Archiv der Kategorie: Biographisches

…der weiße Nebel wunderbar

Matthias Claudius – unvergessen?

Wer denkt nicht an das schönste Abendlied, das wir besitzen, sagt die zwei Zeilen auf, die sich eingegraben haben, und vielleicht später auch noch die, deren Moral man immer schon kleinkariert fand („…und unsern kranken Nachbarn auch“).

Damals las ich auch noch den Brief an seinen Sohn Johannes, fand ihn hausbacken, nicht wissend, dass ich mich eines Tages immer mal wieder seinetwegen an meinen Vater erinnern würde.

Und nun dies:

https://www.lpb-bw.de/kriegsende hier

Ja, Kriegsende, Tag der Befreiung, das müsste tief sitzen.

Mein Großvater in Lohe bei Oeynhausen  hat damals oft Erinnerungen aus dem Ersten Weltkrieg beschworen, ohne sie in Parallele zu setzen. (Sein Sohn war in Russland vermisst, kam nie zurück.) Eine große Zeit, als er fern der dörflichen Enge die große weite Welt erlebt hat, Frankreich. Und seine Kriegskameraden. Er war Meldereiter. Verantwortungsvoll. Schuldlos natürlich, vielmehr: die Frage stellte sich nicht. Manchmal nannte er mit wissender Miene den Namen Ludendorff. Das Wort „Dolchstoßlegede“ lernte ich erst viel später. Das Wort „Adollfittler“ durften wir Kinder ungestraft in einem spöttischen Abzählvers verwenden.

Das ist fern genug von uns, wir können es leicht abwälzen, die Fotos sind entsprechend verblasst. Aber anders war es mit dem späteren Krieg, dessen Zeugen wir Kinder noch selbst gewesen waren. Wir fragten doch sonst nach allem und jedem. Mit unserm Vater hätten wir doch … er war Zeitzeuge, Augenzeuge des Krieges, wenn auch beim Wetterdienst, in Kirkenes, auf Außenposten sozusagen. – Aber es war eben nicht „nur“ Krieg. Sondern die Einrichtung einer Institution des Tötens. Von der viele gewusst haben, die nachher nichts davon gewusst haben wollten.

Aus einem aktuellen Pressetext hier

Braucht es einen Schlussstrich unter der NS-Vergangenheit? Oder bleibt die Aufarbeitung eine wichtige Aufgabe für kommende Generationen? Diesen Fragen geht Psychologe Leon Windscheid nach. In einer Straßenumfrage will er herausfinden, wie Menschen heute über eines der schwierigsten und emotionalsten Themen der deutschen Geschichte denken: die Verbrechen der NS-Zeit und unseren Umgang damit. Im Gespräch mit Leon Windscheid betont Prof. Jonas Rees, Professor für Politische Psychologie an der Universität Bielefeld, wie wichtig eine lebendige Erinnerungskultur ist, um sensibel für gesellschaftliche Veränderungen zu sein und dafür, wie Täterschaft entsteht. Leon Windscheid trifft Bettina Göring.

Soweit – so unausweichlich – im Bezug auf mich, sofern ich nicht (*1940) die Gnade der späten Geburt verspüre, wie etwa der alte Bundeskanzler (*1930).

Das einzige Mal, wo wir über den Krieg (im Ernst) hätten sprechen können, war, als wir im alten Familien-Fotoalbum zum Bild von Helmut kamen, dem älteren Bruders unseres Vaters. Er war allerdings im Ersten Weltkrieg gefallen. Wir schauten links und rechts über Papas Schulter, stellten Fragen und erhielten knappe Hinweise. Als wir das Foto des uns unbekannten Onkels sahen, war uns zum Lachen zumute, und meinem Bruder entfuhr es: “ Der steht ja da wie so’n Spießbürger!“ Ich glaube, wir beide wussten nicht, was man unter einem Spießbürger verstand, aber mein Vater verstand es augenblicklich als bodenlose Respektlosigkeit, drehte sich blitzschnell und knallte meinem Bruder eine Ohrfeige. Ich wollte etwas einwenden, aber mehr weiß ich nicht, die Gedenkstunde war beendet, andere gab es nicht mehr. Ja, wohl andere Ohrfeigen, die ich einzeln in Erinnerung habe, auch an meinen Kopf, z.B. beim Frühstück, aus heiterem Himmel, wegen „spitzfindiger“ Widerworte. Mein Vater galt als gutmütig, aber jähzornig. Sein alter Freund und früherer Kollege Peter Schmidt, der als fromm galt, Orgel spielte, Reger-Verehrer, – er zeigte mir einmal die Takte mit den meisten Vorzeichen -, früh pensioniert wegen eines Nervenleidens, besuchte uns manchmal und hatte die Gewohnheit, immer zu lange zu bleiben. Auch noch zwischen Tür und Angel. Und bei dieser Gelegenheit hörte ich die einzige Äußerung meines Vaters, die die Weltlage betraf. Als Peter Schmidt sagte, der liebe Gott werden es schon richten, bekam er zur Antwort: „Gott ist bei denen mit den meisten Panzern“. Mir stockte der Atem, doch das Gespräch ging belangloser weiter, landete plötzlich beim „goldenen Schnitt“, und mein Vater fragte listig, was das denn sei, und sein Freund, sich zur Tür wendend, „der goldene Schnitt …“ entgegnete er lachend: „ist schneller Tritt.“ Und weg war er. Ich atmete auf, das war nochmal gut gegangen, und merkte mir: mithilfe einer Albernheit. (Nur deshalb prägte sich die Szene ein.)

Ich will nicht ungerecht sein und prüfe früher geschriebene Erinnerungen an meinen Vater und den Krieg:

Caspar David Friedrich verfolgt mich

Tiere meiner Kindheit

Als der Krieg zuende ging

Abgebrochen 28.04.2025 / Zurück zum Ausgangspunkt Claudius und zu dem, der mir zur Wiederentdeckung des alten Dichters verhalf, Peter von Matt. Von ihm stammt die folgende Deutung des Gedichts:

(Forts. s.u.)

-dig: er kann nur merkwürdig stockend sagen, er möchte nicht schuldig sein.

     Damit zieht er die dunkle Konsequenz aus einer triumphalen Erkenntnis seines Jahrhunderts: daß die Menschheit ein Ganzes sei, verschwistert alle zusammen und miteinander auf dem Weg ins beßre Land. Wenn das stimmt, dann kann man sich auch aus der Schuld der andern nicht einfach wegstehlen. »Alle Menschen werden Brüder«, jubelt es in diesen Jahren. Ja, sagt Claudius dazu, auf Tod und Leben. Wer könnte ihm heute widersprechen?

*    *    *    *

Das schrieb der jüngst verstorbene Peter von Matt in seinem wunderbaren Deutungsbuch „Wörterleuchten“ , das 2012 als dtv Taschenbuch erschien. ZITAT:

Was kann er dagegen machen, wenn Joeph II. das Land Bayern annektieren möchte?

Die Besetzung und Annexion der Krim durch Russland erfolgte 2014.

Hintergrund-Informationen

https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegslied_(Matthias_Claudius) hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Dualismus hier

Fatma Said aus Ägypten

Ein anderes Bild der Sängerin bilden

(Foto: Film NDR s.u.)

„Wie sie sich als künstlerische Vermittlerin zwischen Morgen- und Abendland versteht…“

Die bemerkenswerte NDR-Sendung DAS! über das Singen HIER , die CD hier

Dagegen die dümmliche Sendung bei BR-Klassik (in derselben Art auch mit anderen Gästen, die vielleicht weniger Schaden nehmen, wie z.B. Anne Sophie Mutter) hier – krasse Fehlversuche, der Klassik ein pfiffiges Publikum zu erschließen –  welches denn???

Ägyptisches Volkslied (inmitten eines Interviews mit Rolando Villazon) hier von 1:28 bis 2:10, separat hören!

