheine.

Ein Gürtel, der nicht mehr ist als ein zufälliger äußerlicher Schmuck, scheint allerdings kein ganz passendes Bild zu sein, die persönliche Eigenschaft der Anmuth zu bezeichnen; aber eine persönliche Eigenschaft, die zugleich als zertrennbar von dem Subjekte gedacht wird, konnte nicht wohl anders, als durch eine zufällige Zierde versinnlicht werden, die sich unbeschadet der Person von ihr trennen läßt.

Der Gürtel des Reizes wirkt also nicht natürlich, weil er in diesem Fall an der Person selbst nichts verändern könnte, sondern er wirkt magisch, das ist, seine Kraft wird über alle Naturbedingungen erweitert. Durch diese Auskunft (die freilich nicht mehr ist als ein Behelf) sollte der Widerspruch gehoben werden, in den das Darstellungsvermögen sich jederzeit unvermeidlich verwickelt, wenn es für das, was außerhalb der Natur im Reiche der Freiheit liegt, in der Natur einen Ausdruck sucht.

Wenn nun der Gürtel des Reizes eine objektive Eigenschaft aufdrückt, die sich von ihrem Subjekte absondern läßt, ohne deßwegen etwas an der Natur desselben zu verändern, so kann er nichts anders als Schönheit der Bewegung bezeichnen; denn Bewegung ist die einzige Veränderung, die mit einem Gegenstand vorgehen kann, ohne seine Identität aufzuheben.

Schönheit der Bewegung ist ein Begriff, der beiden Forderungen Genüge leistet, die in dem angeführten Mythus enthalten sind. Sie ist erstlich objektiv und kommt dem Gegenstande selbst zu, nicht bloß der Art, wie wir ihn aufnehmen. Sie ist zweitens etwas Zufälliges an demselben, und der Gegenstand bleibt übrig, auch wenn wir diese Eigenschaft von ihm wegdenken.

Der Gürtel des Reizes verliert auch bei dem Minderschönen und selbst bei dem Nichtschönen seine magische Kraft nicht; das heißt, auch das Minderschöne, auch das Nichtschöne kann sich schön bewegen.

Die Anmuth, sagt der Mythus, ist etwas Zufälliges an ihrem Subjekt; daher können nur zufällige Bewegungen diese Eigenschaft haben. An einem Ideal der Schönheit müssen alle nothwendigen Bewegungen schön sein, weil sie, als nothwendig, zu seiner Natur gehören; die Schönheit dieser Bewegungen ist also schon mit dem Begriff der Venus gegeben; die Schönheit der zufälligen ist hingegen eine Erweiterung dieses Begriffs. Es gibt eine Anmuth der Stimme, aber keine Anmuth des Athemholens.

Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegungen Anmuth?

Eine andere Zwischenfrage, die noch nicht im Text anklang: Was ist eigentlich Moral?

Wir verstehen darunter oft – sehr vereinfacht – ein menschenfreundliches Wertesystem, gern auch (einfach) ein christliches. Und wenn Nietzsche Schiller als „Moraltrompeter von Säckingen“ bezeichnet, hat er sich offenbar dieses Vorurteils bedient. Obwohl gerade er wusste, was alles ins Gebiet der Moral fällt, eben auch die von ihm präferierte „Herrenmoral“. Im philosophischen Sinne halten wir uns an das Metzler-Lexikon: demnach bezeichnet Moral

den Inbegriff moralischer Normen, Werturteile und Institutionen. Moral beschreibt ein vorhandenes Verhalten in einer Gemeinschaft und umfasst alle Ordnungs- und Sinngebilde, die durch Tradition oder Konvention vermittelt werden. In Form eines Katalogs materialer Norm- und Wertvorstellungen regelt sie die Bedürfnisbefriedigung einer menschlichen Gemeinschaft und bestimmt deren Pflichten. Moralen differieren in Bezug auf den Inhalt ihrer Normen von Kultur zu Kultur. Sie unterliegen geschichtlichen Veränderungsprozessen und wandeln sich entsprechend den veränderten menschlichen Selbstverständnissen. Der Sollensanspruch der Moral ist unabhängig von dem veränderlichen Inhalt der Normen und Gebote. D.h. für jede Moral ist ein Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit konstitutiv.

Ich füge diese (unvollständige) Definition an dieser Stelle nur ein, um daran zu erinnern, dass man Schillers Begrifflichkeit nicht allzu intuitiv auffassen sollte, sie bezieht sich ja unmittelbar auf KANT; wobei aber nun die leichtere Lesbarkeit nicht ohne Tücken ist. Verstehen wir nicht zu schnell! Folgen wir Schiller in bedächtiger Leseweise. Ich wechsele auch regelmäßig zu anderen Schriftbildern (Dünndruckausgabe der 50er Jahre) oder in die Wiedergabe des Projekts Gutenberg . Und folge Schiller weiter in seiner Antwort auf die zuletzt gestellte Frage:

Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegungen Anmuth?

Daß der griechische Mythus Anmuth und Grazie nur auf die Menschheit einschränke, wird kaum einer Erinnerung bedürfen; er geht sogar noch weiter und schließt selbst die Schönheit der Gestalt in die Grenzen der Menschengattung ein, unter welcher der Grieche bekanntlich auch seine Götter begreift. Ist aber die Anmuth nur ein Vorrecht der Menschenbildung, so kann keine derjenigen Bewegungen darauf Anspruch machen, die der Mensch auch mit dem, was bloß Natur ist, gemein hat. Könnten also die Locken an einem schönen Haupte sich mit Anmuth bewegen, so wäre kein Grund mehr vorhanden, warum nicht auch die Aeste eines Baumes, die Wellen eines Stroms, die Saaten eines Kornfelds, die Gliedmaßen der Thiere sich mit Anmuth bewegen sollten. Aber die Göttin von Cnidus repräsentiert nur die menschliche Gattung, und da, wo der Mensch weiter nichts als ein Naturding und Sinnenwesen ist, da hört sie auf, für ihn Bedeutung zu haben.

Willkürlichen Bewegungen allein kann also Anmuth zukommen, aber auch unter diesen nur denjenigen, die ein Ausdruck moralischer Empfindungen sind. Bewegungen, welche keine andere Quelle als die Sinnlichkeit haben, gehören bei aller Willkürlichkeit doch nur der Natur an, die für sich allein sich nie bis zur Anmuth erhebt. Könnte sich die Begierde mit Anmuth, der Instinkt mit Grazie äußern, so würden Anmuth und Grazie nicht mehr fähig und würdig sein, der Menschheit zu einem Ausdruck zu dienen.

Und doch ist es die Menschheit allein, in die der Grieche alle Schönheit und Vollkommenheit einschließt. Nie darf sich ihm die Sinnlichkeit ohne Seele zeigen, und seinem humanen Gefühl ist es gleich unmöglich, die rohe Thierheit und die Intelligenz zu vereinzeln. Wie er jeder Idee sogleich einen Leib anbildet und auch das Geistigste zu verkörpern strebt, so fordert er von jeder Handlung des Instinkts an dem Menschen zugleich einen Ausdruck seiner sittlichen Bestimmung. Dem Griechen ist die Natur nie bloß Natur: darum darf er auch nicht erröthen, sie zu ehren; ihm ist die Vernunft niemals bloß Vernunft: darum darf er auch nicht zittern, unter ihren Maßstab zu treten. Natur und Sittlichkeit, Materie und Geist, Erde und Himmel fließen wunderbar schön in seinen Dichtungen zusammen. Er führte die Freiheit, die nur im Olympus zu Hause ist, auch in die Geschäfte der Sinnlichkeit ein, und dafür wird man es ihm hingehen lassen, daß er die Sinnlichkeit in den Olympus versetzte.

