Archiv der Kategorie: World Music

Musiksparten?

Wie war das noch in den 90er Jahren im WDR?

Man sprach von Programmfarben, man konnte – so glaubte man – jeweils größere Publikumsmengen an das jeweilige Programm binden, wenn man einen bestimmten Musikcharakter vorgab und durchhielt, WDR 1 „volkstümlich“, später auch „rockig“, WDR 2 „Mainstream Pop“, WDR 3 „Klassisch“ + „Konzert“, WDR 4 „Schlager, Operette, Evergreen“, WDR 5 „Wort“. Unsere Abteilung, die ursprünglich den Namen „Volksmusik“ trug (später: Musikkulturen), erweiterte seit den 70er Jahren den Inhalt des Begriffes beträchtlich: nicht nur Volksliedkantaten und Blasmusik der deutschen „unterhaltenden“ Tradition wollten wir präsentieren – es gab ja in allen Ländern und Kulturen Volksmusik, auch Folklore genannt, die ganz anders klang. Auch „fremde“ Kunstmusik, die man, da sie nicht unserer Klassik ähnelte, stillschweigend zu jenem unbekannten Genre schlug, das in unserm Radio bisher überhaupt nicht vertreten war. Das alles wurde zu unserem Arbeitsfeld und konnte – unserer Einschätzung nach – in jedem Programm vorkommen, je nachdem, welcher „Farbe“ es nahekam. Geeignet für alle musikalischen Menschen, die auch ungewöhnlichere Klänge einordnen können. Ich will jetzt nicht theoretisieren, inwieweit das überhaupt in einem solchen Massen-Medium geht, – ich selbst hatte mir Gedanken gemacht über die 12 Methoden des Hörens, die es in der Menschheit gibt, und die man nicht ohne weiteres untereinander auswechseln kann -,  jedenfalls hatten wir in der Konzertreihe, die wir seit 1974 etabliert hatten, ein Publikum im Sinn, das von bestimmten Liedformen geprägt ist, angelehnt an das, was etwa damals die „Liedermacher“ präsentierten: basierend auf unseren (westlichen) traditionellen Harmoniefolgen, die übersichtlich geformte Melodien trugen, und klanglich-rhythmisch vorwiegend von begleitenden Gitarren attraktiv, aber unauffällig ins Rampenlicht gesetzt wurden. Damit waren alle Türen und Fenster geöffnet in Richtung Süd- und Nordamerika ebenso wie nach Norden oder Osten von Irland, Skandinavien, Russland bis Rumänien, Balkan, Georgien. Das war einfach gedacht, aber beliebig erweiterbar, und wurde sichtbar von einem live anwesenden Publikum honoriert. Und parallel die „schwierigeren“ Musikkulturen, die einiger Einübung bedürfen, auch des Vorbilds prägender Figuren,  wie im Fall Indien Ravi Shankar und Yehudi Menuhin. Und natürlich in einem „klassischen“ Radiosender wie WDR 3. Auch WDR 5, das neue Wortprogramm, erwies sich als geeignet, – dort wo es sich um Musik handelt, die des Wortes und der verbalen Vermittlung bedarf. TEMPI PASSATI. Die Erinnerung lohnt sich. Fangen wir doch einfach an zu rekapitulieren. Manch einen oder eine könnte es in flagranti erwischen: es gab und gibt Sternstunden mit einer bis dato völlig unbekannten Musik. WDR 3 realisierte 2023 – 20 Jahre nach der Beendigung der Matinee-Reihe – eine großartige Idee: wenigstens 1 dreistündige Sendung des frohen Gedenkens. Davon später: zunächst die Rekapitulation in schriftlichen Stichproben.

Bericht im WDR-Blatt September 1990

Beispiel einer Programmübersicht, wie sie in unserer „Blütezeit“ monatlich verschickt wurde

Programmatische Gedanken im Blatt der Kölner Philharmonie 31.10.1992

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WDR-Pressetext Oktober 2023:

Die WDR-Livemusik-Reihe „Matinee der Liedersänger“ gehört zu den großen Meilensteinen der Musikkulturen der Welt in der Geschichte des Radios. 1976 hervorgegangen aus der Reihe „Matinee der Liedermacher“ holte der WDR-Redakteur Jan Reichow regelmäßig Musikerinnen und Musiker verschiedenster Kulturen auf nordrhein-westfälische Bühnen und ins Radio.

Damit war sonntags vormittags um 11 Uhr die Welt zu Gast im WDR Funkhaus Köln, in der Ravensberger Spinnerei in Bielefeld oder im Museum Bochum (später im Bahnhof Langendreer in Bochum). Canciónes aus Südamerika mit dem uruguayischen Liedermacher Daniel Viglietti, der argentinischen Folk- und Protest-Sängerin Mercedes Sosa und dem chilenischen Geschwisterpaar Isabel und Angel Parra waren ebenso zu erleben wie Klezmer von Brave Old World, bulgarische Vokalklang-Landschaften vom Eva Quartet und korsische Gesänge der Gruppen A Filetta und Cantu u Populu Corsu. Auch die berühmten Taraf de Haidouks aus Rumänien, die Globetrotter der französischen Band Bratsch u.v.m. traten auf und brachten unterschiedlichste Eindrücke weltweiter Musikkulturen in das WDR 3 Sendegebiet.

Abrufbar hier: https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-konzert/konzertplayer-matinee-der-liedersaenger-highlights-100.html LINK

Facebook Oktober 2023

Woher kam der Jazz?

Maximilian Hendlers Forschungsreisen

Zitat:

Die befremdlichen Züge, welche die Musik der Afroamerikaner für Weiße an sich hatte und immer noch hat, führten zu einem bis heute weiterwirkenden Irrtum. Die afroamerikanische Musik kommt von den Schwarzen – die Schwarzen kommen aus Afrika -, daher kommt die afroamerikanische Musik aus Afrika. Die Jazzforscher, die alles, was nicht in der Musikästhetik der westlichen Hochkultur enthalten ist, nach Afrika verlegen wollen, ziehen ein Faktum nicht in Betracht: Der größte Teil der traditionellen afrikanischen Musik wurde zu religiösen und sozialen Anlässen gemacht, an denen Afrika extrem reich war und selbst heute noch immer ist.

Für die Afrikaner, die in die amerikanische Sklaverei gerieten, fielen diese Anlässe weg. Ihnen blieb nichts anderers übrig, als sich jener musikalischen Formen zu bedienen, die sie zunächst bei ihren weißen Besitzern und später auch beim weißen Proletariat zu hören bekamen. Ihre Rezeption dieser Musikformen bildet die Basis, aus der in den Jahrzehnten um 1900 der Jazz erwuchs.

GRAZ 2008

WIEN 2023

Was mich das angeht?

Titel, die leicht aufzufinden sind:

S.40 My Gal is a highborn Lady hier oder hier

S.41 Crappy Dan hier

S.43 All coons look alike to me hier (Arthur Collins) hier und hier

S.47 Nobody / When life seems hier

S.77 A Georgia camp meeting hier

S.89/90  Jelly Roll Morton (gesamt) hier Tiger Rag hier different tempi hier

S.94 A happy little chappie hier ?

S.106 Scott Joplin Easy winners (mit Noten) hier

S.106 Frank P. Banta hier

S.120 Original Dixieland Jazz Band 1917 Tiger Rag hier Livery Stable Blues hier

S.126 Duke Ellington 1927 (?) Bugle Call Rag hier

(Fortsetzung folgt)

Als Gegenposition sei an dieser Stelle auf das Buch von Gerhard Kubik (1999) verwiesen, der ein ausgewiesener Afrikakenner ist. Was die Argumentation, dass der Blues aus Afrika kommt, nicht von vornherein glaubwürdiger macht, – als habe sich über Generationen von Sklaven eine solche Erinnerung halten können. Zu berücksichtigen wäre die schlichte Tatsache, dass mit ihrer Ankunft in Amerika das absolute kulturelle Prägerecht der afrikanischen Sklaven die Kirchen und Sekten  übernommen hatten. Da blieb nichts übrig.

Der Name Kubik kommt bei Hendler nicht vor, weil die neueren Forschungen am überlieferten Material und die Einbeziehung der frühen Schichten europäischer Volksmusik einen ganz anderen Weg wiesen.

Und vor allen Dingen: statt den schnellen Weg nach Afrika zu nehmen, lohnt es sich in die Tiefe der Geschichte einzutauchen, und nicht nur dort, wo sie für Menschen unserer Zeit (rückwirkend) interessant ist und Musikprojektionen befeuert. Man lese daraufhin den Wikipedia-Artikel „Great Awakening“ mit Blick auf die unterprivilegierten Schichten der amerikanischen Bevölkerung.