Verlauf der Sendung DAS! :

Über das Einsingen 1:55 „reden ist schädlicher als singen“ /ab 3:26 querbeet Tango usw. deutsche Schule 4:40 Sprachen Musikunterricht klassisch (!), katholische Nonnen, Muslime + Christen, alle gemeinsam, selbstverständlich, Chor, Gottesdienste, Jugend musiziert, mit 13 Stimme entdeckt, Gesangsausbildung, dann Berlin 10’00 Faltin Meisterkurs / kannte also mit 18 schon die deutsche Kultur / Eltern (!) / 12:40 / 23:20 live „Widmung“ 15:28 / Was begeistert dich am Lied? / Musik mit Freunden / 18’45 Daniel Hope / Musikmachen ohne Konkurrenzdenken / 20:45 über Kopten in Deutschland Anba Damian „Älteste Kirche der Erde“ 22:35 in Kairo mit Fatma Said  „lieb gewonnen“ / 23:09 Umm Kulthum (!) Einspieler sehr kurz / „wir haben keine Probleme mit Menschen, sondern mit Ideologien“ 23:54 F.S.: „sehr kurze Zeit in Kairo zusammen“/ Wie betrachten dich die Ägypter? / auf der Bühne bei Eröffnung der Ausstellung in Gizeh 26:27 westl. Orchester, klass. Kadenz / wie „Brücken bauen“? FS „auch viel meine Musik, also die ägyptisch-arabische“ 28:00 sie verallgemeinern „die Musik“ als gemeinsame Sprache 29:30 Chorarbeit (extra Beitrag) Forts. Fatma 33:18 Tennis, Sport, Sprachen lernen / MODERATOR Hinnerk Baumgarten

F.S. singt bei Opus Klassik Gala 2021 ein arabisches Lied (melod.Sequenzen), jazzig-europäisch aufbereitet, jedoch mit „echter“ Nay-Flöte. HIER

ABER: gelingt es, ein arabisches Werk mit ihr zu finden, das arabische Intonation berücksichtigt (neutrale Terz), das also wirklich etwas nach Umm Kulthum klingt und eine andere Ästhetik andeutet? (Nein!) – Es sind nur Istrumente, die die „andere“Musik repräsentieren sollen (Ney-Flöte, Qanun). Mehr zu den Schwierigkeiten mit arabischer Musik siehe HIER.

https://www.youtube.com/watch?v=RmJxB6i20WU hier

unten: F.S. erwähnt (bei 3:05) kurz Abdul Wahab, um dann sofort überzugehen zu Frank Sinatra. (?)

Foto: Andrea Artz für DIE ZEIT

Wie kann das sein, dass meine Lektüre sofort lauter Vorurteile weckt. Man sieht es doch: sie ist zu schön, zu mädchenhaft fragil für „das deutsche Kunstlied“, und wie will die Rezensentin denn das entdeckt, erlebt haben: im ICE-Großraumwagen aus dem Handy eines jungen Soldaten, ausgerechnet in den ersten Takten des „Ständchens“ ???

Natürlich, der Name und das Wort Ägypterin lösen bei mir ganz andere Erwartungen und Zweifel aus, sie könnte auf diese Weise gar nichts erlebt haben, was nicht irgendwie lachhaft wäre, „Läuse flöhen moine Lüder“, spotteten wir früher. Albern, ich war durchaus bereit, das Vorurteil zu korrigieren, höre alsbald die Aufnahme auf Youtube, „getupfte Achtel im Klavier, lauter kleine Unruhegeister“, dann Gesang und sage zögernd „das ist zu tief, ja, alles zu tief, die Intonation stimmt nicht!“

Und dann beschließe ich doch, alles zu hören, was ich erreichen kann, und weiß nach weiteren Titeln zumindest: „Alles blitzsauber!“ Erstaunlich, manches auf der Espressivo-Grenze, ja, genau was die Rezensentin zu meinen scheint, wenn sie sagt (im Anschluss an die Goethe-Worte „Der Liebende schreibt“) : „Fatma und ihr Pianist Joseph Middleton machen daraus eine Briefszene, ein heimliches Über-die-Schulter-Gucken, ein In-fremden Tagebüchern-Wühlen. Fast erschrickt man übers eigene Zuhören, über so viel Intimität.“ Ich ertappe mich dabei, wie ich während Schuanns „Widmung“ das Mienenspiel des Begleiters beobachte, ob es nicht zu weit geht und dämpfe vorsorglich die eigene Empathie.

(Das Gedicht ist eigentlich nicht gut, es lebt nur durch Schumann, weil es so gesungen wird!)

Du meine Seele, du mein Herz,
Du meine Wonn’, o du mein Schmerz,
Du meine Welt, in der ich lebe,
Mein Himmel du, darein ich schwebe,
O du mein Grab, in das hinab
Ich ewig meinen Kummer gab.

Du bist die Ruh, du bist der Frieden,
Du bist vom Himmel mir beschieden.
Daß du mich liebst, macht mich mir wert,
Dein Blick hat mich vor mir verklärt,
Du hebst mich liebend über mich,
Mein guter Geist, mein beßres Ich!

Text: Friedrich Rückert

Wunderbare Ambivalenz:

Die drollige Aufmachung der Herren entspricht wahrscheinlich der gewagten Situation: sie kommen zu ungelegener Nachtzeit, trauen sich aber nicht ganz… Schöne Unlogik: Die, der das Ständchen gilt, singt selbst (?) die Hauptstimme.

Der erste Ton der Sängerin gelingt nicht ganz, und dann geht es unbeirrbar seinen Gang, vielmehr: es mäandert harmonisch, wie ein Spiel beim Kindergeburtstag. Unglaublich!

Musik: Franz Schubert D 920 Text: Franz Grillparzer

Ständchen

Zögernd, leise,
In des Dunkels nächt’ger Hülle
Sind wir hier;
Und den Finger sanft gekrümmt,
Leise, leise,
Pochen wir
An des Liebchens Kammertür.

Doch nun steigend,
Schwellend, hebend,
Mit vereinter Stimme, laut,
Rufen aus wir hochvertraut:
Schlaf du nicht,
Wenn der Neigung Stimme spricht.

Sucht ein Weiser nah und ferne
Menschen einst mit der Laterne,
Wie viel seltner dann als Gold
Menschen, uns geneigt und hold.
Drum wenn Freundschaft, Liebe spricht,
Freundin, Liebchen, schlaf du nicht.

Aber was in allen Reichen
Wär dem Schlummer zu vergleichen?
Was du hast und weißt und bist,
Zahlt nicht, was der Schlaf vergißt.
Drum statt Worten und statt Gaben
Sollst du nun auch Ruhe haben,
Noch ein Grüßchen, noch ein Wort,
Es verstummt die frohe Weise,
Leise, leise
Schleichen wir uns wieder fort.

Dort wo die Befürchtung aufkommen könnte, dass statt einer lyrischen Vision ein dramatische Szene entstehen könnte, ist eine solche Innigkeit – Innerlichkeit -spürbar, dass man erleichtert aufatmet. Ich glaube, da gehört etwas Wesentliches zum Liedgesang, das anderen Sängern und Sängerinnen durch die Oper verlorengeht. In dem wie folgt verlinkten Blogartikel habe ich mich damit auseinandergesetzt: HIER (Altherrentraum). Und innerhalb desselben „Altherrentraums“ kann man auch zu Elly Ameling wandern, dort ebenfalls eine unvergessliche Version des Schumann-Liedes „Widmung“ finden. Es gibt nicht so viele Beispiele in der Geschichte des Liedgesangs, und die von Christine Lemke-Matwey genannten Lucia Popp, Margaret Price gehören eher nicht dazu, Elisabeth Grümmer sehr wohl, aber auch Barbara Bonney könnte man hinzufügen. Ich finde folgende Zeilen im großen ZEIT-Artikel noch aufschlussreich:

In wenigen Worten flammt da das Grundproblem der ausübenden Künstler:innen auf, das unter dem Begriff „Diderots Paradox“ schon vielfach diskutiert worden ist, ohne deshalb in der Praxis der Hochschulen präsent zu sein. Fatma Said beschränkt sich auf die Vorstellung einer unendlichen Intensivierung der Emotionen. Das kann scheitern, ist jedenfalls gefährlich an der besagten Grenze. In dem Artikel ist das genau benannt, und der relativierende Einschub von den „tantenhaften Ratschlägen“ (leicht zu ergänzen durch meine onkelhaften) ist nicht von ungefähr. Bei Wunderkindern gelten sie dem drohenden Verlust der Naivität.

Ich erinnere mich an die peinlich überinterpretierten Deutschen Volkslieder von Brahms in der frühen Aufnahme mit Fischer-Dieskau und Schwarzkopf. Andererseits denke ich keinen Moment an „wohlig durchgenudelte Phrasen“, wenn ich mir den Frevel eines allzu pathetisch aufgeladenen Kunstliedes vorstellen soll. Es ist die Glaubwürdigkeit, die beim Zuviel-Wollen auf der Strecke bleibt. Das richtige Maß ist gerade in dem Lied „Widmung“ zu erleben, und zwar auch in dem Anflug einverständigen Lächelns, das sich von der Sängerin auf den Begleiter überträgt oder von diesem zurückstrahlt: daran ist (scheint) nichts auf das Publikum oder die Kamera berechnet. Die Worte „Resonanz“ oder „erlebte Empathie“ wären nicht zu groß dafür. Der Pianist Joseph Middleton ist der ideale musikalische Partner.

