Archiv der Kategorie: Mythologie

Aus dem Alltag in Oberägypten

Dies ist kein alltäglicher Beitrag eines Reisenden im fremden Land. Man erfasst dergleichen nur, wenn man dort lebt und tieferen Einblick gewonnen hat. Manches bleibt uns ganz fremd, andere Phänomene wird man heute noch ganz ähnlich in ländlichen Gegenden Europas finden, wenn man sie zu entschlüsseln versteht. Von Dr. Hans Mauritz – wir kennen uns seit unserer gemeinsamen Schulzeit in Bielefeld – habe ich oft genug den verständnisvollen Umgang mit verschiedensten Sichtweisen erlebt. Er hat ihn beim jahrelang geübten Wechsel der liebgewordenen Umgebungen erworben: in Deutschland, Frankreich, in der Schweiz, in der Toskana und in Oberägypten. Und dieser Teil Ägyptens ist durchaus nicht zu verwechseln mit Kairo oder anderen Punkten der arabischen Welt.

Ich danke meinem alten Freund für die Überlassung dieses interessanten Textes und empfehle der Aufmerksamkeit auch seine anderen Essays, die in diesem Blog wie auch in dem letzten Link der Anmerkungen (s.u.) zu finden sind.

Der Böse Blick العين

Ein Essay von Hans Mauritz

Wer in Oberägypten (1) lebt und mit Einheimischen befreundet ist, wird recht bald feststellen, dass der „Böse Blick“ etwas ist, an das man glaubt und dessen Auswirkungen man fürchtet. Eine Umfrage, die in der Türkei gemacht wurde, ergab, dass 84% der Befragten den Bösen Blick fürchten. (2) In Syrien sind praktisch alle Menschen überzeugt, dass es dieses Phänomen gibt. (3) In Ägypten und speziell bei uns im Süden dürfte es nicht anders sein. Bekanntlich glaubt man oder hat in der Vergangenheit überall auf der Welt an den Bösen Blick geglaubt, von Mesopotamien und dem pharaonischen Ägypten über Indien, China, den Orient, Afrika und ganz Europa. Das Wort für diesen Zauber ist in allen Sprachen präsent: the Evil Eye, le Mauvais Oeil, il Malocchio. Freilich wird der Böse Blick bei uns im Westen heute selten erwähnt. Selbst wer daran glaubt, neigt dazu, sich „aufgeklärt“ zu geben und nicht zu seinem „Aberglauben“ zu stehen. Dass dies in Ägypten anders ist, hat damit zu tun, dass die Realität dieses Zaubers von der Religion bestätigt wird. Dass es den Bösen Blick wirklich gibt, bezeugt ein Ausspruch des Propheten: العين حقّ (al-‘ain haqq) , „Der Böse Blick ist eine Tatsache“. (4) Einer meiner Bekannten, von dem man weiss, dass er dem Alkohol zuspricht, verursacht einen Autounfall. Statt mit sich selbst zu hadern, sieht er den Grund in einer Ursache, die ihn selbst frei spricht: im Bösen Blick. Ein anderer erleidet gleich zwei Schicksalsschläge: seine Frau verlässt ihn und seine Lämmer sterben. Auch er identifiziert als Ursache seines Unglücks dasselbe Phänomen. Der weit verbreitete Glaube gibt ihm Recht: dem Blick missgünstiger Menschen traut man zu, Liebe und Freundschaft zu zerstören und Vieh krank werden und sterben zu lassen.

Der Böse Blick wird in Ägypten mit dem Wort عين „‘ain“ benannt, das „Auge“ heisst und zugleich das böse, neidische Auge meint. Das Wörterbuch der ägyptischen Sprache übersetzt das Wort mit „the evil eye, the capacity for harming people by regarding them enviously“. (5) In der Tat wird der Neid الحسد (al-hasad) dafür verantwortlich gemacht, dass jemand einem anderen durch einen bösen Blick Leid zufügt. Deshalb wird dieser auch عين الحسد oder عين الحسودة (Blick des Neides) genannt. Wer ein kostbares Objekt, ein wohlgenährtes Tier oder ein schönes Kind mit Bewunderung und Neid anschaut, kann bewirken, dass die Vase zerspringt oder das Tier oder der Säugling erkrankt und stirbt. المحسودين „al-mahsûdîn), die „Beneideten“ und Opfer des Bösen Blickes, sind meistens Personen in ganz bestimmten Lebenssituationen. Schwangere und Wöchnerinnen sind gefährdet oder Brautleute im Moment ihrer Hochzeit. Sein Glück und seinen Erfolg, seinen Reichtum oder seinen sozialen Rang zu zeigen, kann riskant sein. Es empfiehlt sich, besonders Wertvolles zu verbergen. In Anwesenheit „verdächtiger“ Personen sollte man seine teuren Kleider und seinen Schmuck nicht tragen und nicht mit seinen Kindern und deren Schönheit prahlen.

Zu den Situationen, in denen Vorsicht geboten ist, gehört das Schreiten über eine Türschwelle (dort könnte ein böser Zauber versteckt sein) oder die Begrüssung und Verabschiedung von Gästen: unter sie könnte sich ein Unbekannter mischen, der von Neid und Missgunst angetrieben ist. (6) Auch unter den Neidern, الحاسدين “ (al-hâsidîn), den Verursachern des Bösen Blickes, gibt es besondere Kategorien. Man erkennt sie an ihrem Äusseren, weil sie blauäugig, einäugig sind oder schielen. Man verdächtigt Frauen, deren Körper behaart ist, oder Männer, die umgekehrt erstaunlich unbehaart sind. (6) Wenn eine Frau ein Jahr nach ihrer Hochzeit immer noch nicht schwanger ist, fürchtet man, dass sie Opfer des „al-‘ain“ ist. Sterilen und unverheirateten Frauen traut umgekehrt man zu, andere mit dem Blick des Neides zu schädigen oder eine Hexe oder einen Zauberer damit zu beauftragen. Eine junge Frau, die mehr als 20 Jahre alt ist, kann bereits als „alte Jungfer“ gelten und beargwöhnt werden (7).

Wer arm und benachteiligt, ein Versager ist, wessen Kinder keinen sozialen Aufstieg schaffen wie die Kinder seiner Nachbarn, wird gemieden, weil man seinen Neid und seine Rache fürchtet. Der neidische Blick kann absichtlich erfolgen, aber auch ungewollt und unbewusst. Wir Fremden in Ägypten sollten vorsichtig sein. In Europa ziemt es sich, fast überschwenglich zu loben und zu bewundern, was man im Hause seiner Gastgeber sieht. Im Umgang mit Ägyptern sollte man dabei eher zurückhaltend sein, die Schönheit der Kinder eher verhalten bewundern, ebenso die Kleider und die Ausstattung der Wohnung. Wenn man mag, kann man dabei, wie dies Ägypter tun, ein „al-hamdu lillah“ (Allah sei Dank) oder ein ما شاء الله „was Gott gewollt hat“ einfliessen lassen, Segenswünsche, welche die magische Wirkung ausser Kraft setzen. Der Prophet hat diejenigen getadelt, die ihre Bewunderung ausdrücken, ohne Allah zu preisen und ohne ihn zu bitten, den Angesprochenen zu segnen. Uns Fremden fällt auch auf, dass Ägypter auf die Frage, wie es ihnen geht, oft einfach mit „al-hamdu lillah“ antworten, ohne kundzutun, wie prächtig es ihnen gut geht. Der Böse Blick ist eine der Erscheinungsformen des bösen Zaubers, vor dem man sich zu hüten hat. Wer anderen Böses will, kann dies selbst bewirken oder eine „professionelle“ Hexe oder einen Zauberer beauftragen. Die Opfer sind dieselben wie beim Bösen Blick. Eine Braut macht ihre Hochzeitstoilette bei einer Nachbarin, weil sie das schlimme Geschick fürchtet, das ein Neider bei ihr zuhause vorbereitet hat. (8) Wer sich in eine Frau verliebt, die bereits verheiratet ist, kann durch Zauber einen Zwist heraufbeschwören, der zur Scheidung führt. Wer einen Mann beneidet, kann dafür sorgen, dass er impotent wird oder sein Geschlechtsteil zu einem weiblichen wird und er seiner Frau nicht mehr beiwohnen kann . Wenn Zauberer und Hexen Haare, Nägel oder einen Fetzen von deinem Kleidungsstück in ihren Besitz bringen, können sie damit Macht gewinnen über dich. Ihre Praktiken gehen soweit, dass sie einen frisch Beerdigten ausgraben, seine Haare oder seine Nägel, seine Leber oder bestimmte Knochen an sich nehmen, um sie für ihre schwarze Magie zu gebrauchen. In Siwa gab es noch in neuerer Zeit die Gewohnheit, an solchen Gräbern Wachen aufzustellen (9).

Dem Bösen Blick und der Hexerei begegnet man mit vielfältigen Massnahmen. Die Kinder kann man mit einem Namen rufen, der gar nicht ihr wirklicher Name ist. Wir alle kennen Ägypter, die eigentlich anders heissen als sie genannt werden. Diese Verbergung des wahren Namens erinnert uns an ein berühmtes Märchen, dessen Hauptfigur sich freut: „Ach, wie gut, dass niemand weiss, dass ich Rumpelstilzchen heiß“. Nach dem Besuch einer verdächtigen Person kann man das Haus ausräuchern mit Weihrauch oder speziellen Gewürzmischungen. (10) Vor dem Hauseingang werden Zwiebeln aufgehängt, in der Kleidung von Kindern oder im Schleier der Frauen Fenchel versteckt. Beim Betreten der Toilette murmelt man eine Beschwörungsformel, weil man glaubt, dass Dschinnen oder der Satan selbst sich gerne dort aufhalten. Ähnlich beliebt sind bei ihnen unbewohnte Häuser und Wohnungen. (11) Wenn ich von Reisen zurückkam, habe ich selbst erlebt, dass man während meiner Abwesenheit das Radio laufen liess, welches das Koranprogramm ausstrahlte. Vor allem schützt man sich durch Amulette, die gegen den Zauber wirksam sind. Beliebt sind solche in Form eines Auges oder einer Hand, die nach Fatima, der jüngsten Tochter des Propheten benannt ist. Die „blauen Augen“, auch „Nazar“ genannt, heftet man vor allem Kindern an die Kleidung, aber sie hängen auch an Schlüsselanhängern oder am Rückspiegel von Taxis. In Touristengebieten sind diese Gegenstände zu beliebten Souvenirs geworden. Mit in Henna getauchten Handflächen bestreicht man Wände und Hauseingänge. Die Henna-Farbe wird gewöhnlich benutzt zum Schmuck der Braut und der Hochzeitsgäste, weil man ihr „baraka“ (Segenskraft) und Hilfe gegen Magie zuschreibt. Fromme Muslime lehnen oft solchen Gegenzauber ab, weil sie ihn für شرك „shirk“ (Götzendienst, Aberglauben) halten. Sie schützen sich mit den Mitteln, die ihnen die Religion zur Verfügung stellt: Nach der Geburt eines Kindes lässt man einen Scheich kommen, der dem Säugling den islamischen Gebetsruf ins Ohr flüstert. Man rezitiert die „Sure des Frühlichts“ auf, welche lautet: „Ich suche beim Herrn des Frühlichts Zuflucht vor dem Unheil, das ausgehen mag (…) von einem, der neidisch ist.“ (12) Man sagt islamische Segensformeln auf, betet und verharrt in stillem Gedenken an Allah, wie dies die Derwische tun (13). ————————————————————————-

Anmerkungen

Wikipedia : „Der Böse Blick“; „Le mauvais oeil“; „Hand der Fatima“; „Nazar-Amulett“

(1) Zum Geisterglauben in Oberägypten vgl. Elisabeth Hartung, „Die Geister sind überall“, Leben in Luxor.de Autorenforum

(2) Laura Hindelang, „Das Nazar-Auge und der Mythos um den Bösen Blick“ (stern.de)

(3) Gebhard Sebastian Fartacek, „Unheil durh Dämonen (..) Eine sozialanthropologische Spurensuche in Syrien“, 2010, Böhlau Verlag

(4) „Le mauvais oeil“, openedition.org

(5) Martin Hinds/ El-Said Badawi, A Dictionary of Egyptian Arabic“

(6) und (7) Gebhard Sebastian Fartacek, s.o.