Edwards’ Predigten waren machtvoll und zogen von etwa 1731 an ein großes Publikum an. Der aus England eingereiste methodistische Prediger George Whitefield setzte die Erweckungsbewegung fort, bereiste die britischen Kolonien und predigte in einem dramatischen und emotionalen Stil, der in dieser Zeit neu war. Neu war auch, dass Whitefield im Publikum jedermann – auch Afroamerikaner und Sklaven – akzeptierte…

Durch das Great Revival gelangten erstmals auch viele Sklaven zum christlichen Glauben. In den südlichen Kolonien erlaubten die Baptisten seit den 1770er Jahren sowohl Sklaven als auch Sklavenhaltern das Predigen. Nachdem Frauen in den Kirchen bis dahin überrepräsentiert gewesen waren, stieg auch die Anzahl der männlichen Kirchenmitglieder…

Wie die amerikanische Theologin Kimberly Bracken Long 2002 dargestellt hat, führen Geisteswissenschaftler die Camp Meetings seit den 1980er Jahren auf die Tradition der Holy Fairs zurück, die im 17. und 18. Jahrhundert in Schottland verbreitet waren. Bis dahin hatte man ihre Wurzeln ausschließlich in der amerikanischen Grenzland-Erfahrung vermutet…

Die Bemühungen, christliche Lehren auf die Lösung sozialer Probleme anzuwenden, waren wichtige Vorläufer und Präzedenz-Fälle für die Social-Gospel-Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, auch wenn sie in ihrer eigenen Zeit nur sehr eingeschränkt auf bestimmte Themen wie Alkohol und Sklaverei zur Geltung kam und nicht auf die Gesamtwirtschaft bezogen wurden…

NEU (11.05.23) DIE ZEIT Seite 52 Buch-Empfehlung

Von der Eigenart fremder Völker

Warum nicht BBC hören?

 

Nein, nicht nur hören, man muss es hören, sehen und fühlen, aber eine Radiosendung kann der Anfang sein. Oder ein Konzert, eine Live-Veranstaltung, ein Besuch in Madagaskar, wenn man noch einigermaßen bei Kräften ist. Und nie mehr über Bogenführung meckern will!

Ich bin einstweilen ganz glücklich über diesen Sender bzw. über das Angebot dieses Senders, das so leicht abrufbar ist:

Unzählige „Episoden“, abrufbar hier. Ich wähle gerade diese Seiten, weil mein Freund Hans sich dort befindet, es ist seine Lieblingsregion in Ägypten. Er hätte Simon Broughton dort begegnen können, wenn er sich für den Besuch britischer Musikethnologen brennend interessierte, er lebt aber dort wie ein Einheimischer. Und manchmal reist er selbst durchs Land, neugierig wie ein Fremder: siehe hier. Oder er fährt nach Kairo, um die Literaturszene dort zu studieren.

Ansonsten habe ich bei BBC mit den Madagaskar-Sendungen angefangen, weil ein anderer Freund und ehemaliger Kollege, mit dem ich im WDR – Tür an Tür – fast 30 Jahre zusammengearbeitet habe, mir gestern eine Mail geschrieben hat:

Wir schauen uns gerade ein youtube-Video an, zu dem uns Jenny einen Link geschickt hat: traditionelles Reisbauern-Musiktheater aus dem madegassischen Hochland. Vor ziemlich genau zehn Jahren hatten wir da eine Coproduktion mit dem Theater an der Ruhr – das war und bleibt für mich eins der eindrücklichsten Erlebnisse meiner ganzen Berufszeit.
Ich hab jetzt sofort an Dich gedacht: vor allem wegen der Geiger… ;-).
Wenn Du also mal Lust auf ‚großes Theater‘ hast: gönn‘ Dir dieses unterhaltsam-erbaulich-belehrende Volksbildungswerk aus Volkes eigenem Mund.

 

Ja, und das habe ich gern getan und empfehle es auch denen, die zufällig in diesen Blogbeitrag geraten sind. Aber nicht ohne sich vielleicht etwas kundig zu machen. Bei Wikipedia zum Beispiel allgemein über Madagaskar, wobei ich zu meinem Verdruss bemerke, dass dort unter „Kultur“ nicht die Musik hervorgehoben wird, sondern ausschließlich – Sport. Daher sollte man, sofern man der englischen Sprache einigermaßen mächtig ist, unbedingt mit den BBC-Sendungen beginnen. Oder auch zunächst – in französisch – eine nationale Original-Notiz über das Volksfest „Hira Gasy“ zur Kenntnis genommen haben: hier.

Und dann dies: hier (https://www.bbc.co.uk/programmes/b00pky51)

  also: mit Lucy Duran, Justin Vali und Paddy Bush.

Ich vergaß hervorzuheben, dass ich immer als erstes (oder zweites), das MGG neu (Die Musik in Geschichte und Gegenwart) konsultiere. Autor des Artikels in Sachteil Bd.5 (1996): August Schmidhofer, – mit Staunen sehe ich im Link, wieviel Forschungsreisen er noch nach 1996 in Madagaskar, Malawi, Mosambik und Uganda durchgeführt hat. Wie mag sein heutiger Wissensstand sein?

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Heute entdecke ich die Dissertation, deren frühere Version ich studieren durfte, – wann, weiß ich nicht mehr, habe gerade erst die fabelhafte Endversion von 2010 im Internet entdeckt: hier. Von damals stammt die folgende „Original-Seite“, die ich mir wegen der Violinhaltung vorgemerkt habe. Jetzt finde ich die lebendigste Illustrierung jederzeit auf Youtube (s.u.). Und ich traue meinen Augen nicht, da ist schon die Rede von „Hira Gasy Violin Players“, wovon ich  damals und bis heute keine Ahnung hatte. Obwohl wir im WDR schon Konzerte mit madegassischen Ensembles veranstaltet haben, als Jenny noch als hochbegabtes Kind in Lohmar lebte… Und als sie glaube ich noch studierte, haben wir zum ersten Mal zusammengearbeitete: ohne ihre gründliche Übersetzungsarbeit hätte die Sendung über Johnny Clegg am 13. April 2006 niemals fertiggestellt werden können, und diese Sendung beruhte auf einem Interview, das im Frühling 1981 in meinem Garten stattgefunden hatte.

Skript vor 2010

WDR Sendung 2006 Zitat:

Es war im Frühling 1981, als Kevin Volans uns besuchte, der Komponist aus Südafrika. Damals war er noch völlig unbekannt, eine CD des Kronos Quartets, „White man sleeps“, hat später seinen Namen schlagartig in der ganzen Welt zu einem Begriff gemacht. Heute kann er damit rechen, dass sein neues Klavierkonzert in Los Angeles von Marc-André Hamelin uraufgeführt wird. Damals war Frühling, wir blickten von der Terrasse auf den Waldrand, der Zulu-Musiker Sipho Mchunu hockte am Hang unter der alten Eiche, an deren Stamm ein Haufen Steine angeschüttet worden war; und er prüfte jeden einzelnen Kiesel: er glaubte an die Kraft dieser Steine und wollte ein paar erlesene Stücke daheim in die Mauern seines Hauses einfügen.

Ende der Sendung:

Auch unsere Sendung geht zuende: ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit, und wenn Sie wissen wollen, was aus Johnny Clegg geworden ist: er hat ja danach eine erfolgreiche Karriere als Rockmusiker begonnen, alle Stationen sind auf seiner Web-Seite nachzulesen. Und Kevin Volans gehört inzwischen zu den erfolgreichsten Komponisten der Neuen Musik. Sipho Mchunu ist in seine Heimat zurückgekehrt, Ladysmith Black Mambazo macht nach wie vor erfolgreiche Tourneen. Alle Webseiten-Angaben bekommen Sie über unserer Hörertelefon, notfalls auch über meine eigene Webseite. Das Hörertelefon gibt Anregungen, Lob und Kritik an uns weiter, wir interessieren uns sehr dafür.
Für Anregung und Mithilfe bei dieser Sendung danke ich Jenny Fuhr (Niederschrift des 2stündigen Volans-Clegg-Interviews).
Für die Technik sorgte Alexander Hardt (Studio Rheinklang Köln).
Eine Musikliste wird gerade von unserer Produktionsassistentin Sarah Brasack zusammengestellt.
Am Mikrofon verabschiedet sich J.R. (Wortende bei 111:30)
(Vogelstimmen hoch, eine Hummel umfliegt das Mikro)

Ich konnte nicht widerstehen, diese Erinnerungen einzuflechten bzw. anzudeuten: unfassbar, solche Zeitspannen, und ich kann hier, wo ich sitze, aus dem Fenster schauen, dorthin, wo damals die alte Eiche stand, die jetzt der Länge nach am Boden liegt. Ein Denkmal ihrer selbst. Johnny Clegg lebt nicht mehr, s.a. Sipho Mchunu’s Gedenken hier, in der Wikipedia-Biographie wird der WDR genannt: hier. Auch dies: 1978 The Cologne Zulu Festival (1992). Darüber bin ich glücklich. Und heute auch über dieses unverhoffte Video, ein Festival namens Hira Gasy.

