Archiv der Kategorie: Kammermusik

Bratsche!

Oder Viola?

Dieses gilt wohl als das vornehmere Wort, obwohl natürlich auch das Wort „da bratscho“ nicht aus Köln kommt, sondern korrekt als da braccio italienischer Herkunft ist, jedenfalls keinerlei abfälligen Beigeschmack hat, im Gegenteil, man vervollständigt es gedanklich zu Viola da braccio (siehe hier). Aber im professionellen Bereich sagt man dann doch eher Bratsche als Viola, um jeden Verdacht der Schöntuerei zu vermeiden. In aller Härte nimmt man jederzeit einen Bratschenwitz in Kauf und sagt erst hinterher, um nicht aus Höflichkeit zu lachen: „Kenn ich schon…“ Ich ergänze dieses Repertoire nicht, sondern bitte um Aufmerksamkeit hier und hier. Um dann ein schönes Interview mit Tabea Zimmermann in der nmz hervorzuheben; ich zitiere einen Ausschnitt, würde aber raten, unbedingt den ganzen Beitrag online nachzulesen, – soviel verbale Substanz findet man selten bei Geigenkolleg(inn)en:

nmz: Wer waren die großen Viola-Virtuosen und in welcher Tradition sehen Sie sich selbst?

Zimmermann: Ohne einen Lionel Tertis, der sich das Bratschenspiel selber beigebracht hat, ohne einen William Primrose, der auch ein Autodidakt war, oder ohne einen Yuri Bashmet und natürlich ohne Paul Hindemith wäre das Instrument nicht zu denken. Ich sehe mich in der Tradition Hindemiths, der immer bestrebt war, das Repertoire zu erweitern, der unglaublich viele Uraufführungen gestemmt hat. Ich habe überhaupt kein Interesse daran, immer nur die gleichen Stücke zu spielen. Insofern ist die Bratsche eine tolle Herausforderung. Wenn ich Geige gelernt hätte, hätte ich mich vielleicht mit dem großen Repertoire zufrieden gegeben.

nmz: Was raten Sie Ihren Schülern, die nicht wissen, ob sie lieber die Geige oder Bratsche lernen wollen?

Zimmermann: Wer Bratsche lernen und spielen will, muss die technischen und physikalischen Gegebenheiten viel besser beherrschen als auf der Geige, um mit der Trägheit fertig zu werden, die es einfach gibt und die im Material liegt: längere, dickere Saiten. Wenn man kurze schnelle laute Töne produzieren will, hat man ein echtes Problem. Sofern man schöne melodische Stücke aus der Romantik spielt, ist die Bratsche sehr dankbar. Aber wenn man Virtuosität sucht – und die gibt es vor allem in der neuen Musik zuhauf –, dann muss man auf der Bratsche besser Bescheid wissen als auf der Geige, weil zum Beispiel der Bogen auf der Bratsche von allein nicht hüpft, er hüpft allenfalls piano bis mezzoforte. Wenn ich allerdings laut spielen will, muss ich eine höhere Geschwindigkeit in die Saite bringen und das können echt nur wenige. Man muss die physikalischen Gesetze sozusagen übertrumpfen bei der Bratsche, um sie richtig zum Klingen zu bringen. Wenn man das erreicht, macht es wahnsinnig viel Spaß, das Instrument zu spielen.

Quelle Neue Musikzeitung nmz  Ausgabe 3/2019 – 68. Jahrgang: „Das Klassik-Geschäft ist ein schmutziges geworden“ Die Bratschistin Tabea Zimmermann im Gespräch (Autor: Burkhard Schäfer) online abrufbar HIER.

Um zwei Tönchen streiten?

Anna Magdalena ist schuld

Zwei wunderbare Interpretationen und doch ein schwerwiegender Unterschied im Notentext. Hören Sie’s? Im letzten Abschnitt der Komposition…

Zur Einführung in die Problemlage des „Urtextes“ (es gibt kein Autograph der Cello-Suiten von der Hand Johann Sebastian Bachs – wie im Fall der entsprechenden Violinwerke – sondern nur eine Abschrift seiner Frau Anna Magdalena sowie eine weitere durch Johann Peter Kellner). Siehe auch NMZ Besprechung der Bach-Ausgaben (Gerhart Darmstadt 2001) hier

Worum geht es mir in diesem Artikel? Der letzte Abschnitt der Sarabande sieht in der alten Bärenreiter-Ausgabe (von August Wenzinger 1950) so aus:

Wenn in der zweiten Zeile statt der hier abgedruckten Version die folgenden Töne (grün eingekreist) gespielt werden, tut mit das weh. Was allerdings kein Grund ist, auf der gewohnten Version zu bestehen. Ich bin kein Cellist und übe das Werk erst seit ein paar Monaten auf der Bratsche; ich hätte keine uralten Gewohnheiten abzulegen, wie im Fall der Schwesterwerke für Violine, wo es einen ähnlichen Dissens gibt.

Jetzt vergleiche man die beiden Abschriften, die vorliegen, zuerst Anna Magdalena Bach, dann Johann Peter Kellner.

 Anna Magdalena Bach Johann Peter Kellner

Die digitalisierte Kellner-Version hat im Leipziger Archiv den folgenden Textzusatz:

Gibt es einen Grund, Kellner weniger vertrauenswürdig zu finden als Anna Magdalena? Woher kommt die Entscheidung, die Version Anna Magdalenas (der – verzeihlicherweise – viele Fehler unterlaufen) zu favorisieren? Fast immer stößt man im Lebenslauf der Cellist(inn)en, die es so halten, auf den Namen von Anner Bylsma, den Übervater aller „historisch informierten“ Barock-Cellisten. Auch mich hat er bei der ersten Begegnung (Collegium Aureum Beethoven Tripel-Konzert 1974 siehe hier) als Künstler und als Mensch vollkommen überzeugt, ja, begeistert. Aber das heißt nichts in Fragen der Wissenschaft!

Im folgenden Film kann man die Noten der Sarabande mitlesen:

Inbal Segev bezieht sich dezidiert auf Anner Bylsma, wenn man einmal in die Quellenangaben unter ihrem Youtube-Video schaut:  “The Fencing Master” and the sequel, “Bach and the Happy Few,” are both must reads if I may say so, written by THE baroque cellist of our time, Anner Bylsma. Andererseits spielt sie nicht die gleichen Töne, die er seine Schüler lehrt, zumindest in Takt 26 hört man zwei verschiedene Versionen:

Und diese Konfusion ist kein Zufall, sie liegt in der Luft, auch wenn man Bylsmas Gesang mit allerbestem Willen entschlüsseln will. Was soll denn durch imaginäre Töne bewiesen werden?

Die Leute glauben an die gedruckte Fassung, wenn sie von einem bekannten Namen beglaubigt ist, und so bestätigt auch die Saxophon-Fassung von Raaf Hekkema (Surround 2017) den Notentext der oberen Zeile (Bylsma), während die untere Version (Segev) zwar auf derselben Grundlage, aber wohl irrtümlich entstanden ist. Nur keine Sorge: die mit Fehlern behaftete Version Anna Magdalena Bachs gebiert dank mangelnder Plausibilität beliebig neue Versionen, die wiederum – je nach Prestige der Interpretin, des Interpreten – Nachahmer finden wird.

Selbstzweifel

Ich habe die beiden Schriften von Anner Bylsma nicht gelesen, ich kenne auch keine spezielle Abhandlung über Anna Magdalena Bachs Fehler oder die erstaunlichen Lernprozesse  in den ersten Jahren ihrer Ehe, ich habe mich nicht mit der Geschichte der Vorzeichen in der Notenschrift beschäftigt (die merkwürdige Sache, dass das Auflösungszeichen, das aus dem Buchstaben h entstanden ist, ebenso eine Vertiefung wie eine Erhöhung des vorher gebrauchten Tones bedeuten kann). Aber wenn mir eine andere Position zu Ohren kommt und nicht einleuchtet, – wie z.B. in den von Bylsma gesungenen Tönen – ziehe ich daraus meine (vorläufigen) Schlüsse. Auch die Basslinie, die er in den Takten 17 ff singt, liegt auf der Hand (Inbal Segev hat sich dieselben Töne in die Noten eingetragen), eine Binsenweisheit: es gelten dennoch nur die Töne, die ER geschrieben hat, und das Publikum muss gar nichts anderes imaginieren als das, was in diesen Tönen und ihrer hörbaren melodischen Verbindung liegt.

Die Töne, die nun aus Anna Magdalenas Handschrift herausgelesen wurden (siehe erste Zeile meines letzten Notenbeispiels) halte ich für falsch, weil sie nicht zu Bach passen. Eine Tonerhöhung, die hier modulatorisch eine Öffnung nach oben bezeichnet, also über h zum c, im nächsten Schritt durch ein neues b zu widerrufen, ihm dennoch wieder ein c folgen zu lassen, – ein so differenziertes Schwanken wäre impressionistisch inspiriert, wenn man es positiv sehen wollte, – besser gesagt aber: anachronistisch (siehe César Franck Klavierquintett). Daher wirkt die von Segev intuitiv (?) anders gespielte zweite Figur scheinbar überzeugender: zuerst das c, dann das cis, welches zum d weitertreibt. Allerdings ist die genaue Sequenz zum Takt vorher zerstört. Eine Selbstwiderlegung auf engstem Raum.

Vielleicht klingt all dies apodiktischer als es gemeint ist. Aber man kann es nun mal nicht ernst meinen und zugleich sagen: auch das Gegenteil könnte wahr sein. Nur ein Satz ist ausgeschlossen: dass es nicht so drauf ankommt, – was sind schon zwei Tönchen… Ausgeschlossen, dann kann man sich auch alle andern sparen. Und auch jedes Wort.

Was Bach wirklich gemeint haben könnte, ergibt sich aus der Kellner-Abschrift. Für einen Geiger vielleicht ebenso überzeugend noch aus einer anderen Quelle, – ich kopiere aus meinen Übe-Noten:

Eine zentrale Stelle in der Sarabande der Partita II d-moll BWV 1004. (Vergleiche die Weiterführung des B-A-C-H-Themas in der „Kunst der Fuge“).

Wie sehr Bach in solchen Fällen an einer zielsicheren und nicht schwankenden Chromatik lag, sieht man exemplarisch auch im folgenden Fugenthema:

Und noch ein Beispiel, das unmittelbar zu unserer Sarabande zurückführt, vielleicht auch in die Zeit vor den Cello-Suiten: Englische Suite III g-moll BWV 808:

Das sind keine Beweise, aber starke Hinweise, weil durchaus Parallelstellen: Bach erhöht keine Note, um das damit avisierte Ziel im gleichen Atemzug zu negieren. (Es sei denn, er verbindet damit eine symbolische Aussage; dazu fällt mir allerdings kein Beispiel ein. Und ich würde es nur einem Faksimile seiner eigenen Handschrift glauben!) Nebenbei: auch das von mir eingezeichnete B-A-C-H halte ich nicht für beweiskräftig im strengen Sinn; ich nehme es nur zur Kenntnis.

Gerhart Darmstadt scheibt in dem (lesenswerten) Text zu seiner (hörenswerten) Aufnahme der Suiten Nr. 1, 3 und 5:

(…) Johann Friedrich Agricola (1775, 527) berichtet (…, dass Bach seine Violin-Solowerke selbst oft auf dem Clavichorde spielte, dabei aber von Harmonie so viel dazu beyfügte, als er für nöthig befand. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Bach einiges Nötige für die Violine nicht schrieb, sich in der Kunst des Weglassens übte. Es war die Aufgabe des gebildeten Spielers und Zuhörers, dieses Nötige klanglich und gedanklich zu ergänzen. Noch viel mehr gilt dies für die Violoncellosuiten. Erst dann, wenn man sich beispielsweise auf die Suche nach durchgängigen Orgeltönen oder Basslinien macht, erschließt sich ein vollständiger Sinnzusammenhang. Man kann sogar sagen, dass es ein Hauptmerkmal des linearen Kontrapunkts (Ernst Kurth 1917) ist, mit der Illusion des Weggelassenen zu arbeiten. Die Faszination dieser Musik, ihre wahre Größe, wird dann offenbar, wenn man die eigentliche Hörerwartung im Fortschreiten einer Linie mit dem vergleicht, was Bach daraus machte, in welch raffinierter Weise er z.B. die eigentliche Hörerwartung nicht erfüllt, den Hörer quasi „in die Wüste schickt“, um ihn ganz überraschend wieder zu erlösen.

Quelle Booklet Gerhart Darmstadt zu Cavalli-Records CCD 126 Seite 3 Bamberg 2004

Das erinnert etwas an Anner Bylsmas im Video festgehaltene Ausführungen, und ich erlaube mir ein vorsichtiges Fragezeichen hinter die avisierte  Hörerpsychologie zu setzen. Ich könnte behaupten, dass Bach nichts wirklich Nötiges weggelassen hat, und dass niemand sagen kann, wie der Komponist eine mit wenigen Tönen angedeutete Bassstimme real ausgeführt hätte. Es ist keine Notlage, die ihn zwingt, alles mit einem (dafür nicht geeigneten) Instrument zu sagen. Ein PARADOX, das bleiben muss. Zu den  widerborstigen Anregungen Ernst Kurths gehört in diesem Sinn, dass auch ein einstimmig entfalteter Dreiklang – wie im Presto der Sonata I (BWV 1001) – als Linie gilt, die sich quasi zufällig der Töne des Dreiklangs bedient. Selbst eine Fuge kann den Druck der Mehrstimmigkeit transzendieren, wenn der Heilige Geist es will. Um hier einen Passus zur Fuge in BWV 1005 zu zitieren:

Die beiden einstimmigen Zwischenspiele aus  Bachs C-Dur-Fuge gehören zu den größten Wundern melodischer Kunst. Es sind eigentlich nicht Zwischenspiele, sondern geradezu einstimmige Fugendurchführungen.

Quelle Ernst Kurth: Grundlagen des linearen Kontrapunkts / Krompholz Bern (1948) Seite 322

Aber Gerhart Darmstadt hat völlig recht, an den musikalischen Denker und sein großes Buch zu erinnern. Ich will das nicht mit ein paar Worten abtun. Illusion könnte das Stichwort sein. Kurth spricht von „Scheinpolyphonie“, von Realstimme und Scheinstimmen.

