Wenn Joseph Haydn schweigt…
Vielleicht wäre es mir weniger nahe gegangen, wenn ich nicht gerade in der Klinik gelegen hätte, Solingen, 5. Stock, prächtiger Blick in Richtung Ohligs oder sogar Köln, und dieser Frühlingshimmel! Oder auch nachts, wenn es allenthalben totenstill war. Und dann in der wiederholten Folge der drei CDs, die ich mitgenommen hatte, mehrfach auf dieses Stück zu stoßen. Ich war nicht gerade erschlagen, aber ich musste am Ende gezielt noch einmal dorthin zurück. Oder ich begann nach einer Pause den neuen Durchlauf der CDs wieder genau bei diesem Stück. Mein Problem (oder meine Faszination): es sagt mir nichts. Und lässt mich nicht los. Es ist zu groß angelegt. Oder – es fehlt etwas. Vielleicht beginnt das Verwundern (das Fremdeln), sobald man das Verschwinden der Streicher bemerkt. Das ist gewiss keine Verlegenheit. Aber was will mir das Klavier denn so hartnäckig verkünden? Raum geben für eine Steigerung oder ein Sich-Bescheiden? Ein großes Theaterstück oder nur eine barocke Reminiszenz, die sich auflädt mit dem Pathos einer Chaconne?
20 Jahre vorher:
Auf die Sonate von 1776 komme ich dank Charles Rosen. Aber warum auf Beethoven?
Vielleicht weil das Individuum der äußeren Macht (dem Kollektiv der Anderen, dem „Schicksal“) eine so intensive Stimme entgegensetzt?
Aber der Reihe nach, – ich lese (wieder einmal) die erhellenden Ausführungen von Charles Rosen in „Der klassische Stil“ (Bärenreiter dtv 1983), niemand schreibt wie er über Haydns Qualitäten :
Fehler: muss Seite 407 heißen E, nicht Es! Das Trio und die Sonate stehen in derselben Tonart E-dur, im Mittelsatz jeweils e-moll. Auf Seite 408 nach dem Notenbeispiel (Thema des Trios 1. Satz) bemerkenswerter Text zu „unserem“ zweiten Satz, über barocke, klassische, romantische Anteile. Man darf das natürlich nicht pedantisch, bürokratisch sehen bzw. verstehen, es handelt sich um wandelbare Anteile des Lebensgefühls und des Empfindens für Spannungsabläufe in diesen Jahrzehnten, die im Zeichen der Französischen Revolution standen. Haydn, als Höfling (Esterházy!) und Bürger in seiner Welt, war alles andere als ein Revolutionär, aber er war es sehr wohl in seinem musikalischen Denken; er spürte genau, was er tun musste, um „original“ zu werden. (Er meinte damit nicht: originell).
Die folgende Aufnahme ist nicht die, auf die ich mich beziehe (Van Swieten Trio mit historischem Instrumentarium, distanzierter, vibrato-reduziert, im langsamen Satz „fahler“), ist aber liebevoll und genau ausgeführt, kann also einen angemessenen Eindruck der musikalischen Substanz vermitteln (externes Fenster hier):
Während man im normalen Musikerleben bei der interpretatorischen Umsetzung von Musik viel über „Bedeutung“ nachdenkt (z.B. die Phänomene „Klangrede“ oder „Affektenlehre“ im Barock), ist für die Rezipienten zu bedenken, dass keineswegs alles, was geschieht, in Bedeutungen aufzulösen ist. Man verliert den unauflösbaren Rätselcharakter des Kunstwerks aus dem Blick. Vergleichbar dem Erlebnis, wenn man über die ZEIT nachdenkt und sich dabei in dem Phänomen der Uhr festbeißt, ihren mechanisch (oder digital) gemessenen Dauern. Ich spüre eine gewisse Enttäuschung, wenn das oben behandelte Allegretto in e-moll nach mehrfachem Hören kürzer zu werden scheint. Manchmal orientiere ich mich – ohne Noten und schriftliche Anhaltspunkte zur Form – an den Zeitangaben auf der Anzeige des Abspielgerätes, um der subjektiven Einschätzung des Ablaufes zu entgehen. (Das Wort „Ereignisdichte“ – oder deren Mangel – ist eine gute Anregung.)
Ich denke einerseits an Susanne K. Langer (die in ihrer Theorie der ZEIT an Bergson anschließt), andererseits an Theodor W. Adorno:
ZITAT
Wer bloß verständnisvoll in der Kunst sich bewegt, macht sie zu einem Selbstverständlichen, und das ist sie am letzten. Sucht einer dem Regenbogen ganz nahezukommen, so verschwindet dieser. Prototypisch dafür ist, vor den anderen Künsten, die Musik, ganz Rätsel und ganz evident zugleich. Es ist nicht zu lösen, nur seine Gestalt zu dechiffrieren, und eben das ist an der Philosophie der Kunst. Erst der verstünde Musik, welcher so fremd sie hörte wie ein Unmusikalischer und so vertraut wie Siegfried die Sprache der Vögel. Durchs Verstehen jedoch ist der Rätselcharakter nicht ausgelöscht. Noch das glücklich interpretierte Werk möchte weiterhin verstanden werden, als wartete es auf das lösende Wort, vor dem seine konstitutive Verdunklung zerginge. Die Imagination der Kunstwerke ist das vollkommenste und trügerischste Surrogat des Verstehens, freilich auch eine Stufe dazu. Wer Musik, ohne daß sie erklänge, adäquat sich vorstellt, hat jene Fühlung mit ihr, die das Klima des Verstehens bildet. Verstehen im obersten Sinn, die Auflösung des Rätselcharakters, die ihn zugleich erhält, hängt an der Vergeistigung von Kunst und künstlerischer Erfahrung, deren erstes Medium die Imagination ist.
Quelle [Band 7: Ästhetische Theorie: Ästhetische Theorie. Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 4023 (vgl. GS 7, S. 185)]
Und Joseph Haydn schweigt …
Oder er lässt den Eindruck des Mittelsatzes zurücktreten, während man sich erleichtert der geistreichen Oberflächlichkeit des Finales widmet, wie einst der Eremit, der sagte: „… mich wunderts, dass ich so fröhlich bin.“