Was mir jetzt am Herzen lag: mich in wenigen Tage vertrauter zu machen mit der Eigenart eines Volkes, dessen Musik mich bei jeder Begegnung aufs neue begeistert hat, sogar eine CD ist auf der Grundlage von WDR-Veranstaltungen herausgebracht worden. Birger Gesthuisen produzierte Mitte der 90er Jahre eine wunderbare Serie:

Und eines Tages kam auch Jenny Fuhr mit Konzert-Reminiszenzen, allerhand musikalischem Gepäck und vielen neuen Ideen aus Madagaskar zurück:

Jetzt aber hätte ich eine neue Ebene der kulturellen Begegnung erleben können, Madagaskar hier und heute: Jenny Fuhr und ihr Ehemann Erick Manana zum zweiten Mal in Solingen… in meiner Stadt, – das Kulturamt der Stadt Solingen also mit einem Weitblick sondergleichen, nicht etwa im Schlepptau des WDR, oder irgendwie anknüpfend an die in früheren Jahrzehnten in Köln, Düsseldorf oder Bielefeld eingeübten radiophonen Initiativen. Autonome Kulturarbeit! Und ich in privater, autonomer Vorfreude und von dem Willen beseelt, diese Musik nach so vielen Jahren auf eine neue Weise wahrzunehmen, aus nächster Nähe, nicht auf der großen Bühne, sondern in Wechselwirkung mit einem interessierten Publikum . . .

Screenshot

Leider wird nichts aus diesen Plänen: Corona hat zugeschlagen. Keine gesundheitspolitische Vorsichtsmaßnahme, nein, das Virus selbst ist schuld: das Konzert fällt krankheitsbedingt aus. Ein Trauerspiel! Die Musik aber soll Hoffnung machen auf einen unbeschwerten neuen Termin:

Irish Music 1983 und heute

Warum Erinnerung nicht lähmt

Das ist nicht selbstverständlich: Erinnerung aktiviert. Warum, will ich jetzt nicht klären. Es ist so lange her, dass ich zuletzt dem Impuls gefolgt bin: hier. Ich war doch einmal nahe dran… Grund genug sich zu freuen. Neues Material gäbe es genug. Trotzdem ist dieses nicht entwertet:

Die Willie-Clancy-Summer-Scool, Miltown Malbay, SSWC, das habe ich nie vergessen; anders hätte ich wohl keine Vorstellung davon bekommen, was ein Fiddler wie John Kelly bedeutet. Es gab auch damals „virtuosere“, seinen Sohn James zum Beispiel. Auch Matt Cranitch, dem man anmerkte, dass er klassische Violine studiert hatte. John Kelly konnte keine Melodie unterteilen, – ich spreche vom Unterrichten -, er spielte für uns immer ganze Melodien oder Anfänge, wir aber hatten unser Leben lang „stückchenweise“ gelernt plus Tonleitern und Akkorde, analytisch, das machte seltsamerweise hier das Lernen so schwer. Gedächtnis … Erinnerung… Aufschreiben oder nicht – das war plötzlich die Frage. Einzelne Bilder bewahren eine Welt, die keineswegs nur in sich ruhte.

Juli 1983 Fotos: Siegfried Burghardt

Und neu ist heute dies zum Beispiel:

This documentary will trace the origins, ethos and impact of one of Ireland’s most important music events — the annual Scoil Samhraidh Willie Clancy (SSWC) held in Miltown Malbay, Co. Clare. ITMA are very proud to be in a position to help fill the void created by the cancellation of the 48th Scoil Samhraidh WIllie Clancy (SSWC) in light of Covid-19. Since its inception in 1973, SSWC, also known as the Willie Clancy Summer School, has had a hugely positive influence on the development of Irish traditional music, song and dance. For thousands of traditional musicians, the first week of July is the highlight of their musical calendar. This documentary will feature archival footage, contemporary interviews and performances from many of Ireland’s leading traditional musicians including: Willie Clancy, Micho Russell, Tommy and Siobhán Peoples, Noel Hill, Cormac Begley, John Kelly, Joe Ryan, Áine Hensey, the McCarthy Family, Mulcahy Family, The Glackin Family, The Friel Sisters and many many more.

Und schon kann ich nicht mehr aufhören, weiter in diese Richtung. Zurück? Und voran! Es ist nie zu spät.

Und hier geht es wirklich weiter: HIER

und sei es für ein paar Stunden.

Déjà vue, Dvořák

Was ich schon fast vergessen hatte (oder gerade nicht)

  Neu: KONKRET / Kodály Fotos rechts JR 1979 Rumänien World Network 1997

ZITAT aus Konkret:

  Tempi passati / weiter siehe ⇒⇓

Quelle Berthold Seliger „Valium fürs Volk“ in Konkret Juni 2021 hier

Eine neue CD mit Kelemen + dieses Foto, da gab es keine Sekunde Bedenkzeit, ich weiß, was er kann, siehe hier. Ich erinnere mich auch gut an Altstaedt mit Beethoven (verloren gegangener Blogartikel vor 11.11.2014) und seit Jahrzehnten an Lonquich, zuletzt mit Brahms hier und seit 1985 (?) an sein unvergleichliches Mozart-Spiel. Neuland: der Cellist Altstaedt schreibt! (CD-Text zu Dvořák, aufgehängt am Wort Dumky, das ich beim Abegg-Dvorak-Text noch recht kurz abgetan habe, siehe hier). Jeder Ansatz, einen Booklettext „in der heutigen Zeit“ mit solchem Ernst anzugehen, kann gar nicht genug gewürdigt werden. Das soll kein verkapptes Eigenlob sein, denn in der Frühzeit der sorgfältigen Klassikausgaben war es selbstverständlich, dass der begleitende Text eine Schlüsselrolle spielte. Man muss vermitteln, dass die Musik sich nicht in einem schönen Klangerlebnis erschöpft.

Etwas Besseres aber als diese CD zwischen den Welten der oberen und unteren Musik hätte ich mir heute nicht wünschen können, eine Offenbarung. Es ist doch nur Dvořák? Sozusagen „gehobene Unterhaltung“? Für die einen weiterhin, für andere vielleicht: Musik als Mittelpunkt der Welt.

Seltsamerweise fehlt dem Booklet eine entsprechende Einführung zu dem Kodály-Werk, das ja viel unbekannter ist und der Einbettung viel mehr bedarf. Ich empfehle den Text bei Villa Musica hier , jedenfalls als Anregung (z.B. Korrektur fällig zum Begriff Verbunkos), dazu ein intensiver Blick in die Noten: hier. Oder in aller Vorsicht (rein privat) auch bei IMSLP (Petrucci) hier.

Übrigens: das Titelbild hat mich angerührt und tolle Erinnerungen wachgerufen. Damit wollte ich aber nicht sagen, dass es zur CD wirklich passt, nicht einmal zu Kodály und seiner Begeisterung für die ungarische Bauernmusik.

Zum Reinhören: Hier

Was den Text angeht, muss ich bei näherer Betrachtung doch etwas Wasser in den Wein gießen. Man gewinnt fast den Eindruck, dass Dvořák sich tatsächlich auf den ukrainischen Nationaldichter Tarás Shevchenko und sein Epos „Kobzar“ bezieht. Da wird gefragt, ob der Komponist den berühmten Kobzaspieler Ostap Veresai vielleicht gehört habe, mit der Zither sei er ja in seiner Jugend  (in …) aufgewachsen. „Sein Vater war Zitherspieler (wie der Ururgroßvater J.S.Bachs) …“. Schon hier wäre nachzufragen, ob eine Kobza eigentlich eine Zither sei oder vielleicht doch eine Art Laute. Zumal Bachs Vorfahr „sein meistes Vergnügen an einem Cythringen gehabt hat“ (O-Ton J.S.B.), was wohl als Cister angesehen werden kann, während Dvořáks Vater in seiner Gastwirtschaft eher auf einer (österreichisch-alpenländischen) Zither zum Tanz aufgespielt hat. Der Gebrauch solcher Assoziationen mit flotten Assonanzen stimmt skeptisch. Und die gesungenen Geschichten der ukrainischen Kobsaren, die Stalin ermorden ließ, hatten im übrigen mit Dur- und Mollwechsel nichts zu tun, und das geschah auch nicht 1939, wie im Booklet vermutet, sondern schon 1932 in Kharkiv. Missverständlich auch, diese Dumky- Aufnahme „à la memoire des grands artistes“ zu widmen, als seien sie mit Tschaikowskys Widmungsträger Nikolaj Rubinstein, dem Gründer des Moskauer Konservatoriums, irgendwie wesensverwandt. Im Blick auf ein im guten Sinn naiveres Lesepublikum wäre auch erwähnenswert gewesen, dass Hölderlin nun aber auch gar nichts mit Dvořák gemeinsam hat (es sei denn, er wäre ebenfalls mit Hegel zur Schule gegangen). Und anders als Janáček hat er wohl auch nicht das „Slawische“ von Haus aus so leidenschaftlich verehrt, sondern ist durch den Verleger Simrock drauf gekommen oder mittelbar durch das Vorbild Brahms, dessen „Ungarische Tänze“ so erfolgreich waren… Mit einer „echten“ Volksmusik, die erst durch Bartók und Kodály deutlich von der sogenannten „Zigeunermusik“ der städtischen Showbühnen und Salons in Wien oder Budapest unterschieden wurde, hatte das nichts zu tun. Wer weiß – vielleicht hat Barnabás Kelemen auch deswegen keinen entsprechenden Text beigesteuert? Mit dem „slawischen Charakterzug“, den Dvořák in Schuberts Klaviermusik gespürt haben soll, muss man es wohl nicht so genau nehmen; denn schon im nächsten Satz seines Essays ist es der „slawische oder ungarische Charakterzug“, und er verdeutlicht: „Während seines [Schuberts] Aufenthaltes in Ungarn assimilierte er nationale Melodien und rhythmische Besonderheiten, übernahm sie in seine Kunst, und wurde so Vorreiter von Liszt, Brahms und anderen, welche ungarische Melodien zu einem integralen Bestandteil der europäischen Konzertmusik machten.“ Er sah das „Slawische“ offenbar nicht als Kampfbegriff, sondern als Oberbegriff für alles, was in der Volksmusik „bezaubernd und neu“ ist:

Aus den reichen Beständen slawischer Konzertmusik, in ungarischen, russischen, böhmischen und polnischen Abarten, haben die heutigen Komponisten Nutzen und werden daraus weiterhin vieles aufgreifen, das bezaubernd und neu in ihrer Musik ist. Man kaum etwas dagegen haben, denn, wenn Dichter und Maler vieles von ihrem Besten auf nationalen Legenden, Liedern und Traditionen aufbauen, warum sollte es der Musiker nicht tun?