Zu den zartesten Feinheiten der ganzen Bachschen Linienkunst gehört aber das Erstehen solcher heraustretender Scheinstimmen selbst und ebenso die Art, wie sie sich verflüchtigen; ihre Auslösung von der Realstimme und wieder ihr Verschwinden geschieht nämlich oft so unmerklich, daß selbst für einen geübten Blick die Nebenstimmen zu verschwimmen scheinen, wenn man sie zurück an ihren ersten Ursprung verfolgt oder ihren letzten Verlauf bis zur Einmündung in den Hauptstrom der real erklingenden Stimme.

Quelle Ernst Kurth: a.a.O. Seite 328

Ich verliere mich. Der Ausgangspunkt meiner Fragen war ganz woanders: ich wollte wissen, welchen Grad von rhythmischer Freiheit sich verschiedene Interpreten in den „einleitenden“ Praeludien erlauben. Ich glaube nicht, dass sie durchgehend motorisch aufzufassen sind, sondern als freie, quasi improvisierte Fantasien, wie die großen Orgelwerke. Und da glaubte ich am ehesten bei Anner Bylsma fündig zu werden, stieß auf seine Version der Sarabande – und konnte meinen intuitiven Widerstand absolut nicht ignorieren. Insbesondere als ich bemerkte, dass diese seltsame Auffassung der Schreibweise Anna Magdalena Bachs offenbar Schule macht.

Es ist noch nicht aller Tage Abend…

Tschaikowsky (Text JR 2003)

Das Leben – ein Traum – ein Trio

 Nikolai & Anton Rubinstein (1862)

Ein schöner Frühlingstag des Jahres 1873 in den Spatzenbergen bei Moskau. Die Gärten sind weiß und gelb von Blumen, die Sonne strahlt, die Bauern und Bäuerinnen flanieren über den Dorfplatz, drüben sitzen „bessere Leute“ aus der Stadt und sind ausgelassener Stimmung. Der Wortführer heißt Nikolai Rubinstein, – Pianist und Dirigent -, in seiner Nähe sitzt Peter Iljitsch Tschaikowsky. Anlass des gemeinsamen Ausflugs ist die erfolgreiche Uraufführung der Bühnenmusik zu Ostrowskys Frühlingsmärchen „Schneeflöckchen“ unter Rubinsteins Leitung. Der ganze Hochschulclub ist dabei. Dass Tschaikowsky seit 1866, direkt nach seinem Studienabschluss in Petersburg, als Lehrer im neugegründeten Moskauer Konservatorium arbeiten konnte, hatte er dem 5 Jahre älteren Rubinstein zu verdanken, der ihn sogar bei sich wohnen ließ und in fast erdrückender Weise umsorgte. Ein Biograph erzählt:

„Zu der Zeit, als Peter Iljitsch in Moskau eintraf, trieb Nikolaj stürmisch und mit vollen Segeln auf dem Strom seiner geliebten Arbeit dahin, für viele Stunden des Tages, denen lange Nächte folgten, die dem Kartenspiel, dem Trunk und allen möglichen Affären … gewidmet waren. Von den Lehrern, die er mochte, verlangte er, dass sie nach dem Unterricht seine Zechkumpanen wären. Den zurückgezogenen und linkischen Peter Iljitsch liebte er und glaubte, zu seiner Freude, in ihm das gleiche Talent für Gastereien und eine ihm gemäße Aufnahmefähigkeit für Alkohol entdeckt zu haben. Diese Freundschaft beeinflusste jedoch nicht seine musikalischen Grundsätze, und lange Zeit war sein Urteil über den Komponisten Peter Iljitsch durchaus unschlüssig, ja unfreundlich.“1

Um 1871 hatte sich das bereits geändert. Tschaikowskys wachsende künstlerische und menschliche Unabhängigkeit drückte sich auch darin aus, dass er, ohne die Freundschaft zu kündigen, endlich räumliche Distanz herstellen konnte, er zog in eine eigene Wohnung, und er begab sich auf Reisen, er wurde zu einem monomanisch Reisenden: allein in diesem Jahr 1873, das die Freunde in den Spatzenbergen bei Moskau vereinte, sah er Kiew, Krakau, Breslau, Dresden, Köln, Zürich, Bern, Vivey, Genf, Mailand und Paris. Dabei liebte er die Stille und die Einsamkeit der Natur, die „herrlichen Oasen der südrussischen Steppen“: die ihn in eine exaltiert-selige Stimmung versetzen; „… und in den Nächten lauschte ich am offenen Fenster der feierlichen Stille ringsum, welche nur hin und wieder durch irgendeinen unbestimmten Laut unterbrochen wurde.“2

Sein Freund Nikolaj hält es mehr mit den handfesteren Vergnügungen des Landlebens bei Moskau; an besagtem Frühlingstag lässt er Alkohol, Gebäck und Süßigkeiten herbeischaffen und lädt das ganze Dorf ein. Die Bauern lassen sich nicht lange bitten, sie wissen, dass der Herr ihre Lieder liebt, sie singen und lassen sich zu Rundtänzen ermuntern.

Man kann sich die Bemerkungen der Musiker leicht vorstellen, damals wie heute, zwischen Staunen und Irritation: „Wo liegt denn die Eins? Ziemlich irregulär, ohne klare Periodik, ist das nun Absicht oder Zufall? Raffinesse oder Ungeschick? Sie singen doch, als könnte es gar nicht anders lauten“ usw. wie auch immer – bei einem Musiker hinterlässt all dies Spuren.

Es ist zwar kaum anzunehmen, dass Tschaikowsky das Variationsthema seines Klaviertrios bei dieser Gelegenheit notiert hat; sicher ist nur, dass das Thema ungewöhnlichen Mustern folgt und von Freunden gerade mit diesem Ausflug zu den Spatzenbergen in Zusammenhang gebracht wurde. Was ist ungewöhnlich?

Die 20 Takte des Themas bestehen aus 10 Zweiergruppen, die wiederum in 3 plus 3 plus 4 gegliedert sind. „Normalerweise“ erwartet man nach der ersten Zweiergruppe, die sich öffnet, eine zweite, die zu einem Halbschluss führt, eine dritte würde in der Dominante oder jedenfalls einer parallelen Tonart stehen, eine vierte in die Ausgangstonart zurückführen.

In Tschaikowskys Thema folgt auf die eröffnende Geste eine zweite Geste, die, ebenfalls öffnend, in eine andere Richtung weist, und erst die dritte führt zum Halbschluss; dann wird die erste wiederholt, die zweite verändert, die dritte zu einem Schluss geführt, – 12 Takte.

Ein neuer Ansatz, der in der Dominanttonart beginnt, bringt in nunmehr 8 Takten gewissermaßen eine Regularisierung: zunächst eine Variante der eröffnenden Geste, die beantwortet und zugleich durch Akzente intensiviert wird; die weiteren 4 Takte sind eine Reprise – oder sollte man sagen: eine Korrektur? – des ganzen ersten, „irregulären“ Teils. Dessen erste und letzte Zweitaktgruppe werden nahezu unverändert aneinandergefügt, unter Verzicht auf alle Zwischenschritte.

Solche Worte wirken auf dem Papier kalt analytisch, aber auch mit lebendigem Ohr kann man diesem Melodiebau folgen wie einem durch seltsame Einschübe erweiterten Satzbau. Allerdings gibt es dabei noch eine kleine Irritation: man weiß nicht genau, wie der Takt zu zählen ist. Deutet man den Auftakt von zwei Vierteln als Teil eines Dreiertaktes, da ja zwei Dreiertakte zu folgen scheinen, gerät man unweigerlich aus dem Tritt, wenn danach wieder die zwei „Auftakt“-Viertel zu hören sind, wieder verbunden mit der gleichen Notengruppierung wie vorher. Unwillkürlich projiziert das Ohr einen Taktwechsel hinein: 2/4, 3/4, 3/4; 2/4, 3/4, 3/4. In Wahrheit ist ein 4/4 Takt notiert. Ihn nicht zu erkennen, ist allerdings keine Schande, – genau diesen Schwebezustand hat Tschaikowsky ereichen wollen, indem er die „falschen“ Akzente gesetzt hat. Und der Reiz der Variationen liegt nicht zuletzt darin, wie diese fragile Balance durchschimmert, wie sie umgedeutet oder stabilisiert wird: im Walzertakt, in rauschenden Festklängen, in eleganten Mazurka-Rhythmen und in mystischer Todesnähe. Die immer bedrohte Balance eines Lebens, das von der Musik, vom Klavierspiel, von der gebildeten städtischen Gesellschaft getragen wird – und von einem Faible für das Land, die Erde und die einfachen starken Gefühle.

Wohl zum erstenmal wurden in der Aufnahme des Abeggtrios die Metronom-vorschriften des Komponisten genauestens realisiert, – und gerade das Variationenthema erscheint nun in einem neuen Licht: es ist nicht die pianistisch spitzfingrige Herrichtung eines Bauerngesangs für den Salon, es ist die melancholische Evokation einer fernen, rätselhaften Schönheit.

Was für eine Idee, einen ganzen Satz aus diesem Traumgebilde erwachsen zu lassen, Variation für Variation, alle Spiegelungen und Brechungen eines 1881 zeitgenössischen Bewusstseins, das sich in Moskau allen Metropolen des Westens verbunden weiß!

Nikolai Rubinstein hatte in den frühen Moskauer Jahren sämtliche Uraufführungen Tschaikowkys dirigiert, die ersten 4 Sinfonien, später die Oper „Eugen Onegin“ (1878) und all die anderen Bühnenmusiken; als Pianist hatte er die Solo-Klavierwerke in Konzerten vorgestellt, er propagierte Tschaikowsky, wo er konnte, er beriet ihn, und – er bevormundete ihn bis zum Überdruss. Einen Eklat gab es beim ersten Klavierkonzert (1875), dem später so berühmten, das Rubinstein gewidmet sein sollte. Der aber fand das Werk indiskutabel und verlangte eine Umarbeitung. Der tief gekränkte Freund lehnte ab und fand Genugtuung bei Hans von Bülow, dem großen Pianisten und Dirigenten, der in dem Manuskript ein „herrliches Kunstwerk“ erkannte, „hinreißend in jeder Hinsicht“. Es wurde ihm gewidmet, und er brachte es im Oktober 1875 in Boston erfolgreich zur Uraufführung. Zur Ehre Rubinsteins sei erwähnt, dass er seinen Fehler erkannte und das Konzert alsbald ins Repertoire aufnahm. Bei der Weltausstellung in Paris 1878 gab er einen aufsehenerregenden Abend mit Klavierwerken Tschaikowskys; dessen Dankbarkeit war allerdings von widersprüchlichen Gefühlen durchsetzt: „Welch ein seltsames und dunkles Menschenherz! Mir schien immer, zumindest für längere Zeit, dass ich ihn nicht liebe, aber neulich träumte mir, er sei gestorben, ich war völlig verzweifelt. Und seitdem kann ich nicht ohne ein Gefühl der Liebe an ihn denken.“ 3

Drei Jahre später übte Nikolaj bereits am zweiten, nun wirklich ihm gewidmeten Klavierkonzert, aber zu einer Aufführung kam es nicht mehr. Er musste sich in ärztliche Behandlung nach Paris begeben und starb dort am 23.März 1881, noch ehe Tschaikowsky, der in Nizza erfahren hatte, wie ernst es um den Freund stand, in Paris eintreffen konnte.

Genau 8 Jahre waren seit dem gemeinsamen Ausflug in die Spatzenberge vergangen, und die gemeinsamen Erlebnisse mögen Tschaikowsky auf seiner Reise beständig durch den Kopf gegangen sein. In Worten gelingt ihm in diesen Tagen nur der karge Versuch, die berufliche Funktion des Verstorbenen zu würdigen:

„Ich habe ihn als Förderer immer hoch geschätzt, aber ich hatte, besonders in der letzten Zeit, kein Gefühl der Liebe zum Menschen Rubinstein. Jetzt zählen nur noch die künstlerischen Seiten, und die sind mehr wert als seine schwachen Seiten. Seine gesellschaftliche Bedeutung erfüllt mich mit Furcht über seine Unersetzlichkeit.“4

So halbherzig dies klingt, er fasste zugleich den Entschluss, dem Förderer, Freund und Menschen ein musikalisches Denkmal zu setzen, und die schiere Größe dieses Denkmals relativiert alle verbalen Äußerungen. Die Widmung „A la mémoire d’un grand Artiste“ erlaubt allerdings, die Musik des Klaviertrios über diesen einen Künstler hinaus auf den Künstler schlechthin zu beziehen, auf Leben und Tod, ja, auf die Erinnerungsarbeit des komponierenden Ichs.

In der Tschaikowky-Literatur taucht das Wort Identifizierung auf, auch von Masken ist die Rede. In der zerrissenen Seele Eugen Onegins (1878) fand er sich ebenso wieder wie in der klaren Gestalt der Tatjana.

Der naiv-pädagogische Kommentar, den Tschaikowsky für Frau von Meck zu seiner 4. Sinfonie (1878) schrieb, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Position des schöpferischen Subjekts gegenüber dem „Stoff“, dem „Anderen“.

„Gehen Sie unter das Volk. Schauen Sie, wie gut die Leute es haben, wie sie sich ihrer Freude hingeben! Ein Bild von einer Volksbelustigung an einem Feiertag. Kaum haben Sie aber Gelegenheit gehabt, sich selbst zu vergessen, als das unermüdliche Fatum aufs neue erscheint und sich wieder in Erinnerung bringt. Die anderen schenken Ihnen jedoch keine Aufmerksamkeit. Sie wenden sich nicht einmal um, werfen nicht einen Blick auf Sie, beachten nicht, daß Sie einsam und traurig sind. O wie lustig jene sind! Wie glücklich sie sind, da ihre Gefühle ursprünglich und unkompliziert sind. Schelten Sie sich selbst und sagen Sie nicht, dass die ganze Welt traurig sei. Es gibt große und schlichte Freuden. Gewinnen Sie Glückseligkeit aus den Freuden der anderen. Und das Leben ist doch zu ertragen!—“5

Hier ist vom „Volk“ und seinem mutmaßlichen Glück die Rede, in den Spatzenbergen waren es die Bauern mit ihren Liedern, all dies im Kontrast zum stillen Beobachter und zu Nikolai Rubinstein, dessen lärmendes Temperament von Natur aus zur Feier des Augenblicks neigte, – vor dem Hintergrund seines Todes muss daraus ein Bilderbogen des Lebens werden. Es ist müßig , in den einzelnen Variationen biographische Episoden zu suchen; Tschaikowsky spottete über entsprechende Versuche der Kritiker und Freunde. In der Tat, der Klang der Glöckchen könnte eine Schlittenfahrt bedeuten (Var. V), von wo nach wo, wäre bereits völlig uninteressant. Der hinreißende Walzer (Var. VI) würde nichts gewinnen, wenn man ihn im Saal des Fürsten X lokalisieren könnte. Das rauschende Fest (Var.VII) mit der atemlosen Freude der Fuge (Var. VIII), die in der finalen Variation noch überboten wird, – was könnte eine konkrete Zuordnung bringen angesichts der jenseitig-beklommenen Vision des Endes, die dann folgt (Var.IX)? Horror vacui, Nebelfetzen im Klavier, die Streicher mit Dämpfer, lamentoso, flebile, es ist nichts als ein Abtasten des Tonraumes, aufwärts, abwärts, die Geige allein, das Cello allein, dann beide im Wechsel und schließlich gemeinsam.