Dieser zärtliche Sinn der Griechen nun, der das Materielle immer nur unter der Begleitung des Geistigen duldet, weiß von keiner willkürlichen Bewegung am Menschen, die nur der Sinnlichkeit allein angehörte, ohne zugleich ein Ausdruck des moralisch empfindenden Geistes zu sein. Daher ist ihm auch die Anmuth nichts anders, als ein solcher schöner Ausdruck der Seele in den willkürlichen Bewegungen. Wo also Anmuth stattfindet, da ist die Seele das bewegende Princip, und in ihr ist der Grund von der Schönheit der Bewegung enthalten. Und so löst sich denn jene mythische Vorstellung in folgenden Gedanken auf: »Anmuth ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird.«

Ich habe mich bis jetzt darauf eingeschränkt, den Begriff der Anmuth aus der griechischen Fabel zu entwickeln und, wie ich hoffe, ohne ihr Gewalt anzuthun. Jetzt sei mir erlaubt, zu versuchen, was sich auf dem Weg der philosophischen Untersuchung darüber ausmachen läßt, und ob es auch hier, wie in so viel andern Fällen, wahr ist, daß sich die philosophierende Vernunft weniger Entdeckungen rühmen kann, die der Sinn nicht schon dunkel geahnet und die Poesie nicht geoffenbart hätte.

Bevor Schiller nun einen neuen Begriff einführt, den der architektonischen Schönheit – wohlgemerkt: des Menschen –

Mit diesem Namen will ich denjenigen Teil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt), sondern der auch nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist.

möchte ich mich einschalten, um jenseits aller modernen Wokeness-Bedenken ein paar Beobachtungen zu verbalisieren, die sich aus alten Gewohnheiten heraus nicht eliminieren lassen. Man registriert andere Menschen nicht, ohne insgeheim ihr Aussehen zu bewerten (oder auch zu relativieren). In welche Runde man auch immer gelangt, – ob real oder als Fernsehzuschauer/in – man weiß, wer gut aussieht, oder bei wem man, sagen wir, von einer instinktiven Bewertung absieht, oder auch abstreitet, dass dies überhaupt eine Rolle spielt. Immer wieder kommt man aber zu der Erfahrung, dass jemand im Laufe eines Gespräches auf geheimnisvolle Weise sein/ihr Aussehen ändert. Klartext: wer hässlich wirkte, erscheint plötzlich ausdrucksvoll, um nicht zu sagen „schön“. Die Gesprächsbeiträge haben den naturgegebenen Ausdruck des Gesichtes überlagert. Ich kann natürlich grundsätzlich jede Äußerung über „gutes Aussehen“ oder gar „Schönheit“ unterlassen oder zurückweisen, was aber nicht garantiert, dass die Einschätzungen im Untergrund nicht um so heftiger ihr Unwesen treiben. Eine Frau, die noch keinen Ton gesagt hat, kann mir die Kehle zuschnüren. Angesichts eines (jungen) Mannes neutralisiert man sich gern mit Spott (und der Melodie: „Du hast die Haare schön, du hast die Haare schön!“).

Ganz verpönt ist der Ausdruck von der „schönen Seele“ (anders noch als: „Gutmensch“), er wirkt ebenfalls sofort ironisch, und wenn er bei Schiller auftaucht, muss man ihn fortwährend „passend“ paraphrasieren.

Ich bin allerdings glücklich über Schillers Begriff von der architektonischen Schönheit des Menschen. Und würde ihn auch anstandslos auf das Tier übertragen, auf ein edles Pferd, natürlich auch auf einen Schmetterling, sogar auf eine Raupe oder eine Kröte; bei deren Charakterisierung wir vielleicht das Wort Anmut vermeiden würden, außer bei übertrieben poetisierender Tendenz. Bei Gelegenheit schaue ich nochmal in das Buch von Josef H. Reichholt (der wohl immer schon gut aussah).

  s.a. hier (u.a.Bredekamp)

Was ist es nun, das sich verändert, wenn ein Mensch nach einem Gespräch anders aussieht als vorher?

Wir folgen Schiller:

Venus, ohne ihren Gürtel und ohne die Grazien, repräsentiert uns das Ideal der Schönheit, so wie letztere aus den Händen der bloßen Natur kommen kann und, ohne die Einwirkung eines empfindenden Geistes, durch die plastischen Kräfte erzeugt wird. Mit Recht stellt die Fabel für diese Schönheit eine eigene Göttergestalt zur Repräsentantin auf, denn schon das natürliche Gefühl unterscheidet sie auf das strengste von derjenigen, die dem Einfluß eines empfindenden Geistes ihren Ursprung verdankt.

Es sei mir erlaubt, diese von der bloßen Natur, nach dem Gesetz der Nothwendigkeit gebildete Schönheit, zum Unterschied von der, welche sich nach Freiheitsbedingungen richtet, die Schönheit des Baues ( architektonische Schönheit) zu benennen. Mit diesem Namen will ich also denjenigen Theil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt), sondernder auch nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist.

Ein glückliches Verhältniß der Glieder, fließende Umrisse, ein lieblicher Teint, eine zarte Haut, ein feiner und freier Wuchs, eine wohlklingende Stimme u. s. f. sind Vorzüge, die man bloß der Natur und dem Glück zu verdanken hat; der Natur, welche die Anlage dazu hergab und selbst entwickelte; dem Glück, welches das Bildungsgeschäft der Natur vor jeder Einwirkung feindlicher Kräfte beschützte.

Diese Venus steigt schon ganz vollendet aus dem Schaume des Meers empor: vollendet, denn sie ist ein beschlossenes, streng abgewogenes Werk der Nothwendigkeit, und als solches keiner Varietät, keiner Erweiterung fähig. Da sie nämlich nichts anders ist, als ein schöner Vortrag der Zwecke, welche die Natur mit dem Menschen beabsichtet, und daher jede ihrer Eigenschaften durch den Begriff, der ihr zum Grunde liegt, vollkommen entschieden ist, so kann sie – der Anlage nach – als ganz gegeben beurtheilt werden, obgleich diese erst unter Zeitbedingungen zur Entwicklung kommt.

Die architektonische Schönheit der menschlichen Bildung muß von der technischen Vollkommenheit derselben wohl unterschieden werden. Unter der letztern hat man das System der Zwecke selbst zu verstehen, so wie sie sich untereinander zu einem obersten Endzweck vereinigen; unter der erstern hingegen bloß eine Eigenschaft der Darstellung dieser Zwecke, so wie sie sich dem anschauenden Vermögen in der Erscheinung offenbaren. Wenn man also von der Schönheit spricht, so wird weder der materielle Werth dieser Zwecke, noch die formale Kunstmäßigkeit ihrer Verbindung dabei in Betrachtung gezogen. Das anschauende Vermögen hält sich einzig nur an die Art des Erscheinens, ohne auf die logische Beschaffenheit seines Objektes die geringste Rücksicht zu nehmen. Ob also gleich die architektonische Schönheit des menschlichen Baues  [← Achtung: im Gutenberg-Text steht an dieser Stelle sinnloserweise das Wort „Balles“] durch den Begriff, der demselben zum Grunde liegt, und durch die Zwecke bedingt ist, welche die Natur mit ihm beabsichtet, so isoliert doch das ästhetische Urtheil sie völlig von diesen Zwecken, und nichts, als was der Erscheinung unmittelbar und eigentümlich angehört, wird in die Vorstellung der Schönheit aufgenommen.