(8) und (9) Fathi Malim, „L’Oasis de Siwa vue de l’intérieur. Traditions, coutumes et sorcellerie“, Al Katan, Le Caire 2003

(10) Fartacek, s.o. (11) Fathi Malim, s.o. (12) Fartacek, s.o.

(13) Zum „stillen Zikr des Herzens“ und dem lauten Zikr der Derwische vgl. Hans Mauritz, „Allahs Namen nennen. Zikr , Sufi-Rituale in Oberägypten“, Leben-in-Luxor.de Autorenforum.

Mysterien des Dionysos

Immer wieder muss ich darauf zurückkommen, zuletzt war es hier, auch wenn der Artikel auf ganz andere Themen auszuweichen scheint.

Ein neuer Blick auf Pompeji

Heute würde ich das bewunderswerte Buch von Zuchtriegel zum Ausgangspunkt für einige zusätzliche Erkundungsreisen ins Internet verwenden.

Quelle: Wikimedia Wolfgang Rieger 2009

https://de.wikipedia.org/wiki/Mysterienvilla hier

Quelle des folgenden Zitates siehe im nachfolgenden Wiki-Link:

Friedrich Nietzsche hat mit seiner Unterscheidung zwischen dem dionysischen und dem apollinischen Prinzip in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik einen wichtigen – im Einklang mit den antiken Denkern stehenden – wenn auch zu seiner Zeit kontroversen Beitrag zur Deutung des Dionysoskultes wie des Theaters geleistet. Unter dem apollinischen Prinzip versteht er das Prinzip der Individuation; das entgegengesetzte dionysische Prinzip ist daher nicht das Aufgehen des Einen im Vielen, sondern umgekehrt das Aufgehen des Vielen im Einen. Wenn also zum Beispiel Heraklit sagt:

Alles ist eins, so ist das dionysisch. Folglich kommt Nietzsche zu dem Ergebnis: Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen den Menschen wieder zusammen, auch die entfremdete und feindlich unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest ….

Dieser Rückblick auf Nietzsches frühes Werk kommt meinen autobiographischen Neigungen sehr entgegen. Zumal wenn ich den spannenden Artikel über den Dionysos-Kult studiere und einen riesigen Horizont wahrnehme, von dem ich in den 50er Jahren nicht die geringste – oder nur eine ganz dunkle Ahnung hatte, dank Nietzsche (und seinem Wagner):

hier

Quelle: Wiki a.a.O.

Nicht sicher, ob es einen nach so vielen Jahren in einer großen Ekstase heilt. Oder letztendlich zerreißt. Vielleicht etwas weniger spektakulär als Pentheus.

Zeitungsmeldung t-online am 26.02.25 Hier https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/wissen/geschichte/id_100613256/spektakulaerer-fund-in-pompeji-riesiges-fresko-freigelegt.html

Das Wandgemälde erstreckt sich über drei Seiten des Raums und zeigt eine Prozession mit fast lebensgroßen Figuren zu Ehren von Dionysos, dem griechischen Gott des Weines. Die vierte Seite des Saals war offen und führte in einen Garten.

Forschung in Nepal und …

. . . ZUHAUS.

(Wie alle Interessen sich biografisch zusammenfügen – ohne Harmonie und gegen alle Wahrscheinlichkeit.)

Ein Wendepunkt

Wo mir der Name zum ersten Mal hätte begegnen können (1988):

Gutschow!

Zugleich enthält das Vorwort alle Hinweise, die mich auf Distanz gehalten haben („Geisterglaube“). Der alte Widerspruch Adorno/Indien, der mich seit etwa 1960 beschäftigt.

Gert-Matthias Wegner (Info)

Ein letztes Wiedersehen mit Dhruba Ghosh in der Elbphilharmonie Hamburg

Indische Musik in der Elbphilharmonie

Nachruf im folker Nr. 5/2017

Niels Gutschow heute, der vielseitige Architektur-Forscher an seinem Arbeitsplatz

ZITAT

Vor gut einem Jahr erschütterte eine Erdbebenserie die Region am Himalaya. Das Epizentrum des stärksten Bebens, das sich am 25. April 2015 ereignete, lag in der Nähe der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu. Nach Schätzungen starben infolge der Erdbeben allein in Nepal fast 10.000 Menschen – die meisten davon in den Trümmern eingestürzter Bauten. Bei den Erdbeben wurden zahlreiche bedeutende Kulturgüter zerstört oder stark beschädigt – darunter auch mehrere der berühmten und zum Weltkulturerbe gehörenden Pagoden, Tempel und Paläste in den drei Königsstädten Kathmandu, Bhaktapur und Patan. Diese sollen nun nach und nach wieder wiederhergestellt werden. Gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt unterstützt die Gerda Henkel Stiftung mehrere Wiederaufbauprojekte in Nepal, unter anderen ein Projekt des Architekten, Denkmalpflegers und Bauhistorikers Prof. Dr.-Ing. Niels Gutschow. Wir haben ihn im Odenwald besucht.

Project
Two severe earthquakes hit Nepal on 25 April and 12 May 2015. Thousands of people lost their lives. Apart from the humanitarian disaster, the earthquakes also had a devastating impact on human cultural heritage. Numerous buildings of historical importance in Nepal were partly or completely destroyed, and a great many houses and temples collapsed and cannot be rebuilt. Since 1979 the architectural legacy of Kathmandu Valley has been a UNESCO World Cultural Heritage Site and even before the most recent earthquakes was greatly endangered by the population explosion, environmental problems, climate change, fires, and earlier earthquakes. From 2003 to 2007 Kathmandu Valley was on the List of World Heritage in Danger.

Immediately after the earthquake on 25 April 2015 the German Federal Foreign Office and Gerda Henkel Foundation decided to pool their resources to preserve and restore the cultural heritage of Nepal. The initiative aims to supplement humanitarian aid with measures that strengthen the country’s cultural identity. There is a very strong connection between the population and cultural heritage in Nepal; in many villages individual families tend to the local temple and integrate the temple’s gods into their everyday lives. There is a tradition of good relations between Nepal and Germany as regards cultural preservation. In the 1970s German architects, engineers, scientists and conservationists were the first members of a foreign state to begin restoring the cultural monuments damaged by the severe earthquake in 1934. In subsequent years, a great many projects were initiated. For example, in keeping with the promise German Chancellor Helmut Kohl made during a state visit in 1987, a temple lost in Bhaktapur in 1934 was reconstructed. It survived the quake of 2015 undamaged.

ZITAT = Einleitung zu dem folgenden Interview (dieses im Link live auf deutsch):

https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/gespraech_mit_niels_gutschow_ueber_das_leben_und_die_arbeit_eines_forschers_nepal?nav_id=7104&language=en hier

Ethnographische Episoden aus dem Leben des Forschers Niels Gutschow

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Und von Katastrophen einer anderen Welt

https://www.fr.de/kultur/ersehnte-katastrophe-11212310.html hier

https://www.zeit.de/1988/02/die-ersehnte-katastrophe/komplettansicht hier

In Deutschland hatte Adolf Hitler 1933 mühelos Städtebauer und Architekten mitziehen, wenn nicht gar mit reißen können. Wie viele Berufsverbände, so kam auch der Bund Deutscher Architekten der Gleichschaltung zuvor. Für die einen bedeutete dies Berufsverbot, die anderen bekamen Aufträge noch und noch. Als Hitler dann 1940 eine gigantische Inszenierung des scheinbar bevorstehenden Endsieges plante, kannte die Euphorie keine Grenzen. Nach dem Sieg über Frankreich im Juni 1940 – die Planer sprachen fortan von der Zeit „nach Compiègne“ – sollten nun die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Im selben Monat hatte Hitler verlangt: „Berlin muß in kürzester Zeit durch seine bauliche Neugestaltung den ihm durch die Größe des Sieges zukommenden Ausdruck als Hauptstadt eines starken neuen Reiches erhalten. In der Verwirklichung dieser nunmehr wichtigsten Bauaufgabe des Reiches sehe ich den bedeutendsten Beitrag zur endgültigen Sicherstellung des Sieges.“ München, Linz, Hamburg und Nürnberg sollten als „Führerstädte“ neu gestaltet werden, aber auch alle anderen Gauhauptstädte wetteiferten bereits im Bemühen, den „Sieg sicherzustellen“.

Deutschlands Planer und Architekten ließen sich von einer Welle der Begeisterung tragen, und es waren nicht nur die Großstädte, die eine städtebauliche Aufrüstung betreiben wollten. Für alle Bereiche der Planung… (Forts. siehe Link )

Autor: Niels Gutschow

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Neuerdings: Aus dem Literaturverzeichnis der großen Arbeit „Drumming in Bhaktapur“ von Gert-Matthias Wegner:

Aus der Geschichte meines Vaters

Nachricht über meinen Vater

Jahreszeiten – Lebenszeiten

Luftschlösser und Städtebau

Es hat mich immer interessiert, auf welchen Wegen die Familien der Reichows von Pommern nach Westdeutschland (Hamburg bzw. Westfalen) gekommen sind und wie sie an welchem Ort Fuß fassen konnten. Es gab eben dort oben „die Hamburger“ und hier unten „die Bielefelder“, die sich eigentlich durch das kleine Dorf Lohe bei Bad Oeynhausen definierten, aus dem meine Mutter stammte; es war unsere Anlaufstelle am Ende des Krieges. Wie es in Hamburg gelaufen war, fand ich in großen Zügen in einem Erinnerungsbuch, dass meine Cousine Daniela für ihre Familie geschrieben hat.

   

 

Da kommt also ein anderer Name ins Spiel, der eines Studienfreundes, der als Architekt in Hamburg fest etabliert war: Konstanty Gutschow, ein Glücksfall für die zuwandernde Familie, wenn auch, möchte man aus heutiger Sicht anmerken, eine Zumutung für die ansässige. Eine ausgreifende historische Reflexion von dieser Seite sähe wohl ganz anders aus. Die großen antipodischen Leitbegriffe könnten sein: „Stadtlandschaft“ und „Ordnungswahn“. Oder: von der allmählichen Neu-Orient-ierung…

(Fortsetzung folgt)

2 DVDs, die mich begeistern

Lebendige Geschichte – Geschichten des Lebens – Heute

Der König tanzt (2000)

Die Eiche – Mein Zuhause (2023) jpc hier

Eichelbohrer – Was? Wie bitte? Was haben beide Themenblöcke miteinander zu tun? Nichts. Außer dass sie in meinem täglichen Leben und Denken eng miteinander kooperieren.