Das kann doch nicht alles gewesen sein? Szenenwechsel:

Klavier solo (Var.X), das ist Nikolaj Rubinstein, Tempo di Mazurka, das ist Chopin! Tschaikowsky mochte Chopin nicht besonders, ihn störte da eine „krankhafte Empfindsamkeit“, und erst Rubinsteins Chopinspiel belehrte ihn eines anderen. Die Mazurka also als Dank und Rückgewinnung des Lebens. Wie lange noch?

Ein Klaviertrio als Übermittler eigener Gedanken war für Tschaikowsky bis dahin nicht in Frage gekommen. „Sie fragen, warum ich kein Trio schreibe? Es ist so, dass in meiner akustischen Anlage die Klänge von Klavier und Streichinstrumenten einander abstoßen, und es ist für mich eine Qual, ein Klaviertrio, oder eine Sonate für Violine oder Violoncello zu hören…“ (an Frau von Meck 24.10.1880) 6

Der Freund und Kollege Nikolaj Kashkin berichtet von den Gründen, die ihn dennoch umgestimmt haben: im Andenken an den Pianisten Rubinstein war es ihm „unmöglich, ein Werk zu komponieren, in dem das Klavier n i c h t die Hauptrolle spielte. Gleichzeitig sagte er, ein Konzert für Klavier und Orchester oder eine Fantasie sei zu pompös und festlich. Ein einzelner Flügel befriedigte ihn auch nicht, so dass ihm schließlich die Form des Trios akzeptabel erschien.“7

Wenn es bis hierher so schien, als könne man das Lied von den Spatzenbergen (ob man es so nennen darf, ist natürlich völlig ungesichert) mit seinen Variationen als Zentrum des Klaviertrios ansehen, so ist eine Korrektur fällig:

Wer auch immer sich nach längerer Zeit Tschaikowskys Klaviertrio in Erinnerung ruft, dem werden zwei andere Phänomene als zentral erscheinen: eine überwältigende Melodie und eine damit verbundene Formidee; – die Formidee der zeichenhaften Wiederkehr dieser Melodie. Es ist das elegische Hauptthema, mit dem das Werk anhebt, später seine im Ausdruck und im Tempo zurückgenommene Reprise („con duolo“ – mit Schmerz), letzte Anklänge in der Coda des ersten Satzes; schließlich seine extensive Fortissimo-Beschwörung nach den Variationen, also am Ende des ganzen Werkes, denn die letzte Variation ist zu einem Finale erweitert, übergehend in den abschließenden Trauermarsch („lugubre“ – düster), der Fragmente des Themas zum Verlöschen bringt („piangendo“ – weinend).

Das Aufblühen am Anfang, das Verlöschen am Ende und die Kennzeichnung des ganzen Werkes als Epitaph vermittelt die Suggestion, dass die Geschichte dieses Themas die Geschichte eines Menschen nachzeichnet, – aber bei dieser Ahnung kann man es auch bewenden lassen: es ist zwar möglich aber nicht notwendig, einzelne Episoden zu benennen, sie sind in jedem Fall vorrangig nach rein musikalischen Prinzipien geordnet. Und dass die Sonatenform mit ihren kontrastierenden Themen und der motivisch-thematischen Arbeit in der Durchführung prinzipiell als Drama gedeutet werden kann und somit auch als Lebensdrama, ist eine triviale Tatsache, man muss nicht immer aufs neue versuchen sie zu verifizieren, als gelte es, die segensreiche Abstrahierung der Musik vom Alltäglichen wieder rückgängig zu machen.

Das Prinzip der bedeutsamen Wiederholung, das die Form des ganzen Trios kennzeichnet, – verschränkt mit dem Variationensatz, der in seinen Variationen die Metamorphose eines anderen Themas erleben lässt – , prägt bereits das Hauptthema selbst:

Es beginnt nicht auf dem Grundton, sondern auf der Quinte: dieser Ton, der über dem Grundton schwebt, wird umkreist mit einer Formel, die Klagecharakter hat; der Abstieg zum Grundton wird durch einen Vorhalt gedehnt, der zugleich den Trend zum „ergebnislosen“ Wiederaufstieg vorbereitet: was wie eine These begann, wird in eine Frage verwandelt, stimuliert durch die scheue Behandlung des Grundtons und eine sanft erregte, kreisende Figur, die mit der anfänglichen Klageformel korrespondiert. Ein neuer Versuch: der gleiche melodische Vorgang, vier Töne höher wiederholt, leuchtender also, aber in der dunkleren Tonart der Unterdominante; der Frage muss eine neue Richtung gegeben werden, und jetzt folgt der geniale Moment, der die Melodie unvergesslich und nahezu unbegrenzt wiederholbar macht: ihr neuer Ansatz, die absteigende „orientalische“ Geste mit dem übermäßigen Tonschritt, in zwei Anläufen, dieser Ton des Jammers, der dem Westen nur durch Beethovens Streichtrio op.9 Nr.3 und das späte Cis-Moll-Quartett im Ohr ist, er wird überwunden durch eine wunderbar erlösende Wendung nach Dur, einen absteigenden und jubelnd wieder aufsteigenden, „winkenden“ C-Dur-Dreiklang; dann folgt die gleiche Wendung in a-Moll, beides wird verkürzt rekapituliert und mit einem sogenannten „Neapolitaner“ ausdrucksvoll zur Schlusskadenz geführt.

Die Melodie hat also Anfang und Ende, sie birgt bereits ein reich bewegtes Leben; es scheint nur natürlich, dass sie nach der Präsentation in den Streichern vom Klavier vollständig wiederholt wird, – mit Ausnahme des „finalen“ Neapolitaners. Er fehlt, weil es weitergehen soll, – aber dies ist in der Tat das Problem einer ausgeprägt schönen Melodie am Anfang eines Sonaten-, Trio- oder Quartettsatzes, dass ihre Wiederholung und ihre Wiederkehr jederzeit einleuchtet, dass aber der Weg hinaus einer besonderen Anstrengung bedarf, die nicht immer belohnt wird, die sich jedenfalls zur Kritik anbietet.

Tschaikowsky führt an dieser Stelle ein neues bewegtes Motiv ein und setzt es in Beziehung zum Beginn des Hauptthemas („Klageformel“), das nach dem Muster des Anfangs („vier Töne höher wiederholt“) verarbeitet wird. Eine Sequenz entsteht, verbündet sich – wie so oft bei Tschaikowsky – mit Motivverkürzung, Crescendo und Accelerando, so dass der Eintritt des prächtigen zweiten Themas als erwünschtes Ziel erscheint. Wirkt es auch im nachhinein zwingend?

Vielleicht ist es eine Sache der Interpretation (in Wort und Ton), ob die Wiederholungen innerhalb dieses prächtigen Themas, – fortissimo und pesante -, eine neue Intensität erzeugen oder, in Erinnerung an die zerklüftete Schönheit des Anfangs, schlicht als Niveauverlust erscheinen.

Man denke an andere große Trios: an Mendelssohns „Meistertrio der Gegenwart“, wie Schumann es seinerzeit nannte, d-Moll, op. 49; es beginnt mit einem außerordentlich weit gespannten Thema, das am Ende fast ins Stocken gerät und mit Peitschenhieben des Klaviers auf Trab gehalten wird. Letztlich ist es der durchgehende Agitato-Charakter, der die Form vorantreibt.

Oder Beethovens „Erzherzog-Trio“, op. 97, das Non-plus-ultra im frühen 19. Jahrhundert: wie er sein herrlich anhebendes Thema schon nach acht Takten unter emphatischen Rufen von Cello und Geige innehalten lässt und bei der Wiederholung sogleich mit „störenden“ Akzenten versieht; alles was er tut, verlangt nach Aufklärung, die er in immer neuen motivischen Gestalten verspricht und gewährt, aber der Durst nach einer ganzheitlichen Form dieses Themas wird nicht gelöscht, nicht einmal in der Coda, wo man allerdings dankbar und befriedigt von ihm Abschied nimmt. (Völlig unvorstellbar jedoch, dass es am Ende des letzten Satzes wiederkehren würde, – warum? Dies zu erkunden und zu Tschaikowskys hochromantischem Vorgehen in Beziehung zu setzen, wäre eine eigene musikphilosophische Aufgabe…)

Niemand wusste besser als Tschaikowsky selbst, wo die Schwierigkeiten musikalischer Form bei zunehmend ausgeprägter Subjektivität lagen, und er neigte dazu, sie vollständig als eigene Schwäche zu deuten, was von Kritikern dankbar aufgegriffen wurde: er schrieb zu gute Melodien, – Melodien, die sogar „der kleine Mann“ versteht, da konnte nicht alles geheuer sein. Tatsächlich musste er sich die große Form mühsam auf der Grundlage zutiefst durchlebter Entwürfe erarbeiten.

Tschaikowsky: „Ich kann mich über eine karge Erfindungsgabe und Einbildungskraft nicht beklagen, habe jedoch immer unter mangelnder Gewandtheit in der Behandlung der Form gelitten. Nur in andauernder hartnäckiger Arbeit habe ich es dahin gebracht, Formen zu vollenden, die bis zu einem gewissen Grade dem Inhalt entsprechen. Allzu unbekümmert habe ich früher nicht erkannt, wie ungeheuer wichtig die kritische Überprüfung meiner eigenen Entwürfe ist. So konnte es geschehen, dass aufeinanderfolgende Teile nur locker zusammengefügt und Nahtstellen stets sichtbar waren. Das war ein schwerer Fehler, und es hat mich Jahre gekostet, bis ich überhaupt begonnen habe, ihn zu korrigieren. Jedoch werden meine Kompositionen niemals Vorbilder der Form sein…“ 8

Er hat sich geirrt. Das Klaviertrio wurde auch in dieser Hinsicht sein erstes großes Meisterwerk.

Dass es unter diesem Aspekt heute mühsam wiederentdeckt werden muss, liegt paradoxerweise an der Popularität Tschaikowskys; sie hat ihn nahezu unkenntlich gemacht. Ähnlich wie bei Brahms, aber in der Wirkung verhängnisvoller, hat die Leidenschaft seines Tones die meisten Interpreten animiert, diesen Ausdruck der Leidenschaft bis in den Exzess, bis ins Hysterische zu treiben und die klaren formalen Konturen zu ignorieren. Dazu kommen ein paar biographische Momente, die seltsame Beziehung zu Frau von Meck und ein Schuss Laienpsychologie, schon glaubt man einen analytischen Zugang zur Musik gefunden zu haben.

Die musikalischen Funktionalisten der 60er Jahre hatten leichtes Spiel, die Liebe zu Tschaikowsky verdächtig zu machen:

Für den englischen Musikologen Wilfried Mellers war er ein „Komponist der subjektiven Neurose wie nur je einer – und dies mit außerordentlicher Kompetenz“, er sei für die „unabsehbaren, musikalisch ungebildeten Publikumsmassen des industrialisierten Russland, England und Amerika zum volkstümlichsten aller Komponisten“ geworden; dies allerdings nicht nur dank einer Neurose, sondern immerhin auch „durch die Kraft seiner hysterischen, selbstbezogenen und selbstquälerischen Werke“. Im übrigen: „die Stärke der melodischen Ausstrahlungskraft Tschaikowskys spricht für sich selbst.“9

Offenbar ist es reizvoller, über Neurose (gern auch über abstruse Selbstmordtheorien oder Homosexualität) eines Komponisten zu reden als über seine „Kraft“ und „Stärke“!

Theodor W. Adorno hatte vielleicht Grund, die Schönberg-Schule gegen den Vorwurf des Intellektualismus zu verteidigen; er reklamierte also, Gefühl heiße für viele nur, „sich widerstandslos dem Strom der kurrenten Abfolgen“ zu überlassen; „absurd, dass der allbeliebte Tschaikowsky, der auch noch die Verzweiflung mit Schlagermelodien porträtiert, in diesen mehr Gefühl wiedergebe als der Seismograph von Schönbergs Erwartung.“ 10

Das gehört in die berüchtigte Rubrik des Äpfel-Birnen-Vergleichs. Es kommt darauf an, was man von der Musik will: musikalische Psychoanalyse findet man sicherlich beim frühen Schönberg, aber wenn man „seelenvoll“ singen will, findet man selbst bei Bellini mehr Hilfe als bei einem Seismographen.

Der Hochmut hatte im 20. Jahrhundert Konjunktur: „In mancher Hinsicht hat die Vorliebe des ‘kleinen Mannes’ für Tschaikowsky etwas Ermutigendes. Denn es ist doch besser, zu leben und hysterisch um sich zu schlagen, als tot und konserviert zu sein.“11

Dümmer geht es nicht.

Als der 19jährige Sergej Rachmaninow sein erstes (einsätziges) „Trio élégiaque“ schrieb, war er noch Student (1892). Tschaikowsky beobachtete wohlwollend die Anfänge des jungen Komponisten, der seinerseits mit Bewunderung die Werke des Meisters studierte: innerhalb von drei Tagen entwarf er diesen Klaviertrio-Satz, vielleicht als eine Studie, vielleicht auch, wenn der leidenschaftliche Ton nicht irreführt, als Bewältigung eines aufwühlenden Erlebnisses. Bald darauf schloss der Hochbegabte seine Ausbildung mit der Goldmedaille ab, die in der Geschichte des Konservatoriums bis dahin nur zweimal verliehen worden war. Ein Jahr später, unter dem Eindruck von Tschaikowkys plötzlichem Tod, schrieb er sein bis dahin bedeutendstes Werk, ein Klaviertrio von enormen Ausmaßen, op. 9, ebenfalls „Trio élégiaque“ genannt, und er widmete es – wie einst Tschaikowsky mit Blick auf Rubinstein – „dem Andenken eines großen Künstlers“: Tschaikowsky.