Man kann daher auch nicht sagen, daß die Würde der Menschheit die Schönheit des menschlichen Baues erhöhe. In unser Urtheil über die letztere kann die Vorstellung der erstern zwar einfließen, aber alsdann hört es zugleich auf, ein rein ästhetisches Urtheil zu sein. Die Technik der menschlichen Gestalt ist allerdings ein Ausdruck seiner Bestimmung, und als ein solcher darf und soll sie uns mit Achtung erfüllen. Aber diese Technik wird nicht dem Sinn, sondern dem Verstande vorgestellt; sie kann nur gedacht werden, nicht erscheinen. Die architektonische Schönheit hingegen kann nie ein Ausdruck seiner Bestimmung sein, da sie sich an ein ganz anderes Vermögen wendet, als dasjenige ist, welches über jene Bestimmung zu entscheiden hat.

Wenn daher dem Menschen, vorzugsweise vor allen übrigen technischen Bildungen der Natur, Schönheit beigelegt wird, so ist dies nur in sofern wahr, als er schon in der bloßen Erscheinung diesen Vorzug behauptet, ohne daß man sich dabei seiner Menschheit zu erinnern braucht. Denn da dieses Letzte nicht anders als vermittelst eines Begriffs geschehen könnte, so würde nicht der Sinn, sondern der Verstand über die Schönheit Richter sein, welches einen Widersprach einschließt. Die Würde seiner sittlichen Bestimmung kann also der Mensch nicht in Anschlag bringen, seinen Vorzug als Intelligenz kann er nicht geltend machen, wenn er den Preis der Schönheit behaupten will; hier ist er nichts als ein Ding im Raume, nichts als Erscheinung unter Erscheinungen. Auf seinen Rang in der Ideenwelt wird in der Sinnenwelt nicht geachtet, und wenn er in dieser die erste Stelle behaupten soll, so kann er sie nur dem, was in ihm Natur ist, zu verdanken haben.

Aber eben diese seine Natur ist, wie wir wissen, durch die Idee seiner Menschheit bestimmt worden, und so ist es denn mittelbar auch seine architektonische Schönheit. Wenn er sich also vor allen Sinnenwesen um ihn her durch höhere Schönheit unterscheidet, so ist er dafür unstreitig seiner menschlichen Bestimmung verpflichtet, welche den Grund enthält, warum er sich von den übrigen Sinnenwesen überhaupt nur unterscheidet. Aber nicht darum ist die menschliche Bildung schön, weil sie ein Ausdruck dieser höhern Bestimmung ist; denn wäre dieses, so würde die nämliche Bildung aufhören, schön zu sein, sobald sie eine niedrigere Bestimmung ausdrückte; so würde auch das Gegentheil dieser Bildung schön sein, sobald man nur annehmen könnte, daß es jene höhere Bestimmung ausdrückte. Gesetzt aber, man könnte bei einer schönen Menschengestalt ganz und gar vergessen, was sie ausdrückt; man könnte ihr, ohne sie in der Erscheinung zu verändern, den rohen Instinkt eines Tigers unterschieben, so würde das Urtheil der Augen vollkommen dasselbe bleiben, und der Sinn würde den Tiger für das schönste Werk des Schöpfers erklären.

Die Bestimmung des Menschen, als einer Intelligenz, hat also an der Schönheit seines Baues nur in sofern einen Antheil, als ihre Darstellung, d. i. ihr Ausdruck in der Erscheinung, zugleich mit den Bedingungen zusammentrifft, unter welchen das Schöne sich in der Sinnenwelt erzeugt. Die Schönheit selbst nämlich muß jederzeit ein freier Natureffekt bleiben, und die Vernunftidee, welche die Technik des menschlichen Baues bestimmte, kann ihm nie Schönheit ertheilen, sondern bloß gestatten.

(Fortsetzung folgt)

Wenn man vielleicht etwas schockiert wahrgenommen hat (siehe Wikipedia-Artikel oben), wie realistisch „man“ in der Antike die Weiblichkeit einer Statue zur Kenntnis nahm,

Der Überlieferung zufolge war die Figur derart lebensecht, dass sich ein junger Mann in der Cella des Tempels einschließen ließ und mit ihr zu verkehren versuchte. Ergebnis dieser Bemühungen sei ein unauslöschlicher Fleck auf der Rückseite eines Oberschenkels gewesen, der offenbar tatsächlich vorhanden war und den Anlass zu dieser Erzählung gegeben haben könnte.

wird man auch Schiller leichter zugestehen, dass er die antike Kunst nicht nur unter dem Aspekt der „edlen Einfalt und stillen Größe“ gesehen hat, und dass in seiner Zeit ebenso wie 100 Jahre später fortwährend das Frauenbild moralistisch justiert oder entmythologisiert wurde. Daher habe ich an dieser Stelle für mich auch andere Lektüren interpoliert, in denen es um die Bedeutung der Renaissance für die deutsche Klassik geht  und zugleich um die Gender-Motivik der heutigen Forschung. Z.B. in dem lesenswerten Buch Interkulturellr Transfer und nationaler Eigensinn Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften / Herausgegeben von Rebekka Habermas und Rebekka v. Mallinckrodt. Darin besonders interessant der Beitrag von Michael Wenzel über „Das weibliche Bildnis der Italienischen Renaissance“. (Siehe auch hier.)

  Wallstein Verlag ISBN 3-89244-731-4

  Flora, Frühling, Braut, Schauspielerin, Kurtisane?

Widmung (Skizze)

Zu Bachs Partiten

betr. auch die Violin-Partiten (siehe „Loure“ hier in E-dur und in der Französischen Suite in G-dur)

Quelle Hermann Keller: Die Klavierwerke Bachs  / Edition Peters Leipzig 1950

Die Partiten / Titel-Wiedergabe in meiner Henle-Urtext-Ausgabe (1970/1979), deren Vorwort von Rudolf Steglich stammte, – dessen frühe Schrift (s.u.)  wiederum für mich erst im Jahre 1985 eine verlässliche Perspektive eröffnete, die eigentlich durch viele Begegnungen vorgezeichnet waren: Gustav Leonhardt, Franzjosef Maier, Sigiswald Kuijken und seine Brüder, Anner Bylsma, Jörg Demus, Paul Badura-Skoda, Reinhard Goebel, Rachel Podger, Isabelle Faust, die CDs von Christian Tetzlaff („Sei Solo“ = „ich bin allein“?) u. das wiederkehrende Phänomen, dass jemand die eigene  Referenz-Aufnahme nach Jahrzehnten durch eine neue ersetzt, als sei alles im Fluss.

Sonderdruck Möseler 1962

Jahresgabe 1960 der Internationalen Bach-Gesellschaft Schaffhausen (JR 10.4.86)

(Fortsetzung folgt)

Emil Staiger und die Lyrik

Über allen Gipfeln

Wieder einmal kehre ich in die 60er Jahre zurück, um die Zeitspanne, die mich von meinen Anfängen trennt, zu ermessen. Damals gab es kein Wikipedia, kein Internet, das fällt bei jedem Thema, das ich neu angehe, als erstes ins Gewicht. Wie schwierig war es damals, einen Überblick zu gewinnen, auch: sich von bestimmten Ansätzen zu lösen. Wenn man einmal drei Bände von Emil Staiger erworben und studiert hatte – und zwar mit Begeisterung -, glaubte man, mit diesen Themen fürs Leben vorgesorgt zu haben. Und nach 50 Jahren erinnert man sich vor allem daran, dass der Mann plötzlich nicht mehr zitierbar war, – war nicht der neue Geist der 68er schuld daran? Aber das dauerte ja noch 7 Jahre … heute weiß man über den Zeitrahmen in 1 Minute mehr als damals in Wochen.

