Zum (zur) „Chanson d’Hélène“
Als eine melodische Sequenz bezeichnet man eine Tonfolge, die mit Intervallschritten gleicher Richtung auf benachbarten Tonstufen nachgebildet wird, aufwärts ebenso wie abwärts. Eine einfache Technik, aus einem gegebenen Motiv heraus sinnvoll fortzuschreiten und einen scheinbar natürlichen Zusammenhang zu stiften. Das kann intensivierend und sogar ergreifend wirken, aber auch ermüden, wenn es zu oft hintereinander geschieht.
Wenn es um die Wirkung des folgenden Liedes geht, hilft es kaum, die Sequenz nur zu benennen oder zu bewerten. Zudem wollen wir auch nichts berücksichtigen, was sich aus der Handlung des Films und aus dem Text ergibt, ebensowenig die Faszination der Stimme und des Gesichtes der Schauspielerin. Was erstaunt, ist wohl zunächst eine gewisse Müdigkeit: die Verweigerung einer konsequenten Fortspinnung und die Taktik der Verzögerung des Abschlusses.
Auf dem 4. Ton des 4. Taktes wird der Lauf der Sequenz beendet, indem der letzte Ton unmittelbar Bestandteil des aufsteigenden Dreiklangs wird, Neues versprechend: um uns dann dessen Zielton, die hohe Oktave, zu verweigern: der „Ersatzton“ F tendiert zurück, abwärts, in die Tonfolge des Taktes 6, der wieder dem Modell der Sequenz(en) folgt; man könnte eine weitere daranhängen, um einen Takt verkürzt, und so einen bündigen Schluss erzielen. Realisieren wir einmal probeweise genau diese (fehlerhafte) Version der beiden Zeilen (Ia), danach folgt die annähernd originale Wiedergabe (Ib). Und wir sehen, dass die Ersatzversion von einer unangenehmen Glätte war…
Ia Didaktische Variante (JR)
Ib La Chanson d’Hélène (Philippe Sarde)
Wir lassen freilich auch die Harmonik außer Acht, obwohl sie wesentlich die Wirkung der Melodie stützt. Wenn wir eben meinten, dass wir einen anderen Zielton erwartet haben, der sich (angeblich) aus dem aufsteigenden Dreiklang nach der Sequenz ergeben sollte, hatten wir vielleicht eine ganz andere Melodie im Ohr (wie immer unseren Hörgewohnheiten folgend), eine fast identische, die sich erwartungskonform verhält, dann aber einen ganz anderen Weg der Rückkehr wählt (II):
II Tum Balalaika (Russian/Yiddish)
Mit Pete Seeger und Ruth Rubin hier.
Stattdessen wählt unsere Melodie Ib ein Ausweich-Manöver und eine leicht stockende Rückkehr. Dass dieses Zögern Methode hat, spürt man, wenn jetzt der Anfang wiederkehrt (9) und nach 4 Takten zur Ruhe kommt, vorzeitig, denn die zweite Takthälfte bleibt leer. Stattdessen scheint es so, als ob der Abschluss im nächsten Takt geruhsam nachgeholt wird, nach den Tönen B und A (13) müsste der Grundton kommen, aber das A verharrt gewissermaßen unschlüssig. Das Klavier „klimpert“ eine Handvoll Töne (14 &15), eine Verlegenheit, noch einmal die Grundtonvorbereitung B und A (16), noch einmal die „Verlegenheit“ (17&18), und wieder die Grundtonvorbereitung (19) mit Verlangsamung („ced.“ = cédez), und es beginnt von vorn, d.h. die nächste Strophe, die im Bass zwar den Grundton einlöst, in der Melodie aber die Ungewissheit des Schwebetones D mit Sequenzmotiv wiederkehren lässt. Erst am Ende der letzten Strophe erreicht sie an dieser Stelle den Grundton.
Die dritte Melodie illustriert das Übermaß der Sequenz, diesmal in aufsteigender Form: kaum vorstellbar, dass sie im Tonfall der Melodie II gesungen würde. Sie trumpft auf, jeder neue Sequenz-Ansatz (3 und 5) wird per Sext-Intervall angesprungen. Nach dem dritten Mal ist es genug – der lang ausgehaltene Ton G markiert zugleich die Rückkehr, inszeniert vom überbietenden hohen B. Nur 2 absteigende Sequenzen, eine „Klimperstelle“ auch hier (13 und 14), sowie eine leicht übertriebene Abschluss-Kadenz (15 & 16). Die Melodie sagt: Ich weiß, was ich will, und bemühe mich nicht, ausgewogen zu erscheinen. Walzertakt, es ist egal. (Meine Notation ist unangemessen.) „Eins und Eins, das macht Zwei“. Dem „Berliner Herz mit Schnauze“ und Hildegard Knef freundlich zugedacht. (Anfangswerbung bitte überspringen).