Schon die frühere Studie, deren Titel an die Überschrift „Pezzo elegiaco“ des ersten Klaviertriosatzes von Tschaikowsky anknüpft, klingt wie ein echter Rachmaninow, obwohl das direkte Vorbild unüberhörbar ist: zunächst im Thema selbst, dann vor allem im Scheitern dieser Themengestalt am Ende des Werkes, „Alla marcia funebre (Lento lugubre)“ mit der im pianissimo verhallenden Quinte. („Lugubre“ bei Tschaikowsky, auch dort im Charakter eines Trauermarschs).

Das verhaltene Ab und Auf des Tschaikowsky-Themas im Quintraum ist beim frühen Rachmaninow durch eine zweimalige Aufwärtsbewegung ersetzt, so dass die schwebende Quinte etwas dominanter wirkt. (Auch der Neuansatz „vier Töne höher“ folgt, wenn auch an späterer Stelle.)

Vom weiteren Verlauf wurde nur die „erlösende Wendung“ nach Dur übernommen, in verkürzter Form, ebenso ihre Sequenzierung in Moll, die allerdings dann noch weitergetrieben wird: mündend in einen harmonischen Ausklang, der an Brahms gemahnt, – Balladenton, fast eine Antwort auf den Erzählbeginn der Rhapsodie op. 79,2 in g-moll.

Und schließlich reinster Rachmaninow. Genauer lokalisiert: im Abgesang des Themas, in der folgenden Steigerung und vor allem im ersten Fortetakt; er könnte genau so im berühmten zweiten Klavierkonzert stehen, das ja nur 8 Jahre später entstand. Aber vielleicht hat ihn der Schatten Tschaikowskys über dem Hauptthema des ersten Satzes doch so irritiert, dass er die Arbeit am Trio nach diesem einen Satz beendete; erst nach dem Tod des Meisters konnte er das große Trio schreiben, das ihm vorgeschwebt hatte.

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1 Herbert Weinstock (1948) zit. nach Everett Helm „Tschaikowsky“ (1976) S. 37

2 zit. nach Helm a.a.O S. 49

3 zit. nach L. Auerbach „Tschaikowskys Trio Zum Andenken eines großen Künstlers“ in „Musika“ 1977

Übersetzung aus dem Russischen: privat

4 zit. nach L. Auerbach a.a.O.

5 zit. nach „Teure Freundin. P.I.Tschaikowski in seinen Briefen an Nadeshda von Meck“ Einleitung von Hans Pezold, Leipzig 1964, S. 158

6 zit. nach L. Auerbach a.a.O.

7 zit. nach L. Auerbach a.a.O.

8 zit. nach Everett Helm a.a.O. S. 127

9 Wilfried Mellers „Musik und Gesellschaft“ Bd. 2, 1965, S. 78 f.

10 Theodor W. Adorno „Philosophie der Neuen Musik“ 1958 S. 18 f

11 Wilfried Mellers a.a.O. S.79

Notenbeispiele: Edition Eulenburg

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Der Text wurde geschrieben für die Firma TACET (siehe hier) und das ABEGGTRIO.

Anspielmöglichkeit der einzelnen Sätze zwecks Tempovergleich bei jpc hier.

JR & Ulrich Beetz 70er Jahre im Collegium aureum Foto: Daniela-Maria Brandt

Die folgende Aufnahme empfiehlt sich, weil sie der russischen Tradition entspricht, – mit Vorbehalt (sehr langsame Tempi). Hinweise zum Auffinden bestimmter Stellen, die im Text angesprochen werden, sollen noch folgen. (Nach Wunsch im externen Fenster hier.)

Rätselcharakter der Musik

Wenn Joseph Haydn schweigt…

 Huawei-Fotos JR

Vielleicht wäre es mir weniger nahe gegangen, wenn ich nicht gerade in der Klinik gelegen hätte, Solingen, 5. Stock, prächtiger Blick in Richtung Ohligs oder sogar Köln, und dieser Frühlingshimmel! Oder auch nachts, wenn es allenthalben totenstill war. Und dann in der wiederholten Folge der drei CDs, die ich mitgenommen hatte, mehrfach auf dieses Stück zu stoßen. Ich war nicht gerade erschlagen, aber ich musste am Ende gezielt noch einmal dorthin zurück. Oder ich begann nach einer Pause den neuen Durchlauf der CDs wieder genau bei diesem Stück. Mein Problem (oder meine Faszination): es sagt mir nichts. Und lässt mich nicht los. Es ist zu groß angelegt. Oder – es fehlt etwas. Vielleicht beginnt das Verwundern (das Fremdeln), sobald man das Verschwinden der Streicher bemerkt. Das ist gewiss keine Verlegenheit. Aber was will mir das Klavier denn so hartnäckig verkünden? Raum geben für eine Steigerung oder ein Sich-Bescheiden? Ein großes Theaterstück oder nur eine barocke Reminiszenz, die sich auflädt mit dem Pathos einer Chaconne?

     

20 Jahre vorher:

Auf die Sonate von 1776 komme ich dank Charles Rosen. Aber warum auf Beethoven?

 Beethoven op.58 1806

Vielleicht weil das Individuum der äußeren Macht (dem Kollektiv der Anderen, dem „Schicksal“) eine so intensive Stimme entgegensetzt?

Aber der Reihe nach, – ich lese (wieder einmal) die erhellenden Ausführungen von Charles Rosen in „Der klassische Stil“ (Bärenreiter dtv 1983), niemand schreibt wie er über Haydns Qualitäten :

Fehler: muss Seite 407 heißen E, nicht Es! Das Trio und die Sonate stehen in derselben Tonart E-dur, im Mittelsatz jeweils e-moll. Auf Seite 408 nach dem Notenbeispiel (Thema des Trios 1. Satz) bemerkenswerter Text zu „unserem“ zweiten Satz, über barocke, klassische, romantische Anteile. Man darf das natürlich nicht pedantisch, bürokratisch sehen bzw. verstehen, es handelt sich um wandelbare Anteile des Lebensgefühls und des Empfindens für Spannungsabläufe in diesen Jahrzehnten, die im Zeichen der Französischen Revolution standen. Haydn, als Höfling (Esterházy!) und Bürger in seiner Welt, war alles andere als ein Revolutionär, aber er war es sehr wohl in seinem musikalischen Denken; er spürte genau, was er tun musste, um „original“ zu werden. (Er meinte damit nicht: originell).

 

Die folgende Aufnahme ist nicht die, auf die ich mich beziehe (Van Swieten Trio mit historischem Instrumentarium, distanzierter, vibrato-reduziert, im langsamen Satz „fahler“), ist aber liebevoll und genau ausgeführt, kann also einen angemessenen Eindruck der musikalischen Substanz vermitteln (externes Fenster hier):

Während man im normalen Musikerleben bei der interpretatorischen Umsetzung von Musik viel über „Bedeutung“ nachdenkt (z.B. die Phänomene „Klangrede“ oder „Affektenlehre“ im Barock), ist für die Rezipienten zu bedenken, dass keineswegs alles, was geschieht, in Bedeutungen aufzulösen ist. Man verliert den unauflösbaren Rätselcharakter des Kunstwerks aus dem Blick. Vergleichbar dem Erlebnis, wenn man über die ZEIT nachdenkt und sich dabei in dem Phänomen der Uhr festbeißt, ihren mechanisch (oder digital) gemessenen Dauern. Ich spüre eine gewisse Enttäuschung, wenn das oben behandelte Allegretto in e-moll nach mehrfachem Hören kürzer zu werden scheint. Manchmal orientiere ich mich – ohne Noten und schriftliche Anhaltspunkte zur Form – an den Zeitangaben auf der Anzeige des Abspielgerätes, um der subjektiven Einschätzung des Ablaufes zu entgehen. (Das Wort „Ereignisdichte“ – oder deren Mangel – ist eine gute Anregung.)

Ich denke einerseits an Susanne K. Langer (die in ihrer Theorie der ZEIT an Bergson anschließt), andererseits an Theodor W. Adorno:

ZITAT

Wer bloß verständnisvoll in der Kunst sich bewegt, macht sie zu einem Selbstverständlichen, und das ist sie am letzten. Sucht einer dem Regenbogen ganz nahezukommen, so verschwindet dieser. Prototypisch dafür ist, vor den anderen Künsten, die Musik, ganz Rätsel und ganz evident zugleich. Es ist nicht zu lösen, nur seine Gestalt zu dechiffrieren, und eben das ist an der Philosophie der Kunst. Erst der verstünde Musik, welcher so fremd sie hörte wie ein Unmusikalischer und so vertraut wie Siegfried die Sprache der Vögel. Durchs Verstehen jedoch ist der Rätselcharakter nicht ausgelöscht. Noch das glücklich interpretierte Werk möchte weiterhin verstanden werden, als wartete es auf das lösende Wort, vor dem seine konstitutive Verdunklung zerginge. Die Imagination der Kunstwerke ist das vollkommenste und trügerischste Surrogat des Verstehens, freilich auch eine Stufe dazu. Wer Musik, ohne daß sie erklänge, adäquat sich vorstellt, hat jene Fühlung mit ihr, die das Klima des Verstehens bildet. Verstehen im obersten Sinn, die Auflösung des Rätselcharakters, die ihn zugleich erhält, hängt an der Vergeistigung von Kunst und künstlerischer Erfahrung, deren erstes Medium die Imagination ist.

Quelle [Band 7: Ästhetische Theorie: Ästhetische Theorie. Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 4023 (vgl. GS 7, S. 185)]

Und Joseph Haydn schweigt …

Oder er lässt den Eindruck des Mittelsatzes zurücktreten, während man sich erleichtert der geistreichen Oberflächlichkeit des Finales widmet, wie einst der Eremit, der sagte: „… mich wunderts, dass ich so fröhlich bin.“

Haydn und ich

Eine Entdeckungsreise in spe

Ich will nicht nur erzählen, wie es begann (1993), – für mich hatte es eigentlich schon viel früher angefangen, etwa 1957, als man Haydn noch nicht ganz ernst nahm und nur das Rondo all’Ongarese spielen wollte -, sondern auch andeuten, wie es angemessen weitergehen könnte, heute, nach Kenntnis all der Streichquartette. Die Zusammenarbeit mit dem Abeggtrio (nach dem Start mit den Mozart- und Beethoven-Klaviertrios) wurde zunächst bei der Firma Intercord ediert, die Tontechnik lag auch dort schon in den Händen von Andreas Spreer, der später alle seine Aufnahmen bei Tacet zugänglich machte.

 

Fono-Forum (1.1.2000) über die Tacet-CDs mit Haydn- und Dvorak-Klaviertrios:

„Diese beiden Einspielungen (TACET 88 Dvorák Klaviertrios / TACET 89 Haydn Klaviertrios) begeistern. Sie erfüllen alle Erwartungen, die an das renommierte Abegg-Trio aufgrund seiner Aufnahmen von Mozart-, Beethoven- oder Debussy-Werken gestellt werden können. Das ist vollendetes kammermusikalisches, fabelhaft ausbalanciertes Spiel. Jeder der drei Interpreten reagiert mit größter Sensibilität auf alle Bewegungen der zwei anderen Partner. Das Besondere dieser beiden in sich wunderbar stimmigen, stilistisch sorgfältig voneinander abgehobenen Interpretationen ist jedoch ihr improvisatorischer Gestus, ist die „geplante“ Ursprünglichkeit und vermeintliche Spontaneität. Dabei geht das Abegg-Trio sehr diszipliniert zu Werke, findet zu einem absolut überzeugenden Verhältnis zwischen solistischer Virtuosität und stimmigem Ensemblespiel, läßt einen enormen Facettenreichtum in Ausdruck und Rhythmus aufleuchten – sorgfältig wurden alle Metronomangaben berücksichtigt -, hebt die Brillanz des populären Rondos von Haydns Trio Nr. 39 genauso hervor wie die anrührende Gefühlstiefe von Dvoráks Adagio aus op. 21, das fernab jeglicher falschen Sentimentalität angelegt ist. Jan Reichow, der die interessanten Einführungstexte für beide Einspielungen schrieb, spricht in bezug auf Haydn von der „beredten Vollkommenheit“ dieser Musik. Nur selten gibt es so viel Übereinstimmung zwischen den verbalen Erläuterungen und der dann tatsächlich erklingenden Musik wie bei diesen beiden Interpretationen, die zudem auch aufnahmetechnisch optimal geraten sind.“
Ingeborg Allihn

Ich erinnere mich noch gut an die Tage, als ich diesen Haydn-Text geschrieben habe, immer wieder von der Musik erfasst wurde, nach Worten gesucht habe, alles verworfen und von vorn begonnen habe, weil ich nicht getroffen fand, was ich fühlte. Schließlich auf die Idee kam, die (wahre) Liebesgeschichte hineinzumengen, weil ich so gut verstehen konnte, dass man jemanden liebhaben muss, der solche Musik ersinnt. Trotzdem wollte ich nicht unerwähnt lassen, dass der langsame Satz des G-dur-Trios zugunsten des Cellos leicht retouchiert wurde. Und jetzt höre ich das Trio in der Van-Swieten-Aufnahme (CD 9 Tr.4), wunderbar durchsichtig und klanglich fein, ohne im Poco Adagio (Tr.5) das Glück von damals wiederfinden zu können. Ich wechsele zur alten Aufnahme zurück: sie nehmen den Satz viel langsamer (statt 4:07 beim Van-Swieten-Trio werden es 5:26 bei den Abeggs), der herrliche, süße Gesang will kein Ende nehmen, – und das Glück von damals ist wieder da. Bevor das Finale seinen Lauf nehmen darf, lasse ich mich ein zweites Mal einhüllen. Ein Wunderwerk.

Es liegt mir fern, an dieser Stelle unvergleichbare Leistungen gegeneinander auszuspielen; es ist gut, beide Versionen zu haben.