Danach erst kam Wolfgang Kayser „dran“, der schon 1960 gestorben war, dessen Standardwerk aber erst in dem Augenblick kontaminiert erschien, als ruchbar wurde, was heute in Wikipedia hier als erstes auffällt. Rudolf Walter Leonhardt schrieb in der ZEIT zum 29. Januar 1961 einen ergriffenen Nachruf, – ebenfalls ahnungslos? Andererseits: ich sollte „Das sprachliche Kunstwerk“ unbedingt aufs neue konsultieren. Es ist kein ideologisches Werk. Unverzichtbar seine „Geschichte des deutschen Verses“, darin insbesondere die Neunte Vorlesung über Brentano und über „Des Knaben Wunderhorn“, eine neue Welt des Rhythmischen und des Klanglichen tut sich auf. (Staiger und der Bezug auf die Musik ab Seite 124 ff !)

Besitz JR 6.XII.61

Wikipedia zu Emil Staiger hier

Züricher Literaturstreit hier

Tondokument Staigers Rede „Literatur und Öffentlichkeit“ hier

Nachruf 30.04.87

Kaum ein anderer Literat hat so einsichtig über Musik gesprochen, wenn er über Lyrik nachdachte, wie Emil Staiger. Vielleicht niemand sonst bis zu Thrasybulos Georgiades, dessen grundlegendes Buch über“ Schubert / Musik und Lyrik“ 1967 (2.Auflage 1979) erschien. Also nach Staigers „Grundbegriffen der Poetik“ 1959 (Atlantis Verlag), und daraus jetzt die folgenden beiden Seiten, dann der Anfang der Übersicht des Georgiades-Werkes:

Emil Staiger

Georgiades Inhalt (Über allen Gipfeln)

Wandrers Nachtlied u.a. – der Text im Umfeld der ersten Gesamtausgabe 1827

Eine Gedicht-Interpretation (zu Wandrers Nachtlied 1 und 2) Auszug

Autor: Reinhard Lindenhahn

Quelle Arbeitsheft zur Literaturgeschichte WEIMARER KLASSIK von Reinhard Lindenhahn / Cornelsen Verlag Berlin 1996 (siehe hier)

Übrigens: ich habe vor wenigen Jahren (2016) schon einmal zum „Nachtlied“ recherchiert, an Ort und Stelle: hier , ohne mich an Emil Staiger zu erinnern. Nicht zu vergessen auch dieser Link zu Wikipedia: hier.

Der folgende Textausschnitt soll (mich) daran erinnern, von der oben erwähnten Arbeit über „Die Geschichte des deutschen Verses“ überzugehen zu dem interessanten Verhältnis zwischen Dichtung und Musik, und zwar anhand der Schubertschen Vertonung des Goethe-Gedichtes (und auch im Vergleich zu anderen Vertonungen), so wie es Georgiades in seinem großangelegten Buch über Musik und Lyrik (SCHUBERT) unternimmt.

Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 2. Aufl. 1979

Diese präzise Sensibilität der Liedbetrachtung ist ohne Vergleich; sagen Sie nur vorweg, in welchem Vers Goethes die entscheidende „Brechung“ stattfindet (s.o. Seite 109 „Ein gleiches„), und lesen Sie die Begründung des Autors…

Dietrich Fischer-Dieskau 1969, – in studentischen Zeiten war er jahrelang das Nonplusultra des Liedgesangs; irgendwann aber begann man zu diskutieren, ob er nicht zu einer gewissen Manieriertheit des Vortrags neigte. So vollkommen seine Technik, witterte man doch die Absicht, die verstimmt. Wie hier zu Anfang in den Worten „überrallen“ Gipfeln, oder im leicht übertrieben inbrünstigen, zweiten „warte nur“. Es gibt nichts Empfindlicheres als solche Musik, solche Verse, und es trifft am Ende selbst den, der eine solche Differenzierung überhaupt erst in die Liederabende eingebracht hat.

SUFI RUMI

Noch eine Übung zur Toleranz?

„Stirb, stirb und fürchte nicht den Tod …“

Wer war Rumi? Siehe Wikipedia hier – Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī

Ein iranischer Journalist, der in Kalifornien lebt, begibt sich auf Spurensuche nach Konya

https://www.noaharjomand.com/about hier

die CD mit Ghalia Benali & Constantinople

das Rumi-Gedicht Tr. 4

Der Liebesbegriff in der islamischen Mystik: https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/1562159/full.pdf HIER ganzer Text / hier biographische Info

ZITAT aus dieser Arbeit von Barbara Lorenz (Graz, 2016) S.53

Das dem Propheten zugeschriebene Postulat des Sterbens, bevor man stirbt findet bereits in der Lebensgeschichte von Hallaj, der Rumi in mehrerlei Hinsicht beeinflusste, einen deutlichen Niederschlag. Rumi wählt mitunter durchaus ungewöhnliche Bilder für
diesen Prozess, so etwa das Kochen von Kichererbsen, das Bild des
„Gegessenwerdens“, aber auch das Opfer Abrahams. Es ist dieses notwendige
Nicht-Sein, um zu werden und zu sein. Grundlage der Suche aller Meister nach dem
Zerbrochen-werden und Nicht-sein. Ein ghazel aus dem Diwan bringt es zum
Ausdruck:
Stirb, stirb, bis diese Liebe tot ist! Wenn du in Liebe gestorben bist, wirst
du die unvergängliche Liebe gewinnen. Stirb, stirb und fürchte nicht den Tod! Denn
du wirst die Himmel gewinnen, wenn du dich über dieses irdische Sein erhebst.

Stirb, stirb und trenne dich von deinem niedrigen Selbst! Denn dieses niedrige
Selbst ist eine Fessel, und du gleichst einem Gefangenen! Stirb, stirb und komm
heraus aus dieser Wolke (deiner Ichhaftigkeit). Kommst du aus dieser Wolke heraus,
bist du der leuchtende volle Mond. Sei still, sei still, da Schweigen mit dem Tod
verwandt ist! (Aber) die Stimme deines Schweigens ist voller Leben!

Auf der vorhergehenden Seite 52 zitiert Barbara Lorenz ein berühmtes Rumi-Gedicht, das auch  in einem schönen Wikipedia-Artikel behandelt wird (Rezeption persischer Literatur im deutschsprachigen Raum – betrifft an dieser Stelle besonders Friedrich Rückert): nachzulesen hier.

Siehe, ich starb als Stein und ging als Pflanze auf / Starb als Pflanze und nahm drauf als Tier den Lauf. / Starb als Tier und ward ein Mensch. Was fürcht’ ich dann, / Da durch Sterben ich nie minder werden kann! / Wieder, wann ich werd’ als Mensch gestorben sein, / Wird ein Engelsfittich mir erworben sein, / Und als Engel muss ich sein geopfert auch, / Werden, was ich nicht begreif’: ein Gotteshauch!

Zugleich muss ich gestehen, dass es mir mit Rückert immer etwas zwiespältig erging: seine Verse hatten für mich immer etwas Kunstgewerbliches, Holpriges, Gezwungenes, geliebt habe ich sie immer nur dank der Musik, mit der sie sich verwandelten, von Schubert, Schumann bis Gustav Mahler.