Für die Dauer eines Liederabends versuche sie, die Gefühle von Dichtern und Komponisten zum Leben zu erwecken, sagt sie, mit Worten und mit Tönen zu erfühlen, was diese gefühlt haben: „Das ist etwas Heiliges, ganz Magisches.“ Sie sei eine sehr emotionale Sängerin. Ihre Technik, die Kehle, der Hala würden ihr das nicht immer danken.

Und Christine Lemke-Matwey stellt die Frage: Was ist Liedgesang?

Fatma Said antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Eine Person steht auf einer Bühne und erzählt Geschichten.“ Klingt simpel, und wenn’s nicht so kompliziert wäre, stimmte es sogar. Wobei die Ägypterin gerade das Komplizierte, das Vielschichtige an der Versuchsanordnung „Lied“ begeistert.

Die Ausdrucksweise gefällt mir. Ich denke daran, wie ich mich seit Studienzeiten damit abgeplagt habe nachzufragen, wer in der Lyrik und im Lied eigentlich zu uns spricht: man erklärte uns – es ist „das lyrische Ich“, nicht identisch mit dem sprechenden Subjekt, nicht mit dem Autor, – ist es der singende Mensch, der eine Situation imaginiert? Daher der eigenartige Gesichtsausdruck, der visionäre Blick, das grundlose Lächeln, das Staunen… Es ist das Glück der Kreativen.

Da unten im Tale
Läufts Wasser so trüb,
Und i kann dirs net sagen,
I hab di so lieb.

Sprichst allweil von Liebe,
Sprichst allweil von Treu,
Und a bissele Falschheit
Is auch wohl dabei.

Und wenn i dirs zehnmal sag,
Daß i di lieb,
Und du willst nit verstehen,                                                                  muß i halt weiter gehn.

Für die Zeit, wo du g’liebt mi hast,
Dank i dir schön,
Und i wünsch, daß dirs anderswo
Besser mag gehn.

Politik des Tages

Plus Iran

Die ZEIT vom vergangenen Donnerstag, betrifft den anstehenden Sonntagabend, mit dem „Gespräch“ im ERSTEN und im ZDF, dass man aus politischer Raison hören wird, aber ich lese, mit allerhand Zustimmung, nicht nur die Frontseite mit Mariam Lau sondern auch den „Kirchenteil“ (Glauben & Zweifeln) über Verschwörungstheorien und den Feuilleton-Bericht über den Film „Soundtrack to a Coup d’Etat“ (s.a. hier). Der vorhergehende Link zu Wikipedia zwang mich, das Buch zu holen, das aus irgendeinem Grunde unten im Übezimmer auf dem Tisch liegt, warum? Angeschafft – wann, warum? Natürlich, meine langwährende innere Bindung zur iranischen Musik… ist das Grund genug?

Bahman Nirumand. Ich habe viel zu wenig darin gelesen (seit ca. 2015), etwa nur wegen des – nicht ganz kompetenten – Kulturvergleichs zwischen Orient und Okzident?

Ich glaube das (anthroposophische) Kunstbuch zu kennen, das diese unzulängliche Charakteristik zugunsten der Gotik ausbreitet und auch mich eine Weile betört hat. Habe es wiedergefunden:

Quelle Gottfried Richter: Ideen zur Kunstgeschichte / Verlag Urachhaus Stuttgart 1957

Natürlich hatte ich immer schon einige Argumente auf Lager, weshalb die stilistischen Besonderheiten der orientalischen und der okzidentalen Musik keinen Kompromiss dulden, bin aber inzwischen viel vorsichtiger geworden, ehe ich behaupte: „das geht nicht!“ Ein Grund ist die überzeugende Existenz des Trios Joolaee: drei Personen, die in ihrer „eigenen“ , von Haus aus schon doppelgesichtigen Kultur – vollkommen zu Hause sind. Wie? Gehört das Klavier und vor allem Bach (ohne Klavier?) denn nicht uns allein. Nur…. WER sind wir?

(Fortsetzung folgt)

„Nun sag ich dir zum ersten Mal“

Die Zeit des Gurreliedes

Ob ich sie schon von Berlin nach Köln, meinem neuen Studienort, mitgebracht hatte? Ich war stolz auf die französische Schallplatte über Neue Musik. Sprecher und Autor war Antoine Goléa. Sie begann mit dem ersten Praeludium C-dur aus dem Wohltemperierten Klavier, wohl wegen der instruktiven Entfaltung der Harmonien aus dem C-dur-Akkord („unsensibel gespielt“, meinte Freund Christian de Bruyn, der Pianist, damals schon bewundert für seine Kunst des Rubatos), und irgendwo folgte das eine Stück aus den „Gurreliedern“, als Musterbeispiel für die extremen Sprünge zwischen den einzelnen Tönen einer wirklich modernen Melodie. Das leuchtete mir ein, und ich liebte das Stück, aber nicht die grelle Stimme der Sängerin, nicht einmal das penetrante Fachmann-Organ des Moderators. Der Text, den ich nicht verstand, hätte ein übriges getan, obwohl ich Jens Peter Jacobsen verehrte seit Langeoog 1956 („Mogens“ und „Niels Lyhne“ durch Hans-Dieter Mauritz). Keine Chance, die Worte Volmer, Narr oder nichtigen Tandes usw. akustisch zu entziffern.

Nun sag‘ ich dir zum ersten Mal: »König Volmer, ich liebe dich!« Nun küss‘ ich dich zum ersten Mal, und schlinge den Arm um dich. Und sprichst du, ich hätt‘ es schon früher gesagt und je meinen Kuß dir geschenkt, so sprech‘ ich: »Der König ist ein Narr, der nichtigen Tandes gedenkt.« Und sagst du: »Wohl bin ich solch ein Narr«, so sprech‘ ich: »Der König hat recht«; doch sagst du: »Nein, ich bin es nicht,« so sprech‘ ich: »Der König ist schlecht.« Denn all meine Rosen küßt‘ ich zu Tod, dieweil ich deiner gedacht.

Erst jetzt weiß ich, dass A. Goléa schon eine gewisse Prominenz hatte. Die folgende Youtube-Aufnahme berührt mich, weil sie die typische Radio-Produktionsatmosphäre der alten Zeit der Neuen Musik wieder auferstehen lässt, die ich ab Ende der 60er Jahre ganz ähnlich noch im WDR erlebte.

Antoine Goléa Wiki hier

Rund 1 Jahrzehnt später „studierte“ ich in meiner Studentenbude (1961) Köln-Niehl Feldgärtenstraße, bloß hörend, Schönbergs „Erwartung„, immer nur hörend, wiederholt, auch sein Violinkonzert, dies dank Wolfgang Marschner, bei dem ich Winiawsky und Ravels „Tzigane“ studierte. In Berlin hatte ich mich vorher u.a. durch Musik von Stockhausen und Boulez, im „inneren Widerstand“ gegen die Polemik unseres konservativen Theorielehrers Max Baumann geübt. Ähnlich in Köln gegen die typischen Schulmusik-Professoren.

Jetzt, als ich in den ehemaligen Beständen eines verstorbenen Freundes die Boulez-Aufnahme der „Gurre-Lieder“ und allerhand Schönberg-„Stoff“ (Partituren!) reaktivierte, habe ich an die Hörweise von damals angeknüpft; zuerst mehrmals Tr.7 („Nun sag‘ ich dir“), dann Nr.6 und 7, dann 6, 7 und 8, dann 5, 6, 7, 8. Die Partitur nicht gleichzeitig – das lenkt ab! – , sondern nachträglich am Tisch, das Gehörte nachvollziehend.

Was ich schon 1975 hätte dazulernen können (Gedenkausstellung  1974):

Universal Edition Redaktion: Ernst Hilmar ISBN 3-7024-0010-9

Damals war es schwieriger, die ganze Breite der Musik zu erfassen, ohne Internet, also ohne Google, Youtube und Wikipedia und all diese Quellen, die einem damals nur mit viel Geld erschwinglich waren (das Musikhaus Tonger befand sich schräg gegenüber meinem späteren Bürohaus Carlton (WDR).

Andere Zeitsprünge

Seltsamerweise versäumte ich von Anfang an, dem Gesamtwerk „Gurrelieder“ nachzuspüren, stattdessen besorgte ich mir das „fortschrittliche“ Melodram „Erwartung“ als LP, das ich mir durch extensives Hören zu amalgamieren versuchte. Es gelang mir nicht so, wie ich erwartete.

