Voraussetzungslos hören?

Natürlich hören Sie nicht ganz voraussetzungslos, wenn Sie dieses Video anklicken, selbst wenn Sie sofort auf die Vollbildeinstellung gehen: Sie bekommen blitzartig eine Vorstellung vom Gesamtprojekt, – dass es mit Beethoven zu tun hat, mit einem Jubiläum, er ist 1770 geboren, 250 – vielleicht auf 2020 bezogen, 250 Jahre, vielleicht 250 Stücke. „International Composition Project“! Sie können es mit Hilfe des nächsten Links (s.u.) genauer erforschen, aber bitte schieben Sie die Sache auf: tun Sie gar nichts außer Hören (und Sehen, sofern es Ihnen hilft). Ein Komponistenname (Jan Kopp), ein Musiktitel „Ahnen“ (ein Ahnen? die Ahnen? ist es die Vorahnung, sind es die Vorfahren?) Eine Pianistin am Flügel, ein schemenhaftes Publikum, eine Konzertsituation…

Bitte hören Sie! Hier können Sie das Video auch in einem separaten Fenster öffnen: Bleiben Sie dort, lesen Sie erst später weiter. Schauen Sie, und hören Sie! Lassen Sie sich für diese wenigen Minuten „fremdbestimmen“. Wenn der Film vorüber ist, wiederholen Sie ihn, sie werden vieles (das meiste) wiedererkennen, verbalisieren Sie, wenn Sie wollen, lassen Sie nichts unbemerkt, – wie ein lauschendes Tier im Dickicht.

Das Projekt

250 piano pieces for Beethoven

HIER

JAN KOPP hier

Noch einmal zum Film zurück (Versuch einer Beschreibung, zum Memorieren:

0:12 Man hört Einzeltöne verschiedener Stärke und so etwas wie Tontrauben, blitzschnelle Tonfolgen, die auf einen Ton zielen, der unbeweglich stehen bleibt. Tatsächlich ist es die Energie des Anschlags (die rechte Hand schnellt in die Höhe), zugleich die Kürze dieses Tones (die Hand sinkt nieder zur Taste), die augenblicklich eine Erwartung weckt, die sich in einem zarten Nachhall desselben Tones materialisiert. Dann noch einmal dieser Ton, wieder etwas bedeutender, mit einer angehängten Tontraube, die in bogenförmigem Schwung auf einen höheren Ton zielt, im Abstand einer kleinen Sexte zum Ausgangston. Es folgen zwei Akkordtupfer, hoch und tief vereint, der obere Ton allein nachhallend, noch zwei Akkordanschläge, gefolgt von einem dritten, der, akzentuiert, wie eine Auflösung der vorhergehenden Klänge erscheint: davon angestoßen eine Reihe von Einzeltönen, die in die Tiefe staksen und wieder aufwärts; erst accelerierend und bald wieder zögernd, münden sie in eine neue Tontraube, die mit Elan den vertrauten höheren Ton erreicht, der jedoch wieder durch Zartheit überrascht. Wieder die zwei Akkordtupfer in der Tiefe, ein dritter, minimal aufgeladen (es wird offenbar: wir haben es mit einer Wiederholung zu tun!), der nachhallende hohe Ton usw. die Tontraube usw. bekannte Gesichter und Lautstärkegrade – bis die dreimal hintereinander schnell aufsteigende Tontraube eine Zäsur anzukündigen scheint (1:13), starker Akzent eines höhenbetonten Akkordes. Als Antwort eine Kurz-Cantilene abwärts bis 1:21. Wiederkehr der Akkordtupfer in der Tiefe, Unruhe, drei Girlanden aufwärts, neues, erregendes Moment: Repetitionstöne im Diskant, ab 1:28. Sie werden von leinen Tontrauben umschwirrt. Dunkle Akkorde im Tiefenbereich, wie schon bekannt. Neue Anläufe aufwärts, Landung auf Repetitionsebene, der schon bekannte Ton, in emsiger Bearbeitung, Zweifel an der Gleichmäßigkeit = Absicht! : rein perkussive Anschläge sind untergemischt (tonlos) 2:00. Die tiefen Akkorde kehren unterdessen wieder: interessanter Wirbel in der Höhe, die perkussiven Töne, die fast pianistisch misslungen wirkten, sind als intendiert zu erkennen, das geschwinde Klopfen nimmt überhand. Relikte auch des tiefen Tönens bleiben präsent, narrative Wirkung. Das insistierende Hämmern bricht unversehens ab. Das wiederholte Tönen bleibt, dann eine Wendung zur identifizierbaren Harmonie 2:48 und (ganz kurz) ein Dominantseptakkord. Auflösung Tonika, Absturz der linken Hand 2:53.