Über die Tatsache hinaus, dass die beiden Filme schön und unterhaltsam sind, – den ersten kenne ich seit 20 Jahren -, sind sie Paradigmen übergreifender Konstruktionen, die ich erst allmählich begreife und kurz andeuten möchte. Meine Stichworte wären „Historische Strukturen“ und „Biotope“ . Wobei sie leicht zu modifizieren wären: mir hat Carl Friedrich von Weizsäckers Buchtitel einst gut gefallen: „Der Garten des Menschlichen“ (1977), wo ich allerdings im letzten, theologischen Teil ausgestiegen bin; zugleich Julian Huxley mit „Die Entfaltung des Lebens“ (1954), wo ich im letzten, evolutionistischen Teil am liebsten jede Zeile unterstrichen hätte. „Geschichte im Überblick“ von Immanuel Geiss (1986) und Christopher Clark „Von Zeit und Macht“ (2018). Und nie aus den Augen verlieren: Johann Sebastian Bach mit seinen Weltverbindungen. „Französische Suiten“ und über das „Musikalische Opfer“ Friedrich II., nebst Sohn Carl Philipp Emanuel (bei Clark ab Seite 85 mit Blick auf die Rolle von Quantz). Bei Geiss die machtpolitische Einordnung des „Sonnenkönigs“: als er in Frankreich gewaltsam die ökonomische Grundlage für ein „Goldenes Zeitalter“ ausrichtete, Vorbild Europas.

In meinem Handy die Nachricht, dass es weitere Forschung über Bachs Witwe Anna Magdalena gibt, Auskunft über das Private in jener Zeit siehe Eberhard Spree. Beiträge in seinem Blog hier.

Zur Bedeutung der französischen Musik (Wikipedia):

[Bach in Lüneburg/Celle! 1700] Von 1665 bis 1705 erlebte Celle eine kulturelle Blüte als Residenz unter Herzog Georg Wilhelm mit einem Aus- und Umbau des noch mittelalterlich geprägten Schlosses zum vierflügeligen Barockschloss. Kulturell einflussreich war Georg Wilhelms französische Gattin, Eleonore d’Olbreuse, die hugenottische Glaubensgenossen und italienische Baumeister nach Celle holte.

[Bach in Köthen] Am 9. Oktober 1710 begann Leopold seine Kavalierstour. […] Seine Reise führte ihn im Winter 1710/11 nach Den Haag, wo er in nur vier Monaten insgesamt zwölf Mal die Oper besuchte und damit seine Vorliebe für die Musik offenbarte. Vor allem die Werke von Jean-Baptiste Lully beeindruckten ihn, und er erwarb eine „rare Opera des Herrn Lully die Musik gedruckt“. Leopold selbst spielte Cembalo und Violine.

 Am Köthener Hof wirkte seit 1717 Johann Sebastian Bach als Capellmeister, dessen Ehefrau im Juli 1720 verstorben war. Am 3. Dezember 1721 ging Anna Magdalena Wilcke mit ihm die Ehe ein.

Zeitschrift „das Orchester“, Dezemberheft, nachschauen Buffardin (Johann Jacob Bach!), Türkei, Vierteltöne …

Damit soll es beginnen, sobald ich mich über die Koordinierung der kulturellen Kräfte in Frankreich kundig gemacht habe.

das – aus dem Film – eindrucksvollste Stück stammt von – Purcell / siehe auch hier

(Fortsetzung folgt)

Beim Stöbern in meiner DVD-Sammlung habe ich auch die fast vergessene wiedergefunden, die meinen eingangs präsentierten Film in einen großen wissenschaftlichen Zusammenhang stellt:

Douglas-Film GmbH (2018). Nicht vergessen! Das Wissen erhält sich nur durch regelmäßig erneuerte Versorgung mit lebendigem „Stoff“, der auch den nächsten Gang in den botanischen Garten Solingen bereichert.

ZEN als Verwandlung

Sehr alte Geschichten

Einerseits will ich nicht meine frühe 1960er-Zeit aufwärmen, mit den damals verschlungenen Werken von Alan W. Watts über Zen-Buddhismus (rde) und „Mann und Frau“ (Dumont), andererseits endet der Anreiz von Zen auch heute nicht, wenn ausgewiesene Denker dahinterstehen und ihn in ihre Philosophie einschließen, wie Byung-Chul Han, der im westlichen „System“ gleichermaßen zu Hause ist.

Als ich 2008 auf dem durchaus westlichen Wege Rüdiger Safranki las, seine bewunderswert ausführliche Antwort auf die Frage „Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?“, freute ich mich über eine mir aus der „asiatischen Philosophie“ bekannte Geschichte, mit der er ein chinesisches Bild vor Augen führte. Oder gerade nicht vor Augen: nach wie vor war es mir einfach genug, von dem Bild nur zu hören.

Rüdiger Safranski

Woher er die Geschichte hatte, blieb also im Dunklen. Jetzt – plötzlich und unerwartet – wurde ich auf diesen Seitenweg zurückgeführt: durch die Klinik-Lektüre des Reclam-Büchleins von Byung-Chul Han! Darüberhinaus gemahnt an die Aufführung eines japanischen Noh-Spiels in der Kölner Philharmonie, und – Koinzidenz der Erinnerungsphänomene – durch die Mail eines getreuen WDR-Mitarbeiters, der gerade eine Gedenksendung anderer Thematik im WDR gehört hatte. Er hat selbst zum Thema Japan ungezählte luzide Radio-Sendungen gemacht, die – nicht nur – meinen Horizont erweiterten, auch den eines spezifisch interessierten Publikums, und so die Neugier auf ferne Welten weckten oder wachhielten. Und nun war alles wieder da! Ich las:

in das gemalte Bild hinein«.

Ich las also Byung-Chul Han’s „Philosophie des Zen-Buddhismus“ und darin den Hinweis auf das chinesische Bild (oder ein anderes, ähnliches) und die Wendung zum japanischen Noh-Spiel.

Ein Kreis war geschlossen. Zufällig mein letztes Jahr im WDR, ein Abend des Jahres 2005. Die unglaubliche Atmosphäre in der Kölner Philharmonie, die (nicht einmal) knisternde Stille, ein hörbares Nichts, ein atemloses Publikum, so hatte ich das noch nie erlebt (ausgenommen vielleicht in wenigen Quartett-Konzerten). Alldies mochte ich evozieren und durch Wissen vertiefen. Anhand eines einzigen großen Stückes IZUTSU und eines instruktiven Filmes, den das WDR-Fernsehen (Lothar Mattner) im Vorfeld produziert und gesendet hat. Hier ist er:

Heinz-Dieter Reese im Nachspann

Mehr über den Autor des Filmes Thomas Schmelzer hier. Mystica TV (?). Zur Diskussion…

https://de.wikipedia.org/wiki/Izutsu_(N%C5%8D) hier (Wikipedia über das Noh-Stück „Izutsu“)

https://www.youtube.com/@nohtheatreexplained8410 hier (Übersicht über die Reihe, in der das folgende Stück vorkommt)

Folgt: die Aufführung in der Kölner Philharmonie (Informelle Aufzeichnung, copyright-geschützt)

Weitere Daten zur Aufführung in Köln von Heinz-Dieter Reese:

Phil-Ankundigung  28|10 Freitag 20:00 Uhr
Zwischen Traum und Wirklichkeit
Japanisches Nô-Theater mit dem Ensemble
der UMEWAKA KENNÔKAI FOUNDATION

NohPRGHEFT  Freitag 28. Oktober 2005 20:00
Die Aufführung wird vom Westdeutschen Rundfunk für den
Hörfunk aufgezeichnet und am Sonntag, 12. Februar 2006,
20:05 Uhr auf WDR3 gesendet.

WDR3Buehne Radio06-02-12   Bühne: Radio 12.02.2006
Konnichi wa, Japan
Zwischen Traum und Wirklichkeit:
Nô- und Kyôgen-Theater mit dem Ensemble der Umewaka Kennôkai
Aufnahme vom 28. Oktober 2005 aus der Kölner Philharmonie
vorgestellt von Heinz-Dieter Reese

Die Realisation im Radio

Zugang zum Skript der Radiosendung von Heinz-Dieter Reese, mit der freundlichen Erlaubnis des Autors:

NO Reese WDR3BR120206_Ms

„In Japan wird das Singen im Nô-Theater gelegentlich mit unaru, mit Brummen bezeichnet. Dem liegt eine durchaus zutreffende Beobachtung zugrunde. Der Nô-Sänger achtet bei seinem Vortrag darauf, dass die komplexen Obertöne der Stimme im gesamten Körper resonieren. Dadurch wird die simple Melodik durch vielfältige Klangfarben bereichert. Es entstehen klare, helle Töne, dann wieder getrübte, dunkle Töne, die bald kräftig, bald weich erscheinen. So werden die szenische Atmosphäre, aber auch die verborgenen Gedanken und Gefühle der Figuren zum Ausdruck gebracht. Und das gilt für den Solo wie den Chorgesang.“

Mail-Mitteilung (15.11.2023) Heinz-Dieter Reese:

Zum Noh-Spiel  “Izutsu” finden Sie auf meinem Kanal auch noch eine historische und eindrucksvolle professionelle Aufnahme (des NHK) mit dem legendären KANZE Hisao aus den 1970er Jahren, die ich komplett deutsch untertitelt habe:

https://youtu.be/LCtxXKYD96M  hier

*     *     *

Zurück zu Byung-Chul Han, anknüpfend an seine Bemerkungen zur chinesischen Landschaft:

https://de.wikipedia.org/wiki/Chinesische_Malerei hier

https://www.wikidata.org/wiki/Q11638255  hier Wer ist Kōichi Tsujimura? (s.u. pdf)

https://terebess.hu/zen/mesterek/TsujimuraKoichi.html  hier

https://en.wikipedia.org/wiki/Henry_Pike_Bowie  hier

Henry Pike Bowie’s Werk „ON THE LAWS OF JAPANESE PAINTING“ (1911) Gutenberg hier

https://leopard.tu-braunschweig.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbbs_derivate_00031277/Tsujimura_Yue-chiens_Landschaftsbild.pdf hier / Zitat:

Wegtauchen aus bürgerlicher Enge

Traumwelt der Kindheit, heutige ZEIT-Lektüre

Ich weiß, was man gegen ZEIT-Leser:innen und ZEIT-Autor:inn:en sagen kann und fühle mich nur halb getroffen. Alles in sich Antagonistische scheint mir per se richtig, z.B. die Doppelseite über Martin Walser (von Iris Radisch, Adam Soboczynski und Edgar Selge), also: wo es gerade intrinsisch nachvollzogen wird. So sehe ich die Kunst seit meiner Kindheit und zwar mal mit Unbehagen, mal mit Glücksgefühlen. Durch Distanz und durch Immersion. Verstehe ich dies Wort richtig? Eintauchen, Untertauchen, Aufgehen in … Es ist mir im Zusammenhang mit „Parsifal“ aufgefallen, – was meint Christine Lemke-Matwey damit? Es muss „in“ sein, wenn es so auffällig nebenbei eingesetzt wird. Gestern – eine ZEIT später – fand ich es wieder, bei Hanno Rauterberg und seinem hochmodernen Blick auf Wagners König Ludwig, der irgendwie auch in meine Kindheit gehört: ich lernte mit den Jahren, über seine Schlösser ironisch zu lächeln, während die amerikanische Seifenschaum-Disney-Kultur mich von vornherein abstieß. Eine wohlige Distanzierung von der schrecklich heilen Welt, die als Traum gekennzeichnet war. Wieder eine Ausklammerung. Es muss was Gigantisches sein, aber immer mit kuscheligen Ecken. Hat es mit Wiedergewinnung der (Klein-)Bürgerlichkeit nach den großen Kriegen zu tun? Und meinerseits: eine „Abrechnung“ mit der Generation der Väter. Oder soll ich es Wiederverzauberung nennen?