In den 90er Jahren gab es die Gurrelieder in der Kölner Philharmonie, eine Aufführung, die ich versäumte. Aber ih erinnere mich, dass wir nachher auf der Straße den WDR-Musikchef Dr. Hermann Lang trafen und nach seinen Eindrücken befragten. Er antwortete: „Eins weiß ich jetzt: die Gurrelieder habe ich zum erstenmal gehört und ganz gewiss auch zum letzten Mal!“ Ich glaubte ihn zu verstehen und fand seine Äußerung trotzdem unangemessen. Meine Methode war eine andere, nämlich die unverdrossene Wiederholung, andernfalls blieb ein vages Schuldgefühl, weil ich die Ahnung hatte, dass mir eine Tür verschlossen war, nur weil ich untätig reagierte. Tatsächlich im Fall Gurrelieder eine Lähmung, die dem Zeitgeist geschuldet war. Wenn Schönberg, dann „richtig“!

Neue Erinnerung (im Auto, WDR 3):

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/klassik-forum/audio-mitreissender-dirigent-markus-stenz-im-klassik-forum-100.html hier

hier Sabine Webers Rezension, – sie ist instruktiv, provoziert allerdings eine überflüssige Nachfrage zum „Botaniker“ J.P. Jacobsen, die sich in Wikipedia auflöst, wo allerdings von „dem jungen dänischen Geschichtsstudenten“ die Rede ist: hier

Dies zu bemerken ist überflüssig, man muss – mit Schönberg – den „verworrenen“ Text lieben lernen. Nur die Übersetzung von Nr.7 (besonders die deutsche Reimerei) ist linkisch. Auch das CD-Booklet ist übrigens nicht angenehm zu lesen.

Ich vergleiche die Anfangstakte jedes Tracks der beiden vorliegenden Aufnahmen, und sei es nur, um das Vibrato des jeweils tätigen Soprans zu prüfen: hier (Boulez) und hier (Stenz).

Es ergibt ein Extrathema: der dramatische Sopran ist für mich in jedem Fall ein Problem! Dass es eine vollkommene Leistung in dieser Stimmlage gibt, zeigt diese Salome HIER.

Vorläufiges Ziel bis Tr.8 / Lesen Sie den Text in Vergrößerung!

Damit berühre ich frappierend die Gegenwart: die Zeit ist auch heute noch das Problem. Gerade in der Musik. Ich habe es indirekt aber auch ganz unverhofft vorhin vom Nobelpreisträger Hassabis in der ZEIT bestätigt bekommen. Momentmal, ich brauche eine Sekunde! Oder zwei!! Und ohne Musik.

Quelle DIE ZEIT 30. Januar 2025 Seite 31 »Wir werden von ihnen alles bekommen« Es gibt kaum einen Wissenschaftler, der mehr von KI versteht als Demis Hassabis. Im vergangenen Jahr erhielt er den Nobelpreis. Hier spricht er darüber, was von den intelligenten Menschen als Nächstes zu erwarten ist / Das Gespräch führten Uwe Jean Heuser und Jochen Wegner

(Fortsetzung folgt)

Blick auf Nepal

Ein Film von Christian Bau und Niels Gutschow

Zum Anfang der Schluss des Video-Booklets, das – wie ich glaube – für jeden Menschen interessant ist, der über den Tod nachdenkt und dabei auch den Buddhismus oder überhaupt eine „fremde“ Weltanschauung in Betracht zieht. Der Film zeigt eine Herangehensweise, auf die man im täglichen Leben nicht ohne  weiteres stößt, oder nur ebenso selten, wie man in unserem Alltag auf eine Trauergesellschaft stößt. Und man findet darin kaum Leute, die einem ausführlich Rede und Antwort stehen würden, warum und für wen man sich in dieser Weise zum Trauern zusammenfindet. Statt zu einem Freudenfest, wie in  christlichen Traditionen zuweilen beteuert wird. Was aber glauben sie andernorts, was wissen sie dort, wie können sie weiterleben, und wo werden ihre Toten vermutet, wenn sie nicht mehr zu sehen sind? Also mit der Dauerfrage im Hintergrund: Was bleibt von uns?

©Verlag Peter Hess Institut für Klang-Massage-Therapie Ortheide 29, 27305 Uenzen / 2005 / Aktuell (2024) https://www.verlag-peter-hess.de

Quelle https://www.verlag-peter-hess.de/DVD-s-Filme/Verabschiedung-der-Toten-Rituale-der-Newar-in-Bhaktapur-Nepal.html HIER

 

Anstehende Themen

Vor jeder zukünftigen Musik-Analyse: beginnen mit einer Untersuchung zum Zwang der metaphorischen Sprache (kann es eine sinnvolle Analyse mit „neutralen“ Zeichen geben?). Oder beginnt die zu überwindende Vorgabe schon mit der Notenschrift, der Festlegung von Oben und Unten, – der Tätigkeit der Augen und ihrer visuellen Werkzeuge? Das Wort Imagination.

Die Situation: zugegeben, das Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch, weil ich auf der Suche war. Und dies wieder vergaß. Wochen später greift JMR es auf und schlägt es zufällig (?) an anderer Stelle auf, die ihn affIziert, über die er spricht, und nun weiß ich, dass ich genau die gebraucht hatte, hätte, um aufs neue eine starke Selbstmotivierung zu erleben, auf die ich wartete. Dies hier nur als Andeutung des eher zufälligen Hintergrundes, der dann zum Haupt-Schauplatz des Gedanken avancieren sollte. Und nun kommentarlos zur Stelle (und Quelle).

Zur Verdeutlichung, letzte Zeile (vergrößern + obigen Text auf zweiter Seite), – in eigenen Worten wiedergeben, wenn ich genau wissen will, was der Autor meint, wenn er über „eine eigenartige harmonische Verbindung im vorletzten Takt“ nachdenkt:

Vorbemerkung: „Trugschluss“ nennt man bekanntlich die Wendung von der Dominante, der Stufe V (auch in Gestalt des Dominantseptakkords), hin zur Tonikaparallele, und zwar so, dass die Tonika mir als Auflösung fühlbar vorenthalten wird. Sie sollte alsbald „in echt“ folgen.

Die über dem Orgelpunkt im drittletzten Takt trugschlüssig erreichte VI. Stufe … der gemeinte Orgelpunkt ist der unterste Ton As (über dem „nt“ der „Winterszeit“), As = VI. Stufe in c-moll, umgedeutet als Terz der IV. Stufe, diese wiederum in Gestalt des „Neapolitaners“ d.h. Moll-Form, in der auch noch die Quinte durch die kleine Sexte ersetzt ist, also  hier statt f-as-c der Dreiklang f-as-des erklingt. Man könnte ihn (in Dur) auch von f-a-d ableiten könnte, der diatonisch aufgefassten Stufe II (in Umkehrung), die eben auch als Stellvertreter der Stufe IV gilt. Wenn es heißt, dass hier „die neapolitanische der diatonischen“ Version der II. Stufe vorausgeht, so soll das bedeuten: die Version mit „des“ (und „as“) kommt im 4.- 5. Achtel des vorletzten Taktes vor der Version mit „d“. Das ist nur bemerkenswert, weil die spannendere Form zuerst kommt, die weniger angeschärfte aber als zweite. Nicht gesagt wird, dass dieser Akkord dann im Sopran ein c“ bietet, so dass es sich um einen („schärferen“) Septakkord handelt. Und n a c h  diesem folgt nun der noch ungewöhnlichere Klang as – es‘ – fis‘ – h‘.

Jetzt kann ich mich an der Hand des Autors der Deutung dieses Akkords zuwenden. (Ich muss die nächste Seite haben:)

Und befinde mich in anderen Schwierigkeiten, denen der erste Teil des (wichtigen) Essays gewidmet ist. Ich kann es hier nur andeutend erschließen.

Quelle: Stephan Rohringer: Metapher und musikalische Analyse / Robert Schumann: Winterszeit I / in: Musikalische Analyse / Begriffe, Geschichten, Methoden / Herausgegeben von Felix Diergarten  Laaber Musikwissenschaft, Laaber 2014

Stichworte im Text: „ein Klang, dessen Bedeutung nach Maßgabe kadenzlogischer Harmonik einigermaßen rätselhaft  und der trotz des insgesamt sehr komplexen Satzbildes immer noch spektakulär ist“. Die Begriffe „Ascriptive Metapher“ und „Comparative Metapher“ lasse ich außer acht. Auch die „Duriusculus“-Anspielung, ebenso die Ges-Dur-Allusion und die Nähe des Tristan-Akkordes sowie den Satz, dass Schumann einen erwarteten Klang (von wem wann erwartet?) substituiert – ehe wir so weit ausgreifen, gebe ich meinem naiven harmonischen Empfinden die gleiche Chance und höre Vorhalte und Durchgänge, die quasi im Vorbeigehen auch reizvolle Harmonien produzieren.