Haben wir das geahnt? Ein Fetzen aus der Zeit der Ahnen? Ein verfremdeter Hauch Beethovens.

Das Stück heißt „Ahnen“.

Meine Beschreibung ist keineswegs vom Komponisten autorisiert und führt vielleicht vom Wege ab. Aber das folgende Zitat geht wirklich auf ihn persönlich zurück:

Es gibt im Diskant drei Tasten, die durch Gummikeile in den Saiten abgedämpft sind. Den Effekt können Sie schon vor den Repetitionen hören. In den schnellen Tonfolgen taucht immer wieder einen Klopfen auf, das zu etwas seltsamen Rhythmen führt. Das ist das Ergebnis, wenn stumme und normale Töne in einer schnellen Bewegung kombiniert werden. (…) Pianistisch ist gerade diese Stelle allerdings etwas unbequem, weil beide Hände sich ständig überlagern. Ich wollte das nicht über Gebühr beanspruchen.

Die Schlusswendung ist eigentlich die einzige Stelle im Stück, an der tatsächlich zitiert wird. Da schaut Beethoven kurz um die Ecke und ist gleich wieder verschwunden. Interessanter scheint mir aber der harmonische Aspekt, denn ich habe ja eine kurze Kadenz von Beethoven über mein gesamtes Klavierstück gestreckt – wahrscheinlich so sehr, dass man als Hörer zunächst gar nicht merkt, dass es überhaupt eine tonale Spannung gibt. Die Wendung am Schluss macht diese quasi rückwirkend erkennbar. Ich vermute aber, dass man für solche Dinge das Stück mehrmals hören muss.

(Jan Kopp 14.10.2017)

Hier folgt ein handgeschriebener Teil der Komposition (im Video ab 1:44). Die abgedämpften Töne, von denen eben die Rede war, erkennen Sie im Notentext, wenn Sie die 32stel-Ketten unter den Bindebögen betrachten: im ersten System (23) landet der dritte Bogen auf dem letzten 32stel, einem hohen c“‘, das mit einem Kreuzchen auf dem Notenhals gekennzeichnet ist; das bedeutet, dass anstelle dieses Tones ein Klopfgeräusch zu hören ist, der bloße „Anschlag“. Genauso im nächsten System (25), unter dem dritten Bindebogen finden Sie 6 Töne, deren Hälse mit solchen Kreuzchen versehen sind. Das unregelmäßige Auftauchen dieser „leeren“ Klopftöne innerhalb der regelmäßig wirkenden Kette – wenn man es nicht ahnt, könnte man glauben, das Klavier sei defekt, in Wahrheit ist es genau so „präpariert“ – ergibt einen rhythmischen Effet, der von latent erregender Wirkung ist, die dann auch in den triolischen Tonrepetitionen nach außen tritt… zuletzt als reines Pochen …

… triolische Tonrepetitionen? War da nicht was? eine berühmte Dreitongruppe?

Ahnen Detail Screenshot

Ich danke den Beteiligten für die Wiedergabeerlaubnis! Mehr zur (geplanten) Notenedition HIER.

Ausklang

Appassionata

Ein fernes Ahnen… voraussetzungslos…

JR 10. November 2017