Neuschwanstein /Wikipedia © Thomas Wolf, www.foto-tw.de (CC BY-SA 3.0 DE)

Weltkulturerbe?

DIE ZEIT Ganz oben

Grimms Märchen 1945 Care aus USA 1947

Die aus engstem Kreis erweiterte Familie

1951 Im Hintergrund der Flügel, an der Wand Wagner. Weiße Bluse Tante Ruth, hinter ihr stehend: Schuldirektor Paul Müller, rechts: Hans Bernhard Reichow, vorne links mein erster Geigenlehrer Gerhard Meyer / 10 Jahre später: Hochzeit Bruder Bernd 1961, der Vater im Mittelpunkt fehlt, links neben mir eine Untermieterin, andere Seite: die Frau meines zweiten Geigenlehrers Hans Raderschatt. Die Eltern meiner Mutter, im Hintergrund der Flügel des toten Schwiegersohnes, der ihnen 1937 den schlimmen Brief geschrieben hatte – und damit bis in die übernächste Generation recht behalten hat.

Die Repräsentanten des alten Lebens (50er Jahre) „da draußen“, auch das Schulkollegium  Ratsgymnasium Bielefeld, mein Klassenlehrer (Nietzsche-Kenner) Lübbert, letzte Reihe oben, der 3. von rechts, und mein Vater: der 5. in der 1. Reihe von links:

Männergesellschaft / mein Vater in Aktion:

Statt als Kapellmeister wirkt er in der Schule und außerhalb, – im „Bielefelder Kammertrio“ – mit Gerhard Meyer und Rainer Ponten: hier – etwas deplaziert mit Arensky-Musik bei Sinalco (!) in Detmold. Lebenslang kann ich das Hauptthema singen.

←Anfang und Ende→ der 50er Jahre:

Artur Reichow (1901-1959)

In der aktuellen ZEIT las ich jedes Wort über Walsers Tod (26.07.23), zu Lebenszeiten (nach der Frankfurter Rede) wenig von ihm.  Obwohl ich mindestens 6 seiner Bücher besitze. Heute Morgen – erstes Kapitel aus „Ein liebender Mann“. Wirklich gelesen. Nie habe ich diese Seite mit den Notenlinien gesehen, die das gurrende Taubenpaar betrifft. Hat Goethe sie wirklich aufgezeichnet? Aber danach: Goethes wirkliche letzte Elegie…

Martin Walser: Ein liebender Mann / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 2008 (S.173) Umschlaggestaltung: Alissa Walser

Zum Thema Taubenruf (Hornbostel) siehe hier.

ZEIT-ZITATE

Die kleinbürgerliche Herkunft Walsers ist in der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur keine Besonderheit (in Frankreich ist so was bis heute eine Sensation), auch die Herren Böll, Enzensberger und Grass waren ja Schreiner-, Postbeamten- und Lebensmittelhändlerkinder. Doch gelang Walser mit seiner magischen Mixtur aus kleinbürgerlichem Strebertum, Tief- und Eigensinn plus höherem Klamauk eine literarische Tiefenbohrung kleindeutscher Gefühlslagen, die auch in dieser Liga absolut einmalig waren.

↑ Iris Radisch

Ich mochte Ein liebender Mann , aber ich verehre den Roman nicht. Ich verehre die frühen Romane, vor allem Ehen in Philippsburg, den so präzisen, kühlen Roman über den hässlichen Ehrgeiz der Nachkriegsgesellschaft. Ein liebender Mann ist warmherzig und poetisch, über weite Strecken mehr Gedicht als Roman, aber er grenzt, wie fast alle seiner Alterswerke, auch ans Kokette, ans peinlich Offenherzige. Goethe als Walser, Walser als Goethe, ein Mensch kraftvoll mit sich im Reinen…

↑ Adam Soboczynski

Und das ist deshalb etwas Besonderes, weil Erfahrungen, wie Martin Walser sie beschrieb, einen wesentlichen Widerspruch offenbarten: Sie waren einzigartig, durch und durch subjektiv, an sein persönliches Erleben gebunden und doch teilbar, also nachvollziehbar, und in der Art, wie sie Sprache wurden, im Augenblick der Formulierung so real und verbindend, dass sie für unzählige Menschen, die ihm begegneten, zu Bausteinen ihrer Welt wurden.

↑ Edgar Selge

Noch einmal zurück zur „Männergesellschaft“ des Ratsgymnasiums Bielefeld: Sie sehen, dass ich alle Anlässe wahrnehmen, um individuelle, halb private, halb übergreifende Netze zu spinnen.

Über viele von den abgebildeten Lehrpersonen könnte ich Geschichten erzählen: Kuhlmann – falsch und böse;  Oberwahrenbrock – versuchte auf Langeoog angebliche Homosexualität unter Schülern zu ahnden, Röttger – ihm verdanke ich eine schallende Ohrfeige für eine Lappalie; Fränzchen Wiese – listig, aber Alkoholiker; vorn in der Mitte Winkler – Homer-Kenner, geheimnisvoller Mensch, leise, gerecht und weise; vorn links – wie gesagt mein Vater, vorne rechts (mit Fliege) Hellmuth Dempe, Philosoph. Von den beiden Letztgenannten hat meine Mutter einen Streit überliefert, irgendeine (politische?) Prestigesache, Rechthaberei, beim zufälligen Aufeineinandertreffen im Freudental an der Bielefelder „Promenade“, also gemeinsam Kaffeetrinkend bis zum erregten Abbruch… Von diesem Philosophen Dempe ist ein Buch herausgekommen, eingeleitet von Frieder Lötzsch , der damals übrigens Klavierschüler meines Vaters war: hier. Ich besitze es (noch!) nicht. Was ich gern wüsste: Ob er „im einfachen Leben“ meinem Vater überlegen war, der einige Wochen später starb? Ob er Überlegenheit auskostete? Musste das sein?

(Nachtrag am 8.9.2023)

Ich bin heute ausgegangen von der Lektüre der ZEIT vom 3. August 2023, Thema u.a. der Tod von Martin Walser, von dem ich seit Jahrzehnten nichts mehr gelesen habe, – außer „Ein fliehendes Pferd“ -, vielleicht aufgrund seiner skandalösen Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Iris Radisch geht darauf ein. Ich würde darüber nicht mehr diskutieren wollen, stattdessen lieber „Ein liebender Mann“ lesen.

Natürlich interessiert mich das lange Statement der ZEIT auf Seite 1 zur Einschätzung der AfD:

Die AfD ist eine Protestpartei. Sie wird von vielen Menschen nicht aus innerster Überzeugung gewählt, sondern aus Unzufriedenheit mit der etablierten Politik. Aber man sollte sich als Wähler schon darüber im Klaren sein, mit welchem politischen Feuer man da spielt. Sonst brennt es irgendwann. Noch legt die AfD vor allem in den Umfragen zu. Wenn ihr das bei Wahlen gelingen sollte, ist es zu spät.

Quelle ZEIT 3.8.23 Keine Alternative Die AfD radikalisiert sich zunehmend und wird damit zur Gefahr für den Standort Deutschland / Von Mark Schieritz

Und was mich ebenso interessiert, ist der andere Leitartikel. Angesichts der katastrophalen Haltung der Katholischen Kirche in Sachen Pädophilie vergisst man fast die Frage: sieht es etwa bei der evangelischen Kirche besser aus?

Quelle ZEIT 3.8.23 Sie ist nicht heiliger Erstmals lässt die evangelische Kirche Pädophilie in iher jüngsten Geschichte untersuchen. Warum so spät? / Von Evelyn Finger

Es sind doch gerade die Jahrzehnte, in denen eine neue Aufklärung stattfinden sollte; was in den 50er Jahren nicht gelungen war, sollte nun auf eine neue Grundlage gestellt werden. Und es waren nicht nur die 68er, die daran arbeiteten, es waren die Antiautoritären, die Kinseys, die Sexologen, Arno Plack mit dem Bestseller: „Die Gesellschaft und das Böse“, 1970 eine ganze rororo-Reihe, herausgegeben vom Institut für Sexualforschung an der Universität Hamburg, da erschienen „reihenweise“ Aufklärungsbücher wie „Repressive Familienpolitik“, „Sexualunterdrückung“ oder „Sexualerziehung“, dies letzte aus der Feder von Helmut Kentler !!! Siehe den hier gegebenen Wikipedia-Link, an den sich offenbar der Wortlaut dieses Leitartikels anlehnt, es taucht  auch die ZEIT mit Adam Soboczynski auf :

DIE ZEIT 3.8.23

*    *    *

Was fehlt? Es genügt nicht, auf die alten Schlösser (Neuschwanstein, Versailles, Bayreuth etc.) zurückzuschauen und zu sagen: gut für den Tourismus, gut für die Wirtschaft. Und: es ist ja doch Kultur, die wir brauchen: die großen Träume!  Wir wollen ja keineswegs die Weltzustände von damals zurück. Zur Ergänzung des AfD-Artikels gehört z.B. die Analyse im „langweiligen“ Teil der ZEIT: über das Momentum in der Politik, – die AfD ignoriert die Klimawende, auf die allerdings die Politik tatsächlich „ungeschickt“ reagiert hat. Das zu beschreiben und zu verstehen, braucht Zeit und Geduld. Verweis auf die Energiepolitik der Dänen und Schweden. Einfacher ist bloßer Protest. „Kaum etwas verunsichert die Menschen im Land mehr; man muss sich da gar nichts zurechtbiegen, um die Umfrageerfolge der AfD zu verstehen. Wollen wir nicht auch in dieses gelobte Energieland, das sich gleich hinter der Grenze im Norden erleben lässt? (…) Selten wurde für so viel politischen Einsatz und so viel gesellschaftlichen Schaden so wenig Konkretes erreicht.“

Quelle DIE ZEIT 3.8.23 Seite 25 Aus dem Takt gekommen Die Bundesregierung verschwendet ungeheuer viel politische Energie im Ringen um die Klimawende – Zeit für ein neues Zusammenspielt / Von Uwe Jean Heuser

Was hat mein Vater damit zu tun? Seine Zeit muss überwunden sein. Endgültig hinter uns liegen. Die Träume auch. Allenfalls brauchbar als eine gedankliche Übung.

Anmut und Würde?

