Matthias Claudius – unvergessen?
Wer denkt nicht an das schönste Abendlied, das wir besitzen, sagt die zwei Zeilen auf, die sich eingegraben haben, und vielleicht später auch noch die, deren Moral man immer schon kleinkariert fand („…und unsern kranken Nachbarn auch“).
Damals las ich auch noch den Brief an seinen Sohn Johannes, fand ihn hausbacken, nicht wissend, dass ich mich eines Tages immer mal wieder seinetwegen an meinen Vater erinnern würde.
Und nun dies:
https://www.lpb-bw.de/kriegsende hier
Ja, Kriegsende, Tag der Befreiung, das müsste tief sitzen.
Mein Großvater in Lohe bei Oeynhausen hat damals oft Erinnerungen aus dem Ersten Weltkrieg beschworen, ohne sie in Parallele zu setzen. (Sein Sohn war in Russland vermisst, kam nie zurück.) Eine große Zeit, als er fern der dörflichen Enge die große weite Welt erlebt hat, Frankreich. Und seine Kriegskameraden. Er war Meldereiter. Verantwortungsvoll. Schuldlos natürlich, vielmehr: die Frage stellte sich nicht. Manchmal nannte er mit wissender Miene den Namen Ludendorff. Das Wort „Dolchstoßlegede“ lernte ich erst viel später. Das Wort „Adollfittler“ durften wir Kinder ungestraft in einem spöttischen Abzählvers verwenden.
Das ist fern genug von uns, wir können es leicht abwälzen, die Fotos sind entsprechend verblasst. Aber anders war es mit dem späteren Krieg, dessen Zeugen wir Kinder noch selbst gewesen waren. Wir fragten doch sonst nach allem und jedem. Mit unserm Vater hätten wir doch … er war Zeitzeuge, Augenzeuge des Krieges, wenn auch beim Wetterdienst, in Kirkenes, auf Außenposten sozusagen. – Aber es war eben nicht „nur“ Krieg. Sondern die Einrichtung einer Institution des Tötens. Von der viele gewusst haben, die nachher nichts davon gewusst haben wollten.
Aus einem aktuellen Pressetext hier
Braucht es einen Schlussstrich unter der NS-Vergangenheit? Oder bleibt die Aufarbeitung eine wichtige Aufgabe für kommende Generationen? Diesen Fragen geht Psychologe Leon Windscheid nach. In einer Straßenumfrage will er herausfinden, wie Menschen heute über eines der schwierigsten und emotionalsten Themen der deutschen Geschichte denken: die Verbrechen der NS-Zeit und unseren Umgang damit. Im Gespräch mit Leon Windscheid betont Prof. Jonas Rees, Professor für Politische Psychologie an der Universität Bielefeld, wie wichtig eine lebendige Erinnerungskultur ist, um sensibel für gesellschaftliche Veränderungen zu sein und dafür, wie Täterschaft entsteht. Leon Windscheid trifft Bettina Göring.
Soweit – so unausweichlich – im Bezug auf mich, sofern ich nicht (*1940) die Gnade der späten Geburt verspüre, wie etwa der alte Bundeskanzler (*1930).
Das einzige Mal, wo wir über den Krieg (im Ernst) hätten sprechen können, war, als wir im alten Familien-Fotoalbum zum Bild von Helmut kamen, dem älteren Bruders unseres Vaters. Er war allerdings im Ersten Weltkrieg gefallen. Wir schauten links und rechts über Papas Schulter, stellten Fragen und erhielten knappe Hinweise. Als wir das Foto des uns unbekannten Onkels sahen, war uns zum Lachen zumute, und meinem Bruder entfuhr es: “ Der steht ja da wie so’n Spießbürger!“ Ich glaube, wir beide wussten nicht, was man unter einem Spießbürger verstand, aber mein Vater verstand es augenblicklich als bodenlose Respektlosigkeit, drehte sich blitzschnell und knallte meinem Bruder eine Ohrfeige. Ich wollte etwas einwenden, aber mehr weiß ich nicht, die Gedenkstunde war beendet, andere gab es nicht mehr. Ja, wohl andere Ohrfeigen, die ich einzeln in Erinnerung habe, auch an meinen Kopf, z.B. beim Frühstück, aus heiterem Himmel, wegen „spitzfindiger“ Widerworte. Mein Vater galt als gutmütig, aber jähzornig. Sein alter Freund und früherer Kollege Peter Schmidt, der als fromm galt, Orgel spielte, Reger-Verehrer, – er zeigte mir einmal die Takte mit den meisten Vorzeichen -, früh pensioniert wegen eines Nervenleidens, besuchte uns manchmal und hatte die Gewohnheit, immer zu lange zu bleiben. Auch noch zwischen Tür und Angel. Und bei dieser Gelegenheit hörte ich die einzige Äußerung meines Vaters, die die Weltlage betraf. Als Peter Schmidt sagte, der liebe Gott werden es schon richten, bekam er zur Antwort: „Gott ist bei denen mit den meisten Panzern“. Mir stockte der Atem, doch das Gespräch ging belangloser weiter, landete plötzlich beim „goldenen Schnitt“, und mein Vater fragte listig, was das denn sei, und sein Freund, sich zur Tür wendend, „der goldene Schnitt …“ entgegnete er lachend: „ist schneller Tritt.“ Und weg war er. Ich atmete auf, das war nochmal gut gegangen, und merkte mir: mithilfe einer Albernheit. (Nur deshalb prägte sich die Szene ein.)
Ich will nicht ungerecht sein und prüfe früher geschriebene Erinnerungen an meinen Vater und den Krieg:
Abgebrochen 28.04.2025 / Zurück zum Ausgangspunkt Claudius und zu dem, der mir zur Wiederentdeckung des alten Dichters verhalf, Peter von Matt. Von ihm stammt die folgende Deutung des Gedichts:
-dig: er kann nur merkwürdig stockend sagen, er möchte nicht schuldig sein.
Damit zieht er die dunkle Konsequenz aus einer triumphalen Erkenntnis seines Jahrhunderts: daß die Menschheit ein Ganzes sei, verschwistert alle zusammen und miteinander auf dem Weg ins beßre Land. Wenn das stimmt, dann kann man sich auch aus der Schuld der andern nicht einfach wegstehlen. »Alle Menschen werden Brüder«, jubelt es in diesen Jahren. Ja, sagt Claudius dazu, auf Tod und Leben. Wer könnte ihm heute widersprechen?
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Das schrieb der jüngst verstorbene Peter von Matt in seinem wunderbaren Deutungsbuch „Wörterleuchten“ , das 2012 als dtv Taschenbuch erschien. ZITAT:
Was kann er dagegen machen, wenn Joeph II. das Land Bayern annektieren möchte?
Die Besetzung und Annexion der Krim durch Russland erfolgte 2014.
Hintergrund-Informationen
https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegslied_(Matthias_Claudius) hier
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Dualismus hier