So sah Dvořák selbst kein Problem, diesen „slawischen“ Stil später mit „amerikanischen“ Elementen anzureichern, Motiven aus Negro Spirituals oder indianischer Musik, die er nicht etwa indigenen Sängern ablauschte, sondern gedruckten Notensammlungen entnahm – wie übrigens auch Pablo de Sarasate und Brahms: letzterer ließ aus solchen Gründen seine Ungarischen Tänze ohne „besitzanzeigende“ Opuszahl veröffentlichen, und Sarasate entzog sich einer möglichen Copyright-Klage, indem er im eigenen Konzert eine Originalmelodie, deren Komponist ihm namentlich bekannt geworden war, übersprang.

Ich sage nichts gegen die sentimentale Popularmusik der Großstädte, alles an seinem Platz! Aber es gibt eine herrliche Geschichte über den Kolporteur des „Zigeunerweisen“-Mythos: als man Sarasate auf einer seiner Tourneen in Bukarest mit einem autochthonen Zigeuner-(Roma-?) Ensemble beglückte, meinte er: „Mais, c’est mauvais, ça!“.

Dabei wäre, was da gespielt wurde, durchaus kompatibel gewesen, es war nicht etwa eine andere Welt, sondern die unterhaltende Welt eines absolut im westlichen Sinne kultivierten (oder „sogar“ vom Adel geprägten) Publikums. Kein Anwesender hätte einem Geiger wie jenem armen Kerl auf dem CD-Cover ein Ohr geliehen oder gar die Hand gegeben.

Grausam wird es erst, wenn man sich nur wenige Schritte hinausbewegt: die Kluft zwischen der Musik, die das Cover dieser CD imaginiert, und der Musik des gebildeten Bürgertums in den Großstädten des 19. Jahrhunderts kann man sich gar nicht groß genug vorstellen. Ich empfehle die einschlägigen Schriften von Béla Bartók oder das schmale Buch von Zoltán Kodály über „Die ungarische Volksmusik“ (Corvina Budapest 1958), aus dem hier noch zitiert sei:

Man muss nur einige Seiten in diesem Buch lesen – ohne sich sofort über den erst in jüngerer Zeit problematisierten Z-Ausdruck aufzuregen – und verstanden haben, dass der Begriff Volksmusik bei Kodaly einen diametral entgegengesetzen Sinn hat gegenüber dem, der in der hochromantisch getönten Musik von Dvořák zu wirken scheint. Zwar gab es in den „slawischen“ Ländern auch schon frühe Sammlungen, die – oberflächlich betrachtet – ethnographisch anmuten. Für sie gilt dennoch genau das, was Kodály beschreibt: „die Sammler von damals (…) beachteten nur die in die Mittelklasse eingedrungenen Lieder, sie konnten sich eben nicht zu jenen entscheidenden ‚zehn Schritten‘ entschliessen, die vom ländlichen Herrensitz zur Bauernhütte führten“. Er verweist auf unzählige Beispiele, die zeigen, dass das Volk und seine Lieder dieser inmitten des Volkes wohnenden adeligen und gebildeten Klasse so wenig bekannt waren, als wären beide durch eine eherne Mauer voneinander getrennt gewesen.“ (Seite 15) Und ein Roman, der bekanntlich nicht tönt, wie z.B. „Der Kobsar“, sagt rein gar nichts über die Akzeptanz der realen Musik, um die es allein geht, die aber niemand kennt. Daher klingt auch „Kammermusik“ von Kodaly, der wirklich in die abgelegenen Dörfer ging, so erschreckend anders als die von Dvořák, der im Sinfonieorchester zuhaus war. Und das macht diese CD auch so spannend! Aber sie sollte zugleich Widerspruch wecken und aushalten.

Original 1935 (deutsch1958)

Ich schaue natürlich ins Lexikon MGG, zunächst einmal online, so gut es geht, hier, dann auch ins Original aus Papier und frage mich, ob die Autorin Anna Dalos auch Musikethnologie studiert hat, was nirgendwo so naheliegt wie in Budapest. Das Fazit ihrer Arbeit über Kodálys autobiographische Sinfonie in C (1961) sehe ich hier. C-dur??? Über die früheste der drei Phasen seines Lebenswerks folgendes aus dem MGG:

Quelle Anna Dalos in MGG Personenteil Bd.10 Sp.399

Es könnte 1961 gewesen sein, als der alte Zoltán Kodály in der Kölner Musikhochschule zu Gast war und mit dem Madrigalchor probte. Er war sehr streng, wie man erzählte, und niemand fand ihn sympathisch, jedoch souverän in der musikalischen Praxis. Hermann Schroeder hatte ihn geholt, selbst Traditionalist, der sich gegen B.A. Zimmermann und Stockhausen zu behaupten suchte, wie in Berlin, wo ich herkam, etwa mein Kontrapunktlehrer Ernst Pepping gegen (?) vielleicht Boris Blacher, den Rektor der Hochschule. Mein Harmonielehreprofessor Max Baumann zerriss mit Worten und Gesten die Diplomarbeit eines Studenten über serielle Musik, die damals diesen Namen noch nicht trug. Ich las  neben Adorno auch ein Buch von Stuckenschmidt, das die Leuchttürme an den Ufern einer weltweit Neuen Musik skizzierte, darin ein wohltuend verständnisvoller Beitrag über Béla Bartók. Zukunft auch dort. In Köln gestand mir ein hochbegabter Kommilitone, Wilhelm Empt, der schon als NRW-Komponist ausgezeichnet worden war: „Ich komme von Bartók nicht los. Genausowenig wie von Kafka.“ Man glaubt heutzutage kaum noch, was für Glaubenskämpfe und Intrigen damals (vor 1968) an den Hochschulen und außerhalb kursierten. „Armes Deutschland!“, sagte ein Schülervater kopfschüttelnd, als der WDR eine seiner Kompositionen für Jugendliche – „Traumspiel“ – als Mitschnitt produzierte. Für ihn wars Avantgarde. Für die jungen Leute auch, mit Deutschland hatte das absolut nichts zu tun. Es war neu und offen, wie er selbst.

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Zurück zum jungen Kodály. Was ist an dem Duo op.7 so außergewöhnlich? wie würde ich Leuten den Zugang zu dieser Musik erschließen, die noch nichts Ähnliches gehört haben?  Ich würde expressionistische Bilder hervorsuchen, zerklüftete Landschaften, alpine Gipfel und Schluchten, grüne Wildnis an Sturzbächen, würde an den alten Stilus phantasticus erinnern, – und das soll pentatonisch geprägt sein? solche Aufschwünge, solche Abstürze? wie kann Pentatonik solche Spannungen entwickeln? der Komponist soll in den österreichischen Alpen gewesen sein, als er das Werk entwarf, in Feldkirch, er soll sich tatsächlich melodisch am Verlauf der Gebirgsketten orientiert haben. Unberechenbar, aber aus Stein. Wenn er pentatonische Reihen verwendet hat, dann nicht nur eine, sondern auch: chromatisch versetzte, irgendwohin transponierte und miteinander verschlungene, wie sonst könnte es so verstörend wirken, wenn die beiden Instrumente sich plötzlich zu einem gewaltigen Gleichklang verbinden, reine Oktaven, markerschütternd.

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Versuch, einen Gedanken festzuhalten.

Früher hätte ich gesagt, das Radio sei das ideale Medium zum Vermitteln von Musik. Wenn man es nicht als bloße Abspielstation betrachtet, sondern als eine Verführung zum Hören. Ein von Persönlichkeiten – nicht von Vorschriften – geprägtes Medium zum Ohren-Aufschließen. Damit setzt man sich nicht aufs hohe Ross, man zeigt nicht, wo’s langgeht, sondern berichtet allenfalls von gelungenen Hörerfahrungen. Das ist Sache einer persönlichen Moderation. Mich interessiert zwar jeder Mensch, auch musikalische Laien, die eigene, authentische Hörerfahrungen beschreiben, was aber nicht bedeuten muss, dass die entsprechenden Statements weitergegeben werden müssen. Was öffentlich gesagt wird, sollte auf Wissen beruhen, nicht auf Vermutungen, Gefühlen oder didaktischem Ehrgeiz. Und nicht der/die eine redet, während der/die andere das Briefing dafür zusammenstellt: das stammt aus falsch verstandenen, arbeitsteiligen Vorgängen. Jeder erfahrene Musiker hört sofort, ob jemand, der differenziert über Musik zu reden versucht, Ahnung vom Gegenstand hat oder nur gebrieft ist. Und das Laienpublikum hört das auch, und es fühlt sich gerade nicht abgeholt, wenn es laienhaft angesprochen wird, es fühlt sich schlicht beleidigend unterschätzt.