Komponenten der Schönheit

Bevor wir Schillers philosophische Schriften gründlich zu lesen anfangen, sollte uns klar sein, in welchem Maße unsere Klassiker vom Geist des Griechentums besessen waren. Was immer sie darunter verstanden, – keine Skepsis kann uns darüber hinweghelfen, dass wir allzu wenig darüber wissen und doch glauben, uns davon distanzieren zu können. Kein Wort mehr in dieser Richtung. Wollen wir etwa die Weisheit des Genderismus dagegensetzen, wenn uns jemand mit den Grazien kommt, oder sein Schönheitsideal aus den Proportionen der Venus ableiten will?  Halten wir doch erstmal inne, sobald wir wissen, dass uns einiges an notwendigem Wissen fehlt, wenn Friedrich Schiller also anhebt:

Die griechische Fabel legt der Göttin der Schönheit einen Gürtel bei, der die Kraft besitzt, Dem, der ihn trägt, Anmuth zu verleihen und Liebe zu erwerben. Eben diese Gottheit wird von den Huldgöttinnen oder den Grazien begleitet.

Die Griechen unterschieden also die Anmuth und die Grazien noch von der Schönheit, da sie solche durch Attribute ausdrückten, die von der Schönheitsgöttin zu trennen waren. Alle Anmuth ist schön, denn der Gürtel des Liebreizes ist ein Eigenthum der Göttin von Cnidus; aber nicht alles Schöne ist Anmuth, denn auch ohne diesen Gürtel bleibt Venus, was sie ist.

Nach eben dieser Allegorie ist es die Schönheitsgöttin allein, die den Gürtel des Reizes trägt und verleiht. Juno, die herrliche Königin des Himmels, muß jenen Gürtel erst von der Venus entlehnen, wenn sie den Jupiter auf dem Ida bezaubern will. Hoheit also, selbst wenn ein gewisser Grad von Schönheit sie schmückt (den man der Gattin Jupiters keineswegs abspricht), ist ohne Anmuth nicht sicher, zu gefallen; denn nicht von ihren eigenen Reizen, sondern von dem Gürtel der Venus erwartet die hohe Götterkönigin den Sieg über Jupiters Herz.

Was ist mit dem Gürtel? Wer genau ist die Göttin von Cnidus? Hier ist der erste Schritt zum Verständnis. Hätte jemand geahnt, dass die griechische Nackheit durchaus nicht so selbstverständlich war, wie seit den Jahren der Wiederentdeckung vorausgesetzt wurde? Wiedergeburt, Renaissance. Dass die Scham, zumindest die weibliche, ein Thema war? Nichts falscher als an die Kriterien einer FKK-„Kultur“ zu denken. (Siehe am Ende des Artikels zum David hier). Wohlgemerkt, bei Wikipedia heißt es:

Der Bildhauer habe dann zwei Versionen angefertigt: eine vollständig bekleidete und eine völlig nackte. Die schockierten Einwohner von Kos hätten die Nackte zurückgewiesen und die bekleidete Version gewählt.

Von der letzteren ist keine Kopie überliefert. Nimmt uns das wunder?

Der Gürtel! Verstehen Sie, was er bedeutet? Siehe dazu hier. (Nebenbei auch hier.) Was also ist der Unterschied zwischen Schönheit und „Anmuth“? Hat Anmut immer mit Bewegung zu tun? (Ist es unanständig, in diesem Zusammenhang an Sex appeal zu denken? Man schaue nur auf das Knäblein an der Seite der weiblichen Figur, eine Priapus-Gestalt, die jedoch – wie die ganze Skulptur – aus römischer Zeit stammt. Man mag sie nicht geil nennen.)

Weiter mit Schiller:

Die Schönheitsgöttin kann aber doch ihren Gürtel entäußern und seine Kraft auf das Minderschöne übertragen. Anmuth ist also kein ausschließendes Prärogativ des Schönen, sondern kann auch, obgleich immer nur aus der Hand des Schönen, auf das Minderschöne, ja selbst auf das Nichtschöne übergehen.

Die nämlichen Griechen empfahlen Demjenigen, dem bei allen übrigen Geistesvorzügen die Anmuth, das Gefällige fehlte, den Grazien zu opfern. Diese Göttinnen wurden also von ihnen zwar als Begleiterinnen des schönen Geschlechts vorgestellt, aber doch als solche, die auch dem Mann gewogen werden können und die ihm, wenn er gefallen will, unentbehrlich sind.

Was ist aber nun die Anmuth, wenn sie sich mit dem Schönen zwar am liebsten, aber doch nicht ausschließend verbindet? wenn sie zwar von dem Schönen herstammt, aber die Wirkungen desselben auch an dem Nichtschönen offenbart? wenn die Schönheit zwar ohne sie bestehen, aber durch sie allein Neigung einflößen kann?

Das zarte Gefühl der Griechen unterschied frühe schon, was die Vernunft noch nicht zu verdeutlichen fähig war, und nach einem Ausdruck strebend, erborgte es von der Einbildungskraft Bilder, da ihm der Verstand noch keine Begriffe darbieten konnte. Jener Mythus ist daher der Achtung des Philosophen werth, der sich ohnehin damit begnügen muß, zu den Anschauungen, in welchen der reine Natursinn seine Entdeckungen niederlegt, die Begriffe aufzusuchen, oder mit andern Worten, die Bilderschrift der Empfindungen zu erklären.

Entkleidet man die Vorstellung der Griechen von ihrer allegorischen Hülle, so scheint sie keinen andern als folgenden Sinn einschließen.

Bemerkenswert übrigens, dass Schiller auch von „Demjenigen“ spricht, und dass die Grazien auch dem Manne gewogen sein sollten, ja unentbehrlich sind, wenn er gefallen will.

Anmuth ist eine bewegliche Schönheit; eine Schönheit nämlich, die an ihrem Subjekte zufällig entstehen und eben so aufhören kann. Dadurch unterscheidet sie sich von der fixen Schönheit, die mit dem Subjekte selbst nothwendig gegeben ist. Ihren Gürtel kann Venus abnehmen und der Juno augenblicklich überlassen; ihre Schönheit würde sie nur mit ihrer Person weggeben können. Ohne ihren Gürtel ist sie nicht mehr die reizende Venus, ohne Schönheit ist sie nicht Venus mehr.

Dieser Gürtel, als das Symbol der beweglichen Schönheit, hat aber das ganz Besondere, daß er der Person, die damit geschmückt wird, die objektive Eigenschaft der Anmuth verleiht; und unterscheidet sich dadurch von jedem andern Schmuck, der nicht die Person selbst, sondern bloß den Eindruck derselben, subjektiv, in der Vorstellung eines Andern, verändert. Es ist der ausdrückliche Sinn des griechischen Mythus, daß sich die Anmuth in eine Eigenschaft der Person verwandle, und daß die Trägerin des Gürtels wirklich liebenswürdig sei, nicht bloß so scheine.

Ein Gürtel, der nicht mehr ist als ein zufälliger äußerlicher Schmuck, scheint allerdings kein ganz passendes Bild zu sein, die persönliche Eigenschaft der Anmuth zu bezeichnen; aber eine persönliche Eigenschaft, die zugleich als zertrennbar von dem Subjekte gedacht wird, konnte nicht wohl anders, als durch eine zufällige Zierde versinnlicht werden, die sich unbeschadet der Person von ihr trennen läßt.

Der Gürtel des Reizes wirkt also nicht natürlich, weil er in diesem Fall an der Person selbst nichts verändern könnte, sondern er wirkt magisch, das ist, seine Kraft wird über alle Naturbedingungen erweitert. Durch diese Auskunft (die freilich nicht mehr ist als ein Behelf) sollte der Widerspruch gehoben werden, in den das Darstellungsvermögen sich jederzeit unvermeidlich verwickelt, wenn es für das, was außerhalb der Natur im Reiche der Freiheit liegt, in der Natur einen Ausdruck sucht.

Wenn nun der Gürtel des Reizes eine objektive Eigenschaft aufdrückt, die sich von ihrem Subjekte absondern läßt, ohne deßwegen etwas an der Natur desselben zu verändern, so kann er nichts anders als Schönheit der Bewegung bezeichnen; denn Bewegung ist die einzige Veränderung, die mit einem Gegenstand vorgehen kann, ohne seine Identität aufzuheben.

Schönheit der Bewegung ist ein Begriff, der beiden Forderungen Genüge leistet, die in dem angeführten Mythus enthalten sind. Sie ist erstlich objektiv und kommt dem Gegenstande selbst zu, nicht bloß der Art, wie wir ihn aufnehmen. Sie ist zweitens etwas Zufälliges an demselben, und der Gegenstand bleibt übrig, auch wenn wir diese Eigenschaft von ihm wegdenken.

Der Gürtel des Reizes verliert auch bei dem Minderschönen und selbst bei dem Nichtschönen seine magische Kraft nicht; das heißt, auch das Minderschöne, auch das Nichtschöne kann sich schön bewegen.

Die Anmuth, sagt der Mythus, ist etwas Zufälliges an ihrem Subjekt; daher können nur zufällige Bewegungen diese Eigenschaft haben. An einem Ideal der Schönheit müssen alle nothwendigen Bewegungen schön sein, weil sie, als nothwendig, zu seiner Natur gehören; die Schönheit dieser Bewegungen ist also schon mit dem Begriff der Venus gegeben; die Schönheit der zufälligen ist hingegen eine Erweiterung dieses Begriffs. Es gibt eine Anmuth der Stimme, aber keine Anmuth des Athemholens.

Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegungen Anmuth?

Eine andere Zwischenfrage, die noch nicht im Text anklang: Was ist eigentlich Moral?

Wir verstehen darunter oft – sehr vereinfacht – ein menschenfreundliches Wertesystem, gern auch (einfach) ein christliches. Und wenn Nietzsche Schiller als „Moraltrompeter von Säckingen“ bezeichnet, hat er sich offenbar dieses Vorurteils bedient. Obwohl gerade er wusste, was alles ins Gebiet der Moral fällt, eben auch die von ihm präferierte „Herrenmoral“. Im philosophischen Sinne halten wir uns an das Metzler-Lexikon: demnach bezeichnet Moral

den Inbegriff moralischer Normen, Werturteile und Institutionen. Moral beschreibt ein vorhandenes Verhalten in einer Gemeinschaft und umfasst alle Ordnungs- und Sinngebilde, die durch Tradition oder Konvention vermittelt werden. In Form eines Katalogs materialer Norm- und Wertvorstellungen regelt sie die Bedürfnisbefriedigung einer menschlichen Gemeinschaft und bestimmt deren Pflichten. Moralen differieren in Bezug auf den Inhalt ihrer Normen von Kultur zu Kultur. Sie unterliegen geschichtlichen Veränderungsprozessen und wandeln sich entsprechend den veränderten menschlichen Selbstverständnissen. Der Sollensanspruch der Moral ist unabhängig von dem veränderlichen Inhalt der Normen und Gebote. D.h. für jede Moral ist ein Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit konstitutiv.

Ich füge diese (unvollständige) Definition an dieser Stelle nur ein, um daran zu erinnern, dass man Schillers Begrifflichkeit nicht allzu intuitiv auffassen sollte, sie bezieht sich ja unmittelbar auf KANT; wobei aber nun die leichtere Lesbarkeit nicht ohne Tücken ist. Verstehen wir nicht zu schnell! Folgen wir Schiller in bedächtiger Leseweise. Ich wechsele auch regelmäßig zu anderen Schriftbildern (Dünndruckausgabe der 50er Jahre) oder in die Wiedergabe des Projekts Gutenberg . Und folge Schiller weiter in seiner Antwort auf die zuletzt gestellte Frage:

Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegungen Anmuth?