III „Eins und Eins, das macht Zwei“ (Charly Niessen)
Übrigens ähnelt die Vierton-Formel des Chanson d’Hélène den vier absteigenden Tönen der Lamento-Formel, die man z.B. aus Bachs „Ciaconna“ oder aus der „Schutzengel“-Passacaclia von Biber und zahllosen anderen Stücken der Kunst- und Volksmusik kennt. Wozu ja auch der klagende (?) Charakter dieses Liedes passen würde; auch der Bass scheint in diese Richtung zu weisen, biegt aber nach 2 Tönen ab. Tatsächlich hat aber die Melodiegestalt, zumal in Sequenz behandelt, nicht im geringsten mit der Lamento-Bass-Formel zu tun, die eher aufsteigende Gegenlinien provoziert, wie es bei Biber geradezu exemplifiziert wird. Zudem ist der Lamento-Bass viel zu stark, als dass man ihn mit dieser Sequenz vergleichen könnte. Er geht vom Grundton aus und kehrt kraftvoll zu ihm zurück, diese Sequenz aber sinkt von einem „Schwebeton“, der Quinte, abwärts in Richtung Grundton, der erst in einem zweiten Vorgang erreicht wird. In einem Sinkvorgang. Emotional wäre eine sanfte Traurigkeit, ja Müdigkeit zuzuordnen. Und genau das entspricht der Situation und den Texten im Film.
Hélène/Romy: (34:47, im Auto, es regnet) Ich seh dich an, und ich könnte weinen, weil ich so müde bin, müde, dich zu lieben. Ich bin müde, Pierre. Müde dich zu lieben. [MUSIK nur 1 halber Takt als Auftakt] Pierre: Ich bin auch müde. Immer Erklärungen sprechen, das muss aufhören… ich will auch keine langen Briefe schreiben…
Pierre/Michel (56:00, vor seinem Tode): Glück gehabt, nochmal gut gegangen, war nicht meine Schuld, mein Anzug ist bestimmt hinüber… Bin müde, fühl mich so wohl im Gras… Gleich mach ich die Augen auf. Moment noch. Ich muss erst zu mir kommen. Ich werde Helene sagen, sie soll mich mitnehmen. Aber erst ruh ich mich aus. Ich mach die Augen auf und sag Hélène Bescheid.
Lamento dagegen gehört zur großen Trauer, zum unerbittlichen Gang der äußeren Geschichte, zum mächtigen Pathos des Leidens, auch wenn es leise vorübergeht und sich allmählich auflädt.
Biber 1687
Manchem Leser mögen diese Gedankenverbindungen zu weit gehen, besonders bei dem Link zu Hildegard Knef, – ist denn jede geschmackliche Wertung ausgeschaltet? Ja, gewiss!!! denn die Regel Nr. 1 jedes Musikethnologen lautet „Es ist zu fragen: Was liegt vor? nicht aber nicht: Finde ich das schön?“ Wenn ich wertende Vergleiche ziehen müsste, würde ich sagen: das kürzeste Lied aus Schumanns „Dichterliebe“, ja, 1 Takt aus der „Mondnacht“ wiegt 100 Film- oder Bühnensongs dieser Art auf. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass hier – wie so oft – der ganze Film mitschwingt, die regungslosen Gesichter von Romy Schneider und Michel Piccoli, der minutiös erfasste Autounfall, die logische Konstruktion seiner Wiederkehr, die historisierte Realität der Gesellschaft, der Straßen und der Landschaften aus den Vor-Siebziger Jahren in Frankreich, eben – „les choses de la vie“. Die Stimme natürlich: es ist doch die einer ewigen Kindfrau, aus Männerphantasien destilliert. All dies hindert mich, den dummen Text, insbesondere die von Michel Piccoli gemurmelten Phrasen, zu bewerten, – so wenig man eine heilige Handlung nach ästhetischen Kriterien bewertet. Philippe Sarde hat die Musik geschrieben, aber die Verse stammen – ich weiß nicht, woher. Schön werden sie nur, wenn man an Verlaine denkt. Oder ihn nicht kennt… Le ciel est, par-dessus le toit, / Si bleu, si calme ! / Un arbre, par-dessus le toit, / Berce sa palme. / La cloche, dans le ciel qu’on voit, / Doucement tinte. / Un oiseau sur l’arbre qu’on voit / Chante sa plainte.
Ce soir nous sommes septembre et j’ai fermé ma chambre
Le soleil n’y entrera plus
Tu ne m’aimes plus
Là-haut un oiseau passe comme une dédicace
Dans le ciel
Parlé :
Je t’aimais tant Hélène
Il faut se quitter
Les avions partiront sans nous
Je ne sais plus t’aimer Hélène
Avant dans la maison j’aimais quand nous vivions
Comme un dessin d’enfant
Tu ne m’aimes plus
Je regarde le soir tomber dans les miroirs
C’est la vie
Parlé :
C’est mieux ainsi Hélène
C’était l’amour sans amitié Il va falloir changer de mémoire
Je ne t’écrirai plus Hélène
L’histoire n’est plus à suivre et j’ai fermé le livre
Le soleil n’y entrera plus
Tu ne m’aimes plus
(Fortsetzung folgt)
Ich müsste auch Einzelheiten der gealterten, leicht schrebbelnden Musik benennen, Einzelheiten, die ich nicht missen möchte: das klimpernde Klavier, die aufschluchzenden, in enge Akkorde gepressten Violinen, die ungelenke Achtelbewegung, die schon unter den beiden Einleitungstakten anhebt.
Vgl. auch Albinoni (zu lange Sequenz: wirkt larmoyant, das Stück ist ein Pastiche). Unvergesslich: Bach „Es ist vollbracht“, Beethoven „Ermüdet, klagend“ aus op.110, dies anstelle weiterer Beispiele (die Fassung in g-moll wegen besserer Vergleichbarkeit).