Es geht also um genau den angegebenen Akkord (korrekt:) as – es‘ – fis‘ – h‘, im vorletzten Takt auf dem 6. Achtel. Und nun spielen Sie auf dem obersten Ton, dem h‘, statt dieses einen Achtels die zwei Sechzehntel h‘-c“, in der vielleicht irrigen Annahme, dass Schumann den Zielton c“ dann doch nicht vorwegnehmen wollte, aber im Sinn hatte – schon ist (für mich) das „Problem“ gelöst.

Er vorenthält uns das c“, das zu einem gut deutbaren Akkord passen würde, und springt auf den Ersatzton es“, der zum Harmoniewechsel nicht passt, aber melodisch sehr ausdrucksvoll ist, gerade in der Folge h‘ – es“ – h‘. Dann aber, nachdem das tiefe c am nächsten Taktanfang eingeschmuggelt ist, wird uns das hohe c“ nach einer neuen, fast verschämten Annäherung (d“-h‘) sozusagen geschenkt.

Für mich bedeutet diese Überlegung, dass ich mich nun dem eigentlichen Thema des Rohringer-Essays, der Metaphorologie, zuwenden kann.

(Fortsetzung folgt)

Wer war Jürgen Becker?

1964

Das Buch habe ich erworben, nachdem ich, aus Berlin kommend, nach Köln-Niehl gezogen war, gewillt, in der Domstadt richtig Fuß zu fassen, zumal mir das in Berlin nicht besonders gelungen war. Etwa so wie Jürgen Becker sein engeres Umfeld in dem Buch „Felder“ bestätigte und durch gute, wirklichkeitsnahe, bewusst ausdruckslose Sätze dokumentierte, so wollte ich es auf meine Weise tun. Und aus welchen Gründen auch immer – ist es mir nicht gelungen, vielleicht weil ich sonst keine Vorbilder hatte außer Benn, Proust und Musil. Und keine Heimat in Köln. Oder richtiger: weil ich die Musik hatte, die Instrumente, und zwar mit der Dauerforderung: Du sollst üben! Und zwar in Richtung virtuose Technik. Und vor allem: nie ausdruckslos.

Jürgen Becker in Wikipedia hier. † 7.11.24

Erst nach 60 Jahren diese Wiederbegegnung, absichtsvoll.

6.12.2024

Ein wunderbares Buch. Er ist nie zu spät! Dank an JMR.

Hans Mauritz: Alt sein in einem alten Land

„Inch’Allah“ und „el-hamdu lillâh“

Vor ein paar Wochen hat mir eine Bekannte Elke Heidenreichs Buch “Altern” geschenkt (1). Eine passende Gabe für einen Mann, der 85 Jahre alt ist. Dieses Buch ist so lebendig, so persönlich und frech geschrieben, dass mich nach der Lektüre die Lust gepackt hat, über mein eigenes Altsein auf der Westbank von Luxor zu schreiben, dabei einen Blick auf meine Mitresidenten zu werfen und mein Altern mit dem meiner ägyptischen Nachbarn und Freunde zu vergleichen.

Dass Altern im Deutschen einen anderen Stellenwert hat als im Arabischen, zeigen die Vokabeln. Im Deutschen sagt man nur in gehobener, leicht unehrlich klingender Sprache, dass „die Betagten in einer Seniorenresidenz leben“. Das Wort „alt“ dagegen hat einen mehr oder weniger negativen Beigeschmack, wie die Synonyme zeigen, die im „Deutschen Wortschatz“ (2) zusammengestellt sind: „greisenhaft, senil, verlebt, verbraucht, verkalkt, verrostet“. Spöttisch gemeinte Ausdrücke im Zusammenhang mit dem Alter sind „alter Knacker“, „alte Schachtel“, „alte Vettel“ oder „alte Hexe“. Im Arabischen heisst „alt“ kabîr es-sinn“, „gross an Jahren“. Da man den Zusatz in der ägyptischen Umgangssprache weglässt, wird der alte Mensch als „kabîr“, كبير bezeichnet, dem Wort, welches das Wörterbuch mit „gross, bedeutend, mächtig, angesehen, wichtig, herausragend“ übersetzt (3).

Während es im Deutschen wohl kaum einen Titel gibt, den man gebraucht, um seine Achtung vor alten Menschen auszudrücken, verwenden die Ägypter regelmässig die Anrede „ya scheich“ oder „ya hâg“. „Scheich شيخ ist eigentlich der Titel „für Männer, die im geistlichen, weltlichen oder sozialen Leben irgendwelche Bedeutung“ haben, speziell für Männer, die einen islamisch geprägten Beruf ausüben wie den Koranrezitator oder den Leiter eines Sufiordens. Den Ehrentitel „Hâg“ حاجّ bzw. „Hâgga“ حاجّة gibt man Männern und Frauen, welche die Wallfahrt nach Mekka unternommen haben (4). Aber die Anrede „Pilger, Wallfahrer“ gebührt nicht nur jenen, welche diese für die allermeisten unerschwingliche Reise hinter sich haben, sondern ganz selbstverständlich allen alten Menschen. Es ist so, als ob man dem Altsein und der Lebenserfahrung einen Wert zuweist, der geistlichen Würdenträgern und Mekkapilgern ebenbürtig ist. Der Schreibende selbst wird oft so angesprochen und lächelt insgeheim, wenn ihm bewusst wird, dass er Menschen auf der Strasse mit „ya Hâg“ begrüsst, die vermutlich jünger sind als er selbst.

Elke Heidenreich hat ihr Buch geschrieben, um am Beispiel ihres eigenen Alterns aufzuzeigen, dass dies ein wertvoller Lebensabschnitt ist, den man zufrieden und dankbar geniessen sollte. Altern bedeutet keineswegs „noch nicht tot sein“. Die Verluste, die es mit sich bringt, werden kompensiert durch andere, neue Lebensqualitäten, welche uns die Lebenserfahrung schenkt. Sie zitiert die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz: „Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.“ Elke Heidenreich ermuntert die Alten, gegen Einsamkeit, Langeweile und Lethargie anzukämpfen und zu akzeptieren, dass zwar der Körper altert, nicht aber das Bewusstsein. Wichtig ist, die Neugier nicht zu verlieren und den Glauben an die Zukunft. „In dem Alter, das ich nun erreicht habe, bin ich immer noch auf dem Schiff Hoffnung und glaube nicht an seinen Untergang“, hat der französische Schriftsteller Julien Green mit 97 Jahren gesagt.

Wie steht es in dieser Hinsicht mit den ausländischen Bewohnern auf unserer Westbank? Zunächst gilt es, den Mut zu würdigen, den es braucht, im Alter in einem fremden Land und einem fremden Sprachraum zu leben. „Das Altern ist nichts für Feiglinge“, hat die amerikanische Schauspielerin Bette Davis drastisch formuliert. Im Lauf der Jahre haben einige von uns Ägypten unwiderruflich verlassen, weil sie sich das Reisen und das Leben in der Fremde nicht mehr zutrauen. Unter denen, die geblieben sind, fallen jedoch solche auf, die auch im Alter noch erstaunlich aktiv sind und sich nützlich machen für ihr Gastland und ihre Mitbürger. Sie engagieren sich in karikativen Institutionen, Hilfswerken und Krankenhäusern, organisieren Ausstellungen zeitgenössischer ägyptischer Künstler oder vertiefen sich so sehr in das Studium der pharaonischen Geschichte und der Zeugnisse altägyptischer Kunst, dass sie es fast mit professionellen Altertumsforschern aufnehmen können. Bewundernswert, mit wie viel Elan alte Menschen sich ein altes Land zu eigen machen.