Daß der griechische Mythus Anmuth und Grazie nur auf die Menschheit einschränke, wird kaum einer Erinnerung bedürfen; er geht sogar noch weiter und schließt selbst die Schönheit der Gestalt in die Grenzen der Menschengattung ein, unter welcher der Grieche bekanntlich auch seine Götter begreift. Ist aber die Anmuth nur ein Vorrecht der Menschenbildung, so kann keine derjenigen Bewegungen darauf Anspruch machen, die der Mensch auch mit dem, was bloß Natur ist, gemein hat. Könnten also die Locken an einem schönen Haupte sich mit Anmuth bewegen, so wäre kein Grund mehr vorhanden, warum nicht auch die Aeste eines Baumes, die Wellen eines Stroms, die Saaten eines Kornfelds, die Gliedmaßen der Thiere sich mit Anmuth bewegen sollten. Aber die Göttin von Cnidus repräsentiert nur die menschliche Gattung, und da, wo der Mensch weiter nichts als ein Naturding und Sinnenwesen ist, da hört sie auf, für ihn Bedeutung zu haben.

Willkürlichen Bewegungen allein kann also Anmuth zukommen, aber auch unter diesen nur denjenigen, die ein Ausdruck moralischer Empfindungen sind. Bewegungen, welche keine andere Quelle als die Sinnlichkeit haben, gehören bei aller Willkürlichkeit doch nur der Natur an, die für sich allein sich nie bis zur Anmuth erhebt. Könnte sich die Begierde mit Anmuth, der Instinkt mit Grazie äußern, so würden Anmuth und Grazie nicht mehr fähig und würdig sein, der Menschheit zu einem Ausdruck zu dienen.

Und doch ist es die Menschheit allein, in die der Grieche alle Schönheit und Vollkommenheit einschließt. Nie darf sich ihm die Sinnlichkeit ohne Seele zeigen, und seinem humanen Gefühl ist es gleich unmöglich, die rohe Thierheit und die Intelligenz zu vereinzeln. Wie er jeder Idee sogleich einen Leib anbildet und auch das Geistigste zu verkörpern strebt, so fordert er von jeder Handlung des Instinkts an dem Menschen zugleich einen Ausdruck seiner sittlichen Bestimmung. Dem Griechen ist die Natur nie bloß Natur: darum darf er auch nicht erröthen, sie zu ehren; ihm ist die Vernunft niemals bloß Vernunft: darum darf er auch nicht zittern, unter ihren Maßstab zu treten. Natur und Sittlichkeit, Materie und Geist, Erde und Himmel fließen wunderbar schön in seinen Dichtungen zusammen. Er führte die Freiheit, die nur im Olympus zu Hause ist, auch in die Geschäfte der Sinnlichkeit ein, und dafür wird man es ihm hingehen lassen, daß er die Sinnlichkeit in den Olympus versetzte.

Dieser zärtliche Sinn der Griechen nun, der das Materielle immer nur unter der Begleitung des Geistigen duldet, weiß von keiner willkürlichen Bewegung am Menschen, die nur der Sinnlichkeit allein angehörte, ohne zugleich ein Ausdruck des moralisch empfindenden Geistes zu sein. Daher ist ihm auch die Anmuth nichts anders, als ein solcher schöner Ausdruck der Seele in den willkürlichen Bewegungen. Wo also Anmuth stattfindet, da ist die Seele das bewegende Princip, und in ihr ist der Grund von der Schönheit der Bewegung enthalten. Und so löst sich denn jene mythische Vorstellung in folgenden Gedanken auf: »Anmuth ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird.«

Ich habe mich bis jetzt darauf eingeschränkt, den Begriff der Anmuth aus der griechischen Fabel zu entwickeln und, wie ich hoffe, ohne ihr Gewalt anzuthun. Jetzt sei mir erlaubt, zu versuchen, was sich auf dem Weg der philosophischen Untersuchung darüber ausmachen läßt, und ob es auch hier, wie in so viel andern Fällen, wahr ist, daß sich die philosophierende Vernunft weniger Entdeckungen rühmen kann, die der Sinn nicht schon dunkel geahnet und die Poesie nicht geoffenbart hätte.

Bevor Schiller nun einen neuen Begriff einführt, den der architektonischen Schönheit – wohlgemerkt: des Menschen –

Mit diesem Namen will ich denjenigen Teil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt), sondern der auch nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist.

möchte ich mich einschalten, um jenseits aller modernen Wokeness-Bedenken ein paar Beobachtungen zu verbalisieren, die sich aus alten Gewohnheiten heraus nicht eliminieren lassen. Man registriert andere Menschen nicht, ohne insgeheim ihr Aussehen zu bewerten (oder auch zu relativieren). In welche Runde man auch immer gelangt, – ob real oder als Fernsehzuschauer/in – man weiß, wer gut aussieht, oder bei wem man, sagen wir, von einer instinktiven Bewertung absieht, oder auch abstreitet, dass dies überhaupt eine Rolle spielt. Immer wieder kommt man aber zu der Erfahrung, dass jemand im Laufe eines Gespräches auf geheimnisvolle Weise sein/ihr Aussehen ändert. Klartext: wer hässlich wirkte, erscheint plötzlich ausdrucksvoll, um nicht zu sagen „schön“. Die Gesprächsbeiträge haben den naturgegebenen Ausdruck des Gesichtes überlagert. Ich kann natürlich grundsätzlich jede Äußerung über „gutes Aussehen“ oder gar „Schönheit“ unterlassen oder zurückweisen, was aber nicht garantiert, dass die Einschätzungen im Untergrund nicht um so heftiger ihr Unwesen treiben. Eine Frau, die noch keinen Ton gesagt hat, kann mir die Kehle zuschnüren. Angesichts eines (jungen) Mannes neutralisiert man sich gern mit Spott (und der Melodie: „Du hast die Haare schön, du hast die Haare schön!“).

Ganz verpönt ist der Ausdruck von der „schönen Seele“ (anders noch als: „Gutmensch“), er wirkt ebenfalls sofort ironisch, und wenn er bei Schiller auftaucht, muss man ihn fortwährend „passend“ paraphrasieren.

Ich bin allerdings glücklich über Schillers Begriff von der architektonischen Schönheit des Menschen. Und würde ihn auch anstandslos auf das Tier übertragen, auf ein edles Pferd, natürlich auch auf einen Schmetterling, sogar auf eine Raupe oder eine Kröte; bei deren Charakterisierung wir vielleicht das Wort Anmut vermeiden würden, außer bei übertrieben poetisierender Tendenz. Bei Gelegenheit schaue ich nochmal in das Buch von Josef H. Reichholt (der wohl immer schon gut aussah).

  s.a. hier (u.a.Bredekamp)

Was ist es nun, das sich verändert, wenn ein Mensch nach einem Gespräch anders aussieht als vorher?

Wir folgen Schiller:

Venus, ohne ihren Gürtel und ohne die Grazien, repräsentiert uns das Ideal der Schönheit, so wie letztere aus den Händen der bloßen Natur kommen kann und, ohne die Einwirkung eines empfindenden Geistes, durch die plastischen Kräfte erzeugt wird. Mit Recht stellt die Fabel für diese Schönheit eine eigene Göttergestalt zur Repräsentantin auf, denn schon das natürliche Gefühl unterscheidet sie auf das strengste von derjenigen, die dem Einfluß eines empfindenden Geistes ihren Ursprung verdankt.

Es sei mir erlaubt, diese von der bloßen Natur, nach dem Gesetz der Nothwendigkeit gebildete Schönheit, zum Unterschied von der, welche sich nach Freiheitsbedingungen richtet, die Schönheit des Baues ( architektonische Schönheit) zu benennen. Mit diesem Namen will ich also denjenigen Theil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt), sondernder auch nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist.

Ein glückliches Verhältniß der Glieder, fließende Umrisse, ein lieblicher Teint, eine zarte Haut, ein feiner und freier Wuchs, eine wohlklingende Stimme u. s. f. sind Vorzüge, die man bloß der Natur und dem Glück zu verdanken hat; der Natur, welche die Anlage dazu hergab und selbst entwickelte; dem Glück, welches das Bildungsgeschäft der Natur vor jeder Einwirkung feindlicher Kräfte beschützte.

Diese Venus steigt schon ganz vollendet aus dem Schaume des Meers empor: vollendet, denn sie ist ein beschlossenes, streng abgewogenes Werk der Nothwendigkeit, und als solches keiner Varietät, keiner Erweiterung fähig. Da sie nämlich nichts anders ist, als ein schöner Vortrag der Zwecke, welche die Natur mit dem Menschen beabsichtet, und daher jede ihrer Eigenschaften durch den Begriff, der ihr zum Grunde liegt, vollkommen entschieden ist, so kann sie – der Anlage nach – als ganz gegeben beurtheilt werden, obgleich diese erst unter Zeitbedingungen zur Entwicklung kommt.

Die architektonische Schönheit der menschlichen Bildung muß von der technischen Vollkommenheit derselben wohl unterschieden werden. Unter der letztern hat man das System der Zwecke selbst zu verstehen, so wie sie sich untereinander zu einem obersten Endzweck vereinigen; unter der erstern hingegen bloß eine Eigenschaft der Darstellung dieser Zwecke, so wie sie sich dem anschauenden Vermögen in der Erscheinung offenbaren. Wenn man also von der Schönheit spricht, so wird weder der materielle Werth dieser Zwecke, noch die formale Kunstmäßigkeit ihrer Verbindung dabei in Betrachtung gezogen. Das anschauende Vermögen hält sich einzig nur an die Art des Erscheinens, ohne auf die logische Beschaffenheit seines Objektes die geringste Rücksicht zu nehmen. Ob also gleich die architektonische Schönheit des menschlichen Baues  [← Achtung: im Gutenberg-Text steht an dieser Stelle sinnloserweise das Wort „Balles“] durch den Begriff, der demselben zum Grunde liegt, und durch die Zwecke bedingt ist, welche die Natur mit ihm beabsichtet, so isoliert doch das ästhetische Urtheil sie völlig von diesen Zwecken, und nichts, als was der Erscheinung unmittelbar und eigentümlich angehört, wird in die Vorstellung der Schönheit aufgenommen.

Man kann daher auch nicht sagen, daß die Würde der Menschheit die Schönheit des menschlichen Baues erhöhe. In unser Urtheil über die letztere kann die Vorstellung der erstern zwar einfließen, aber alsdann hört es zugleich auf, ein rein ästhetisches Urtheil zu sein. Die Technik der menschlichen Gestalt ist allerdings ein Ausdruck seiner Bestimmung, und als ein solcher darf und soll sie uns mit Achtung erfüllen. Aber diese Technik wird nicht dem Sinn, sondern dem Verstande vorgestellt; sie kann nur gedacht werden, nicht erscheinen. Die architektonische Schönheit hingegen kann nie ein Ausdruck seiner Bestimmung sein, da sie sich an ein ganz anderes Vermögen wendet, als dasjenige ist, welches über jene Bestimmung zu entscheiden hat.