Und wenn ich in die Titelei dieses Artikels noch einmal die „Toleranz“ eingefügt habe, hat dies den Grund, dass ich den Essay von Rüdiger Bubner nicht aus den Augen verlieren will, – ein Wunder der Logik, der klaren Gedankenentwicklung. Zugleich Markzeichen einer Spaltung, die mir Anfang der 60er Jahre immer bewusster wurde: seit einer ersten Nietzsche-Begegnung 1955 neigte ich dazu, mich seiner apollininisch-dionysischen Polarität zu bedienen. Sie erschien mir in unterschiedlichsten Verkleidungen, sagen wir: in den Gestalten von Hamsun versus Adorno, oder Hermann Hesse vs. Gottfried Benn. In Robert Musils Hinweis auf eine „taghelle Mystik“ schienen sie mir vereinigt. (Sehr merkwürdig auch die Zerebralität Anton Weberns und seine theosophischen Träume.) Aber wer spricht noch von Vereinigung? Dialektik ist Alles.

Und all dies spielt eine Rolle beim Hören dieser Rumi-CD und beim Lesen des begleitenden Textes, den kreisenden Assoziationen, der Erinnerung ans Auswendiglernen des genialen Goethe-Gedichtes, das ich mit Tinte an die Fensterscheibe meines Zimmers am Paderborner Weg geschrieben hatte (mit Blick auf die in der Tiefe liegende Stadt – Bielefeld): „Sagt es niemand, nur den Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet, das Lebend’ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet.“ Und heute nun dies:

Lese ich hier von Rumi, dem „Meister der Meister“, und der Frau, die seine Geliebte und Muse wird? Und die Illustration zeigt offenbar einen männlichen Derwisch, ebenfalls der weitere Text, nebst Hinweis, dass die anderen Schüler des Meisters eifersüchtig wurden? Kein ganz zufälliger Lapsus. Es ist ein großes Thema, dieser Austausch der Geschlechter in der orientalischen Lyrik.

Aber im Fall des Schams-e Tabrizi gibt es leicht Aufkärung: z.B. hier .

Der Fehler stört: er beruht auf einer Gedankenlosigkeit der Übersetzung, – offenbar aus der französischen Fassung, wo es sich allerdings um die männliche Form handelt, abgesehen von dem Wort „muse“, dort steht nämlich: „et celui qui devient son bien aimé et muse“ – auf deutsch also eine klärende bzw. verschlimmbessernde Version, – wozu, um Gottes Willen, denn das??? Ich will es gerne so verstehen:

Doch ob Rumi und Schams einzig in ihrer Liebe zu Gott vereint waren oder ob ihr Miteinander auch erotische Elemente barg, kam nie ans Tageslicht. Und da Rumi ein respektabler, wenn nicht gar hochverehrter Bürger der Stadt war, sorgte das Verhältnis der beiden Gottessucher zwar immer wieder für Gerede, wurde aber hinter vorgehaltener Hand diskutiert.

So im DLF Skript 7.10.2015 siehe hier , eine gut zu lesende Einführung. Die Stadt, von der hier die Rede ist, heißt Konya.

Meine Erinnerung an die alten Mauern Baktriens (Fotos JR 1974 bei Balkh/Nordafghanistan)

 

  

Habe ich es gewusst, als ich die Bilder machte? Hier in Balch/Baktra wurde Rumi am 30. September 1207 geboren. Die Familie verließ die Region vor Dschingis Khans Mongolensturm 2019 und kam (über Mekka) „nach Anatolien (Rūm, daher der Beiname Rūmī), das damals von den Rum-Seldschuken beherrscht wurde“ (Wikipedia).

Und noch etwas ist unvergessen: dass die Sängerin Ghalia Benali mir schon 2010 Respekt eingeflößt hat, als sie sich an das Erbe der großen Ägypterin Oum Kalthoum heranwagte. „Al Atlal“!!! (Siehe auch im Blog hier!) Jetzt hat sie gemeinsam mit Kiya Tabassian ein großes Thema erschlossen, das nahtlos zu ihrer herrlichen Stimme und diesem hochmusikalischen Ensemble passt.

Lebenslieder?

Wie in der Popwelt über Klassik gesprochen wird

Immer mal wieder beschäftigt mich die Frage, wie andere Menschen eigentlich ohne klassische Musik auskommen.

Anders gefragt: welche Rolle spielt die klassische Musik für die Mehrheit unserer Gesellschaft? Tut sie bei ihnen keinerlei Wirkung? Oder: was ist es denn, was die Leute bewegt, wenn sie sich außerhalb der Klassik mit Musik beschäftigen? Und richtig zuhören. Nicht nur mitwippen. Oder tanzen. Was zwingt sie, nach Wiederholung zu verlangen?

Man schaue auch hier. Und hier.

Das beschäftigt mich also nicht nur am Rande, es betrifft ja mich selbst „existenziell“, wenn ich mich z.B. mit Enkelinnen und Enkeln unterhalte, deren Wohlergehen mir alles andere als gleichgültig ist. Auch die Frage der Toleranz spielt da eine Rolle: dulde ich es (nehme ich es hin), wenn abfällig über „Opas Musik“ gesprochen wird. Oder denke ich: es ist unwichtig, wenn sie in diesem Punkte „dumm“ sind?  (Sind sie nicht: sie denken auch bei ihrer Musik.) Ist es auch egal, wenn sie nicht lesen? Oder nur Krimis? Oder ihre Zeit mit Computerspielen ausfüllen. Ist heute ALLES anders? Hat die UMWERTUNG aller Werte längst stattgefunden? Aber anders als Nietzsche gedacht hat. Seinen Namen kennt niemand mehr. Die Umwertung ging in Richtung Entwertung. Klassik aber braucht einen Vorschuss an positiver Bewertung und eine frühe Eingewöhnung in das Ritual, z.B. die Erfahrung, in einem Liederabend – hinter dem gekünstelten Ritual – so etwas wie die Inkarnation einer Wahrheit zu erleben. . . . . »das weite Meer schon dunkelt, laß ausruhn mich von Lust und Noth, bis daß das ew’ge Morgenroth den stillen Wald durchfunkelt.«

Als ich noch „an der Macht“ war, folgte ich einem antiautoritären Prinzip der Erziehung, soweit ich es vermochte. Summerhill wurde ja überall diskutiert. Ich selber lehnte nachträglich die in meiner Kindheit zuhaus „genossene“ Erziehung ab. Meine Mutter war später entsetzt, wenn mein Söhnchen „Blödmann“ zu mir sagte und ich nicht reagierte. Wir redeten ja viel miteinander, ohne Wörter dieser Art zu benutzen, es gab viel Freiheit. Aufklärung hatte eine große Bedeutung. Alles konnte zur Diskussion gestellt werden, gerade auch die „Würde“ der Eltern, nur eins nicht: dass man Musik lernt. Wenn man wartet, bis das Kind selbst entscheiden kann, ist es zu spät. Was im täglichen Leben konkret bedeutete: Klavier zu lernen soll wenigstens in einer Musikerfamilie selbstverständlich sein, das lernt man genau so wie Lesen und Schreiben. Der sinnvolle Gebrauch der Finger! Feinmotorik! Klavier ist das abendländische Instrument schlechthin, wie die Laute für den Orient. Aber gern – nach freiem Wunsch des Kindes – auch ein zweites Instrument. Auch Jazz, Pop und alles andere stand offen, – sobald die klassische Pflicht erledigt war.

Aber das ist hier nicht mein Thema, sondern nur der Hintergrund meines Interesses an anderen Menschen, gerade solchen, die ohne meine Themen zufrieden sind. Ein dazu passendes Grundthema wäre dabei im Hintergrund eben auch – wie gesagt: TOLERANZ. (Ein Extra-Artikel ist in Planung.)