Die Neugier treibt auch den Schreibenden an. Er ist dankbar für den Gewinn, den das Studium einer fremden Sprache, Religion und Kultur mit sich bringt. Wer die fremde Sprache (sei es auch unvollkommen) spricht und versteht, erfährt eine Nähe, welche der Gebrauch des Englischen kaum zu erreichen vermag. Wer sich nicht verschanzt hinter den Mauern seiner Villa, hat Nachbarn und Freunde, teilt ihre Sorgen und Hoffnungen und nimmt, aus einem gewissen Abstand oder ganz aus der Nähe, Teil an ihren Traditionen und Gebräuchen. Zu ihren Hochzeiten braucht es nicht einmal eine Einladung. Das ganze Dorf kommt und lauscht der lauten Musik. Wenn jemand stirbt, wird vor dem Haus ein Zelt aufgebaut, wo drei Tage lang die Männer des Dorfes schweigend dasitzen und dem Scheich zuhören, der aus dem Koran rezitiert. Die Frauen strömen schwarzgekleidet in den Hof des Hauses. Ihre Aufgabe ist das Klagen um den Toten, aber so mancher sieht man heimliche Freude an, denn der Tod der Nachbarn ist für sie eine der wenigen Gelegenheiten, ihr eigenes Haus zu verlassen. Wer offene Augen und Ohren hat für das Leben seiner Mitbürger, erlebt, was diese beschäftig: den Fastenmonat Ramadan, den Geburtstag des Propheten, die Beschneidung der Knaben oder die grossen Dorffeste (halb Wallfahrt, halb Jahrmarkt), „Mûlid“, مولد Geburtstag“ genannt, weil sie den Lokalheiligen feiern, wie „Abu al-Gomsan“ in al-Qurna oder Abu al-Haggâg in Luxor.

Die Alterseinsamkeit, in Europa oft beklagt, existiert hier nicht. Die Alten sind nicht „unsichtbar“, wie oft in Europa gesagt, sondern geachtet und geliebt. Sie werden nicht in ein Heim abgeschoben, sondern sind aufgehoben im Familienverband und beschäftigt mit den Aufgaben, die sie noch erfüllen können. Die alten Männer machen sich nützlich auf dem Feld und bei der Betreuung der Tiere. Die Frauen thronen draussen im Hof, umgeben von Töchtern, Schwiegertöchtern, Enkelinnen und einer ansehnlichen Schar von Kindern, die zur „gidda“ جدّة ein enges Verhältnis haben. Wir Europäer werden, sofern wir das wünschen, in diese Gemeinschaft aufgenommen. Einsam sind wir nicht, weil wir sehr schnell Freunde gewinnen. Im Gegenteil: der Schreibende musste für ein gewisses Alleinsein kämpfen. Allzu oft wurde er bei seiner Lektüre und beim Schreiben gestört, weil seine Nachbarn Mitleid hatten mit dem armen Mann, der so einsam in seiner Wohnung hockte. Die Hochachtung vor dem Computer hat schliesslich geholfen, auch wenn nicht alle verstehen, was der Fremde damit treibt. Der Mann am Computer bleibt jetzt weitgehend ungestört.

Unter Langeweile leiden wir Fremden nicht, weil es so viel Neues und Überraschendes zu entdecken gibt. Und Langeweile bemerke ich auch bei den alten Ägyptern nicht. Wenn sie nicht mit Aufgaben innerhalb der Familie beschäftigt sind, sitzen sie gelassen da, schauen vor sich hin oder in sich hinein und scheinen gelernt zu haben, was Elke Heidenreich den Alten in Europa rät: das Loslassen. Vermutlich fällt ihnen dies leichter als manchen ihrer europäischen Altersgenossen. Die Ägypter und speziell die Muslims haben ihr Leben lang gelernt, „inch’Allah„so Gott will“ ان شاء الله und „al-hamdu lillâh“ الحمد لله zu sagen und damit alles, was ihnen widerfährt, in Gottes Hand zu legen. Wer „inch’Allah“ sagt, dem wird vom Gesprächspartner mit derselben Formel geantwortet.. „El-hamdu lillâh“ („Gott sei Dank“) sagt man keineswegs nur bei guten Ereignissen. Wenn Dir etwas schief läuft, wenn z.B. dein Auto gerammt wird, schärft man dir ein, noch bevor du deinem Ärger Luft verschaffst: „Sag el-hamdu lillâh“, und du tust es. Wir Europäer mögen uns vielleicht stören an einem Verhalten, das die Verantwortung für alles in Gottes Hände legt. Wenn du einen Kettenraucher auf die Gesundheitsgefahr ansprichst, wird er dir antworten: „Allah liebt mich, el-hamdu lillâh.“ Für alte Menschen, die das Akzeptieren und Loslassen lernen müssen, ist diese Haltung selbstverständlich. Sie zeigt sich oft deutlich im Gesicht der Alten. Alte Frauen und Männer haben ihre eigene Schönheit, sie leuchtet in ihren Augen von innen heraus.

Auch wenn wir stolz darauf sind, in Europa die Diskriminierung des weiblichen Geschlechts überwunden zu haben, ist sie in Bezug auf das Altern noch immer präsent. „Die Frau verblüht, der Mann reift“, bemerkt Elke Heidenreich. Dass „reife“ Männer eine wesentlich jüngere Frau heiraten, wird akzeptiert. Wenn aber ältere Frauen sich einen jüngeren Liebhaber zulegen, wird das als peinlich empfunden und geächtet. Erstaunlicherweise wird dies bei uns in Ägypten im Zusammenleben von Ausländerinnen und Einheimischen als weitgehend normal erlebt. Ältere Frauen aus Europa reisen nach Ägypten, verlieben sich in einen weit jüngeren Mann, heiraten ihn und leben mit ihm in ihrer neu gebauten Villa. Es ist nicht zu leugnen, dass eine solche Verbindung manchmal desaströs und tragisch endet. Aber wir kennen alle Beispiele dafür, dass eine solche Ehe funktioniert. „Im Innersten ist man nie alt“, hat der 97 jährige Julien Green behauptet, „die Zeit existiert nicht für die Liebe“. Und Elke Heidenreich betont: „Das Fieber der Leidenschaft lässt nach, aber doch nicht Liebe und Zärtlichkeit.“ Diese Beziehung gelingt vor allem, wenn die Frau Toleranz und Verständnis für die Gegebenheiten ihres Gastlandes aufbringt. Sie muss akzeptieren, dass sie früher oder später ihren Mann mit einer ägyptischen Ehefrau teilen muss, sei es auch nur, weil seine Umgebung und seine Eltern darauf drängen. Die Tradition und die ausgeprägte Liebe zu Kindern zwingt ihn dazu, die Familie mit Enkeln zu beglücken. Den ausländischen Gattinnen erwächst daraus eine neue Aufgabe. Da die öffentlichen Schulen so mangelhaft sind, empfiehlt sich der Besuch der Privatschulen, die für die meisten Ägypter zu teuer sind. Die Fremde, in die Familie aufgenommen, übernimmt die Kosten für die Ausbildung der neuen Generation und tut damit wohl das Beste, was wir in unserer Gastheimat leisten können. Inch’Allah, wir Alten in einem alten Land bleiben jung, wenn wir uns um die Jungen kümmern.

Und damit erfüllen wir Elke Heidenreichs Maxime: „Die Kunst des Lebens besteht darin, jung zu sterben, das aber so spät wie möglich.“

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(1) Hanser Berlin, 11/2024

(2) Wehrle/Eggers, „Deutscher Wortschatz“, Band 1 und 2, Fischer Bücherei, 1968

(3) und (4) Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch, Wiesbaden 1952

Dr. Hans Mauritz in Ägypten

Das Chaos und die Ordnung der Töne

Privates und Musikalisches

Was hat denn eigentlich, so frage ich mich, der mehr oder weniger zufällige Lauf meines Lebens mit den geistigen Phänomenen zu tun, die sich in seltsamsten Wechselwirkungen manifestieren?

Meine private Musikgeschichte begann mit dem getanzten Bi-ba-butzemann und mit schwerfälligen Russenliedern. Zwei Brüder (4 und 6) als Soldatenchor. Greifswald – das wussten wir nicht – war kampflos übergeben worden, während Anklam lichterloh brannte. Ich bin in einem zerstörerischen Weltkrieg Ende 1940 geboren, habe jahrelanges Chaos erlebt, das ich nicht einzuordnen wusste, Kälte, Hunger, endlose Eisenbahnfahrten, und bin doch nach 20 Jahren – in Lohe bei Bad Oeynhausen und Bielefeld – an einen Punkt gelangt, von dem aus ich mit vielen Punkten dieser Welt freundliche Verbindung aufnehmen konnte. Nachträglich sieht es fast wie Planung aus, aber da war nichts, nur der Vorsatz, nach dem Abitur etwa 10 Jahre lang zu studieren, Musik im Zentrum, darüberhinaus möglichst viel Wissen und Können zu erwerben – wer weiß was wieviel und wo, nur nicht drauflos wie wild, sondern immer mit den zugehörigen Abschlüssen. Niemand sollte sagen können, ich wisse nicht, was ich wolle, mal dies mal das. Ich kritisierte tatsächlich tüchtige Mitschüler, die beim Abitur bereits wussten, wohin die nächstfolgende Ausbildung führen würde, dass sie also gewissermaßen einen glasklaren Lebensplan erfüllten, alles im Griff hatten, alles im Blick, bis hin zu den aus der Ferne winkenden Pensionsbezügen.