Weitere Abschweifungen in diesen Tagen (9.Juni)

Weiterhin FAUST bzw. Faust II . Auch Schuberts letzte Sonate (Clifford Curzons flexible gegen Korsticks langsame Version). Die absurd schnelle Fassung der VII. Beeth. aus Delphi unter Currentzis. Durchgepeitscht, dazu absurder Tanz. Enggefasst, also Produktionen aus einem kurzen Zeitraum der Kulturgeschichte: zwischen 1827 und 1832 (Beethoven VII 1812). Altersparallelen, Schubert als Euphorion.

17. Juni Noch etwas zum Radio und zur Situation des (öffentlich-rechtlich verstandenen) HÖRENS: Kann man es hören, wenn ein Musikprogramm nicht von Menschen, sondern von Algorithmen generiert wird? Ich z.B. reagiere auf sehr gute Musikstücke gereizt, wenn ich ahne, dass sie dank ihrer Verträglichkeit auftauchen, – dass ein Stück nur aus seiner Umgebung herausgelöst ist, um einen geschmierten Prorammverlauf zu gewährleisten.

Man sollte es nicht versäumen, sich mit allen Veränderungen zu befassen, die sich auf eine gewissermaßen kartografierte Erfassung der menschlichen Kulturbedürfnisse gründen. Lesenswert z.B. Martin Hufner über „Die Selbstverüberflüssigung des Kulturradios“ hier.

Nachtrag

Wilhelm Empt: aus den 10 Duos für zwei Violinen 2. Auflage Köln 1987 / Zur Erinnerung

damals im Eigenverlag (unveröffenlicht)

Die neue Nähe „von fremden Ländern und Menschen“!

Serien unerhörter Klangreisen

Zugabe (1 Minute live)

Was ist eine Kamancheh? Zum ersten Kennenlernen siehe hier.

Als Robert Schumann die wunderbare Einleitung seiner „Kinderszenen“ op.15 mit dem Titel versah „Von fremden Ländern und Menschen“, hat er wohl nur ein Gefühl unbestimmter Sehnsucht gemeint, ohne die Fremdheit wirklich musikalisch darstellen zu wollen. Hier haben wir nun Gelegenheit, die andere, fremde Seite der Musik aus eigenem Herzen reden zu hören, und das kann vielleicht ganz ähnliche Gefühle auslösen. Wenn der Künstler dabei die Erkundung seines Instrumentes in den Vordergrund stellt, tut er nichts anderes, wenn wir seine Worte recht verstehen: Er spricht von den Geheimnissen der iranischen Musik, von der verzweigten Theorie des Dastgah (Modus) und den Formen der Improvisation, die sich im Daramad einer Tontraube aus wenigen Tönen manifestiert. Äußerlich betrachtet, spricht er zwar von den Techniken seines Instrumentes, alten und jetzt von ihm neu erfundenen, aber, so hebt er hervor, „es versteht sich von selbst, dass [sie] nicht an sich das Ziel des Musizierens darstellen. Sie sind […] notwendige Mittel für die Entstehung neuer musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten.“ Und am Ende findet er sie „in einer unaussprechnlichen Sehnsucht nach etwas Unbekanntem […], das dennoch dem Künstler seelisch so nah ist. Er möchte diese unbekannte Nähe berühren.“ Misagh Joolaee : Unknown Nearness.

UNKNOWN NEARNESS

IDENTIGRATION

(und – eben angekommen: dieses Foto)

Post von Hans Mauritz aus Assuan

Zu dem Namen Parviz Meshkatian, der oben in der CD „Unknown Nearness“ in Tr.5 erscheint, kommen mir unauslöschliche Erinnerungen, die sich mit dem folgenden Link hier verbinden. Und in der Wiki-Biographie von P. Meshkatian taucht ein weiterer Name auf, der mich in meine Kölner Studienzeit bei Prof. Marius Schneider und Prof. Josef Kuckertz zurückversetzt; lebendige Gespräche und die ersten Begegnungen mit lebendiger iranischer Musik im WDR (Khatereh Parvaneh, Faramars Payvar, Hossein Tehrani,1972), eine Atmosphäre der Sympathie, die bis heute nachwirkt: Mohammad Taghi Massoudieh.

und darin folgendes Daramad:

Was für eine Gelegenheit, die Liebe zur iranischen Musik nun auch von der Verpflichtung zur universitären Theorie zu lösen und in neuen, intelligenten Erscheinungsformen wirklich zu genießen! Im bloßen Hören! Wobei ich keineswegs den Gebrauch der Notenschrift kritisieren möchte, der hier im Umgang mit einer vor allem mündlich und in realer Spielpraxis überlieferten „Musik des Orients“ wichtig wird. Es ist ein dialektischer Prozess (geworden).

    *    *    *    *    *

Der Begriff „Identigration“ ist ein Kunstwort, sicher kein besonders schönes, aber die Bestandteile Identität und Integration sind heute in aller Munde und geben Stoff für härteste Diskussionen. Hier  scheinen sie versöhnt; oder sie sind es sogar. Mit den Worten des Booklets:

Alle Musiktitel machen Mehrfachidentitäten hörbar und sind von Orchestermitgliedern maßgeschneidert komponiert bzw. arrangiert für die einmalige Besetzung von Instrumenten und Musiker*innen-Persönlichkeiten. Aufgrund ihrer unterschiedlichen musikalischen Ausbildung vermitteln die Orchestermitglieder europäische, arabische und persische Klassik sowie Jazz, Folklore und zeitgenössische Musik. Damit trägt das Bridge-Kammerorchester einen eigenen Beitrag zur Erweiterung.

Das Bridge-Kammerorchester entstand 2019 als Klangkörper der transkulturellen Frankfurter Musikinitiative Bridges – Musik verbindet, die seit 2016 Musiker*innen mit und ohne Flucht- und Migrationsgeschichte zusammenbringt.

Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein, aber jedes einzelne Stück der CD erzählt vom Gelingen des Projektes. Es entstand keine leicht konsumierbare  World Music, wie sie in den 80er Jahren vielfach zusammengerührt wurde, indem man Gitarren-Akkorde untermischte und Pop-Rhythmen einbezog, und tatsächlich ist es wohl auch die Verschriftlichung, die eine musikalische Professionalität garantiert. Der hörbare Erfolg beruht nicht einfach auf einer cleveren Management-Idee. Man liest und betrachtet auch das Booklet mit Freude. Kein Wort zuviel, keine Farbe zu wenig, keine humanitäre Aufschneiderei, es geht um nichts als Musik. Und während ich bei mir ab Tr. 8 relativierende Tendenzen beschwichtigen musste (Achtung – karibisch-gefällige U-Musik), rate ich heute manchen Freunden, lieber bei Tr. 8 zu beginnen und dann erst auf Anfang zu gehen. Und bitte sie, nicht von Vierteltonmusik sprechen, das klingt fast so abschreckend wie einst Zwölftontheorie. „Die persische Vierteltonskala Chahargah“, so zu „Silk Road“ Tr.1, die „auf europäische Harmoniekonzepte von Dur- und Molltonalität“ trifft, gibt es nicht; es gibt darin einzelne Töne, deren Intonation von westlichen Skalen um etwa einen Viertelton abweicht. Und das ist von einer wunderbaren Wirkung, wenn man es weiß – und nicht für ungenau intoniert hält. Auch wenn man einen Grundton hört, dem nicht ein Leiteton vorausgeht, sondern die kleine Terz darunter, sagen wir: wie bei einem umgekehrten Kuckucksruf, aber eben nicht die „korrekte“ kleine Terz, sondern der um einen Viertelton tiefere, abweichende Ton, eine sog. neutrale Terz. Man hört es auf Anhieb in dem folgenden kleinen Lehrbeispiel, passen Sie nur auf: Sie verstehen die iranische Sprache!

Ich liebe diese Skala bzw. diesen Dastgah, seit er mir 1972 in der ersten iranischen „Nachtmusik im WDR“ so unglaublich expressiv entgegentrat, im kleinen Sendesaal des Funkhauses (später füllte ein iranisches Konzert spielend den großen Sendesaal, und dann ebenso die Kölner Philharmonie).

WDR-Karteikarte mit Kopie aus dem Buch von Ella Zonis „Classical Persian Music“ Harvard 1973.