Und Barbara Schöneberger ist ein Phänomen. Oft schwer zu ertragen, schrille Mode präsentierend, zuweilen auch schlechte Sendungen, laut und aufdringlich, imponiert sie doch immer wieder mit ihren Einfällen und ihrer Fähigkeit, auch ernstere Themen mit guter Laune anzugehen. Unverkennbar: Menschlichkeit. Ich weiß, dass ihr Vater Soloklarinettist beim Bayerischen Staatsorchester war. Sie ist also mit (neben) klassischer Musik aufgewachsen. In die folgende Sendung bin ich durch Zufall geraten und habe sie nicht abschalten können. Kein Versuch, mich jetzt vorsichtig zu distanzieren. Im Gegenteil: ich will sie lesen lernen.

HIER

Ab ca. 12:00 Die Mutter erzählt: sie konnte schon als kleines Kind – vielleicht so zwischen zwei und drei Jahren – so locker 200 Lieder singen. Vater: sie ist wach geworden morgens und hat eigenmtlich schon gesungen, sie hat nie geweint, wenn sie aufgewacht ist. (ab 12:23 hört man das Kind singen!  „aber der Wagen der rollt“) Mutzke: „und du konntest tatsächlich so 200 Lieder auswendig singen?“ „Ja, und wenns nicht so wäre, dann würdfe ich das… nicht jetzt grade demontieren…“ (wendet sich an die Mama, die im Saal sitzt:) „stimmt das, dass die Barbara damals tatsächlcih 200 Lieder …? “ Mutter: „Ja, Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Fasching…“ etc. etc.  „Wenn der böse Weingeist dem Papa in das Bein beißt“ /  bis 13:56 dann Vater gesagt sie soll mal „Opernsängerin werden“ sie fand es aber total uncool, Opernsängerin! Mutzke: Und dann solltest du auch noch Klavier lernen! Sie: „Aber das Instrument und ich sind keine besonderen Freunde geworden.“ – „Jetzt habe ich natürlich wieder ein Klavier und so einen Chopin-Walzer krieg ich schon noch hin.“ Dann das Thema Rachmaninow (ab 14:35), Mike Schott (?) spielt das Thema des Klavierkonzertes Nr.3… ab 14:56 er musste es und tat für Mutzke sein Bestes, aber natürlich hat das Thema in dieser vollgriffigen Form keinerlei Wirkung. Wer Rachmaninow kennt, denkt an den Anfang dieses Konzertes, wie es aus dem Nichts kommt, und nur dann hat es die Aura einer fernen Erinnerung.

*     *     *

Soviel zu Barbara Schönebergers klassischer Musikausbildung. Mit ihrem Rachmaninow-Wunsch hat sie bei mir ein auditives „déjà-vu“ ausgelöst. Das rechne ich ihr hoch an.

Hören Sie doch den Anfang des „originalen“ Konzertes, ertragen Sie das Ritual des Konzertsaales, des Orchesters, des Publikums, hören Sie nur das Klavier mit seiner archaischen Melodie. Können Sie aussteigen? Nein, cool ist das nicht, auch wenn es noch so cool gespielt wird. Sie wollen es wiederhören. Und als ein „Lebenslied“ könnte man es sich in der Popwelt durchaus vorstellen. Hier.

*     *     *

Ich kann so nicht enden, quasi mit einem großen Fingerzeig in die reine Welt des Konzertsaals. Zu Anfang des Artikels sprach ich noch von der Welt der Enkel:innen, ohne zu erwähnen, dass die Anspielung auf das Wort TOLERANZ nicht einen heimlichen Richterspruch verbrämen sollte. Daher folgt hier ohne großen Kommentar ein neues Lebenslied der Enkelgeneration, – ich habe sie allerdings nicht befragt, sondern nur vertrauensvoll die neue ZEIT gelesen  -, Schlagzeile im Feuilleton Seite 46: Glänzendes Vorbild.

Zitat Wikipedia (s.hier):

Redakteure des Eye Weekly Magazins schrieben: „Es gibt keinen Zweifel daran, dass Beyoncé eine der besten Sängerinnen in der Popwelt ist, vielleicht sogar die beste lebende […].“[

In der ZEIT nachzulesen HIER. Um welche Stelle geht es? s. im Video bei 3:35

Diebstahl oder kulturelle Aneignung?

So geht es mir oft (Stoffsammlung):

Ein Thema beschäftigt mich, oft aufgrund interessanter Lektüre, es übersteigt mich, ich halte das fest, was ich im Hinterkopf behalten will. Der (oder das) Blog ist mein Hinterkopf (-köpfchen), manchmal mehr ES, manchmal mehr ÜBERICH, und das ICH sagt: für alle Fälle aufbewahren, zur eventuellen Aufarbeitung. Es ist nicht von mir. Aber manches wusste ich längst. Anderes wollte ich immer schon gewusst haben. Ich schaue aus dem Fenster: die Sonne geht unter, sie zieht sich aus den Bäumen zurück. Morgen früh wird alles anders aussehen. Allerdings nur, wenn ich dies festgehalten habe.

Fensterplatz SG-Ohligs 5.8.22

Jens Balzer und Hansjörg Ewert

Was ist (dagegen) Zöglingsmusik?

Maximilian Hendler hier Musikästhetik und Grenzen im Kopf. Die politischen
Konsequenzen des Gefühlskults in der Musik

Kaser: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/RDFVYYETUCPFQLDPV64BCT5NFYJSQVWQ HIER

Eine Rezension: HIER

Bach, Vater und Sohn Beispiel: 2 mal Magnificat (s.a. Collegium aureum 1966)

https://www.zeit.de/2022/32/kulturelle-aneignung-kunst-musik HIER (Ewert)

https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2013/01/Text-Essay-Dieb-oder-Neuerer-neu HIER (Balzer)

Die ganze Oper „Euryanthe“ HIER (Warum? siehe Ewert.)

Grünewalds Körper

Fragen vorm Isenheimer Altar

Neulich stellten sich angesichts einer Bildbetrachtung (siehe hier) scheinbar nebensächliche Fragen ein, die ich (mir) separat beantworten möchte. Man weiß ja, dass Leonardo da Vinci neben seinen berühmten Gemälden auch Kriegsgeräte für den praktischen Gebrauch hergestellt hat, also kann man wohl im Fall des Malers Grünewald bei zusätzlichen Berufsbezeichnungen ebenso davon ausgehen, dass er nicht nur gemalt, geschnitzt und gemeißelt hat, sondern dass er im Umgang mit der Materie noch ganz andere Fähigkeiten entwickelt hat. Aber es hat gedauert, ehe ich herausgefunden habe, wofür denn ein „Wasserkunstmacher“ zuständig ist. Inzwischen weiß ichs und halte die entsprechende Quelle für alle Zeiten fest, – siehe insbesondere einen der ersten Links im folgenden Text, von mir fettgedruckt:

Was ist ein Wasserkunstmacher? (Quelle: DeWiki Austria-Forum hier)

Wie bei vielen anderen Künstlern seiner Zeit umfasste das Berufsverständnis einen sehr weiten Bereich von Tätigkeiten. 1510 sollte er den Brunnen auf Burg Klopp bei Bingen am Rhein reparieren, er zählte daher zu den sogenannten Wasserkunstmachern (heute würde man wohl Wasserbauingenieur sagen). Als oberster Kunstbeamter bei Hofe hatte er aber auch Neubauten zu beaufsichtigen und leitete in dieser Funktion die Umbauarbeiten in der Aschaffenburger Burg, dem Vorgängerbau von Schloss Johannisburg. Seine dortige Tätigkeit wurde der Nachwelt wohl nur deshalb überliefert, weil die Arbeiten misslangen und es zu einem Prozess kam (Kemnatprozess 1514–16).