Mir war die Existenz des Van-Swieten-Trios völlig entgangen, die Gesamteinspielung habe ich aber nicht so sehr wegen des günstigen Preises bestellt, sondern weil man vorher hineinhören konnte, es gefiel mir halt auf Anhieb. Zudem kannte ich zwei der Interpreten von anderen hervorragenden Aufnahmen: Bart van Oort (Beethoven-Klaviersonaten im Kreis der Schüler von Malcolm Bilson bei Claves, 1997 in WDR3 von mir präsentiert) und Jaap ter Linden (Bach Solosuiten). Letzterer war mir in den 80er Jahren auch bei Musica Antiqua Köln begegnet und besonders positiv aufgefallen, zumal er sich Zeit nahm, ein Konzert mit dem indischen Sitarspieler Imrat Khan im Funkhaus zu besuchen und mir später in einem Brief zu bekunden, wie sehr ihn die Ruhe dieser Musik beeindruckt habe. Dies Interesse war mir neu im Kreis der Alten Musik.

Die beiden Geiger sind ausgezeichnet, aber nachdem ich jetzt drei Tage in der Klinik ununterbrochen die CDs 8 – 10 gehört habe, wurde mir allmählich klar, dass das geigerische Niveau unterschiedlich ist. Der eine ist absolut überzeugend in der Ausführung der brillantesten Details, perfekt konform mit dem Pianisten, auch sehr ausdrucksstark in den langsamen Sätzen. Während der andere nicht ganz die gleiche Präsenz zeigt, und zwar gerade da, wo er sich legitimerweise  völlig zurückhält, im Pianissimo, mit wenig Bogenhaar, mit weniger Kontakt zur Saite und vibratofreiem Melodiespiel, – das ist in Ordnung – und doch müsste noch etwas zu spüren sein von der latenten Energie, die überall schwelt, es darf nicht im mindesten unbeteiligt, „schlürig“ klingen. (Ich nenne keinen Namen. Wer es nicht hört, muss es auch nicht gesagt bekommen. Im übrigen: wie leicht irrt sich einer, der schlaflos liegt.)

Ein paar autobiographische Anmerkungen

Zur Frage: Wie kommt man eigentlich dazu, einen alten klassischen Meister, und erst recht: Kammermusik ganz allgemein, immer wieder zum Lebensinhalt zu machen? Gerade in unserer heutigen Zeit, die man durchaus nicht ausblenden will. Eine Voraussetzung sicherlich: Diese Musik spielte in unserer Familie von früh an eine große Rolle, wurde ernst besprochen, die Trio-Proben gingen reihum, fanden also auch immer wieder in unserer Wohnung statt, im Arbeitszimmer meines Vaters, wo der Flügel stand. Dann wurde die Schiebetüre zum Nachbarzimmer geschlossen, dort saßen die Frauen und plauschten; als Kind gesellte man sich ganz gern dazu, präsentierte eigene Produkte, nett gemalte Bilder, eigene kleine Texte u.dgl., man hörte im Hintergrund die Musik, kommentierte sie, man behielt einzelne Themen und favorisierte sie.

 Das Trio meines Vaters, als ich 10 Jahre alt war…

Auch Haydn wurde gespielt, erschien aber seltener im Programm. Haydn sehr gut zu spielen ist schwerer als ein mittelprächtiger Tschaikowsky. Aber die dreibändige Peters-Ausgabe der Haydn-Trios verdanke ich meinem Vater, der vielleicht nie etwas anderes daraus gespielt hat als das Trio G-dur mit dem Finale all‘ Ongarese. Allerdings vermisse ich jegliche Einzeichnung, vielleicht spielten die drei aus einer Einzelausgabe: Mein Vater Art(h)ur Reichow (das falsche h in seinem Vornamen hat er aus unerfindlichen Gründen oft geduldet), dazu mein erster Geigenlehrer Gerhard Meyer und der Cellist Rainer Ponten, der glaube ich damals noch in Detmold studierte. Mein Vater starb 1959. Es hat nicht lange gedauert, dass ich selbst mit Klaviertriospiel begann, zuerst zuhaus, dann an der Kölner Hochschule, noch in der Zeit meines Schulmusikstudiums (1962), ich hatte ja das alles im Ohr und habe wirklich erstmal alles abgearbeitet, was ich von der Arbeit meines Vaters her kannte, z.B. Beethoven op.11 (eigtl. Klarinette), aber nie zu meinem Fernziel kam, dem Erzherzogtrio, ganz gut jedoch gelang das Geistertrio und andere, vor allem Beethovens op.1 Nr.1. (Bei Günter Kehr, mit  Hochschulkonzert und Aufnahme.) Die Geschichte ging allerdings weiter über Brahms, Dvorak bis zu Charles Ives. Doch das ist jetzt nicht mein Thema.

 

Die Begeisterung beim Hören der Trios ließ nicht nach, es wuchs das Verlangen, sie genauer in den Lebenslauf des Komponisten einzubetten, diese unendliche Vielfalt der Gestaltungsideen in jedem Trio. Und zugleich insgesamt eine stilistische Geschichte in den Blick zu bekommen, die 40 Trios umfasst, eine unglaubliche Kreativarbeit im Zeitraum von 1755 bis 1796.

Ich nehme als Grundlage die Auflistung, die ich bei Wikipedia finde. Erschrecken Sie nicht, es ist nur mein Arbeitsmaterial, das noch genauer auf die Van-Swieten-Aufnahmen bezogen werden soll. Vielleicht lösche ich es später wieder.

Haydn Trios für Klavier, Violine und Violoncello

Trio Nr. 1 in F-Dur, Hob. XV:37 (1755–60)
1. Adagio
2. Allegro molto
3. Menuetto

Trio Nr. 2 in C-Dur, Hob. XV:C1 (1755–60)
1. Allegro moderato
2. Menuetto
3. Andante con variazioni

Trio Nr. 3 in G-Dur, Hob. XIV:6 (1755–60)
1. Allegro
2. Adagio
3. Menuetto

Trio Nr. 4 in F-Dur, Hob. XV:39 (1755–60)
1. Allegro
2. Andante
3. Allegro
4. Menuetto
5. Scherzo

Trio Nr. 5 in g-Moll, Hob. XV:1 (1755–60)
1. Moderato
2. Menuet
3. Finale: Presto

Trio Nr. 6 in F-Dur, Hob. XV:40 (1755–60)
1. Moderato
2. Menuet
3. Finale: Allegro molto

Trio Nr. 7 in G-Dur, Hob. XV:41 (1755–60)
1. Allegro
2. Menuet
3. Adagio
4. Finale: Allegro

Trio Nr. 8 in D-Dur, Hob. XV:33 (verloren)
Trio Nr. 9 in D-Dur, Hob. XV:D1 (verloren)

Trio Nr. 10 in A-Dur, Hob. XV:35 (1755–60)
1. Capriccio: Allegretto
2. Menuet
3. Finale: Allegro

Trio Nr. 11 in E-Dur, Hob. XV:34 (1755–60)
1. Allegro moderato
2. Minuet
3. Finale: Presto

Trio Nr. 12 in Es-Dur, Hob. XV:36 (1755–60)
1. Allegro moderato
2. Polonaise
3. Finale: Allegro molto

Trio Nr. 13 in B-Dur, Hob. XV:38 (1755–60)
1. Allegro moderato
2. Menuet
3. Finale: Presto

Trio Nr. 14 in f-Moll, Hob. XV:f1 (1755–60)
1. Allegro moderato
2. Minuet
3. Finale: Allegro

Trio Nr. 15 in D-Dur, Hob. deest (1755–60)
1. Allegro molto
2. Thema (Andante) con variazioni

Trio Nr. 16 in C-Dur, Hob. XIV:C1 (1755–60)
1. Adagio
2. Presto
3. Menuet
4. Finale (Presto)

Trio Nr. 17 in F-Dur, Hob. XV:2 (1772)
1. (Allegro) moderato
2. Menuetto
3. Finale: Adagio con variazioni

Trio Nr. 18 in G-Dur, Hob. XV:5 (1784)
1. Adagio non tanto
2. Allegro
3. Allegro

Trio Nr. 19 in F-Dur, Hob. XV:6 (1784)
1. Vivace
2. Tempo di Menuetto

Trio Nr. 20 in D-Dur, Hob. XV:7 (1785)
1. Andante
2. Andante
3. Allegro assai

Trio Nr. 21 in B-Dur, Hob. XV:8 (1785)
1. Allegro moderato
2. Tempo di Minuetto

Trio Nr. 22 in A-Dur, Hob. XV:9 (1785)
1. Adagio
2. Vivace

Trio Nr. 23 in Es-Dur, Hob. XV:10 (1785)
1. Allegro moderato
2. Presto (assai)

Trio Nr. 24 in Es-Dur, Hob. XV:11 (1788?)
1. Allegro moderato
2. Tempo di Menuetto

Trio Nr. 25 in e-Moll, Hob. XV:12 (1788/89?)
1. Allegro moderato
2. Andante
3. Rondo: Presto

Trio Nr. 26 in c-Moll, Hob. XV:13 (1789?)
1. Andante
2. Allegro spiritoso

Trio Nr. 27 in As-Dur, Hob. XV:14 (1789/90)
1. Allegro moderato
2. Adagio
3. Rondo: Vivace

Trio Nr. 28 in D-Dur, Hob. XV:16 (1789/90?)
1. Allegro
2. Andantino più tosto Allegretto
3. Vivace assai

Trio Nr. 29 in G-Dur, Hob. XV:15 (1789/90?)
1. Allegro
2. Andante
3. Finale: Allegro moderato

Trio Nr. 30 in F-Dur, Hob. XV:17 (1790?)
1. Allegro
2. Finale: Tempo di Menuetto

Trio Nr. 32 in A-Dur, Hob:XV:18 (1793/94?)
1. Allegro moderato
2. Andante
3. Allegro

Trio Nr. 33 in g-Moll, Hob. XV:19 (1793/94?)
1. Andante – Presto
2. Adagio ma non troppo
3. Presto

Trio Nr. 34 in B-Dur, Hob. XV:20 (1793/94?)
1. Allegro
2. Andante cantabile
3. Finale: Allegro

CD 8

Trio Nr. 35 in C-Dur, Hob. XV:21 (1794/95?)
1. Adagio pastorale – Vivace assai
2. Molto andante
3. Finale: Presto

Trio Nr. 36 in Es-Dur, Hob. XV:22 (1794/95?)
1. Allegro moderato
2. Poco Adagio
3. Finale: Allegro

Trio Nr. 37 in d-Moll, Hob. XV:23 (1794/95?)
1. Molto andante
2. Adagio ma non troppo
3. Finale: Vivace

Trio Nr. 41 in es-Moll, Hob. XV:31 (1795)
1. Andante cantabile
2. Allegro

CD 9
Trio Nr. 38 in D-Dur, Hob. XV:24 (1794/95?)
1. Allegro
2. Andante
3. Allegro ma dolce

Trio Nr. 39 in G-Dur, Hob. XV:25 „Zigeunertrio“ (1794/95?)
1. Andante
2. Poco Adagio
3. Finale: Rondo all’Ongarese: Presto

Trio Nr. 40 in fis-Moll, Hob. XV:26 (1794/95?)
1. Allegro
2. Adagio
3. Finale: Tempo di Minuetto

Trio Nr. 31 in G-Dur, Hob. XV:32 (1792/93?)
1. Andante
2. Allegro

CD 10

Trio Nr. 43 in C-Dur, Hob. XV:27 (1796?)
1. Allegro
2. Andante
3. Presto

Trio Nr. 44 in E-Dur, Hob. XV:28 (1796?)
1. Allegro moderato
2. Allegretto
3. Allegro

Trio Nr. 45 in Es-Dur, Hob. XV:29 (1796?)
1. Poco Allegretto
2. Andantino et innocentemente
3. Finale: Allemande. Presto assai

Trio Nr. 42 in Es-Dur, Hob. XV:30 (1796)
1. Allegro moderato
2. Andante con moto
3. Presto

Mozart für immer!

Der ideale Dialog

Kein Mensch kann sagen, ich hätte mich nicht bemüht. Im Autoradio hatte ich nur den letzten Teil der Sonate KV 306 mitbekommen, da wo die Instrumente Abschied nehmen (voneinander? von uns? von der Mutter?), – so hatte ich das noch nie gehört. Als ich nach Hause kam, musste ich die CD bestellen, traf aber zugleich auf die Violinkonzerte, gut, dann eben die auch, die zigste Version, hatte ich nicht schon die mit Andrew Manze über den grünen Klee gelobt? Dann kamen diese neuen Konzerte an, aber die Sonaten fehlten, auf dem (separaten) Postweg verlorengegangen. Reklamation. Und heute sind sie nachgeliefert und übertreffen alle Erwartungen. Aber nicht nur die Musik, auch alles andere passt: der Text (von Wolfgang Fuhrmann), das Understatement-Cover. So etwas ist kein Zufall, vielleicht die Firma? Harmonia Mundi. Nein, es ist vor allem der eine Name, der genannt werden muss: Isabelle Faust. Womit nichts gegen Alexander Melnikov gesagt sein soll. Was wäre die Geige ohne den wunderbaren Part des Hammerflügels!? Man sagt dann immer kongenial, und das ist klingt hier auch wirklich angemessen. Noch ein Name sollte genannt werden, – auf der letzten Seite steht: The musicians express their gratitude to Andreas Staier for his Mozart expertise. Das kann ich mir vorstellen!

Es ist Vater Leopolds Hand, die man da sieht. Was für eine gute Idee, das vollständige Bild hätte mich beim Hören zu sehr beschäftigt. Die Art, wie die Geschwister herausschauen beim Vierhändigspielen, und erst der Vater. Die Mutter aber auf dem Bild an der Wand: sie war in Paris gestorben, hat sie dort die beiden Sonaten noch gehört? Die in E-moll gehört in die Nähe der A-moll-Klaviersonate…

(Fortsetzung folgt)

Der reine Klang in Doppelgestalt

Apropos Mozart und Haydn-Gebrüder

Man muss nur 2 Minuten der Adagios von Michael Haydn (Tr.5) und von Mozart (Tr.2) auf CD I hören, um zu ermessen, dass sie weltenweit voneinander entfernt sind. Im ersten der brave Basso continuo der Viola, die noch nicht zu sich selbst gekommen scheint. Und anschließend bei Mozart die Melodie-Wanderung von der Violine in die Viola und zurück, dann die gemeinsame überirdische Vision des Reichs der Harmonie und Modulation. Das ist so ergreifend und integrierend wie die Liebe, von der gesagt wurde,  sie „höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird.“

(Ich weiß nicht, weshalb ich den Apostel Paulus zitieren musste. Man wird bei Mozart gern überschwänglich; und leider auch mystizistischer als angemessen. Das hat eine lange Vorgeschichte, siehe auch hier.)