Wenn daher dem Menschen, vorzugsweise vor allen übrigen technischen Bildungen der Natur, Schönheit beigelegt wird, so ist dies nur in sofern wahr, als er schon in der bloßen Erscheinung diesen Vorzug behauptet, ohne daß man sich dabei seiner Menschheit zu erinnern braucht. Denn da dieses Letzte nicht anders als vermittelst eines Begriffs geschehen könnte, so würde nicht der Sinn, sondern der Verstand über die Schönheit Richter sein, welches einen Widersprach einschließt. Die Würde seiner sittlichen Bestimmung kann also der Mensch nicht in Anschlag bringen, seinen Vorzug als Intelligenz kann er nicht geltend machen, wenn er den Preis der Schönheit behaupten will; hier ist er nichts als ein Ding im Raume, nichts als Erscheinung unter Erscheinungen. Auf seinen Rang in der Ideenwelt wird in der Sinnenwelt nicht geachtet, und wenn er in dieser die erste Stelle behaupten soll, so kann er sie nur dem, was in ihm Natur ist, zu verdanken haben.

Aber eben diese seine Natur ist, wie wir wissen, durch die Idee seiner Menschheit bestimmt worden, und so ist es denn mittelbar auch seine architektonische Schönheit. Wenn er sich also vor allen Sinnenwesen um ihn her durch höhere Schönheit unterscheidet, so ist er dafür unstreitig seiner menschlichen Bestimmung verpflichtet, welche den Grund enthält, warum er sich von den übrigen Sinnenwesen überhaupt nur unterscheidet. Aber nicht darum ist die menschliche Bildung schön, weil sie ein Ausdruck dieser höhern Bestimmung ist; denn wäre dieses, so würde die nämliche Bildung aufhören, schön zu sein, sobald sie eine niedrigere Bestimmung ausdrückte; so würde auch das Gegentheil dieser Bildung schön sein, sobald man nur annehmen könnte, daß es jene höhere Bestimmung ausdrückte. Gesetzt aber, man könnte bei einer schönen Menschengestalt ganz und gar vergessen, was sie ausdrückt; man könnte ihr, ohne sie in der Erscheinung zu verändern, den rohen Instinkt eines Tigers unterschieben, so würde das Urtheil der Augen vollkommen dasselbe bleiben, und der Sinn würde den Tiger für das schönste Werk des Schöpfers erklären.

Die Bestimmung des Menschen, als einer Intelligenz, hat also an der Schönheit seines Baues nur in sofern einen Antheil, als ihre Darstellung, d. i. ihr Ausdruck in der Erscheinung, zugleich mit den Bedingungen zusammentrifft, unter welchen das Schöne sich in der Sinnenwelt erzeugt. Die Schönheit selbst nämlich muß jederzeit ein freier Natureffekt bleiben, und die Vernunftidee, welche die Technik des menschlichen Baues bestimmte, kann ihm nie Schönheit ertheilen, sondern bloß gestatten.

(Fortsetzung folgt)

Wenn man vielleicht etwas schockiert wahrgenommen hat (siehe Wikipedia-Artikel oben), wie realistisch „man“ in der Antike die Weiblichkeit einer Statue zur Kenntnis nahm,

Der Überlieferung zufolge war die Figur derart lebensecht, dass sich ein junger Mann in der Cella des Tempels einschließen ließ und mit ihr zu verkehren versuchte. Ergebnis dieser Bemühungen sei ein unauslöschlicher Fleck auf der Rückseite eines Oberschenkels gewesen, der offenbar tatsächlich vorhanden war und den Anlass zu dieser Erzählung gegeben haben könnte.

wird man auch Schiller leichter zugestehen, dass er die antike Kunst nicht nur unter dem Aspekt der „edlen Einfalt und stillen Größe“ gesehen hat, und dass in seiner Zeit ebenso wie 100 Jahre später fortwährend das Frauenbild moralistisch justiert oder entmythologisiert wurde. Daher habe ich an dieser Stelle für mich auch andere Lektüren interpoliert, in denen es um die Bedeutung der Renaissance für die deutsche Klassik geht  und zugleich um die Gender-Motivik der heutigen Forschung. Z.B. in dem lesenswerten Buch Interkulturellr Transfer und nationaler Eigensinn Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften / Herausgegeben von Rebekka Habermas und Rebekka v. Mallinckrodt. Darin besonders interessant der Beitrag von Michael Wenzel über „Das weibliche Bildnis der Italienischen Renaissance“. (Siehe auch hier.)

  Wallstein Verlag ISBN 3-89244-731-4

  Flora, Frühling, Braut, Schauspielerin, Kurtisane?

… ach vorüber, Nacht der Liebe

Vom Lohengrin zum Tristan

Meine Assoziationen sind für Außenstehende vielleicht nicht interessant, mich dagegen begleiten sie unentwegt, und für Nahestehende waren sie schon vor 55 Jahren unvermeidlich. Ich beanspruche jedoch weiterhin mildernde Umstände, wenn ich auch die aktuelle ZEIT und das heutige Bayreuth egozentrisch historisierend lese und sehe.

Googeln Sie doch den ganzen Artikel, nachdem Sie den kleinen mittigen Abschnitt gelesen haben, der mit der Titelzeile beginnt. „Die Musik sagt ja alles“. Ich dachte an das, was ich mir bei den letzten Zeilen meiner Schulmusik-Staatsarbeit gedacht habe: dass dort nach dem letzten Liebestod-Akkord die wahre Mystik ihr Werk vollenden könnte, aber sicher nicht in Bayreuth. Oder was auch immer ich gedacht habe. Im Jahre 1967 änderte sich ja gerade die ganze Lebensausrichtung, wie ein Brief erzählt, der in dieser Arbeitskopie damals wieder an mich zurückkam. (Daher die Namen Hans Hickmann und Marius Schneider) .

Die Musik sagt ja alles. Auf dem Papier mag das ein wenig ideenlos wirken, im Zuschauerraum sorgt es (abgesehen von den notorischen Zuspätkommern nach den Pausen und vom kollektiven Klatschen in den Liebestod-Schluss hinein) für enorme Ruhe und Konzentration. Das ist nicht immer leicht auszuhalteb bei Außentemperaturen von bis zu 36 Grad, es wäre aber unfair, dies der Regie anzulasten. (ZEIT Florian Zinnecker)

Immerhin: neben Adorno – Simone de Beauvoir und Sir Galahad

Ja, und dann interessierte mich heute noch, was mir im Lohengrin der frühen Jahre nie aufgefallen war:

In den letzten Takten der Lohengrin-Generalprobe habe Klaus Florian Vogt in der Titelpartie librettogetreu das Wort »Führer« gesungen, zum Missfallen einiger Zuschauer, so wurde berichtet. Die Zeile »Führer-Skandal im Festspielhaus« mag der Zeitung einige Klicks beschert haben, auch wenn die Diskussion um die fragliche Stelle seit Jahrzehnten ergebnislos schwelt. Natürlich ließe sich ein Wagner-Text von 1853 verändern. Aber wo dann damit aufhören? Im Zweifel ist doch das Störgefühl an den fraglichen Stellen weit wichtiger als die Illusion, es gebe zwischen Wagners Weltbild und unserem heutigen nicht wenigstens ein paar kleine Differenzen. (ZEIT Florian Zinnecker)

Das finde ich auch und lese nochmals im Text-Buch nach. Tatsächlich, da spüre ich Differenzen.

Seite 172  Der König und die Edlen (Lohengrin umringend):

O bleib! O zieh uns nicht von dannen! / Des Führers harren deine Mannen!

Seite 174 Lohengrin:

Seht da den Herzog von Brabant! Zum Führer sei er euch ernannt!

Bitte nicht missverstehen! Ebensowenig wie Elsas abschließendes: „Mein Gatte! Mein Gatte!“

Fast ein Frühlingsahnen

Ein Gang durch den Botanischen Garten Solingen 21. Februar 2021

Enten, kurz vor der Paarung, Sibirische Papierbirke

Oben l.: Sophora japonica (Schnurbum) Oben r.: Cryptomeria Japonica (Japanische Sicheltanne)

Seiner Wuchsform sieht man nicht an, wie er im Einzelnen gestaltet ist.

Sequoiadendron giganteum (siehe Wiki hier „Junger Baum in einem Garten“)

Unten: Man erkennt, dass es eine Rotbuche sein könnte. Aber schon dicht über dem Boden beginnt die vielfältige Verzweigung. Fagus sylvatica Asplenifolia (Geschlitztblättrige Rotbuche)

Ich dachte an die großen Gesten der Bäume, allerdings auch an die befremdende Pantomime des Entenpaares, das sich paarte, wobei das Weibchen kaum noch den Schnabel aus dem Wasser recken konnte. (Das macht doch nichts, es kann auch sonst lange tauchen…)

Ohne irgendetwas beweisen zu wollen, sammle ich merkwürdige Zufälle. Zum Beispiel greife ich im Vorbeigehen ein Buch aus dem Schrank, aus unerfindlichen Gründen habe ich es nie gelesen. Für ein Revival der griechischen Mythologie war ich damals (1993) nicht bereit. Jetzt vertiefe ich mich in die Geschichte von Pelops, werde neugierig auf den Zeus von Olympia, das gigantische Wunderwerk des Phidias, sehe mir Rekonstruktionen an, auch bei Wikipedia hier. Ein Dendron Sequoia hätte in die Nähe des Tempels gehört.

Wikipedia Foto: Sanne Smit 2002

Am nächsten Morgen schlage ich die Kinderseite des Solinger Tageblattes auf und sehe folgendes (ich schwöre, es war der Tag danach!):

ST 22.02.2021 Yango

Liebe Kinder, heute ist der 23. Februar, ich habe ein paar Stunden im Garten gearbeitet, schweißgebadet, als mir der Gedanke kam, dass ich einige Baumfotos aus dem Botanischen Garten verwerten sollte: wie wichtig sie dastehen, das sind doch Gesten, immerwährende, festgewachsene. Andererseits wollte ich mir die Geschichten von Zeus nochmal durchlesen. Ich bin gigantisch gut aufgelegt. Und auch von König Pelops, nach dem der (die? das?) Peloponnes benannt ist, bin ich beflügelt, aber vor allem diese zweite Begegnung mit Zeus in der Tageszeitung könnte ich an die große Glocke hängen: der höchste Gott der Griechen gibt mir ein Zeichen. Liebe Kinder, liebe Eltern, was hat das zu bedeuten? Bin ich auserlesen für die Erschaffung einer Weltbedeutungstheorie?

Nichts dergleichen. Zufälle sind manchmal so. Aber wir sind so beschaffen, dass wir mehr darin sehen wollen. Richtiger wird es dadurch nicht. Warum hat dieser italienische Schriftsteller all die Geschichten der griechischen Mythologie wiedererweckt? Er tat später desgleichen mit der indischen Götterwelt. Ich muss die Zeilen suchen, in denen er sich mit dem Sinn seines Unternehmens befasst… Zweifellos gibt es da etwas. Sonst würden mich die Geschichten nicht so fesseln. Ich werde anfangen mit der Außenansicht des Buches. Moment, – auch die Gesten spielen eine Rolle im Erinnerungsvorgang, der Name Abi Warburg tauchte auf, es muss die Süddeutsche von gestern gewesen sein. Derselbe Tag war es, als mir Zeus auf der Kinderseite wiederbegegnet war, da erwarb ich beim REWE-Einkauf auch noch die SZ und wurde durch die Wiedergabe des Kupferstichs vom „Raub der Proserpina“ gebannt: ist es nicht Zeus, der sich auf dem einen Bild lässig zur Seite flegelt, auf dem anderen eine ranke Dame gewaltsam an sich reißt??? hier ist  die originale Zeitung.