Kurz: bei mir lief es anders, mit vollem Risiko, besonders als sich Nachwuchs einstellte, eine unverhoffte Aufgabe, die mein  Studium generale nicht beeinträchtigte, vor allem intensivierte sie die pädagogische und philosophische Begleitlektüre. Ich extrahiere hier einmal das entscheidende Jahrzehnt aus einer Bio-Bilanz, die ich wohl 2005 angefertigt habe (s.a. hier ohne die Unschärfen der Kopie). Weichenstellung! Sofort sehe ich aus der Mitte des Textes das Wort Beirut bedeutungsvoll hervorleuchten: im Apri 1967 hätte ein verlockendes Angebot aus dem Goethe-Institut Tripolis fast bewirkt, dass wir unseren Lebensmittelpunkt für ein paar Jahre dorthin verlegten. Ich gab meinem Studium in Köln schon mal eine neue Wendung: Musikethnologie mit Schwerpunkt Beduinenmusik. Der Sechstagekrieg im Juni 1967 machte die Libanon-Pläne zunichte, zugleich rückte daheim der WDR ins Blickfeld. Der Lebensunterhalt war gesichert. Allerdings entwickelten die fremden Kulturen eine bleibende Faszination, ich konnte nichts von dem aufgeben, was ich einmal aus der Nähe kennen- und liebengelernt hatte. Und die arabische Musik ist mir beim Aufschreiben und Analysieren für die Dissertation besonders ans Herz gewachsen. So erlebte ich einen kleinen arabischen Frühling, als mir JMR jetzt das neue Beirut-Heft mitbrachte. Plötzlich fand ich darin all die Themen wieder, die mich jahrelang beschäftigt haben. Qasida, Mawwal al Bagdadi und das Rauschen der alten Baidaphon-Schallplatten, die aus einer versunkenen Epoche wieder auferstehen wollen und heute dank Internet plötzlich mühelos abrufbar sind.

Hier folgt eine von vielen Qasiden aus meinem syrisch-libanesisch getönten Lebensabschnitt Ende der 60er Jahre, als jede Baidaphon-Schallplatte, die Marius Schneider mir auf den Tisch legte, mich wochenlang beschäftigte. Man legt die beiden Blätter nebeneinander, links sind die Instrumentalteile, denen auf der rechten Seite eine Strophe folgt. Das Untereinanderschreiben der Strophen und der Zwischenspiele erlaubt ein detailliertes Vergleichen der Varianten und Konstanten, woraus sich das eigentliche Hörvergnügen entwickelt. Vor dem „geistigen Ohr und Auge“ bildet sich die differenzierte Gestalt dessen, was die gebildeten Araber „Maqam“ nennen. Sie  brauchen dafür keine Notenschrift. Ob der Volksmusiker davon weiß, steht dahin, er macht eher intuitiv Gebrauch von einem unbewussten Arsenal melodischer Formeln und Formen, das ihm die mündliche Tradition bereitstellt.

Daraus ergab sich allmählich der ganze Ablauf der Dissertation, es hat Jahre gebraucht, ehe ich verstand, warum und in welchem Unfang der Maqam Sikah mit seiner Grundformel aus drei Tönen zum unerschöpflichen immateriellen Kulturerbe des Orients gehört. Wie so oft in meinem Leben lichtet sich das Chaos, nach langer Vorarbeit, wie durch ein Wunder, „von selbst“.

Heute erfahre ich in Kürze viel mehr, als mir damals das Morgenländische Institut Beirut in Wochen mit Marius Schneider und Salah el-Mahdi (aus Tunis) vermitteln konnte. Den Weg gewiesen hat mir Diana Abbani mit ihrer Arbeit „Auf der Suche nach Beiruts Klang“, veröffentlicht in der Zeitschrift für Ideengeschichte, Verlag C.H.Beck, auffindbar im folgenden Link: www.z-i-g.de hier

Es ist ein Hörvergnügen, in die folgende Reihe einzutauchen, der wohltönenden arabischen Sprache zu lauschen, zugleich dem englischen Text zu folgen und die zahlreichen eingestreuten Musikbeispiele zu genießen, vielleicht sogar den Versuch zu wagen, sie mitzusummen: Liebe Leserinnen, lieber Leser, hörend werden Sie sich ganz allmählich zu Hause fühlen – und vielleicht in der nächsten Nachrichten-Sendung mit den Tränen kämpfen.

193 – Folk Music in Lebanon 1

194 – Folk Music in Lebanon 2

195 – Folk Music in Lebanon 3

196 – Folk Music in Lebanon 4

197 – Folk Music in Lebanon 5

200 – Folk Music in Lebanon 6

Vina-Zauber

Eine unverhoffte Wiederkehr

1.2.2008 Münster

Fundsache. Auf der Rückseite nur Datum und Ort. Wie war doch gleich der Name?

Dr. Karaikudi Sambasivayer Subramanian mit Vina beim Workshop (mit JR). Soviel Zeit muss sein. Es war kein einfacher Prozess, ebensowenig wie die ganze karnatische Musik Südindiens, die damit heraufbeschworen wird. Samt Josef Kuckertz und Pia Srinivasan …

Dieses Foto weckte ganz verschüttete Erinnerungen, doch stark genug, mich für den Rest des Tages in emsige Tätigkeit zu versetzen. Am Ende zwangen sie mich sogar, alte Übungen in südindischer Musik wieder aufzunehmen. Oh, großer Gott Sambhu!

Und wieder gilt es weite Zeiträume rückwärts zurückzulegen, wiederzugewinnen, zuerst bis 2008, dann bis 1975. „Oh, großer Gott Sambhu!“

Dieses alte Musikstück soll mir ein Leitfaden sein, erkenne ich es wieder? Ich wähle Youtube, obwohl CD wie auch LP aufzutreiben war, unter 200 Indien-Relikten. Der Titel führt mich also auch ins Internet. Dann: mein altes Verzeichnis, ein Nachtrag führte noch bis 2005. Oder 2006? Ende. Nein, zu den Anfängen.

Ich erinnere mich an den Namen M.S. Subbulakshmi. Und der Musiktitel ist mir geläufig vom Titel der alten CD (s.u.).

Der als Komposition gesungene Text beginnt bei 2:16, kein Zweifel, er spielt auch schon vorher eine Rolle, aber das nehmen wir als Einleitung, die Komposition beginnt ab 2:16 ( „Sam-bho“ ).

Wer Noten kann, darf auch Notationen studieren, siehe unten, westlicher Notbehelf als Gedächtnisstütze, – gutes Hören ist wichtiger. Sie werden bestimmte Ruhepunkte erkennen, eine Gliederung der endlos aktiven Melodiestimme (endlos? nein, zeilenweise), an der uns ansonsten eine Vorliebe für die Töne des Dreiklangs auffallen könnte. Ohne dass das etwas in unserem Sinne zu sagen hat.

Die einzelnen „Neuansätze“: 1) ab 2:16 bis 3:11 2) ab 3:12 bis 3:58 3) ab 3:59 bis 4:26 4) 4:27 bis 5:43 5) ab 5:44 bis 6:06 (Ende 6:13)

Man bekommt eine Ahnung von der formalen Gestaltung, ist aber noch weit entfernt von einem „ästhetischen Vergnügen“. Ein fein ziseliertes Linienspiel, das magisch um eine geheime Mitte kreist. Doch allmählich sehen wir die Umrisse jener Form, die in der karnatischen Musik Südindiens Kriti genannt wird. Pia Srinivasan beschreibt sie – anhand eines anderen Beispiels – folgendermaßen:

Pallavi, Anupallavi… Samgati

Wir haben beim Hören vielleicht ein Gefühl für die einzelnen Teile bekommen, ohne sie einstweilen noch genau benennen zu müssen. Nun gilt es innerhalb jeden Teils die melodischen Charakteristika zu erfassen, die zeilenweise Wiederholung bei gleichzeitigem Ausbau der melodischen Bögen. Im Pallavi ( 1.  )  dreht es sich um die Haupttöne der unteren Oktave, des „Dreiklangs“, im Anupallavi geht es um die höhere Oktave und ihren Umkreis ( 2.  ), im Carana werden beide Bereiche verbunden ( 3. ).

Selbst wenn es sich bei dem ursprünglichen Gesang, wie meist, um eine Komposition handelt, müssen die verschiedenen Wiedergaben angesichts der mündlichen Überlieferung nicht identisch ablaufen. Wie uns sofort auffällt, wenn wir die folgende Version gleichen Titels Teil für Teil auf die andere beziehen wollen.