Natürlich tut man Michael Haydn unrecht, sobald man Mozart gehört hat. Um so schöner die Geschichte von der Freundschaft der beiden und dass Mozart ihm zuliebe die beiden unglaublichen Duos geschrieben hat. Sie sollten die 4 Duos des anderen zur Sechszahl ergänzen, die vom Erzbischof in Auftrag gegeben worden waren; aufgrund plötzlicher Erkrankung bat Michael Haydn den Freund, ihm auszuhelfen. Eine Hilfe für die Ewigkeit! Und man sollte dies Adagio als erstes hören, um die „Leichtigkeit“ der anderen Mozart-Sätze wirklich ernst zu nehmen. Komponiert 1783, ein Schlüsseljahr, das man sich merken sollte, wie jenes, in dem Mozart mit dem „Hoffmeister-Quartett“ (1786) auf die Leistungen Joseph Haydns antwortete und dieser wiederum auf Mozart.

Aber diesen Mozart gab es eben auch nicht vor 1779, als er (nach der Paris-Reise) die Sinfonie concertante (KV 364) für Violine und Viola mit Orchester komponierte.

Zu den vielen Schönheiten des Werkes gehört […] gerade die Art, wie Mozart im Orchester auf die unterschiedlichen Soloinstrumente eingeht: bei gleichen Melodien wird die Bratsche von tiefen Streichern begleitet, die Violine von hohen ohne Baß. So wie sich die Soloinstrumente abwechseln, gibt es auch zwischen den Violinen und geteilten Bratschen des Orchesters einen subtilen Dialog, der sich zwischen den Bläserpaaren fortsetzt. Dies war Mozarts besonders feinsinnige Interpretation des Begriffs Sinfonia concertante.

Quelle Villa Musica hier.

Noch etwas sollte man in Betracht ziehen, und Sie wissen es spätestens seit Sie die zweite CD (s.o.) betrachtet haben: die Sechs Sonaten für Violine „mit Bratschenbegleitung“ von Joseph Haydn existierten schon (zwischen 1768 und 1773) und waren allen begeisterten Kammermusikern der Zeit bekannt. Und der Bookletschreiber der ersten CD (s.o.), Timothy Jones, geht darauf ein:

Die Vermutung scheint berechtigt, dass der Auftrag des Erzbischofs von dem Wunsch getragen war, wenigstens zu einem Teil, Joseph Haydns erfolgreichen Sonaten etwas gleichwertiges gegenüberzustellen. Gewiss kannte Michael Haydn die Duos seines älteren Bruders, und in gewisser Hinsicht basieren seine eigenen vier auf diesen. Auch sie sind im Wesentlichen Solosonaten für die Violine mit Bratschenbegleitung, beanspruchen die Technik der Musiker übermäßig und fordern vom Geiger, Kadenzen zu improvisieren. Aber im Vergleich zum Geist und zur Sparsamkeit in den Gesten und zum lakonischen Esprit von Josephs Sonaten, zeigen die von Michael eine brillantere, aber redseligere Virtuosität. Das ist besonders überzeugend in den langsamen Sätzen der Nr.1 in C und Nr.2 in D, wo ein Übermaß an Verzierungen das sie tragende Fundament zu überwältigen droht. Das ist Musik, bei welcher die Konzentration auf den Musiker oftmals Vorrang hat vor dem leitenden Geist des Komponisten. Aber die beiden Seiten werden vielfach in einem klugen Gleichgewicht gehalten, nicht zuletzt in den abschließenden Variationen der D-Dur-Sonate mit ihrer raffinierten Mischung von technischer und thematischer Abwechslung.

Quelle Channel Classics 32411 (2011) DUO SONATAS Booklet Timothy Jones (Seite 12) Siehe auch hier (man kann jeden Track anspielen, jeweils von Anfang).

Mit Blick auf die Duos siehe zu Mozart auch im Blog hier. Zu Michael Haydn hier. Zu Joseph Haydn hier.

*    *    *

Wieder eins der merkwürdigen, bipolaren Zusammentreffen, – das gestern georderte Buch ist schon in meiner Buchhandlung Jahn eingetroffen. Veranlassung war eine Rezension im Berliner Tagesspiegel, vermittelt durch JMR. Anknüpfend an den Reisebericht „Schlangenritual“, den ich seit 1995 immer mal wieder konsultiere.

 ISBN 978 3 8031 3685 5

ZITAT

Was „Polarität“ des Symbols für Warburg bedeutet, zeigt sich nirgends deutlicher als im Fall der Schlange: ein vollkommen zweiwertig besetztes Symbol, dessen Terme oder „Pole“ unvermittelt ineinander umschlagen können. Die Schlange ist Ausdruck tödlicher Gefahr – und sie ist „natürlichstes Symbol der Unsterblichkeit und der Wiedergeburt aus Krankheit und Todesnot“. Sie enthält in sich beide Möglichkeiten, und die Macht des Magiers entscheidet darüber, welche zum Zuge kommt (so wie die Macht des Interpreten über die Wirkung der Symbole entscheidet). Die beiden Möglichkeiten, für die das Schlangensymbol einsteht, Heilung und Vernichtung, hat Warburg in zwei komplementär angelegten Figuren verkörpert, diese in Gestalt des Laokoon, jene in der des Asklepios. Laokoon, der heidnische Priester, wird der tödlichen Gewalt der Schlangen nicht Herr und geht zugrunde; Asklepios, der „abgeklärteste antike Gott“, typologisch dem Erlösergott schon ganz nahe, weiß das Gift der Schlange als pharmakon, als Heilmittel, der leidenden Menschheit zuzuführen. Zugleich personifiziert Warburg in diesen beiden Gestalten zwei beherrschende Pole seines Denkens, die weite Teile des Werks und viele seiner Äußerungen strukturieren, den Agon und die Therapie, Kampf und Heilung.

Quelle Ulrich Raulff Nachwort (Zitat Seite 82) zu: Aby Warburg Schlangenritual Ein Reisebericht / Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1995 ISBN 3 8031 3031 X

Was mich aber in dem neuen Buch aufs neue elektrisiert, findet sich hier:

Siehe dazu weiter hier. (Wegen Florenz, und nebenbei auch wegen Marenzio, dessen CD – unabhängig von Aby Warburg! – endlich auf dem Weg zu mir ist. Die CD der Hochzeit 1589 dürfte jetzt noch folgen…

Warburg wurde zum Vertreter einer Kulturtheorie, die keinesfalls eine lineare Aufstiegslinie, sondern ein Sich-Durchdringen ungleichzeitiger Entwicklungsstände voraussetzt.

Quelle Bredekamp a.a.O. Seite 104

Wenn es nicht so wahnsinnig anspruchsvoll klänge, würde ich mit Rilke sagen: Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen. Naja, – seit ich das Lieblingslied meiner Mutter nachsingen konnte: „Horch, was kommt von draußen rein“ und wusste, dass es traurig endete: „Wird’s wohl nicht gewesen sein“ oder noch schlimmer… Immerhin ein Tanzlied.

 s.a. hier Marenzios Figuren

Tr.4 Quando i vostri begl’occhi (Übersetzung: Susanne Lowien)

Jeder weiß, dass mit diesem Sterben „der kleine Tod“ gemeint ist.

Haydns Aktualität (II)

Noch einmal: Was sagt uns die sogenannte Klassik?

Vielleicht ist die Frage falsch gestellt, und es müsste heißen: Wie kommt es, dass uns die sogenannte Klassik etwas sagt? Denn gerade ihr Status als Klassik könnte sie so neutralisieren, dass sie einer „besseren Welt“ angehört, die nicht mehr zu uns spricht. Wir könnten sie bewundern und sie unseren Enkeln empfehlen, und die sagen freundlich: Jaja, wir wissen es, das ist deine Welt, aber uns sagt das nichts mehr. Und weil sie lieb sind, schenken sie uns zum Geburtstag eine CD mit klassischer Musik, und wir wissen: das ist es, was sie uns anmessen; sie vermuten, dass es zu uns spricht, weil es ihnen nichts sagt. Hier….. Wo liegt mein Fehler? Es spricht nicht wirklich zu mir, es ergreift mich, weil es mit magisch verfremdeter Stimme zu mir oder für sich spricht. Wie der Mond. „Und die Welt erscheint mir gut.“ Und wirklich (auf eine fremde Weise) lebendig. Im übrigen ist diese Geschichte da oben nur eine Phantasie. Die Enkel würden mir allenfalls eine CD mit ihren eigenen Lieblingstiteln schenken. Zudem ist die Mond-Musik nicht von Haydn, sondern von Schubert (1819), aber den Hinweis auf „Romantik“ würde ich nicht gelten lassen. Ich höre Haydn nicht anders, jedenfalls die Sonaten für Violine und Viola (1769) in dieser Interpretation, und eine packendere kenne ich nicht. Eine andere Welt, näher als die, die ich mit Händen greifen kann.

 Eine Kostprobe auf youtube hier (VI.3).

Reihenfolge auf CD: 6 – 4 – 3 – 5 – 2 – 1

Orig.Titel „Sechs Sonaten für Violine und Viola“, nicht wie oben alternativ angegeben „Sei Solo per il Violino“, willkürlich an Bachs Solosonaten-Titel angelehnt. Dort heißt es allerdings auch ausdrücklich „Sei Solo à Violino senza Basso accompagnato“. In Haydns Fall fehlt ebenfalls der Basso accompagnato, aber die Viola hat genau diese Rolle übernommen, was in jener Zeit nicht selbstverständlich ist. Haydn trug die Sonaten in seinen Entwurf-Katalog als „Solo per il Violino“ ein und ergänzte später „6 Violin Solo mit Begleitung einer Viola“. Im Vorwort der Henle-Noten heißt es: „Überliefert sind die Sonaten jedoch auch in der Besetzung Violine und Basso sowie in einer Bearbeitung für zwei Violinen. Diese beiden nicht authentischen Fassungen waren zu Haydns Lebzeiten sowohl handschriftlich als auch in Ausgaben verbreitet; gedruckt erschienen sie sogar wesentlich früher als die Originalfassung.“

Noten im G.Henle-Verlag

 Haydn Duos Hob. VI:1-6

Eines ist sicher: wenn ich die Quartette op. 50 (1787) im Ohr habe und mich nun mit den Sonaten für Violine und Viola (1768/69) beschäftige, so hindert mich das Entzücken über diese Duos nicht an der Feststellung, dass  sie in der kompositorischen Technik „zurück“ liegen. Und der Fall kompliziert sich, wenn ich sie mit den Duos (1783) von Michael Haydn, dem jüngeren Bruder Josephs, oder gar mit den zu dessen Opus beigesteuerten zwei Werken von Mozart (KV 423 & 424) vergleiche. Es liegt auf der Hand und ist dennoch nicht leicht zu begründen. Man kann es nicht allein an der Stellung des Menuetts festmachen, das in Joseph Haydns Duos noch stets am Ende steht, wie in Sonaten Philipp Emanuel Bachs. Ich halte mich an Charles Rosen, der sich in seinem Buch „Der klassische Stil“ ausführlich mit der Übergangszeit beschäftigt.

Vor den Werken Mozarts und Haydns aus den späten 1770 Jahren gab es jedoch noch keinen derart umfassenden, zur Integration drängenden Stil. Vorher war die Situation chaotischer, weil von zahlreichen, scheinbar gleich starken, rivalisierenden Kräften bestimmt. Deshalb ist die Zeit zwischen Händels Tod und Haydns ‚Scherzi‘ bzw. Russischen Quartetten op. 33 so schwierig zu beschreiben. Natürlich sieht es nur aus unserer Sicht so aus, für den damaligen Musiker gab es um 1780 so viele Rivalen wie ehedem, und ihre Ansprüche waren ebensoschwer abzuwägen. Doch wir müssen unsere gesamte historische Sympathie aufbringen, um die Musik der 1760er Jahre zu würdigen, wir müssen uns dauernd die inneren und äußeren Schwierigkeiten ins Gedächtnis rufen, denen der Komponist gegenüberstand. Von 1780 an kann man sich bequem zurücklehnen und beobachten, wie ein Freundespaar mit seinem Schüler fast die gesamte Musik, von der Bagatelle bis zur Messe, unter seinen Einfluß zwingt, wie es die Formen Sonate, Konzert, Oper, Symphonie, Quartett, Serenade und Volksliedsatz mit einem Stil meistert, dessen innere Kraft so stark ist, daß er fast auf alle Gattungen gleich gut anzuwenden ist. Wir brauchen kein historisches Einfühlungsvermögen, um die Werke Mozarts, Beethovens und des späten Haydn zu schätzen; sie sind das Lebensblut der heutigen Musiker. [Seite 50]

Die bei Rosen noch folgenden Seiten sind hochinteressant, auch wenn man seine Kritik etwa an Carl Philipp Emanuel Bach so nicht akzeptieren mag. Wichtig ist die Charakteristik des Umschwungs der formalen Arbeit und dem Gefühl für Proportionen. „Die eklatanteste Schwäche dieser Epoche ist wohl die mangelnde Koordinierung von Periodenrhythmus, Akzent und harmonischem Rhythmus. Sie geht auf den Widerspruch zwischen barockem und klassischem Puls zurück. War im Barock die harmonische Sequenz die treibende Kraft, so ist es im neuen Stil die Periode.“ (Rosen S.52)

Zur Stellung des Menuetts (Zitat MGG):

Hier [in Haydns Klaviersonaten] wie auch in der geringstimmigen Kammermusik mit oder ohne Klavier überwiegt die Dreisätzigkeit, allerdings vielfach mit einem Tempo di minuetto als Schlußsatz oder oft auch, vor allem in frühen Werken Haydns, mit einem (langsamen) Menuett als Mittelsatz. Grundsätzlich ohne Integration des Menuetts als Tanzsatz im engeren Sinne sind dagegen alle Formen konzertierender Instrumentalmusik geblieben, obgleich viele Finalsätze traditionell ihren tänzerischen Charakter beibehalten, als Tempo di Minuetto hervorheben (z.B. in Mozarts Violinkonzert KV 219 oder dem Flötenkonzert KV 285c) oder in das Schlußrondo ein Menuett als langsamen Abschnitt einfügen (z.B. in Mozarts Klavierkonzerten KIV 271 und 482).