Die Prozessakte, die neben seinem Testament als eines der wichtigsten „Grünewalddokumente“ galt, jedoch im Zweiten Weltkrieg im Stadtarchiv Frankfurt verbrannte, ließ erkennen, dass der Künstler den Großteil der Zeit des Prozesses nicht selber anwesend war. Dies stimmt mit der überlieferten Entstehungszeit seines Hauptwerks, dem Isenheimer Altar, zusammen, den er wohl zwischen frühestens 1512 und spätestens 1516 schuf. Die jüngere Forschung hat ins Spiel gebracht, dass er in der genannten Zeitspanne nicht in Isenheim selbst, sondern der nächsten größeren Stadt, Straßburg, tätig war.

Danach, also etwa 1516, trat Grünewald als Hofmaler in den Dienst des neuen Erzbischofs von Mainz, Albrecht von Brandenburg. Für diesen war er erneut als oberster Kunstbeamter des erzbischöflichen Hofes in der Residenzstadt Halle an der Saale für die Überwachung von Bauvorhaben zuständig. In dieser Funktion wurde er beauftragt, als Wasserkunstmacher eine Wasserleitung von Haibach zur Stiftskirche in Aschaffenburg zu planen und deren Bau zu überwachen.

Um 1526 schied Grünewald aus dem Hofdienst und ließ sich in Frankfurt am Main nieder, was oft in Zusammenhang mit Sympathien für die rebellierenden Kräften des Bauernkrieges gesehen wird. In der freien Reichsstadt verdiente er seinen Lebensunterhalt als Seifenmacher; er wohnte in dem Haus Zum Einhorn bei dem Seidensticker Hans von Saarbrücken. Im Sommer 1527 übersiedelte er wieder an seine frühere Wirkungsstätte Halle, wo er eine Mühlenzeichnung für Magdeburg anfertigen sollte. Freunde des Künstlers teilten dem Magistrat der Stadt am 1. September 1528 mit, dass er verstorben sei.

Soweit so gut.

Aber was ist mit Grünewalds Körper? Mit seinem eigenen und mit seinem Gefühl für andere, z.B. den Körper Christi. Warum diese Frage gerade an ihn, den Ungreifbaren, den großen Unbekannten, von dem kein einziges, wirklich beglaubigtes Selbstportrait überliefert ist? Ich erinnere mich an die Theorie von den zwei Körpern des Königs (siehe hier) und an deren Erfinder (hier) Ernst Kantorowicz. Und hoffe, darüberhinaus dann zu meinem Ausgangspunkt, einer Seite der ZEIT vom 28. Juli 2022, zurückkehren zu können, wo sich eigentlich sehr bald musikalische Fragen eingestellt haben, nämlich zur „historisch informierten Praxis“.

von Jörg Scheller

Natürlich ist mir als erstes aufgestoßen, dass dieser Artikel – leicht schockierend – sofort signalisiert, dass er eine höchst moderne Sicht auf die abgebildete Kreuzigungsszene vermitteln will. Und zwar mit den Worten: „Es ist ja nicht so, dass Jesus immer so drauf war. Am Anfang seiner Laufbahn wirkte er cool.“ (Das Wörtchen „fit“ fehlt mir grad noch.)  Damit wird der imaginierte Blick zuerst auf eine andere Darstellung gelenkt, nämlich die erste überhaupt, die sich am 432 n. Chr. entworfenen Hauptportal der Basilika Santa Sabina auf dem Aventin in Rom befinden soll. Womit ein enormer Bildungsvorsprung des Autors umrissen ist, den ich ihm gern zugestehe und auch stante pede auszugleichen suche, indem ich das Internet bemühe, Wikipedia sei Dank!

siehe Wikipedia hier

Irre ich mich? hier soll die erste bekannte Kreuzigungsszene der Geschichte zu sehen sein? Es passt nicht ganz. Zitat:

Jesus steht, die durchbohrten Hände den Betrachtern zugewendet, in Gekreuzigtenpose mit schwer zu deutendem Gesichtsausdruck vor einer Mauer. Kruzifixe der Romanik wiederum präsentieren ihn als Triumphator. Souverän erwidert er vom Kreuz herab die Blicke der Betrachter. Von Todeskampf keine Spur. Der Gefolterte ist evident fit und lebendig.

„Evident fit“, könnte stimmen, ja, allerdings irre ich mich! dies (oben) ist das Fresko in der Apsis, es geht aber um den Eingang der Kirche, die gemeinte Szene befindet sich aber keineswegs „am Hauptportal der Basilika“, sondern auf der Flügeltür dieses Hauptportals (siehe hier). Das obige Bild stammt aus dem Jahr 1569. Auf der Holztür von 432 erkennt man irgendwie den Bezug zur Kreuzigung,  der „schwer zu deutende Gesichtsausdruck“ ist allerdings, wenn ich recht sehe,  weder zu deuten noch überhaupt als Andeutung zu ahnen. Man vergrößere nur nach Belieben…

Das Hineinlegen ist manchmal attraktiver als das Auslegen, und so geht es weiter:

Grünewald war mit hoher Wahrscheinlichkeit von frühen lutherischen Predigten beeinflusst und entsprechend bemüht, die Heilsgeschichte auch ästhetisch zu reformieren, das heißt: unmittelbar erlebbar zu machen. Das mag aus heutiger Sicht überraschen, wird die Reformation doch vor allem mit Bilderstürmerei in Verbindung gebracht. [usw.]

Wenn der Isenheimer Altar tatsächlich in die Zeit 1512-1516 zu datieren ist, die Reformation aber mit den 95 Thesen begann, die Luther 1517 an die Türe der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt haben soll, wie sollte Grünewald schon frühe Predigten Luthers gehört haben? Und wo?  Zitat:

Luther hatte sich klar gegen kunstfeindliche Reformatoren abgegrenzt und betont, »daß ich nicht der Meinung bin, daß durchs Evangelion sollten alle Künste zu Boden geschlagen werden und vergehen, wie etliche Abergeistliche fürgeben, sondern ich wollte alle Künste, sonderlich die Musica, gerne sehen im Dienst des, der sie geben und geschaffen hat«.

Das wäre schön gesagt, steht aber geschrieben erst im Vorwort des Geistlichen Gesangbüchleins von Johann Walther, das Luther mit einer Vorrede versehen hat: veröffentlicht im Jahre 1524. Mehr über die Wittenberger Ereignisse der Jahre vorher hier.