Zwischenwarnung: ich weiß, dass dieser Blogartikel Arbeit bedeutet, – übrigens auch für die Instrumentalisten: sie haben ihr Leben lang daran gearbeitet, so zu spielen, wie sie spielen, viele Stunden täglich, auch daran, jede scheinbar unscheinbare Nuance der Komposition (!) in den Fingern und im Kopf abzurufen. Unmöglich ist es für ein „fremdes“ Publikum, die notwendige Aufnahmefähigkeit im ersten Moment bereitzustellen und das „Stück“ adäquat zu erfassen. Es besteht nicht einfach aus einem Dur-Dreiklang, die Inszenierung dieser Töne und ihrer Umgebung ist eine völlig andere, als wir gewöhnt sind, und es kommt genauso darauf an, Missdeutungen auszuschließen, wie neue Deutungen, neue Gewohnheiten anzunehmen. Die wissenschaftliche Annäherung, wie sie im Kommentarheft der CD nahegelegt wird, ist nicht die einzig wahre, kein Mensch wird als Wissenschaftler/in geboren. Die Ahnung des Gemeinten und die Lernbereitschaft – das sind die wichtigsten Voraussetzungen des musikalischen Vergnügens. Der Vina-Zauber, den unsere Überschrift meint, entsteht beim bloßen Klang aus dem Obertonreichtum, – wenn Sie so wollen…

Noch eins: die zu vergleichenden Aufnahmen stehen auf unterschiedlicher Grundtonhöhe. Sie benutzen dieselbe Skala, aber deren Grundtöne weichen um ein Terzintervall voneinander ab. Es gibt keinen genormten Stimmton, der für alle Sänger und Instrumentalisten gilt. Der Grundton aber, wenn wir die Skala in unsere Notenschrift übertragen, wird immer als C gedacht bzw. notiert.

*    *    *

Unsere Referenz-Aufnahme von 1975

Die ganze Doppel-CD heißt Sambho Mahadeva, aber uns geht es natürlich um den entsprechenden Einzeltitel, der als Track 4 angeklickt werden kann. Wenn Sie hier wie auch oben bei der Subbulakshmi-Aufnahme die Youtube-Fassung separat auf dem Bildschirm parat halten, können Sie zur Übung die Teile beider Versionen – stückweise vergleichend – abwechselnd nacheinander anspielen. So oft und so lange, bis Sie ein Gefühl für die Länge und die Vergleichbarkeit der einzelnen „Zeilen“ entwickeln.

Wenn es Ihnen „erkenntnisträchtig“ gelingt, zeugt dies von interkultureller Musikalität, und Sie können stolz auf sich sein.

Sie beginnen also auf der Vina-CD – siehe folgende Auflistung – im Tr. 4, das ist in der Gesamtzeitzählung der Youtube-Aufnahme bei 15:21, jedoch startet der Krti-Teil 1. , der zum Vergleich ansteht, erst bei 16:46. Die Gesamtdauer der Komposition in dieser Version endet bei 21:50.

Vina: Rajeswari Padmanabhan & Karaikudi S. Subramanian

1. Varnam: Moha-Lahiri 0:00 2. Krti: Sri-jalamdharam 4:44 3. Krti: Samkari Niv’ani 9:40 4. Krti: Sambho Mahadeva 15:19 5. Krti: Cittam Eppadiyo 21:58 6. Alapanam – Tanam – Krti: Kaddanuvariki Mit / With Kalpana-Svarams 28:04 7. Tillana: Di Mi Ta Ja Nu 46:26 8. Mangalam: Pavamanasutudu 54:25 9. Krti: Ramacandram 55:29 10. Krti: Mari Vere 1:02:17

Unten die WERGO-CD, deren Begleitheft mit Notationen und guten Analysen von Pia Srinivasan Buonomo stammt.

PAUSE für eigene Experimente und Vergleiche.

Museum Collection Biographien

Links auf dem Titelfoto der CD (und LP): das ist er, den ich am 1.2.2008 im Münster wiedersah: damals hatte er gerade in den USA promoviert: Dr. Karaikudi S. Subramanian. Jetzt soll es um die Musik gehen, zu der die Aufnahmen von damals – dank der Vorarbeit von Dr. Pia Srinivasan Buonomo – nach wie vor beste Hilfestellung leisten. Zunächst folgt der ganze Artikel, der sich auf dieses eine Stück der CD bezieht, das wir nun ja sogar in zwei exemplarischen Versionen zur Hand haben.

Ein langes schwieriges Wort (Madhyamakala…) wird an anderer Stelle erläutert, anhand einer anderen Komposition:

Dies hier ist die Skala des Raga Bauli (Bowl), die normalerweise auch nicht ohne die melodisch verbindlichen Ornamente (zweite Zeile) vorgetragen wird:

Zugegeben: das alles ist viel Text für ein kleines Stückchen Musik, und ohne gründliche Vorbildung und Einübung – denke ich – kann man daraus kaum klare Tongestalten imaginieren oder hörend identifizieren. Und um mit meiner Ermunterung glaubwürdig zu bleiben, müsste ich noch viel mehr Text produzieren. Ich versuche es trotzdem, – ohne Rücksicht auf Verluste! Ich werde von Zeilen (der Melodie) sprechen, obwohl im Kommentar davon nicht die Rede ist. Sondern von „Avartam“, das ist der kleine Melodieabschnitt, der auf eine Talam-Länge passt (Talam: 1 Rhythmusperiode, in diesem Fall 2+4 oder 3+3 oder 4+2). In Beispiel 16 sehen wir 2 „Avartams“, die zusammen (!) eine Melodieperiode bilden. Es wäre hilfreich, wenn wir genau diese eine Zeile in den klingenden Tönen wiedererkennen, das hieße: wir haben sie be-griffen. Tatsächlich: wir hatten gesagt, unsere Krti beginnt genau bei 16:46, Avarta 1 und 2 konzentrieren sich dann auf das untere c, die Trommel hat sich minimal später dazugesellt, auf 16:55 beginnt das im Notenbeispiel wiedergegebene Avartam-Doppel (genannt 1. + 2. Variante), und so geht es bis genau 17:05 (wieder auf c gelandet). Bis 17:55 folgen nun die weiteren Avartams incl. Ruhepunkt auf g, Pallavi-Teil zuende (oder wird er wiederholt?).

Sie werden zwangsläufig oft neu angesetzt haben, um diese 2 (und die danach folgenden) Varianten genau wahrzunehmen. Es kann auch nicht schaden, den Rhythmus (Talam) mitzuzählen, jeweils 1 bis 6 pro Avartam. Wieviel – Zeilen haben Sie, oder hätten Sie, wenn Sie nachgezählt und vielleicht ein Notenschema vorbereiten wollte (als fleißiger Musikethnologe zum Beispiel?).

Wenn Sie jetzt zurückgehen in die Einleitung, um dort die für den Raga(m) Bauli festgelegten Töne in ihrer Charakteristik zu erfassen, sie finden sich in Notenbeispiel 16, Arohanam ist Skala aufwärts, Avarohanam abwärts, man sieht die kahle Skala und darunter die verbindlichen Ornamente.

Aber noch etwas Interessantes steht im Kommentar:

Dieser Sanskritvers beginnt in unserer Subbulakashmi-Aufnahme bei 0:55 und endet bei 2:14, zu vergleichen mit der Vina-Aufnahme ab 15:57 bis 16:45 (also hier sehr verkürzt).

Sie werden des öfteren die Vina-Solistin singen hören, hier im Untergrund, in der tiefen Oktave, aber vor allem die zweite Vina wunderschön mitgehen hören: Zauber der Vina.

Wenn Sie das letzte Beispiel weiterlaufen lassen, hören Sie – wie gesagt – den Pallavi mit seinen Varianten vollständig, und noch weiter, um den besagten Schlusswendungen des Refrains auch nach den nächsten Teilen wiederzubegegnen (19:05, 19:30, 20:40, 21:30 Ende). Immer mit gedehntem „as“ auslaufend auf die Quinte g (nicht auf den Grundton c): für mich ist dies das Signum des Frühlings, von dem im folgenden Youtube-Film die Sängerin Charulatha Mani spricht.

Ich möchte für heute abschließen mit 2 Seiten des Skriptes, das ich damals für die Sendung des Münsteraner Konzertes geschrieben habe.

Von Vina zu Sarod

Der 15. März 2008 angekündigt, der 16. Januar 1997 im Sinn:

bei Amjad Ali Khan