Quelle Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG neu) Sachteil 6 Artikel Menuett Sp.130 Autor: Wolfram Steinbeck.

Exkurs über „Aktualität“

Die Frage wäre: alles was du da schreibst hat nichts mit Aktualität zu tun, oder hat etwa der Umbruch nach 1750 mit unserer Zeit zu tun? Wie bitte? Der Zuwachs des Wissens damals – mit der Globalisierung des Wissens in unserer Zeit? Nimm nur Bach und Kant! Was ist mit der „aktuellen“ Neuen Musik, meinetwegen auch: mit der Popmusik unserer Zeit? Es ist zuviel, letzteres höre ich permanent, freiwillig und unfreiwillig, ersteres nicht systematisch (da gibt es soviel „Umbrüche“ wie Komponisten), haben Sie Enno Poppe studiert oder Jan Kopp? Es lohnt sich. Ich würde auch sofort ein Stück von Kurtág auflegen („Stele“ 1994), aber um seine Oper nach Beckett habe ich mich nicht gekümmert. Dies alles als Gesamtpaket ist mindestens so übersichtlich wie das CD-Cover weiter unten. Aber bin ich nicht selbst in meinen Augen noch individueller als jeder Komponist und kümmere mich nicht vielleicht deshalb nur um mein eigenes Hören, die eigene Musikalität? Auf den Instrumenten übe ich keine Neue Musik, es würde meine gesamte Zeit verschlingen. Und es bleibt mir nicht recht in Erinnerung. „Die Soldaten“ haben mich beeindruckt, aber ich will (muss) sie nicht ein drittes Mal erleben. Haydn verlangt von mir, dass ich eine bestimmte Entwicklung mitmache, nachvollziehe, rekapituliere, weil es nicht nur gut komponierte Musik ist, sondern mich auch reicher macht, spürbar lebendiger. Ich bin „aktueller“ als vorher. Zur globalisierten Aktualität gehört übrigens auch die Wahrnehmung der außereuropäischen Musik und aller möglichen Klänge in Afrika, im Orient, in Asien. Haben Sie soviel Zeit? Ja, ich auch nicht, aber früher hat mich das keiner gefragt.

(Fortsetzung folgt)

Die Rolle der Viola

Es gibt schon wenige Jahre nach der Entstehung dieser Sonaten Bearbeitungen, in denen die hier zu Ehren gekommene Bratsche durch andere Instrumente ersetzt wird, z.B. mit der Bezeichnung „á Violon seul avec Basse“, wobei die Bass-Stimme, abgesehen vom entsprechenden Schlüssel, identisch ist mit der Violastimme. Außerdem eine Ausgabe für zwei Geigen, in der die Noten der ursprünglichen Fassung alternierend auf die beiden Geigen verteilt sind, so dass die Rollen der konzertierenden und der begleitenden Stimme „gerechter“ ausfallen. Für wen Haydn die Duos gedacht hat hat, ist nicht sicher. Der Herausgeber Andreas Friesenhagen schreibt: „Vermutlich wurden sämtliche Werke oder zumindest einige von ihnen am Esterházi’schen Hof aufgeführt. Möglicherweise komponierte Haydn den Geigenpart für Luigi Tomasini, der seit 1761 als „Erster Violinist“ am Hof angestellt war. Es ist jedoch auch denkbar, dass Haydn mit diesen Sonaten selbst als Solist in Erscheinung trat: Von Sonate 1 und 2 ist eine von ihm selbst wohl im Hinblick auf eine Aufführung ausgeschriebene Violinstimme erhalten (….).“ Wie schon erwähnt, trug er die Werke in seinen Entwurf-Katalog ein als „6 Violin Solo mit Begleitung einer Viola“. Ich will die virtuosen Leistungen der Violine nicht schmälern, aber der Gesamteindruck steht und fällt mit der homogenen Abstimmung beider Parts. Was hören Sie an „Begleitung“, wenn Sie sich in die folgende Aufnahme begeben? Die Geige beginnt mit einem einstimmigen Thema, die Bratsche hört zu und sagt: „Ja!“ Die Geige fasst ihr Thema, das sich eben über 4 Takte erstreckte, in 2 Takte zusammen, die Bratsche reagiert genau wie vorher, dann folgt dieselbe Kurzfassung noch einmal, und jetzt erst geht es weiter, und zwar mit vereinten Kräften, ein wunderbares Feld der „Close Harmony“: Viola und Violine sind eins. Erst die spitzigen Achtel der Geige markieren ihre Sonderrolle, die sich am Ende der Exposition in höchste Höhen versteigen wird. Hier führt sie mit einem zögerlich angesetzten, halb chromatischen Anstieg zu einem Halbschluss, der das C-dur- Anfangsthema in der neuen Tonart G-dur erreicht: aber nun in vollständiger Einigkeit: mit beiden Instrumenten im Oktavabstand.

Was aber fehlt, ist die typische Zweite-Geigen-Begleitung, wie man sie aus wesentlich späteren Duos kennt, die für die Lehrer-Schüler-Praxis gedacht sind. Einige der wenigen Stellen findet man im langsamen Satz der 5. Sonate :

(folgt)

Die folgende Musik ist auch im externen Fenster zu öffnen: HIER

Haydns Aktualität (I)

Was sagt uns die sogenannte Klassik?

Blick aus dem Klinikum SG 190119 16:45 (Foto E.R.)

Ich möchte die eigene Ästhetik nicht auf ein existenzielles Feeling einschwören, eher mich selbst kritisch ins Auge fassen, nachdem ich eine Musik, die mich – wohlbehütet – aber doch in etwas misslicher Lage erreichte, auch nachts und in steter Wiederholung bis zum frühen Morgen gehört habe. So verzerrt man vielleicht sein Urteil und ist geneigt, sie als Medizin misszuverstehen. Besonders im Kontext des großen grünen Fotos an der Wand, das ein Psychologe ausgesucht haben muss, und im Wechsel mit dem Blick in die Noten, – fasziniert von einer Äußerlichkeit (?), dem unaussprechlichen Aufstieg zum hohen A, dort innezuhalten, als solle er nie enden. Wie rührend und wie unerschütterlich!

  op. 50, 6

Ein Geiger namens Willi Zimmermann, *1961, Primarius eines 1981 gegründeten Quartetts, dessen Werdegang laut Booklet in folgenden Sätzen gipfelt:

… die CD mit Haydns Quartetten op. 50 erhielt den französischen Schallplattenpreis „Choc du monde de la musique“ und wurde von der italienischen Fachzeitschrift Musica mit dem Prädikat „Eccezzionale“ ausgezeichnet. 2009 stellte das Ensemble seine Konzerttätigkeit ein.

Ein Schock, der dazugehört. Was hat mich denn in den 90er Jahren behindert, als es fortwährend musikalischere und dazu perfektere Ensembles zu entdecken gab? (Ich weiß es natürlich.)

Manchmal erkenne und höre ich Musik besser, wenn ich die richtigen Worte dafür finde. Manchmal genügt es, in diesem Sinne nur darüber nachzudenken. Aber als ich dieses Streichquartett mit Haydn hörte, war das, als ob – nein, es geschah allmählich, nicht in Sekunden – als ob mich der Blitz getroffen habe. Oder war’s eher der Mond, aus heiterem Himmel? Es ist das Temperament dieser Musiker, die Nuancen der Übergänge und des Tempos, die schiere Virtuosität, die Differenzierung auf engstem Raum. Was nicht bedeutet, dass es sich um eine glatte, in jeder Hinsicht perfekte Aufnahme handele; hier und da gibt es einen Rest von Übermut oder „riskantem Spiel“. Und genau das gehört zur Lebendigkeit dieses Musizierens (wobei einem das Wort im Halse steckenbleibt, dies ist kein „stillvergnügtes Streichquartett“!). Nur eine einzige Stelle habe ich vermerkt, um glaubwürdig zu sein:

Also im Trio des Menuetts, op. 50 Nr. 6, und zwar im fünftletzten Takt auf der zweiten Zählzeit (Tr. 11 bei 2:43). „Nicht zusammen!“ hätte unser Kammermusikprofessor Günter Kehr geschrieen, ohne Atem zu holen, auch im Konzert. Es war die Zeit, als durch die Praxis der Radioaufnahmen das „Zusammen“  zum Steckenpferd aller Tonmeister wurde. Kehr zeigte uns gern den alten Rundfunkhasen und ließ uns nicht über den ersten Akkord des Beethovenschen op. 1 Nr.1 hinauskommen, indem er nahtlos nach dem Es-dur-Schlag schrie: „Nicht zusammen!“ und das zehn Mal, mindestens.

Um mehr auf Haydn selbst zu kommen als auf die Interpretation, insbesondere auf seinen Humor, der gern beschworen wird, um uns zu entlasten: es ist nur ein Spaß, wir können uns ernsteren Themen zuwenden… Weit gefehlt!

Hier ist der Anfang des Trios, der im vorhergehenden Beispiel noch fehlte, insgesamt haben wir damit den Mittelteil des Menuetts vor uns. (Er heißt „Trio“, weil er etwa in Sinfonien früher nur von drei Instrumenten vorgetragen wurde; anschließend folgt die Wiederholung des Hauptteils, der hier nicht wiedergegeben ist: also die Form ABA.)

[ Um dieses „Trio“ kurz ins Ohr zu fassen: hier ab 18:39 bis 20:49, nur zur Orientierung, nicht als Musterbeispiel einer Interpretation!]

Wir haben ein Thema, das gleichmäßiger nicht verlaufen könnte – wenn da nicht die von Haydn vorgeschriebene falsche Betonung wäre: fz -, also 3 mal 4 Takte, in denen melodisch (fast) alles voraussagbar ist; mit Ausnahme der Nicht-Überraschung in der 3. Gruppe, wo das fz ausbleibt. Gut, dass wiederholt wird, sonst merkt es keiner. Interpretatorisch kann man nicht viel falschmachen…

Gemach, – hören wir nochmal hin: in den ersten beiden Perioden des kleinen Themas folgt das fz auf das fünfmalige Pochen des hohen Tones, – es sagt gewissermaßen: genug jetzt, es muss weitergehen. Bei der dritten Periode jedoch muss dies nicht gesagt werden: denn schon beim dritten Fis geht es weiter, – völlig unspektakulär, aber neu…

Und was geschieht nach dem Doppelstrich? Also nach der Wiederholung, die durch die Doppelpunkte : angegeben ist? Wir sehen, dass es hier mit der (ohnehin fragwürdigen) Gleichmäßigkeit und Voraussagbarkeit ein Ende hat. Zwar zeigt der Blick auf die Noten, dass der folgende Abschnitt bis zur Fermate (Takt 56) die gleiche Länge hat wie der erste Teil (vor dem Doppelstrich). Aber für das Ohr geschieht etwas wenig Berechenbares: das Cello hält fast bis zur Fermate ein und denselben Ton aus, darüber ein thematischer Neubeginn der Oberstimme, ein Aufstieg zum hohen D, und dann ein chromatischer „Gleitvorgang“, bis die Musik auf dem Dominantseptakkord stehenbleibt. Ratlos? Aufs Neue kommt der Beginn des Trios, – jetzt wird es nicht nach A-dur modulieren, sondern in der Grundtonart schließen. In der Tat, es geht nach oben zum hohen D – gewiss, der Gipfel vor dem Ende – aber nichtsda! eine lange Pause, dann erst der Abschluss; nach dem Muster des A-dur-Schlusses (vorm Doppelstrich), aber eben in D-dur. Die Irritation der Pause steckt uns durchaus ein wenig in den Knochen: Dasselbe muss noch einmal kommen, diesmal doppelt und in Zweiergruppen auf die Instrumente verteilt, Violine 1 plus Violine 2, Bratsche plus Cello. Und wieder die ominöse Pause. Der Abschluss, der danach wirklich erwartungsgemäß folgt, ist dann auf die doppelte Länge gestreckt, – anders als erwartet. Das Kreisen um den Ton G in der ersten Geige ist – sagen wir – der Erinnerung an die Fermate geschuldet. Mit diesem Teil (Takt 44 bis 56) begann das Infragestellen der Selbstverständlichkeiten, das uns bis zum Schluss begleitet. Und – sagt das Ohr – im nun wiederkehrenden Menuett ist Gottseidank alles beim alten geblieben. Es war schon ungewöhnlich genug.

Was macht Haydn mit uns? Ist das wirklich nur Scherz? Der schlimmste Fehler, den die Interpreten machen können, ist: die Pausen zu verkürzen. Die Beklommenheit muss im Raume stehen. Mir erscheint auch wichtig, dass der Experimentiercharakter hervortritt: Dem Komponisten liegt gelegentlich daran zu zeigen, wie etwas gemacht ist. Es ist nicht von Natur aus da. Menschenwerk. Und dies nicht als Muskelspiel, sondern im Konversationston.