Die Leiden Christi mit großer Schärfe darzustellen, war in dieser Zeit aber seit etwa 1500 geradezu verbindlich geworden, wie man bei Altdorfer, Dürer, Cranach und anderen Meistern studieren kann. Neu war es vielleicht, die körperlichen Spuren der Leiden auch in Spitälern so drastisch zu demonstrieren, dass die kranken Menschen wirklich glaubten, damit nicht allein zu sein. Ein Sinn dahinter wurde unmittelbar nachvollziehbar. Das Antoniter-Kloster in Isenheim war eine durchaus katholische Einrichtung. Wenn der ZEIT-Autor auch an Luther anschließt:

Zudem richtete sich das ursprüngliche Retabel nicht nur an Kleriker, sondern auch an Kranke, die in der Antoniter-Präzeptorei von Isenheim, wo der Altar ursprünglich aufgestellt war, behandelt wurden. Vermutlich führte man sie vor die Bildwerke, um ihre physische Genesung metaphysisch zu unterstützen – Komplementärmedizin, wenn man so will. Im Gekreuzigten konnten sie eine veritable Identifikationsfigur finden: Schaut, auch der Messias hat gelitten! Und dieses Leiden war nicht abstrakt, sondern real. Entsprechend tut sich hinter Jesus ein innerweltlicher Himmel auf. Vor der Restaurierung schien sich dieser in weitestgehend homogenem Schwarz zu erschöpfen. Nun aber sind Graustufen erkennbar, die den realistischen Eindruck verstätken. Auf den übrigen Tafeln des Ensembles empfehlen sich Heilige wie Antonius, Sebastian, Maria und Paulus als charakterfeste Vorbilder.

Schließlich die Frage: Welchen Effekt hat die Restaurierung auf das komplexe Gesamtwerk?  Dieses Beispiel – so der Autor – beweist, dass erst die restauratorische Kärrnerarbeit, die naturwissenschaftlich informierte Untersuchung und Sorge ums Detail, seriöse und werkadäquate Deutungen ermöglicht. Inwiefern?

Dank des restaurierten Zustands kann man jetzt viel stärker Bezüge zur Gegenwart herstellen und diese mit dem ganzen Körper erleben. Trennende Schichten zwischen Gestern und Heute sind im buchstäblichen Sinne abgetragen worden – auf dem Kettenhemd eines Soldaten in der Auferstehungsszene etwa tritt ein Blutfleck zutage, den der Firnis verborgen hatte. Vor allem das Leiden am Kreuze erscheint in seiner direkten Drastik als unzeitgemäßes, aber gerade deshalb erhellendes Symbol in Gesellschaften, die sich den Kampf gegen Schmerzen aller Art auf die Fahnen schreiben. In der Begegnung mit Grünewald spürt man, wie der Versuch, Schmerz gänzlich zu eliminieren – sei es durch freizügigen Gebrauch von Opioiden oder im Bemühen, noch die subtilste »Mikroaggression« zu unterbinden, mit dem Verlust von Intensität, Ekstase und vielleicht auch mit dem Verlust zumindest zeitweiliger Erlösung einhergehen kann.

Der Autor verweist schließlich auf den Philosophen Leszek Kolakowski als Kritiker einer (christlichen) Religion, die den Wert des Leidens nicht mehr akzeptiert. Bei einer notorischen Ausklammerung von Leid und Schmerz fehlten einer Kultur elementare Erfahrungen. Kolakowski: „Im körperlichen Schmerz werde ich vom Körper, der ich bin, aufgegeben. Ich höre auf, er zu sein, und werde zur Erfahrung dieses Körpers, das heißt eben zur Erfahrung des Leidens.“  Der Schmerz bedeute, dass man nicht einfach Körper ist, sondern dass ein Unterschied zwischen dem Selbst und seiner Physiologie bestehe. Es ist leicht, dies kritisch auf unsere Gesellschaft und ihre Techniken der Schmerzvermeidung zu beziehen. Der Autor kommt am Ende zu einem Fazit, das nicht so sehr überrascht, wenn man an den Kosmos der barocken Affekte vorausgedacht hat:

Der Isenheimer Altar erschöpft sich eben nicht in der Betonung von Verwesung und Verfall, Leid und Schmerz. Nur in geschlossenem Zustand des Altars stehen diese im Vordergrund. Hinter ihnen, gewissermaßen in der Latenz,  explodieren in der zweiten und dritten Wandlung der Altarflügel Pracht, Luxus, Freude, Fantasie, Kreativität, Ekstase. Grünewald und Hagenau legen nahe, dass Schmerz und Freude, Leid und Sinnstiftung zwei Seiten derselben Medaille sind. Eliminiert man das eine, eliminiert man das andere.

Und wenn ich Bachs Weihnachtsoratorium neben seinen Passionen sehe, frage ich mich, worin der Unterschied in der Weltsicht besteht.

Des weiteren verliere ich mich in der seltsamen Sammlung eines Comic-Zeichners HIER. Dürer, Hans Baldung Grien, Lucas Cranach usw.

Zum Abschied ein besonders cooles Foto vom Isenheimer Altar HEUTE (Herkunft privat) :

… ach vorüber, Nacht der Liebe

Vom Lohengrin zum Tristan

Meine Assoziationen sind für Außenstehende vielleicht nicht interessant, mich dagegen begleiten sie unentwegt, und für Nahestehende waren sie schon vor 55 Jahren unvermeidlich. Ich beanspruche jedoch weiterhin mildernde Umstände, wenn ich auch die aktuelle ZEIT und das heutige Bayreuth egozentrisch historisierend lese und sehe.

Googeln Sie doch den ganzen Artikel, nachdem Sie den kleinen mittigen Abschnitt gelesen haben, der mit der Titelzeile beginnt. „Die Musik sagt ja alles“. Ich dachte an das, was ich mir bei den letzten Zeilen meiner Schulmusik-Staatsarbeit gedacht habe: dass dort nach dem letzten Liebestod-Akkord die wahre Mystik ihr Werk vollenden könnte, aber sicher nicht in Bayreuth. Oder was auch immer ich gedacht habe. Im Jahre 1967 änderte sich ja gerade die ganze Lebensausrichtung, wie ein Brief erzählt, der in dieser Arbeitskopie damals wieder an mich zurückkam. (Daher die Namen Hans Hickmann und Marius Schneider) .

Die Musik sagt ja alles. Auf dem Papier mag das ein wenig ideenlos wirken, im Zuschauerraum sorgt es (abgesehen von den notorischen Zuspätkommern nach den Pausen und vom kollektiven Klatschen in den Liebestod-Schluss hinein) für enorme Ruhe und Konzentration. Das ist nicht immer leicht auszuhalteb bei Außentemperaturen von bis zu 36 Grad, es wäre aber unfair, dies der Regie anzulasten. (ZEIT Florian Zinnecker)

Immerhin: neben Adorno – Simone de Beauvoir und Sir Galahad

Ja, und dann interessierte mich heute noch, was mir im Lohengrin der frühen Jahre nie aufgefallen war:

In den letzten Takten der Lohengrin-Generalprobe habe Klaus Florian Vogt in der Titelpartie librettogetreu das Wort »Führer« gesungen, zum Missfallen einiger Zuschauer, so wurde berichtet. Die Zeile »Führer-Skandal im Festspielhaus« mag der Zeitung einige Klicks beschert haben, auch wenn die Diskussion um die fragliche Stelle seit Jahrzehnten ergebnislos schwelt. Natürlich ließe sich ein Wagner-Text von 1853 verändern. Aber wo dann damit aufhören? Im Zweifel ist doch das Störgefühl an den fraglichen Stellen weit wichtiger als die Illusion, es gebe zwischen Wagners Weltbild und unserem heutigen nicht wenigstens ein paar kleine Differenzen. (ZEIT Florian Zinnecker)

Das finde ich auch und lese nochmals im Text-Buch nach. Tatsächlich, da spüre ich Differenzen.

Seite 172  Der König und die Edlen (Lohengrin umringend):

O bleib! O zieh uns nicht von dannen! / Des Führers harren deine Mannen!

Seite 174 Lohengrin:

Seht da den Herzog von Brabant! Zum Führer sei er euch ernannt!

Bitte nicht missverstehen! Ebensowenig wie Elsas abschließendes: „Mein Gatte! Mein Gatte!“