Wie schön eröffnet dieser Dastgah auch die CD mit einem großen Thema, das zu dem Stück SILK ROAD gehört, komponiert von Pejman Jamilpanah: „Seidenstraße“; das ist also der alte Handelsweg, der für den jahrhundertelangen Austausch von Waren und Kultur zwischen Orient und Okzident steht. Hier wird am Anfang der Grundton umkreist, und der höhere Ton (von dreien) klingt ebenfalls „neutral“, es ist keine kleine Sekunde und keine große, sondern ein 3/4 -Tonschritt. Und die von mir hervorgehobene, zum Grundton aufspringende Terz ist so – kadenzierend – erst ganz am Schluss zu hören. Aber er ist als Ton natürlich fortwährend in der Skala präsent, in diese ist er ja oft genug melodisch eingebunden. Es wäre gar nicht dumm, an einem so gut gelaunten Stück auch das genaue Hören bzw. das Hören einer klaren Skala zu üben. Ausgangsmaterial einer wohlgeformten Melodie. Ich habe sie mir provisorisch notiert und wundere mich, dass sie nicht symmetrisch ist. Wahrscheinlich stimmt meine Takteinteilung nicht. Aber so kann ich synchron mitsummen und eine korrekte Intonation üben auf den Tönen d und a, die in Chahargah eben einen Viertelton tiefer intoniert werden, daher in den Vorzeichen die Striche durch den „b-Hals“.

Dann setzt der Rhythmus ein, und die Melodie wird auf verschlungenen Pfaden fortgeführt, unberechenbar, ein fragiles Miteinander, feine Kontrapunkte, und darin immer wieder diese süßen Intervalle, die eine Missdeutung in Richtung Dur oder Moll unterbinden. Ich spiele die CD selten ohne solche Stücke sofort zu wiederholen, und wenn ich mich unterwegs daran zu erinnern versuche, habe ich zuerst diese Töne und ihre besondere Farbgebung im Ohr.

Das nächste Stück, dem die CD ihren Titel verdankt, enthüllt erst ganz allmählich seinen Jazz-Hintergrund, in dem Peter Klohmann zuhaus ist. „Gleichzeitig entstehen durch die Verwendung von Fusion-Skalen und Harmonien mit uneindeutigem Geschlecht tonal-heimatlose, schwebende Klänge und eine stilistische Breite, die von Klassik über Jazz mit Einflüssen indischer und orientalischer Couleur bis zu Disco- und Funk-Sounds reicht.“ So steht es im Booklet, Werbeslang denke ich und bin vom ersten quasi improvisierten, rufartigen Flöten-Einstieg gefesselt, dann von den parallel geführten Clusterakkorden, komplexen Mixturen aller Art, Tablarhythmen, werde fortwährend sinnlich und irgendwie sinnvoll beschäftigt: im Nu sind spannende 11 Minuten vorüber. Die Neugier bleibt.

Tr. 3 erinnert auf Anhieb an den Orchesterklang der großen Aufnahmen mit Oum Kalthoum, der „eingetrübte“ Dreiklang, das folgende Streicher-Unisono, – schwierig für ungeübte westliche Hörer aus heiklen Gründen… es bedarf einiger Worte. Mit meiner Begeisterung für arabische Musik bin ich in den 60er Jahren oft auf Unverständnis gestoßen, selbst gute Freunde haben mit verlegenem Kichern reagiert. Und ich wusste warum! Aber ich konnte die Ursache nicht „weg-erklären“. Eine frühe WDR-Sendung, in der ich es versuchte, hieß „Trivialität und Finesse“. Denn meine musikalischen Freunde lachten nicht über „Fremdheit“, sondern über scheinbar „Triviales“ oder sogar Banalitäten. Z.B. über Sequenzen, das allzuleicht Vorausberechenbare (mit kleinen „Fremdheitspartikeln“ darin), die „schmalzigen“ Tonübergänge. Ich wusste, da hilft nur eins: Hören, immer wieder und noch einmal: Hören. Dann verändert sich die Musik in unseren Ohren. Ich hatte arabische Musik aufgeschrieben und dabei jede Wendung 10mal, 20mal und öfter vom Tonband abgehört. Ich vergesse nie das Lautensolo „Taksim Souba Bouzk“, – und noch keine Ahnung hatte, dass der Aufdruck bedeutete: „Vorspiel im Maqam Saba auf dem Bouzok (Zupfinstrument)“, und dass Saba mein Lieblingsmodus werden sollte, – bis ein libanesischer Musiker behauptete, das sei die Hure unter den Maqamat. In der vorliegenden Komposition kommt er auch vor, wenn ich mich nicht irre (obwohl das Stück insgesamt im „Bayati“ steht):

Und wenn die Terzparallelen in Flöte und Klarinette auftauchen, könnte ein Kind sagen: sowas  kenne ich doch aus unserm Kanon „O wie wohl ist mir am Abend“. Die Mutter stimmt zu: Nein, das kann nicht echt arabisch sein!  Als ich klein war, staunte ich auf Schulbusfahrten, wenn lauthals „Hoch auf dem gelben Wagen“ angestimmt wurde und die Mädchen es immer fertigbrachten, die Schlusszeile in Terzen hinzukriegen! Ich sage das nicht, um mich lustig zu machen. In andern Weltregionen hat diese Zweistimmigkeit eine andere Bedeutung. Und ich traue mir selbst nicht, wenn ich sage, dieses „Sama’i Bayati“ auf der CD „Identigration“ gefällt mir besser als die „authentische“ (?) Version des Syrischen Nationalorchesters, die lange vor dem furchtbaren Krieg entstand:

Und ich wünschte, ich hätte Gelegenheit, eine liebevolle Beschreibung dieser Komposition, ihrer Substanz (!), von einem syrischen Musiker zu lesen; schon das neue Arrangement erzählt einiges, z.B. dass trotz des ersten Taktes in „d-moll“ keine Harmonik im westlichen Sinn zur Kolorierung verwendet wird. Sie würde die melodische Charakteristik des Maqam Bayati zerstören:

 ©Walid Khatba

Ich liebe dieses Stück. Aber warum – bleibt mir ein Rätsel. Ich höre es mit Vorliebe zweimal hintereinander, genieße die Nuancen der verschiedenen Melodieabschnitte, samt Terzenparallelen. Ich liebe aber auch den Übergang zum nächsten, einem der berühmtesten Stücke „unseres“ Barock-Zeitalters. Ich selbst habe oft die Corelli-Variationen darüber gespielt, aber immer in dem Bewusstsein, dass die Melodie (als feierlicher, stolzer Tanz) aus Spanien stammt. Ebensogern identifiziere ich mich mit dieser neuen Version, genieße die phantasievoll angereicherten Variationen, die Rolle der orientalischen Instrumente, die Oud-Terzen, die wunderschöne Bläser-Kombination in der langsamen Variation, in der darauf folgenden das herrliche Gewimmel, das Blech, die Mandoline (?) usw.usw. – darf man das Stück so vertändeln? Gewiss doch, mehr denn je! Und vor allem das Ensemble als Ganzes in Aktion zu erleben.

An dieser Stelle sei ganz kurz erläutert, worin musikalisch gesehen des Problem einer Ost-West-Fusion liegt: Die Vielfalt der orientalischen Skalen – Maqam, Dastgah, Raga, wenn man dafür überhaupt das Wort Skala anwenden darf – findet ihren westlichen Widerpart nicht in der Dualität von Dur und Moll, sondern in deren Harmonik, die nicht von ihrer Geschichte ablösbar ist. Die entsprechenden Skalen gibt es im Orient, wenn man sie so pauschal bezeichnen darf, unter hundert anderen auch. (Samt ihren „Vierteltonabweichungen“.) Aber deren feine Abstufungen kann man mit den 3 – 4 Kadenzakkorden nach den Regeln des Generalbasszeitalters leicht zugrunderichten. Und das ist vielleicht implizit im folgenden Text mitgedacht, der nur von Skalen handelt, oder von den tonalen Mustern, die sie bilden. Harmonik oder Kontrapunktik – gegenläufige Stimmen – gibt es nur andeutungsweise, mit Vorsicht und Geschmack eingesetzt.

Termeh ist eine typische persische Webkunst mit traditionellem Bothe-Muster, das in Europa als Pasley-Muster bekannt wurde. Jamilpanah vertont die Farbenvielfalt des Temeh in der typischen Vierteltonskala Afshari und thematisiert am Ende des Stücks die Begegnung von Orient und Okzident, indem er das Stück in einer Dur-ähnlichen Skala enden lässt.

Zu den erwähnten Mustern siehe hier und hier  Zur Biographie des Komponisten/Instrumentalisten hier, über eine andere „Bridges“-Formation hier.

Ein im Westen ausgebildeter Gitarrist wie Dennis Merz hat selbstverständlich eine enge, professionelle Beziehung zur westlichen Harmonielehre und wird sie auch anwenden, wenn er Musik arrangiert. Im Fall der Bulgarischen Volksmusik gibt es bereits eine Tradition, dass sie innerhalb der Kunstmusik von bulgarischen Komponisten so eingesetzt wird, dass ihre besondere Charakteristik respektiert wird, ähnlich wie es Béla Bartók mit der ungarischen Bauernmusik gehalten hat. Der von B.B. oft behandelte und so genannte „Bulgarische Rhythmus“ im 7/8 (aus 4 + 3) ist, wie er natürlich wusste, nur einer von vielen asymmetrischen Rhythmen, die gerade in der bulgarischen Musik besonders geläufig sind, was ein kurzer Blick in den MGG-Lexikon-Artikel „Bulgarien“ von Lada Braschowanowa zeigt. Davon sollte eigentlich jeder musikalische Mensch eine gewisse Kenntnis haben. Und der Track 6 unserer CD, „Bucimis“, gibt dazu attraktiven Stoff. Man versuche einmal, das Hauptthema einzuordnen. Die Takbezeichnung ist 15/8, bestehend aus 8 + 7 Achteln, darin die 8 in 4mal 2 gruppiert, die 7 in 3 plus 4 .