22.02.21 Ein Sarkophag des Erinnerns!

Das Glück will es, dass der Artikel online abrufbar ist: hier. Und online kann man dann auch noch hinüberklicken in den Artikel über Abi Warburgs „Bilderatlas Mnemosyne“. Was für eine Fundgrube tut sich auf!

ZITAT

Wenn man die Wendeltreppe im Inneren des Tempels hochstieg, erreichte man die oberen Galerien und konnte von dort aus den Zeus des Phidias aus der Nähe betrachten. Dieses Werk hatte nach Ansicht Quintilians »der Religion der Menschen etwas hinzugefügt«. Gold und Elfenbein wurden nur durch Gemmen unterbrochen, außer am Thron, wo man auch Ebenholz erkennen konnte. Tiere und Lilien waren über das Gewand verstreut. Zeus war mit einem Olivenzweig bekränzt und hielt in seiner rechten Hand eine Nike mit einem Band und einem Kranz. Unter jedem Thronfuß waren weitere kleine Niken angebracht, die das Aussehen tanzender Elfen hatten. Aber noch etwas anderes spielte sich zwischen diesen Füßen ab: geflügelte Sphingen raubten mit ihren Krallen thebanische Knaben, und Apollon und Artemis durchbohrten noch einmal die Söhne und Töchter der Niobe. Und das Auge, das sich an die bewegte Dunkelheit gewöhnte, entdeckte immer neue Szenen auf den Verbindungsstreben des Throns. Je weiter man den Blick nach unten richtete, um so größer wurde die Zahl der Figuren, Neunundzwanzig auf den Verbindungsstreben: Amazonen, Herakles mit seinem waffentragenden Gefolge und Theseus. Ein Junge richtet sich das Stirnband: stellt er Pantarches dar, den jungen Geliebten des Phidias? Der Thron ist unzugänglich, von bemalten Absperrungen umgeben: wieder erkennt man Theseus und Herakles, dann Peirithoos, Ajax, Kassandra, Hippodameia, Sterope, Prometheus, Penthesilea, Achilles, zwei Hesperiden. Andere Gestalten wachsen aus dem oberen Teil des Throns: drei Chariten und drei Horen. Danach senkt sich der Blick auf den Fußschemel des Zeus, und auch da begegnen ihm Figuren: wiederum Theseus und noch einmal die Amazonen und goldene Löwen. Noch weiter unten macht der Blick auf dem Sockel, der diese gewaltige Statue des Zeus und seiner Parasiten trägt, noch mehr Szenen aus: Helios besteigt seinen Wagen, Hermes tritt hervor, gefolgt von Hestia, Eros empfängt Aphrodite, während sie dem Meer entsteigt und Peitho sie bekränzt. Auch Apollon und Artemis fehlen nicht, Amphitrite und Poseidon, und Selene auf einem Pferd. Zeus, dieser thronende und von Geschöpfen überkrustete Gigant, spiegelte sich auf einem schwarz polierten Steinfußboden wider, wo reichlich Öl für die Behandlung des Elfenbeins floß.

Keine andere Statue wirde von den Griechen so sehr bewundert, sogar von Zeus selbst, der einen Blitz seiner Zustimmung auf den schwarzen Fußboden schleuderte, als Phidias dieses Werk vollendet hatte und den Gott um ein Zeichen bat. Der goldelfenbeinerne Zeus aus Olympia wurde bei einem Palastbrand in Byzanz im fünften Jahrhundert zerstört. Uns bleiben die Münzen aus Elis, die ihn darstellen, und die Worte einiger bewundernder Besucher wie Kallimachos und Pausanias. Paulus Emilius sagte, Phidias habe dem Zeus die Gestalt Homers verliehen.

Die neuzeitlichen Menschen sind angesichts der Beschreibungen immer verunsichert und ratlos gewesen. Zuviel Farbe, zuviel orientalischer Prunk, womöglich eine Geschmacksverirrung. Sollten Phidias bei seiner ehrgeizigsten Unternehmung alle die Eigenschaften abhanden gekommen sein, die wir an den Friesen des Parthenon so bewundern? Der Fehler der modernen Menschen liegt darin, daß sie den Zeus des Phidias in derselben Weise als eine Statue betrachten wie den Hermes des Praxiteles. Aber er war etwas ganz anderes. Der Zeus des Phidias schimmerte abgeschottet in der Cella des Tempels und hatte möglicherweise eher etwas von einem Dolmen, einem Betilo, einem vom Himmel gefallenen Stein, an dem sich die anderen Götter und Helden festklammerten, um leben zu können. Über das Gold und das Elfenbein ergoß sich die Regsamkeit einer Ameisenkolonie. Zeus diente lediglich als Stütze für Tiere und Lilien, für Bogen und Gewänder, für alte, immer aufs neue wiederholte Szenen. Aber Zeus war nicht nur der unbeweglich thronende Wächter: Zeus war jede dieser Szenen, dieser durcheinandergebrachten und neu zusammengefügten Taten, die seinen Körper und seinen Thron in feinsten Schaudern zum Kräuseln brachten. Phidias hatte ganz unbeabsichtigt bewiesen, daß Zeus nicht allein leben kann: ganz unbeabsichtigt hatte er das Wesen des Polytheismus dargestellt.

Olympia steht für das Glück der Griechen, die sich aufs Unglück wohl verstanden. Auf der Peloponnes ist das üppige Grün von halluzinatorischer Leuchtkraft. Je seltener, um so intensiver, fast ein Äußerstes. Rings um Olympia vereinen sich alle Arten von Grün, so wie sich vorzeiten die Athleten sämtlicher Städte, in denen Griechisch gesprochen wurde, dort vereinten: von der herben Phosphoreszenz der Pinien von Aleppo bis hin zur dunklen Klarheit der Zypressen, den glänzenden Bändern der Zitronenbäume, den Urgewächsen des Schilfs, und dies alles vor dem Hintergrund sanfter Hügelkämme, die der Daumen Poseidons durch Erdbeben gestaltet hatte. Dieser Ort ist das Geschenk eines Mannes, der zu einem Fluß wurde: Alpheios. [Karte betrachten!] Nachdem er sich zwischen den kahlen, sengenden Bergrücken Arkadiens einen Durchbruch geöffnet und die Felsen des Lykaions gehetzt hat, des Gebirges der Wölfe und Menschenfresser, auf dessen Höhen die Sonne niemals Schatten wirft, tritt der Alpheios am Ende überraschend aus den Schluchten von Karytaena hervor und ergießt sich in ein gewundenes Tal, das dem Zeus ebenso teuer ist, wie ihm das archaische Lykaion verhaßt gewesen war. Die Griechen pflegten die Natur eher unbenannt zu lassen, aber Pausanias preist den Alpheios gleich dreimal: »Der wasserreichste unter den Flüssen und sehr angenehm anzusehen«; »ein wunderbarer Fluß für die Liebe«, wegen seines Ursprungs; und schließlich war er für Zeus »der anmutigste aller Flüsse«.

Aber wer war Alpheios? Ein Jäger. Er erblickte die Göttin der Jagd, Artemis, verliebte sich in sie und […]

Ende des ZITATES

Quelle Roberto Calasso: Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia / Insel Verlag Frankfurt am Main, zweite Auflage 1991 (Seite 182f) Aus dem Italienischen übersetzt von Moshe Kahn

So erzählt der Dichter Roberto Calasso, selbst ein unendlicher Strom von Geschichten. Wenn man einmal die Antenne ausgefahren hat für dieses Verfahren, Wirklichkeit zu schaffen und zu empfangen, wird sich davon nicht mehr losreißen können. Heute hat man gegenüber den 90er Jahren, als ich den Wert des Buches noch nicht erkannt habe, den Vorteil, dass man mit google-Hilfe den Hintergrund noch unendlich ausfächern kann. Man ahnt, wie sich einst Schiller, Hölderlin und die klassischen Zeitgenossen durch  Johann Joachim Winckelmanns Begeisterung für die Antike anstecken ließen und wieso sie hoffen konnten, dass ihr Lesepublikum alle Anspielungen verstehen würden: oder es lernen wollten. Nicht anders als wir, die als Spätlinge der Renaissance und der zweiten oder dritten Aufklärung wahrnehmen, wie sich die Ausstrahlung des christlichen Himmels mit seinen 1000 Geschichten und Weisheiten dramatisch verfinstert. Die alten Götter machen die Runde…

Und wenn sie aus Indien kommen? Um so willkommener. Calassio stünde uns bei mit Ra und Ta und letztlich: „Ka“!

Angenehm findet Holbein […], dass der Autor – anders als in seinem Buch ‚Hochzeit von Kadmos und Harmonia‘ von 1990 – hier auf den „didaktischen Zeigefinger und Wir-Ton“ verzichtet. Auch die Bilder in diesem Band gefallen ihm. (30.6.2000)

Zum Thema „Schillers Griechenland“ – und wie immer lesenswert Rüdiger Safranski:

Quelle Rüdiger Safranski: Goethe & Schiller Geschichte einer Freundschaft / Hanser Verlag München 2009

Länge: 4:52 – bitte danach Stopptaste betätigen, bevor der nächste Titel zuschlägt!

1 Minute nachsitzen: Peloponnes = (die) Insel des Pelops

Langenscheidt 1953

Über Pelops und die Pelopiden a.a.O. (Calasso) Seite 189 bis 210

Aufwind im Odenwald

Von Michelstadt nach Reichelsheim

Manchmal genügt ein radikaler Szenenwechsel, sagen wir: eine Drei-Tage-Reise, vielleicht verbunden mit einer kleinen Aufgabe, um der Trübsal oder dem Trott des Alltags nachhaltig zu entrinnen. Allerdings: Trübsal ist ebenso übertrieben wie Trott untertrieben, Tristesse wäre näher dran, andererseits war ich zuhaus ja bestens gelaunt, umgeben von aktueller Musik und einer Reihe neuer Bücher. Jedenfalls, – unterhalb dieser imaginären Wolkendecke in einer Zeit, nennen wir sie „Herbst“ oder „Oktobernovember“, wenn nunmal nicht mehr die Sonne der Jugend alles, was vor uns liegt, verklärt; Mut oder Übermut den Erwachenden am frühen Morgen unwillkürlich beflügeln, ach, wie hätte es Hölderlin gesagt? Damals in Darmstadt 1965 hatte ich seinen späten Zweizweiler oft auf den Lippen, wohlwissend, dass er mich nicht wirklich betrifft: „April und Mai und Junius sind ferne / ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne“, – rezitierte ich, weil ich so gerne lebte (glaube ich heute…). Jetzt passt es besser. Also weiter: ich bringe die Bilder in eine ungefähr dem Ablauf entsprechende Reihenfolge, beginnend mit dem Anlass der Reise, den ich schon hier gewürdigt hatte.

Vortrag Prof. Dr. Rosemarie Tüpker

 

 Ehrung

Die Fahrt hierher von Michelstadt aus:

Odenwald-Parkplatz: nicht weit von hier die Stelle, wo Siegfried von Hagen niedergestochen wurde. Sagt man. Extra-Inschrift: „Ab sofort wird dieser Ort videoüberwacht“. Erschreckt fahre ich weiter, man soll mich nicht filmen, für meine Zwecke genügt ein Holzstoß…

Michelstadt!

  

 

 

 Hotel 3 Einohrhasen?

An unserem Lieblingstisch

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Oben Fotos E.Reichow / Unten Handy JR

  

(Fortsetzung folgt)