Der Booklet-Autor Wolfgang Fuhrmann hebt hervor, was Haydns erster Biograph Georg August Griesinger berichtet:

„eine ‚arglose Schalkheit‘ , oder was die Britten Humour nennen, war ein Hauptzug in Haydns Charakter. Er entdeckte leicht und vorzugsweise die komische Seite eines Gegenstandes… in seinen Kompositionen zeigt sich diese Laune ganz auffallend, und besonders sind seine Allegro’s und Rondeaux oft ganz darauf angelegt, den Zuhörer durch leichtfertige Wendungen des anscheinenden Ernstes in den höchsten Grad des Komischen zu necken, und fast bis zur ausgelassenen Fröhlichkeit zu stimmen.“ [Griesinger]

Haydns Quartette wenden sich freilich nicht so sehr an die Hörer als an seine Spieler, Kammermusik war ja eine Sache des privaten Musizierens. So wird man auch als Hörer das leichtgewichtige dritte Quartett in Es-Dur nur ganz begreifen, wenn man sich auch ein wenig in die Perspektive der Spieler begibt und nachvollzieht, wie die schön geschwungene Melodie des ersten Satzes sozusagen nicht im Besitz des ersten Geigers verbleiben darf, wie jedes Instrument ihre Elemente spielerisch aufgreift, bis zu einer Verdichtungsstelle in der Durchführung, die wieder an barocke Kontrapunktik, an ein Fugato erinnert. Es ist diese Idee des gleichberechtigten, freien Austauschs, die in Haydns Musik so bezwingende Gestalt angenommen hat. [Fuhrmann]

Dabei kann man es allerdings nicht bewenden lassen, es gibt die Perspektive der Zeitgenossen und die der Nachfahren, wie Petra Weber-Bockholdt in einem Essay (1987) über Menuette in frühen Symphonien von Joseph Haydn ganz richtig anmerkt:

Man kann die Geltung eines Kunstwerkes mit den ästhetischen Kategorien seiner Entstehungszeit umschreiben; wollte ich dem folgen, so hätte ich im Falle Haydns von „Geschmack“ , „Kunstsinn“ , „Erhabenheit“ und u.U. auch von den zeitgenössischen Kompositionsregeln (etwa bei Riepel und H.Chr. Koch) zu sprechen. Sehr leicht aber würde dann das Problem des Anspruches an uns in eine gut 200 Jahre große Distanz gerückt – und entschärft. Auch Kategorien gegenwärtiger Kunstbetrachtung wie Aktualität, kritische Distanz, Identitätsfindung o.ä. sind ungeeignet. Denn abgesehen von der Frage, ob derartige Kategorien überhaupt etwas über den Rang von Kunstwerken aussagen können – eine Frage, die ich verneinen würde -, glaube ich, daß Haydns Sache durch sie verkannt, verfälscht, verstellt wird. – „Nutzen und Belehrung“ scheinen mir am besten jene Gemeinschaft zwischen Hörer und Musiker zu erfassen, auf die Haydns Musik ohne zu fragen rechnet. Sie erfassen wenigstens andeutend jenen primus-inter-pares-Charakter, der nicht zuletzt für den Adel der gesamten Wiener Klassischen Musik verantwortlich ist.

Ein Buch, das ich gern konsultiere, wenn es um den klassischen Stil und insbesondere die von Joseph Haydn geprägte Form, heißt „Der Klassische Stil“ von Charles Rosen (1971,1983). Und dieser Autor ist zweifellos erheblich vom „Material-Gedanken“ der Zweiten Wiener Schule gelenkt, die er auch als Pianist mit Hingabe studiert und interpretiert hat. Das Schönbergsche Buch „Die formbildenden Tendenzen der Harmonie“ hat mich im Studium beeindruckt, und vielleicht kommt es daher, dass mir Rosens analytischen Studien besonders einleuchten, gerade wenn es um Haydns Streichquartette geht. Wobei die motivische Arbeit kaum ohne Notentext darstellbar ist, und das gilt auch, wenn die wahre Begeisterung sich erst beim Hören einstellt. Bei Haydn kann man wirklich alles hören, was er will; wenn man nur das Ohr entwickelt hat und das Ensemble gut ist.

 Rosen über op. 50, Nr.1

Man wird in diesem Text nicht jedes Wort auf Anhieb verstehen, im übrigen ist die Kenntnis von op. 33 vorausgesetzt wird. Entscheidend ist aber, dass man diese einfachen Prinzipien von „Dissonanz“ und „Sequenz“ versteht, wobei man sich unter Dissonanz nicht unbedingt etwas sehr Auffälliges vorstellen darf: das 19. und 20. Jahrhundert hat den Normalverbraucher mit immer neuen Akkordgebilden unempfindlicher gemacht. Eine Dissonanz ist hier einfach ein Akkord, indem bestimmte Töne miteinander Reibungen erzeugen, die bewirken, dass er sich in einen reibungsfreien Dreiklang auflösen möchte. Z.B. der erste Akkord des Notenbeispiels (Takt 3); die Reibung dieses Dominantseptakkordes besteht in den Tönen ES und F, die ja in der Skala nebeneinanderliegen: egal was an weiteren (Durchgangs-) Tönen zu hören ist, dieser Klang löst sich in den Dreiklang des nächsten Taktes auf. Die Folge Dominante – Tonika. Und damit haben wir hier zugleich das entscheidende Motiv, das sequenziert wird. Die Sequenzgruppen sind mit dem b in den eckigen Klammern gekennzeichnet, also ein Motiv [b], das stufenweise versetzt wird, was nicht wörtlich sein muss: die rhythmische Gestalt ändert sich ja gerade in diesem Fall. Die Steigerung mit Hilfe der aufsteigenden Sequenz wird auch in der Dynamik erkennbar: p in Takt 3, mf in Takt 6, f in Takt 8/9.

Exkurs

Es lohnt sich, eine umfassende Erklärung des Begriffs „Sequenz“  nachzulesen. Ich habe mich immer gefragt, weshalb man ein so wichtiges musikalisches Werkzeug – gerade bei Bach – nicht in den damaligen Kompositionslehren findet, etwa bei Mattheson oder noch viel früher. Irrtum, endlich bin ich fündig geworden (J.Burmeister 1606, J.G.Walther 1732). Mein herrliches Lexikon MGG, Musik in Geschichte und Gegenwart (Bärenreiter 1998).

  MGG (neu) Sachteil Bd.8 Sp. 1286ff

Silke Leopold ist die Autorin des Artikels. Von ihr erfährt man auch etwas über die Handhabung im älteren Schrifttum: „Die begriffliche Festlegung solcher Sequenzbildungen erfolgt erst relativ spät als Epizeuxis (…), Auxesis (…), Climax bzw. Gradatio (…).“ „Um 1600 ist das Prinzip der Sequenz praktisch erschlossen und als Element der kompositorischen Gestaltung bis in die Gegenwart allgegenwärtig.

Zur Verwendung in der populären Musik siehe in diesem Blog HIER.

Ich folge weiterhin Charles Rosen, habe 2 Seiten übersprungen und beginne in seinem Text bei: „Haydn benutzt in dieser Exposition das Sechstonmotiv (b)“ – von dessen Sequenzierung oben schon die Rede war.

(Zu meiner rot hineingesetzten Korrektur werde ich mich später äußern.) Der Text geht auf der nächsten Seite bedeutungsvoll weiter, ich setze ab der letzten Zeile fort:

(…) es sind die gleichen, die dem unvoreingenommenen Hörer sofort be/deutsam vorkommen, wie etwa der ganz unerhörte, gedämpfte Akkord am Anfang dieses Quartetts. Der Ausdruck „unvoreingenommener Hörer“ ist vielleicht etwas irreführend, denn wir müssen uns nicht nur von den Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts freimachen, sondern uns auch die Vorurteile des 18. Jahrhunderts aneignen. Der anfängliche Ostinatoorgelpunkt, der seltsame, zarte Akkord und das kleine Sechstonmotiv liefern mit der Bedeutung, die sie im Tonalitätsdenken des 18. Jahrhunderts besitzen, Haydn alles, was er braucht. Seine Phantasie und Einsicht in ihren inhärenten dynamischen Impetus gestalten die Form, die scheinbar aus dem Material selbst herauswächst.

Erinnern Sie sich an das oben erwähnte Buch Schönbergs zu den „formbildenden Tendenzen der Harmonie“?

(Fortsetzung folgt)

Haydns neue Meisterstücke

Streichquartette Op. 64 aus dem Jahr 1790

 Dabringhaus und Grimm 2018

  Leipziger Streichquartett (neu)

Die erste (freudige) Überraschung, als ich gestern das Cover studierte: der Primarius Stefan Arzberger ist wieder dabei! Handelt es sich wirklich um eine ganz neue Aufnahme? Ja, 15./16. Februar 2018 in der Abtei Marienmünster. Wann war eigentlich der durch böse Umstände erzwungene Wechsel? Siehe hier. Ich schaue in Wikipedia hier (da ist es noch nicht nachgetragen), beim Petersen-Quartett dort , und da steht bei Conrad Muck „seit 2008“, als habe es 2015 keine Veränderung gegeben. Jedenfalls bin ich fürs erste beruhigt, und die neue CD ist wunderbar!

Jetzt stellt sich vor allem die Haydn-Aufgabe neu, die Idee des großen Streichquartetts, die sogleich auf Mozart übersprang und in Beethoven einen unglaublichen Weg einschlug. Man kann jedesmal von vorn beginnen. Vor allem, wenn man in diesem Fall, die ergänzende CD aus dem Jahre 2010 – und damit das vollständige  Opus 64 –  bereits besitzt. Ich bin froh, dass ich mir seinerzeit auch die Gesamtaufnahme aller Haydn-Quartette mit dem Auryn-Quartett zugelegt habe und jederzeit vergleichen kann, ohne eine von beiden hintansetzen zu müssen. Ich liebe Alternativen mehr als Ranglisten. Damals (um genau zu sein: beim Urlaub in Villanders Juni 2012) hatte ich versucht, die Interpretationen von op. 64,5 Takt für Takt zu vergleichen, die wichtigste Frage steht da in rot auf Seite 2; ich setze die Kopie nur hierher, um ein nein hinzuzudenken… und stattdessen die Landschaft zu erinnern, die ich beim Blick vom Balkon aus wahrnahm. 

 (… zu diesem Pfarrer ein andermal.)

 Leipziger Streichquartett (2010)

Und so berührt es auch sympathisch, einen Booklettext zu lesen, der – statt das Unwägbare zu analysieren – beim Privaten beginnt und auch keine Heroengeschichte fortschreibt. Er stammt aus der Feder von Dr. Christin Heitmann, deren Website ich zu studieren empfehle. Einzelne Beiträge sind online abzurufen (sehr interessant z.B. über Anton Reicha und die Sonatensatzform unter Genderaspekten hier).

 Text ©Dr. Christin Heitmann

Zugleich haben mich die bündigen Bemerkungen der Autorin zum Kopfsatz des Quartetts in Es-dur op. 64,6 animiert, sehr genau hinzuhören (übrigens auch vorn im Booklet die irritierende Opus-Zahl 63 zu tilgen):

[Hier] offenbart Haydn seine ganze Kunst der musikalischen Entwicklung. Das Thema ist motivisch denkbar einfach, doch speist sich der gesamte Satz aus den vier Motiven, die in den ersten vier Takten auf- und auseinander folgen. Auch hier kommt Haydn ohne weitere Themen aus, vielmehr entsteht der Spannungsbogen durch verschiedene Kompositionstechniken: motivische Arbeit, satztechnische Mittel wie Unisono-Passagen, die Kombination von Melodie und Begleitung bis hin zu kontrapunktischer Engführung sowie formale Momente wie eine Scheinreprise im Mittelteil, die das Thema motivisch in ursprünglicher Gestalt, jedoch in der entfernt terzverwandten Tonart Ges-Dur erklingen lässt.

In der jetzt anklickbaren, historischen Aufnahme mit dem Quartetto Italiano (1948) hört man diese Stelle genau bei 3:23 und die „Korrektur“, also den Beginn der echten Reprise, bei 3:45. Wenn Sie noch einen Augenblick bei dieser Aufnahme verbleiben wollen: Welten liegen zwischen einem Menuett der Nachkriegszeit (Trio ab 11:43) und den neuen Aufnahmen. Ich mache auf das Trio des Menuetts besonders aufmerksam, weil man in der Leipziger Version ganz entzückende Glissando-Sprünge in der 1. Geige hört, die in der Auryn-Fassung schon andeutungsweise wahrzunehmen sind. Über Geschmack kann man in solchen Detail-Fragen gewiss immer streiten, aber kein Zweifel: die historische Aufnahme vermittelt von Haydns Esprit keinen blassen Schimmer! Es gab eine radikale stilistische Streichquartett-Wende (nach dem Amadeus-Quartett) in den 80er Jahren (vermutlich dank der Wirkung des Alban-Berg-Quartetts).

 Morgenblick vom „Prackfiederer“ aus.

Ich bin dankbar für die Anregung, mit dieser neuen Haydn-CD (2018) der Leipziger die Begegnung mit der alten (2012) zu erneuern, die das Op. 64 vervollständigt, und zugleich die Tacet-Doppel-CD (2010) mit dem  Auryn-Quartett zu aktivieren, auf der alle 6 Werke hintereinander zu hören sind. Fraglich, ob es dem Verständnis förderlich ist, die Kammer-Musik im Kopfhörer mit der Natur konkurrieren zu lassen, wie damals in Villanders. Wobei ich ohnehin bei op. 64,5 mit dem Interpretationsvergleich wohl den falschen Weg einschlug. Nichts liegt ferner, als in solcher Stimmung zwei Konzertsaalsituationen gegeneinander abwägen zu wollen.

Womöglich konnte ich damals wirklich die Lerchen singen hören, was aber gewiss nicht nötig war, um den Beinamen „Lerchenquartett“ absurd zu finden (der ja nicht von Haydn stammt). „Die Lerche schwingt sich in die Luft“ , das wäre das einzige Phänomen, das sich auf die Melodie der ersten Geige beziehen könnte. Der Lerchengesang dagegen ist ein einziges endlos trillerndes Band, in dem die Analyse zwar eine Kette zahlloser Motive zutage fördern könnte, jedoch keine Melodie wie zu Beginn des Lerchenquartetts, die dem Muster entspricht, dem auch das Beethovensche „Ich liebe dich“ (WoO 123, 1795) folgt. Musikalisch motivierter sind die Seiten- und Rückblicke, die Thomas Seedorf im ebenfalls sehr lesenswerten Booklettext der Auryn-Aufnahme anregt:

Die Rückblicke (…) beziehen sich nicht nur auf Haydns eigene Werke, sondern schließen auch die seines hochgeschätzten Kollegen und Freund[es] Wolfgang Amadeus Mozart mit ein. Beide Komponisten führten einen künstlerischen Dialog im Medium der Quartettkomposition, der bis in Mozarts letztes Schaffensjahr führte und von Haydn über den Tod des Jüngeren hinaus weitergeführt wurde. Auf jene als „Haydn-Quartette“ berühmt gewordenen sechs Werke, die Mozart dem Älteren widmete, reagierte dieser mit den Quartetten op. 50, den „Preußischen Quartetten“. Querverbindungen zwischen beiden Komponisten lassen sich in großer Zahl finden, doch trägt wohl keine so sehr die Züge einer von größtem Respekt geprägten Hommage wie Mozarts Streichquintett in D-Dur KV 593. Ist in dessen Kopfsatz das motivisch-thematische Material bis in kleinste Details aus dem entsprechenden Satz in Haydns „Lerchenquartett“ abgeleitet, so ist das Menuett des Quintetts geradezu taktweise dem Haydn’schen Vorbild aus dem selben Quartett nachgebildet, und das in einer Weise, dass man die enge Verwandtschaft kaum merkt.

(Das folgende Beispiel im externen Fenster hier.)

(Fortsetzung folgt)