Oben: Anfang der Partitur von Dennis Merz

MGG Art.Bulgarien

In dem zweiten der auf der rechten Seite gegebenen Rhythmen müsste also in die Reihe der Zweier-Gruppen nun noch eine weitere eingefügt werden, so hätten wir den 15er-Takt (statt 13). Um einen Fachbegriff zu erwähnen: man nennt diese Rythmen additiv (statt divisiv wie in klassischen Taktarten). Kleiner Tipp, dieses Thema beim bloßen Hören recht zu verstehen (Musiker*innen versuchen gern mitzuzählen): Der allererste Ton ist kein Auftakt, sondern der Taktbeginn. Man beginne das Stück so oft von Anfang, bis man es genau erfasst hat. Das ist keine private Pedanterie, es macht uns alle musikalischer, und man spürt das bereits beim bloßen Zuhören, noch besser: es physisch nachzuvollziehen.  Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem WDR-Konzertmeister Paraschkevov, der mir einen Rhythmus demonstrierte, indem er die Tanzschritte ausführte. Das gehört bei uns zum Musikunterricht der Streicher und Pianisten, sagte er, und als ich eines Tages ein Kammermusikfestival in Plovdiv besuchte, kaufte ich mir dort die täglichen Studien von André Stoyanov, die ich heute noch übe. Leider bin ich weit davon entfernt, ein Meister zu werden; ich bin allenfalls ein – Liebender. Ein Dilettant im besten Sinne des Wortes. Ich liebe diese Übungen:

Die bulgarische Tanzfolge, die Dennis Merz erarbeitet hat, ist natürlich trotzdem nicht als Etüde für ein gelehriges Publikum gedacht: sie erzählt eine Geschichte. Sie beginnt „folkloristisch“und „migriert“ im zweiten Satz in die europäische Klassik.

Später stoßen Elemente aus andern Kulturen wie Flamenco und Latin hinzu, bis letztlich alle Stile in einem Schluss-Kanon verschmelzen: Inklusion. Die bewusst gewählten Satzbezeichnungen Herkunft – Migration – Inklusion zeigen im übertragenen Sinne die Bereicherung von Kultur durch Migration.

Ein optimistisches Programm also, das vielleicht reichlich  didaktisch wirken würde, wenn es nicht so hinreißend interpretiert wäre; zudem auch eine schöne gedankliche Brücke zu dem übernächsten, lateinamerikanisch inspirierten Werk darstellt, „La Suite“ von Andrés Rosales. Allerdings lauert nach den bulgarischen Rhythmen eine ganz andere Gefahr für Leib und Seele: „Spiegelung in der Ferne“, eine melodische Vision sondergleichen, angeblich ein bekanntes mongolisches Volkslied, aber sobald man begreift, was für eine gewaltige Melodie diese Sängerin da über den ruhenden Haltetönen ausspannt, in den Himmel zeichnet, aus der gurgelnden Tiefe lockt, es ist fast nicht zu begreifen. Vielleicht ist es für mongolische Ansprüche ganz normal und seit alters vertraut, – von ganz anderer Wirkung jedoch, wenn man diesem offengelegten, kraftvoll zelebrierten „Naturpathos“ zum ersten Mal begegnet , – man braucht sich der Tränen nicht zu schämen! Es ist wirklich ein Wunder. Vielleicht irre ich mich und bin doch durch Hörerfahrungen mit Musik aus Tuva, dem winzigen Nachbarland der Mongolei vorgeprägt, zuletzt hier. Aber zum Glück ist es nicht nur ein „Intro“, es dauert, eine wunderbare 5-Minuten-Spanne, und man nimmt ebenso dankbar noch den angehängten Tanz mit dem Rhythmus der Pferdehufe entgegen…

Klicken! Lesen!

Man kann sich leicht vorstellen, dass ein solch bunt gemischtes CD-Programm auch Widerspruch erzeugt. Als würde hier auf Biegen und Brechen etwas zusammengebracht, was nicht zusammen gehört, als sei süffiges Lateinamerika die Belohnung für befremdende Asiatica. Und die allzu eiligen Versöhner – das eine wir das andere missverstehend – erwiesen sich doch als die Grobiane, die von den feinen Unterschieden nichts begreifen. Aber da macht man es sich zu einfach und sieht nicht die Arbeit, die in einem solchen Unternehmen steckt, die scheinbar heillosen Diskussionen, die vorausgegangen sind, die gescheiterten Zwischenlösungen, die Skizzen und Vorstudien, aus denen am Ende eine akribisch notierte Partitur hervorging. Und dann kommt jemand und sagt: die Notation ist das Ende aller wildwüchsigen künstlerischen Hoffnungen, die Figur des Dirigenten da vorn erübrigt den Traum einer Gemeinschaft von Individuen und autonomen Künstlern. Wissen wir denn, wie strikt die Regeln der Tradition den Einzelnen bevormunden, welche rhythmischen Freiheiten ein 15/8-Rhythmus dem bulgarischen Trommler überhaupt noch einräumt?

Es sind übrigens gerade die besonders engagiert Musikbeflissenen, die kaum je mit „echter“ Volksmusik zu tun gehabt haben und dann doch als erstes „Authentizität“ einklagen. Auch wenn man den Verdacht hegt, dass sie im Leben nicht eine halbe Stunde opfern würden, um einem bulgarischen Schäfer, der Kaval oder Gajda spielt, aufmerksam zu lauschen. Und gehört nicht die Einsamkeit, die Stille, die Schafherde, der Dorfplatz, die Kenntnis der Tanzschritte dazu? Hat Béla Bartók seine geliebten Bauernweisen etwa einem westlichen Publikum einfach so vorgepfiffen, wie er sie in aller Präzision im Gedächtnis bewahrte? Genau so, wie er sie aufgezeichnet hatte? Nein, er hat sich an den Steinway im Konzertsaal gesetzt, oder ein ganzes Orchester bemüht, um gerade die städtisch geprägten Ohren zu erreichen und zu überzeugen.

Ich habe viel über Bartók nachgedacht, nachdem ich aufgehört hatte, „von fremden Ländern und Menschen“ nur zu träumen und eines Tages sogar in die glückliche Lage kam, für den WDR in die entlegensten Dörfer Rumäniens oder Ostserbiens reisen zu müssen. Oder auch 1974 zum Frühlingsfest in Mazar-e-Sherif, dem heute vielgenannten Ort, der damals noch am Ende der Welt lag, und als ich zurückkehrte, war das für mich die schönste Volksmusik, die ich je gehört hatte, und zwar von Menschen, die mir weniger fremd erschienen als die meines westfälischen Heimatdorfes, wo die Welt noch einfach gewesen war, – nur eben ohne Musik. Bei meinen Großeltern gab es nach dem Krieg immerhin ein von Mäusen zerfressenes Harmonium und eine Fabrikgeige mit dem Zettel „Stradivarius me fecit“. Musik als Rätsel des fernen Vaters.

„Bucimis“ Letzte Seite (51) Fine 9:25 Partitur von Dennis Merz (Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis)

©Dennis Merz

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Ein Versuch zu erklären, weshalb ich in dieser Form über eine so rühmenswerte und schöne Serie von Aufnahmen schreibe, statt den Text auf genau das zu beschränken, was zur Sache gehört. Ich arbeite ja nicht für eine Schallplatten-Revue, verteile keine Noten, mache kein Ranking, würde mir nicht erlauben, den Track 8 negativ zu beurteilen, weil er mich an Operettenstil erinnert; natürlich würde es mich ärgern, wenn jemand eine afghanische Melodie ins Hip-Hop-Genre überträgt, diese Art von Fusion hat eine Null-Bedeutung. Es ist zu leicht, das eine dem andern zu überstülpen, ohne es verstanden zu haben, wenn also nur ein gewisser Wiedererkennungswert ausgenutzt wird. Es kommt auch immer drauf an, wer sich was „unter den Nagel reißt“. Und ich bin nicht prädestiniert, die Reinheit der Musikkulturen zu überwachen, weiß allerdings, dass es angreifbar ist, von einer Kultur in die andere zu switchen, als sei das ein Leichtes, es ist Mangel an Respekt. Wenn jemand den bulgarischen Rhythmus 12 12 123 so interpretiert, dass die 123-Gruppe eine Triole ergibt, so kann ich mich ohne Hochmut distanzieren. Es würde ja bloße Simplifizierung bedeuten, die auf einem Missverständnis beruht. Da hat die Aufklärung immer Vorrang. Andererseits kann ich mich auf einen gewissermaßen egozentrischen Standpunkt zurückziehen: es geht nicht um Schweigen, Abschließen und Verbieten, sondern um Öffnen, Lernen und Kommunizieren. Niemand verlangt die absolute Nachahmung jeder nur möglichen, anderen Kultur, was auch bedeuten würde, eigene Bräuche und Fertigkeiten zu eliminieren oder zurückzudrängen. Daher sage ich lieber: es geht um die Erweiterung der eigenen Musikalität, nicht um die Reduzierung. Daher rede ich von mir, statt allein von anderen Künstlern zu reden, die ich bewundere. Und hier schreibe ich eher ein Logbuch von eigenen Klangreisen, zugleich als einen Kommentar der Reisen, die von anderen real und imaginativ geleistet wurden und die ich letztlich nur indirekt nachvollziehen kann. Nochmal: es geht um Musikalität, – und wie immer und überall: um lebenslanges Lernen.

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Die in diesem umfassenden Sinne anregende und weiterführende, kluge und hochmusikalische CD „Identigration“ …

… kann man natürlich auch bestellen für 22 € (plus Versandkosten) und zwar unter folgender Mailadresse: bestellung@musikverbindet.de /  – dabei nicht vergessen: die eigene Postanschrift für Versand und Rechnung.

Und nochmals sei die anfangs erwähnte CD hervorgehoben: UNKNOWN NEARNESS s.a. hier

Meine Arbeit hat – wieder einmal – keinen Abschluss gefunden, der Mai-Anfang wäre eine günstige Gelegenheit gewesen. Der Frühling macht ernst. Aber wieder einmal gab es die fatale Kollision von Öffentlichem und Privatem, Außen und Innen, das jeder kennt, in meinem Fall quasi symbolisch angezeigt mit einem roten Auge am 1. Mai, der Begegnung mit Zakir Hussain im Internet am 2. Mai (Thema Percussion Global Celebration) und der Lektüre des Tageblattes am 3. Mai (Thema „Identitätspolitik“, es geht „um Kultur, Würde und Anerkennung“ und es ist Internationaler Tag der Pressefreiheit, aber „noch nie gab es so viel Aggression“) und um 9:05 h hatte ich meinen zweiten Impftermin in Solingen-Mitte, der Arzt dort gab Entwarnung bzgl. meines roten Auges. In einer Woche ist das vorbei. Aber morgen könnte Schüttelfrost kommen. Bis jetzt (4.Mai 9:45 h) habe ich Glück gehabt.

Tag der Pressefreiheit

Banalität des Alltags

Identität

„In der Gesellschaft tobt eine Debatte“ s.a. WAZ hier

Passend dazu: eine neue Erinnerung, die Druck macht – zweifellos, es ist Goethes „Faust“!

Aktuelles am 17.5.21 vom Preis der Deutschen Schallplattenkritik

Diese CD stand übrigens auch in der Jury „Traditionelle ethnische Musik“ zur Debatte, dort wurde letztlich – mit gutem Grund – die folgende Sammlung ausgezeichnet:

Weiteres hier – hören Sie dort z.B.

35.

oder

98.

Analyse, Geläufigkeit, Ekstase

Aus einer Neuen Welt (1-4-21 5.30 h)

Ich möchte (zunächst) nur Stichworte sammeln, die den Vorgang bezeichnen, umzudenken. Den Vorgang des Umdenkens zu protollieren. Also: Neues wahrzunehmen, mitzudenken, nach-zu-denken, ohne es mit Hilfe von Stichworten, Etiketten, Schubladen nur abzufertigen, abzulegen, aus dem Gesichtsfeld verschwinden zu lassen. Es solange anzuschauen, bis es seine Sprache zu verändern scheint. Ähnlich, wie ich heute um 5.35 das entfernte Solo eines Schwarzdrosselmännchens  aufgezeichnet habe, das mich seit einigen Tagen beunruhigt. Es war günstig, obwohl es in einiger Entfernung, wenn auch noch greifbarer Nachbarschaft hinter den Häusern erklang. Aber der Gründonnerstagmorgen ansonsten war still, es gab auch noch kein erleuchtetes Fenster irgendwo. Im übrigen hatte ich beim Aufwachen sofort an dieses Keyboard-Solo gedacht, das ich vor drei Tagen kennengelernt und hier zugänglich gemacht hatte. Die drei Worte des Titels schienen mir treffend die Faszination zu bezeichnen, die durch die Musik und die gefilmte Situation der musizierenden Interpreten ausgelöst worden war. Dauer 10:44

Falls es Ihnen wie mir beim ersten Einschalten ergeht (abgesehen von dem Unglück, wenn es mit einer Reklameeinspielung beginnt): ich mag den angeberischen Ton der Trompeten im Bigband-Sound nicht, – bewahren Sie Geduld, es geht zunächst um das Erlebnis des Synthesizer-Solos, danach werden auch die Trompeten anders klingen…

Kein Zufall, dass fast zur gleichen Zeit eine neue zusammenfassende Ästhetik ins Gesichtsfeld tritt, die Aufmerksamkeit fordert. („Wissen im Klang“ 2020)

https://de.wikipedia.org/wiki/Snarky_Puppy Hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Cory_Henry Hier

Dank an JMR (*1.4.66)

„Hier findest Du eine Analyse des Synthesizer-Solos (inklusive
Archivaufnahmen des Organisten im Alter von vier Jahren…)“

https://youtu.be/H5REJ1SXNDQ

Detail um 13:10

Andere Analyse (Transkription des Solos!)

In the Mix: Snarky Puppy – Lingus / Cory Henry Solo

Das Solo plus Notation:

*    *    *

Melodie & Rhythmus

Iran – Südindien

(Vorweg: lassen Sie sich nicht irreführen durch die Mimik des Protagonisten auf den Videos weiter unten, es handelt sich nicht um einen Komödianten, sondern um einen kenntnisreichen Rhythmiker…)

Um einzelne Parameter aus dem Gesamtblock der musikalischen Möglichkeiten herauszuarbeiten – was können wir da tun? Bescheiden bleiben, Pausen einlegen, sich nicht überfordern? Nein, man muss anfangen, an jedem Tag, ab Neujahr und bis Silvester – nicht zu bescheiden, vor allem nicht kleinmütig, aufs Ganze gehen, ziemlich hoch pokern, ja, nach den Sternen greifen, ich sage: alles was ich will ist alles! Ich will teilhaben an allem, was ich greifen (begreifen) kann, ein Stück Holz bearbeiten, einen Fußball auf der Zehenspitze jonglieren, und alles amalgamieren, was Menschen kreativ hervorbringen. Und jeden beobachten, der etwas Unbegreifbares lernt. Ich sage das, aber es gilt für alle.

In etwa dies. Und morgen etwas anderes. Ich erinnere mich zum Beispiel, wie es mich enthusiasmiert hat, als ich die folgende Sammlung entdeckte, das war 1996. Konnte ich ihr als Mensch genügen? Nein, aber immer wieder werde ich darauf zurückkommen, werde mich begeistern für alles, was es in der Musik gibt und was mir etwas gibt. Bis an mein Lebensende, sage ich ohne Übertreibung. Oder soll ich etwa sagen: nein, jetzt ist zu spät? Oder: (noch viel schlimmer): kenn ich schon…

französisch

englisch

Kürzel unter den Artikeln: J.D.= Jean During, J.L.= Jean Lambert

Habe ich an dieser Stelle (Anmerkg. Libanon) nicht damals doch gesagt: kenn ich schon? Gottseidank! Mein gutes Jahr 1969! (Es begann eigentlich 1967.) Das hätte also sein können, – der Name, der da unten in roter Schrift steht, findet nähere Erklärung in dem Blog-Artikel „Arabisches Melisma“ hier.

Ginge es um iranische Musik, hätte ich sicher den Ausdruck „Tahrir“ darübergesetzt, der lexikalisch immer nach Kairo führt, für mich aber vor allem den unvergesslichen iranischen (fast gejodelten) Triller bezeichnet, der also gesungen wird. Ich schreibe es hierher, um mich daran zu erinnern (und an Ali Attar, der vor vielen Jahren eine WDR-Sendung darüber gemacht hat). Merkwürdig, dass diese sehr auffällige und ausdrucksvolle Technik oft sehr beiläufig behandelt wird, wie hier bei dem besten westlichen Kenner iranischer Musik Jean During:

Wichtig: die Ornamentation gehört zum wesentlichen Bestandteil der traditionellen iranischen Kunstmusik. Man kann sie nicht auf punktuell definierte Melodien reduzieren, selbst wenn jeder einzelne Ton manuell angerissen wird, wie bei den Langhalslauten TAR (zwei Klangkörper) und SETAR (ein Klangkörper).

Quelle Jean During: La Musique Iranienne. Tradition et Evolution / ISBN 2 86538-087-4  Institut Français d’Iranologie de Téhéran Bibliothèque Iranienne No.29 [den Autor kennenlernen? Radiosendung in frz. Sprache hier]

Dank für die Links an Manfred Bartmann!

Noch nicht alles verstanden? Vielleicht zuviel verpasst? Also: weiter zurückgehen!

Zur Entspannung: