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Ernste oder sogar schwere Musik

Wenn man – wie ich – viele Jahre als Journalist gearbeitet hat, der Musik zu vermitteln versuchte, also solche, die einer Vermittlung bedurfte, hat viele Vorurteile zu bedenken. Zum Beispiel, dass es Leute gibt, die sich allzuleicht unterschätzt fühlen. Dann darf man durchblicken lassen: ich selber hab’s nötig, ich übe selbst und will niemanden belehren! Auch nicht, wenn ich unterstelle, dass die allzuviele denken: Musik hat nichts mit Denken zu tun, sie gefällt einem oder sie gefällt einem nicht. Niemand würde einräumen: ich habe nie zuhören gelernt. Da kann man noch so sehr beteuern, dass es bei Musik nicht viel anders sei als bei einer Sprache. Wenn jemand mir sagt: ich liebe den Klang der portugiesischen Sprache, und ich bitte darum, mir eine Fado-Strophe zu übersetzen, so wird man mir sofort genau das entgegenhalten, – was ich auch einwenden würde, wenn es um Musik geht – das Verständnis liegt nicht auf der Hand und kommt erst recht nicht „aus dem Bauch“! Der Gehörgang ist wie ein Nadelöhr. Da genügt allerdings kein (Leit-)Faden, man muss die Worte kennen, auch die Grammatik und die Redewendungen. Und das klingt schon verdächtig nach Arbeit! Womit Musik angeblich nichts zu tun hat. Ist Hören denn keine Tätigkeit? Singen, Klavierspielen, Noten lernen, – verbraucht alldies keine Energien? (Man wirbt neuerdings gerade bei Klassik mit dem Versprechen von Entspannung. Die Seele baumeln lassen! Im Ernst!) Übrigens: ich spreche nicht von Pädagogik, sondern von Lernprozessen erwachsener Menschen. Mündigen Menschen, die bereit sind zu denken. Im ganz normalen Leben.

Sieht so ein Denker aus? Wissen Sie, wer da Modell gesessen hat? Der „französische Preisboxer und Ringer Jean Baud, der meist im Rotlichtmilieu auftrat.“ (Wikipedia) Was hat sich Rodin dabei gedacht?

Also: wenn ich es den Adressaten zu einfach mache mit der Musik, sind sie auch beleidigt: Wenn ich z.B. nichts von indischer Mystik und tiefen meditativen Erfahrungen erzählen kann, sondern sage: zunächst mal musst du den einen unveränderlichen Grundton wahrnehmen, „für wahr“ nehmen und genau so akzeptieren, wie den ebenen Fußboden im Tanzsaal, das ist die Voraussetzung alles dessen, was an Wundern geschieht. Nein, du kannst nicht mit dem Wunder beginnen. Am besten, du verzichtest ganz darauf. Du brauchst nur den einen Ton, und irgendwann irgendwo, in weiter Ferne, gibt es einen zweiten, ein weiteres Wunder. Aber der eine Ton ist schwer genug, ihn zu singen oder zu spielen, ihn zu gestalten und zu ertragen.

Die Leute fühlen sich nicht ernst genommen. Wie die Kinder, – wenn sie laufen gelernt haben, – sie wollen nach kurzer Zeit nicht mehr dafür gelobt werden, dass sie laufen können. Es ist langweilig. Sie wollen einfach irgendwohin.

Ich denke viel an meine Eltern, eine typische Alterserscheinung, nicht wahr? Aber das geht anderen auch so, die viel jünger sind als ich. Ich lese z.B. ein Buch der Musik mit dem Titel „Flammen“ , es betrifft die Zeit von 1900 bis 1918, in der mein Vater heranwuchs; und ein anderes, „Liebe in Zeiten des Hasses“ , 1929 bis 1939, da lernte er meine 13 Jahre jüngere (spätere) Mutter kennen und lieben. Zum Glück hatte er seine Kapellmeisterlaufbahn aufgegeben und ein solides Studium absolviert, das ihn zum Studienassessor machte, ein respektables Wort, das nur wenige Menschen behalten konnten.

Später gab es einen Familienmythos, warum er nicht weiter als Dirigent reüssierte: in Stralsund, Lübeck oder Bielefeld, 20er Jahre, damals – erzählte meine Mutter – kam der Tonfilm auf, das ruinierte die Laufbahn. Der Witz ist nur: wenn man zurückdenkt, – revidiert – , findet man überall solche Mythen, private und kollektive.

Eine bekannte Wissenschaftlerin, Mai Thi Nguyen-Kim, Chemikerin von Haus aus, die für ihre erhellenden journalistischen Arbeiten ausgezeichnet wurde, sagte einmal,

„dass die ganze Pandemie dem Vertrauen und dem Verständnis in die Wissenschaft eher geschadet hat als genützt“. Der grelle Scheinwerfer der Aufmerksamkeit habe bei vielen Menschen nur die Illusion erzeugt, etwas zu verstehen: Man glaube, man kenne sich aus, tue es aber nicht, sagte Nguyen-Kim. „Das ist noch gefährlicher, als wenn man wenigstens weiß, mit Wissenschaft habe ich nichts zu tun.“

Wie spricht die Wissenschaft? briefly and succinctly („kurz und bündig“)

DIE ZEIT (s.u.)

Quelle: hier Wikipedia Fauci

Warum also?

DIE ZEIT 21.04.22 Seite 31: Was Experten lernen müssen Ihr Wissen ist gefragter denn je, doch sie dringen nicht durch. Deshalb sollten sie anders kommunizieren als bisher / Von Maximilian Probst und Ulrich Schnabel

Hinter der optimistischen Rede von der Vereinfachung steckt – das entnehme ich diesem ZEIT-Artikel –

die alte, idealistische Hypothese, dass es zur Förderung der Vernunft nur entsprechende Erklärungen brauche, dass sich der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« (Jürgen Habermas) am Ende wie von selbst Gehör verschaffe. Doch diese Annahme ist naiv. Denn ausgerechnet die Wissenschaft selbst hat in den vergangenen Jahren ein ums andere Mal belegt, dass Menschen ihre Urteile und Ansichten von der Welt gar nicht auf der Basis einer gesicherten Faktenlage und guter Argumente bilden. Statt an der Vernunft orientieren sie sich lieber an ihrem Umfeld, an dem, was ihre moralischen oder religiösen Überzeugungen nahelegen, oder schlicht an ihrem »Bauchgefühl«. Wer also mehr Wissenschaftskommunikation fordert, sollte sich zuerst einma mit der Sozialpsychologie beschäftigen.

Ich bin in Sorge, dass Sie mir angesichts so einfacher Tatsachenbehauptungen (und länglicher Fachworte) schon nicht mehr zuhören, daher nur noch der Verweis auf die in der ZEIT angegebenen Forschungen (beginnend mit den Sozialpsychologen Albert Hastorf und Hadley Cantril am Beispiel eines legendären Footballspiels aus dem Jahre 1951).

Mein persönliches Beispiel des Scheiterns ist der Philosoph Hegel (nicht er!!! – das hätten Sie vielleicht der Einfachheit halber gehofft, nicht er scheiterte, sondern ich an ihm).

Als ich gestern gegen 17.30 h im Taxi fuhr, um mein Auto aus der Werkstatt am andern Ende der Stadt abzuholen, drehte der Fahrer das Radio lauter: ich dachte, es sei was Türkisches, las aber auf dem Display RSG (Radio Solingen) Shakira „Underneath your Cloathes“ und unterließ ein weiteres Gespräch, weil ich nicht wusste, ob er den Titel kennt und deshalb lauter gestellt hatte. Oder nur, weil unser Thema nichts hergab. Aus irgendeinem Grund suchte ich jedenfalls abends Shakira auf youtube, genauer: ich wollte wissen, aus welcher Sicht der Song gendertechnisch gemeint war, ich wollte es mir nicht zu einfach machen. Aber doch, es war ganz einfach. Über 72 Millionen Aufrufe, so viele Menschen können nicht irren, oder? Ich erinnere mich an eine Talkshow, in der ein kluger Mann – wenn auch als Laie – über Musik , speziell über Wagner sprach, und ich war erschüttert. (Wenn das so geht, dann darf ich auch über Hegel reden!)

Noch etwas entnehme ich dem oben angeführten ZEIT-Artikel:

Entscheidend für die richtige Kommunikation ist auch die Unterscheidung des »schnellen« und des »langsamen Denkens«, die wir dem Kognitionspsychologen Daniel Kahnemann verdanken. Das schnelle Denksystem ist intuitiv, automatisch und gefühlsgesteuert, das andere hingegen rational, gründlich und eher anstrengend. Wissenschaftler apellieren fast ausnahmslos an das zweite, »langsame« Denksystem; schließlich entspricht dies genau ihrer Methodik mit Messungen, Theorien und Diskussionen, aus denen sich allmählich ein Konsens herausschält.

Im Alltag hingegen agieren die meisten Menschen im schnellen Denkmodus. Weil wir oft zu wenig Zeit haben, um alle Informationen sorgfältig abzuwägen, verlassen wir uns auf Heuristiken, gedankliche Faustregeln: Aussage, die wir zuvor schon einmal gehört haben, halten wir für glaubhafter als neue (weshalb oft wiederholte Fake News wirken); wir wählen Nachrichten unbewusst so aus, dass sie unsere vorgefassten Meinungen bestätigen – aber halten uns bei all dem selbst für vollkommen objektiv und unbeeinflusst.

Es gibt noch einiges an Stoff, was sich aus dem Artikel lernen lässt, z.B. über das Gegenmodell des „echten Dialogs“, doch ich knüpfe an die Schwierigkeit mit Hegel an, bzw. an unseren Solinger Zeitgenossen, der in der Tat ein Meister der klaren Sprache ist, und vielleicht deshalb auch so ratlos reagiert, wenn es um emotional komplexere Musik geht.

Richard David Precht, der öffentlich zugibt, er sei mit Hegel nie warm geworden, wirft den zeitgenössischen Philosophen vor, sie betrieben bei Hegel eine „Altbausanierung des Geistes“. „Es gibt in Deutschland nur eine Handvoll Philosophen, die sich intensiv mit KI [sc. Künstlicher Intelligenz] beschäftigen, und ungefähr sieben bis achtmal so viele, die sich mit Hegel beschäftigen.“ Nun ist es wenig verwunderlich, dass ein Verbote-Enthusiast wie Precht mit kritisch-dialektischem Denken und emphatischem Freiheitsbewusstsein vom Schlage eines Hegel wenig anfangen kann. Dennoch hat er in einem Punkt recht, zumindest was die deutsche Hegelianer-Szene angeht. In der Tat wird dort oft philosophische Altbausanierung betrieben.

In diesem Abschnitt gab es einen kleinen Internethinweis, der realisiert werden kann:

https://www.youtube.com/watch?v=T0EfC3ocAdI HIER

Es ist übrigens kein Digital- oder KI-Muffel, der so schreibt, wie eben zitiert. Die zweite Hälfte seines schmalen, aber höchst anregenden Buches dreht sich um die Antinomie künstlicher Vernunft, Big Data und Überwachungskapitalismus, – hier und da steige ich aus, aber man kann immer wieder aufs neue Anlauf nehmen und sich eines wachsenden Durchblicks erfreuen. Ich glaube, auch den Versuch meines Artikels „Herr und Knecht“ könnte ich heute ganz anders fassen. Dank Alexander Schubert.

Übrigens habe ich den Verdacht, dass Richard David Precht sich nicht um ein angemessenes Hegel-Verständnis bemüht hat, – aber ich besitze weder seine Geschichte der Philosophie, noch habe ich vor sie zu lesen, es sieht mir zu einfach aus, – obwohl ich ihn, wenn ich ihn reden höre, durchaus überzeugend finde – aber meine Hochachtung vor Hegel beruht auf anderen Erfahrungen, die ich etwa bei Adorno (Musik!) „gespürt“ habe: ich weiß, dass es nicht um gute Worte und „common sense“ geht. Und  wenn ich den süffigen Ausdruck „Altbausanierung des Geistes“ höre, weiß ich, dass man bei Precht nicht an der richtigen Adresse ist. Allerdings bin ich auch von den Hegel-Philosophen etwas enttäuscht. Sie helfen mir nicht, wenn ich zum wiederholten Male ratlos in der „Phänomenologie des Geistes “ blättere, weil ich im ersten Teil steckengeblieben bin, und dann stoße ich zufällig auf das Kapitel von der „Schädellehre“ und glaube zu verstehen, wovon die Rede ist und will es nicht glauben:

Und warum hilft mir da niemand, wie im Fall Lavater / Goethe ? Das war 1774 und etwas später, mit Hegel sind wir am Anfang des 19. Jahrhunderts, wir können also nicht die heute allgemein präsente physiologische Wissenschaft voraussetzen. Aber eine Vorwarnung vonseiten der Hegelianer wäre doch angemessen: Zwar war Hegel ein gewaltiger Denker, aber trotzdem kein Stellvertreter des wissenschaftlichen Weltgeistes. Bei Vieweg (siehe im Blog hier) sehe ich den quasi zufälligen Hinweis auf „unangemessen breite Darstellungen“, neben „dunklen und unausgereiften Passagen“, etwa im Fall des ›metaphysischen Epirismus‹ in der Naturforschung (Vieweg S.265):

Auch biographische Episoden nehmen Einfluss wie der Besuch des Schädellehrers Gall in Weimar und Jena sowie die Präsenz von Froerup, eines Adepten der ›Schädellehre‹. Mitunter gingen Hegel die Pferde durch, etwa in der peinlichen Anspielung auf Novalis‘ Erkranken an der Schwindsucht.

Wie kann es sein, dass ich eher zufällig bei einem Hegelianer auf Seite 215 auf den erlösenden Satz zur Qualität der Schädellehre (Phrenologie) stoße???

Unter dem Lemma [Stichwort] der »beobachtenden Vernunft« diskutiert Hegel nicht allein die Perspektive der modernen Naturwissenschaften, die zwar weiß, dass es ihre Aktivität ist, die die Befragung der Natur ermöglicht, diese allerdings als etwas bloß Vorhandenes begreift. Vielmehr diskutiert er auch obsolete Positionen wir die Phrenologie, die mit ihrer grotesken Verwechslung geistiger Eigenarten mit einer Typologie der Physiognomie von Schädeln deutlich macht, dass auf der Ebene der Beobachtung des Naturgeschehens kein angemesssenes Verständnis unserer Rationalität entwickelt werden kann. Die Gestalten praktischer Vernunft, die Hegel dann im Folgenden diskutiert, sind von diesem Einwand befreit. Allerdings gelingt es ihnen nicht, widerspruchsfrei zu einem konkreteren Gehalt des Handelns vorzudringen [usw.usw.]

Na also, mit wieviel mehr Freude folge ich diesem Autor, der freimütig – wenn auch quasi im Vorübergehen – die Defizite benennt, die man als Laie einem solchen, anscheinend [oder scheinbar] allwissenden Vater der modernen Philosophie nicht unterstellen mag. Nur Mut!

Quelle Daniel Martin Feige: Die Natur des Menschen / Eine dialektische Anthropologie / Suhrkamp Verlag Berlin 2022. [Zitat Seite 215]

Womit ich nicht suggerieren möchte, dass dieses Buch leicht zu lesen ist. Wenn ich dem Autor gerecht werden wollte, müsste ich diesen Beitrag ins Ungemessene erweitern, um zunächst einen anderen Essay zu referieren, der in dem Band „Gibt es Musik?“ steht: „Zur Dialektik der postkolonialen Kritik“. Was eine schöne Gelegenheit ergäbe, die Brücke zur Epidemiologie zurückzuschlagen, die oben im ZEIT-Artikel mit Anthony Fauci avisiert wurde. Hier geht es um den Musikbegriff und die Tatsache, dass es ihn nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben hat, was uns nicht hindern kann, ihn zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen. Denn auch der Begriff des Bakteriums ist in einer interkulturellen Betrachtung nicht schon dadurch diskreditiert, „dass er erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten kulturellen Kontext auftaucht.“

Ich wende mich stattdessen abschließend dem Begriff „Kalbfleisch“ zu, der am Anfang und am Ende eines journalistisch gedachten Einführungstextes assoziiert wird und mir als Beispiel der Tendenz zur Vereinfachung einer komplexen musikalischen Thematik dienen kann. Bachs „Kunst der Fuge“. Die hier schon behandelte Version von Reinhard Febel.

Der Clou: er schlachtet es gar nicht. Aber was tut er dann?

Und nochmals abschließend zitiere ich zur CD II Tr. 3 (Kurztext von Andreas Groethuisen):

bei Koroliov (s.u.) CD II Tr.6 u 7

Und – wie Kolneder in seiner komplexesten Arbeit eine neu gedachte Fugen-Version einmal zu einfach sah:

Quelle Walter Kolneder Die Kunst der Fuge Mythen des 20. Jahrhunderts Teil I, Heinrichshofen Verlag Wilhelmshaven1977

Nach all den Bemerkungen, abschließend und wieder neu beginnend, erlaube ich mir eine weitere zu meiner eigenen Hörpraxis (eine Übung): ich nehme mir eine andere Klavierfassung der „Kunst der Fuge“ und höre zunächst dieses „Original“, Stück für Stück, dazu jeweils die „Übermalung“ von Reinhard Febel (s.a. Hören hier), parallel sozusagen. Und danach füge ich noch eine letzte Bemerkung an (sonst kann ich mich nicht vom Thema trennen).

Evgeni Koroliov TACET hier

Meine letzte Bemerkung (folgt, liegt noch auf meinem Nachttisch)

Man könnte meinen, zu dieser Musik gehört immer der Ehrgeiz, drei (oder sogar vier) Stimmen gleichzeitig hören zu müssen, ein dreifach geflochtenes, endloses Band. Wobei ich im Moment an den Bestseller „Gödel, Escher, Bach“ gedacht habe, und an die tönende Aufnahme, die von kleinen Pausen zwischen den Sätzen und Tempowechseln durchsetzt ist, von Ausdünnung und Verdickung des Tonsatzes, von den vielfachen Erscheinungsweisen des Themas, – während meine Aufmerksamkeit anders gebündelt oder zerstreut wird, wenn ich die Noten durchblättere, deren Anblick mir etwas bedeutet, obwohl sie einen realen Verlauf wirklich nicht im geringsten ersetzen können.

Ich kann mich aber auch von den meisten Aufgaben befreien und nur alle anderen, neuen Parameter wahrnehmen, während mich zugleich ein imaginärer Strom umfasst und fortträgt, in dem mir nicht die kleinste Welle unbekannt ist.

Sagen Sie nicht: das war vermutlich kurz vorm Einschlafen, nein, nie war ich wacher als in diesem Augenblick.

Alfred Lorenz

Zur Analyse der großen Form

Seit ich mich mit Wagners Werken hörend und spielend beschäftige, inbesondere aber, seit ich mich bei der sogenannten Staatsarbeit zum Abschluss des Schulmusikstudiums (1964) längere Zeit ausschließlich mit „Tristan und Isolde“ beschäftigte und auf die große Form aufmerksam wurde, die – wie ich meinte – im Parallelismus der drei Aufzüge deutlich zutage trat, plante ich, mich intensiver mit den Arbeiten von Alfred Lorenz zu den gigantischen Bögen bei Wagner zu beschäftigen. Doch das Misstrauen begann, als mir klarer wurde, wie tief er in die NS-Ideologie verstrickt war, und als ich am Ende der beiden Bände RICHARD WAGNER Ausgewählte Schriften und Briefe (1938), die ich antiquarisch für 18.-DM erstanden hatte, auf den folgenden Ausblick stieß, war ich schon einigermaßen kuriert. So sehr, dass ich mich nicht mehr um das Hauptwerk dieses Propheten kümmern mochte: „Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner“ in vier Bänden. Aber eine kürzere Version hätte ich mir durchaus gewünscht. Falls etwas „dran“ war. Eine Recherche über die Nazizeit des Autors war damals ungleich schwieriger als heute, und als die 68er uns aufweckten, war ich schon mit den großen Formen der indischen Musik beschäftigt.

Alfred Lorenz (1938)

Wikipedia (engl) hier zu Alfred Lorenz.

Zu seiner NS-Geschichte im Detail HIER

Aber ich blieb wachsam, wenn es um einen neuen Wagner ging: Adornos „Versuch über Wagner“ 1966 und diese erstaunliche Schrift von Dahlhaus, den ich in Darmstadt kennengelernt hatte (wo auch Adorno über Form sprach) und Rudolf Stephan uns (d.h. das Klaviertrio de Bruyn) täglich ins Gespräch zog.

Carl Dahlhaus 1971

Und nun erst die Entdeckung eines neuen Ansatzes für Lorenz bei Jens Wildgruber:

    Quelle Festschrift Heinz Becker 1982, darin Jens Wildgruber: Das Geheimnis der ‚Barform‘ in R.Wagners Die Meistersinger von Nürnberg. Plädoyer für eine neue Art der Formbetrachtung Seite 205 – 213 / Laaber-Verlag 1982 ISBN 3 9215 1870-9

Bar-Form (AAB) Bogen-Form ( ABA = dreiteilige Liedform)

Die Behandlung der Bar-Form im Lexikon MGG (neu): der Artikel beginnt und endet interessanterweise mit Wagner:

  … ein weitgehendes Korrespondenzverhältnis erkennen lassen und somit als Stollen einer Riesen-Barform dem 2. Akt als Abgesang gegenüberstehen (Mey 1901, S.363; Lorenz 1966 Bd.3, S.10ff).

Quelle MGG (neu) Die Musik in Geschichte und Gegenwart  Sachteil 1 „Barform“ /  Bärenreiter Metzler Kassel Basel etc. 1994 / Autoren: Johannes Bettelbach (Kurt Gudewil)

Man mag es als bloße Sentimentalität abtun, wenn ich mich an die Staatsarbeit von 1964 erinnere, die mich zum ersten Mal auf solche Großformen aufmerksam machte; auch der Name Lorenz fehlt nicht und immerhin war dieser Abschluss des Schulmusikstudiums (danach folgte das reine Violinstudium bis 1967, dann die  Orient-Tournee und die Promotionsstudien über arabische Musik bis 1970) dafür verantwortlich, dass ich mich bis heute für das Phänomen Wagner interessiere, obwohl es den neuen musikethnologischen Arbeitsgebieten zu widersprechen  schien. Es gehört alles zusammen. Das Thema lautete: „Die literarischen und philosophischen Anregungen zu Wagners Tristan und ihre Wiedergabe bzw. Umbildung in diesem Werk.“

Reichow 1964

Wie gesagt: eine Sentimentalität vielleicht, aber es wäre auch heute noch keine Strafarbeit für mich, ein Jahr lang aufs neue „Tristan und Isolde“ zu studieren. Damals soll mein früherer  Geigenlehrer Raderschatt in Bielefeld geäußert haben: „ich dachte, er hätte endlich die Pubertät hinter sich“. Ein Irrtum, – ich wollte, ich könnte sie heute als erledigt betrachten.

Rudolf Stephan sagte uns damals: Lesen Sie Adornos Analyse zur Lohengrin-Instrumentation, überhaupt den „Versuch über Wagner“! Wie kam er darauf? Ich habe das erst im April 1966 umgesetzt und stieß wieder auf Lorenz, neue Fragen tauchten auf.

Ich wusste wohl, wie ungenügend mein Ansatz zu einem Überblick des Tristanstoffes war. Was nicht heißt, dass ich heute soviel schlauer geworden wäre. Vielleicht wüsste ich nur besser, wie ich weiterarbeiten müsste. Wenigstens hinsichtlich der Lektüre würde ich wie folgt beginnen, also durchaus bei Lorenz und bei meinem Wunsch, musikalische Riesenformen zu überblicken und nicht bei „schönen Stellen“ hängenzubleiben… wie oft wohl habe ich damals Wotans Abschied incl. Feuerzauber gehört, wie oft in meinem „Einzelhaft“-Zimmer in Köln-Niehl das Tristanvorspiel (erleichterte Fassung) am Klavier gespielt? Wie oft wohl? Auch Besucher*innen waren nicht sicher.

MGG  Mahnkopf

Quellen

MGG (neu) Die Musik in Geschichte und Gegenwart Personenteil Band 11  Artikel „Alfred Lorenz“ Autor: Werner Breig

Richard Wagner Konstrukteur der Moderne (Hg.) Claus-Steffen Mahnkopf, darin: Wagners Kompositionstechnik S.159-182 Klett-Cotta Stuttgart 1999

Letzteres ein besonders maßgebendes Buch, aus dem ein bezeichnender Satz zitiert sei:

Die Wagnerliteratur ist so vielseitig wie unüberschaubar. Ein jeder, gleich, ob musikalisch fachkundig oder nicht, glaubte, sich zu Wagner äußern zu können und zu müssen. Betrachtet man sie aber etwas genauer, folgt die erste Überraschung: Der Anteil der Literatur zur Musik Wagners ist verschwindend gering.

(Sein guter Hinweis auf Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise !!!)

Einstweilen begnüge ich mich, die Arbeit von Jens Wildgruber zu studieren, zumal sie nirgendwo in der Wagner-Literatur beachtet und zitiert wurde, auch wohl schwer aufzufinden war  – ich weiß nicht, warum das so ist, auch nicht, warum man im Internet kaum Triftiges über den Autor und seine weiteren Arbeiten findet.

Weshalb Alfred Lorenz ansonsten fehlt (auch in meinem Bücherschrank), ist klar, obwohl man es selten so simplifiziert ausdrückt: er war ein unangenehmer Nazi (gestorben 1939!). Aber natürlich kann man sich mit ihm auseinandersetzen, ohne mit seinem weltanschaulichen Hintergrund zu sympathisieren. Das geht einem ja bei Wagner genauso!

(Fortsetzung von oben, Wildgruber)

Was mir hier besonders gefällt, ist sicher auch das, was mich an die frühen 80er Jahre erinnert, eine linke Haltung, die der Utopie zuneigte, dabei immer den positiven Zielpunkt der Geschichte ahnen ließ, die Moderne (siehe Mahnkopf); für mich immer im latenten Widerspruch zu meinen parallel realisierten „orientalischen“ oder „ethnischen“ Interessen. Ich zitiere aus Wildgrubers Artikel, um es leichter repetierbar zu machen:

Das ‚Geheimnis‘ der Barform liegt tiefer, zumal es nicht zum Gegenstand der ‚ästhetischen Vorlesung‘ gemacht wird; es liegt verborgen in der Frage, warum denn die Meister [der „Meistersinger“] im Bar die einzig statthafte Form künstlerischer Äußerung erblicken. Es gibt nur einen Hinweis darauf, daß Wagner darüber nachgedacht hat, und zwar unter einem geschichtsphilosophischen Aspekt. Die Ausgangsbasis ist zu schmal, um daraus eine komplette Theorie abzuleiten; die folgenden Ausführungen sind daher eher spekulativer Natur.

Dialektisches Denken, wie es sich im Strukturprinzip des Bars niederschlägt, ist immer auch geschichtliches Denken, das Geschichte versteht als einen fortschreitenden Prozeß, in dem von Konfliktlösung zu Konfliktlösung immer höhere Ebenen der gesellschaftlichen Organisation und des menschlichen Bewußtseins erreicht werden: Geschichte hat ein Ziel, dessen formelhafte Umschreibungen als ‚Aufhebung der Selbstentfremdung‘ oder ‚Neues Paradies‘ in ihrer Abstraktheit auf die Utopie verweisen. Wenn Wagner den Bar als dialektische Struktur interpretiert, so sieht er in ihm den Niederschlag des teleologischen Geschichtsbewußtseins seiner Schöpfer, d.h. des frühen Bürgertums, dem ein klares Ziel vor Augen lag, nämlich die Aufgabe, sich gegen das Feudalsystem durchzusetzen. Das vermittelnde Element zwischen einer Gesellschaft und ihren repräsentativen musikalischen Ausdrucksformen wäre demnach in der beiden gemeinsamen Strukturierung der Zeit zu sehen.

Speist sich das Selbstverständnis des Bürgers im ausgehenden Mittelalter aus dem teleologischen Bewußtsein, daß sein Ziel, die Selbstverwirklichung, in greifbarer Zukunft zu erreichen sei, so beruht das Feudalsystem auf genau entgegengesetzten Prinzipien. Es leitet seine Existenzberechtigung aus Vergangenem ab, aus einem in mythischen Bildern verklärten Ursprung, der dem Menschen anschaulich wurde in der Zugehörigkeit zur Blutgemeinschaft der edlen Sippe, im Besitz von Grund und Boden und in der Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand. Die Rechtfertigung des Systems aus dem Ursprung steht in ersichtlichem Gegensatz zu teleologischem Bewußtsein: wo der Ursprung herrscht, kann Geschichte nur erfahren werden als Wiederholung dessen, was schon immer war, die Zeit steht unter demselben Gesetz des Kreislaufs wie das vegetative Dasein.

Elemente dieses Bewußtseins werden an zahlreichen Stellen im Ring des Nibelungen artikuliert, doch wäre es verfehlt, seine Konzeption aus dem ursprungsmythischen Bewußtsein ableiten zu wollen: es ist nur Stoff, nicht Strukturprinzip ( nur in Tristan und Isolde gewinnt es die Form beeinflussende Kraft).

Eine der denkbaren Formen, in der sich ursprungsgebundenes Bewußtsein niederschlagen kann, ist ganz offensichtlich der Bogen. Wenn die Meister also Walthers Prüfung abbrechen, tun sei es aus einem guten Grund: nicht etwa, weil ihnen eine altmodische Dacapo-Arie vorgetragen wurde, die für die historischen Meistersinger allenfalls eine allzu moderne Form gewesen wäre, sondern weil in der Bogenform das feindliche Prinzip seine Maske fallen ließ; der Junker sang nichts anderes vor, als die mißtrauischen Meister von ihm erwarten konnten.

Wenn Wagner gleichwohl Walther zu demjenigen Künstler macht, der den Bar zum wahren Ausdruck bürgerlichen Bewußtseins entwickelt, dann muß er Walther aus dem Bereich des Ursprungsmythos herauslösen. Genau dies – und darin liegt der Hinweis, daß Wagner vergleichbare Überlegungen angestellt haben muß – geschieht für alle drei Ursprungsbindungen, die das Gesetz des Ursprungs konkretisieren, wenn er Pogner über ihn sagen läßt:

Als seines Stammes letzter Sproß / verließ er neulich Hof und Schloß / und zog nach Nürnberg her, / daß er hier Bürger wär‘.

Es ist der Überlegung wert, ob dieser – Wagner unterstellte – Ansatz neue Wege zur Betrachtung musikalischer Formen erschließt.

Soweit Jens Wildgruber 1981. (Quelle siehe oben a.a.O.) Es waren die Überlegungen jener Zeit, die mich heute geradezu „heimatlich“ berühren.

17./18. April 2022

Übrigens habe ich vor Jahren (2016) im Blog schon einmal versucht, der Wagnerschen Kompositionsweise näherzukommen und bin nun quasi zufällig aufs neue an denselben Punkt geraten, wie man hier sehen kann. Allerdings im Parsifal. Und das passt nicht schlecht: der Blick zurück und auch voraus, immerhin haben wir heute schon Ostersonntag. Der Vollständigkeit füge ich noch einen weiteren Link hinzu, zu dem Artikel, der damals den Ausgangspunkt (Fluchtpunkt?) darstellte: hier zum 25. Juli 2016.

Und jetzt soll heute auch noch einmal der Link zur Youtube-Aufnahme folgen (ab 24:28),

Kundry 1992 Waltraud Meier, Poul Elming (Barenboim, Kupfer)  HIER 

darüberhinaus unten der entsprechende Notentext aus dem Parsifal-Klavierauszug meines Vaters, der ihn in seinen Kapellmeister-Jahren (in Schwerin erworben und) in Stralsund studiert haben wird, in den 1920er Jahren, noch optimistisch vorausschauend, womit wir heute – zurückschauend – ziemlich genau 100 Jahre im Blick hätten, – zugleich eine nahe Zukunft, die wenig Anlass zum Optimismus gibt.

Tristans Blick

im Vorspiel

er schlägt die Augen auf, sie schenkt ihm das Leben, er stirbt, sie anblickend

Leben Tod

(folgt: Walküre: „Todverkündigung“ 2.Aufzug, 4.Szene (s.o. Bar-Form MGG)

Hören? Z.B. HIER (Solti 1957), a) bis 9:45 b) bis 13:07 / c) bis Ende / Im Textbuch auf Wiederkehr Motiv 32A achten (Seite 100 und Seite 101)

Wer war Wagner? († 13. Februar 1883)

15. Januar 1882 / ZITAT:

Man muss schon abgebrüht sein, um in diesem späten Porträt nicht das Antlitz eines Jenseitigen zu erblicken. Alles Blut scheint daraus gewichen, nur die blauen Augen tragen rot geäderte Ränder, der Teint wirkt kreidig, teigig, ungesund, Haar und Backenbart fast struppig, und besonders die lachsfarbenen Lippen lassen mehr eine Steckbriefzeichnung vermuten als das Werk eines renommierten Malers. Januar 1882, Palermo, Grand Hôtel et Des Palmes, der 41-jährige Auguste Renoir porträtiert den 68-jährigen Richard Wagner. Der Meister, so berichtet der musikbegeisterte Maler hinterher, sei »sehr fröhlich« gewesen, wenngleich nervös. 35 Minuten dauert die Sitzung, nicht eben lang, und Renoirs Einschätzung des Resultats lässt tief blicken. »Wenn ich vorher aufgehört hätte, wäre es noch besser gewesen.« schreibt er, »denn mit der Zeit war mein Modell nicht mehr so fröhlich und wirkte steifer. Ich habe die Veränderungen zu sehr übernommen.«

Noch mehr Flüchtigkeit im Skizzieren hätte somit ein noch echteres, authentischeres Wagner-Bild besorgt? Der Gedanke leuchtet ein. Wo die Pose fehlt, liefert der Mensch sich aus. Vor allem aber ist die Mühe interessant, die es [den] Komponisten offenbar kostet, sich in Pose zu werfen – und nichts als diese Mühe fängt Renoir ein. Ausgerechnet Richard Wagner, dem Virtuosen der Selbstinszenierung und -stilisierung, entgleiten hier die Züge, und wären da nicht die altbekannte Silhouette, nicht die opulente Seidenschleife am Hemdkragen und der schwere, pelzbesetzte Mantel (als sei der sizilianische Winter einer der härtesten), man würde ihn kaum wiedererkennen. Renoirs Malerkollege Paul Gauguin wertete die Physiognomoe des Deutschen hellsichtig als eine transparente, durchlässige: ein bleiches »Doktorengesicht, dessen Augen dich nicht fixieren, nicht ansehen, sondern zuhören«. Zwanzig Jahre später drehte der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe den Spieß programmatisch um, ohne groß auf Wagner einzugehen. Das im Pariser Musée d’Orsay hängende Bild, schreibt er, sei »ein merkwürdiges Dokument. Es gibt gewisse Seiten Wagners mit verblüffender, fast erbarmungsloser Psychologie. Es steht dahin, wie weit sie dem Maler bewusst war, jedenfalls beweist das Bild, wie frei sich der Künstler vor dem Gegenstand seiner Verehrung fühlte.«

Quelle Rüdiger Schäpe und Christine Lemke-Matwey: Die Sächsischen Olympier / in: Richard Wagner Max Klinger Karl May WELTENSCHÖPFER / Hatje Cantz  (Austellung Leipzig) Ostfildern 2013 (Seite 24f)

(JR) Ich erinnere an meine obige Verknüpfung des Wildgruber-Artikels mit meinen Hoffnungen um 1980, an die geheime Rolle der Moderne, und finde sie – ich mag Unrecht haben – auch in der Einschätzung des Wagner-Porträts von Renoir wieder, der offenbar für den Umschlagspunkt der Moderne (nach Wagner) einstehen soll, wie ich ihn auch nach dem eben zitierten Text avisiert sehe. Ohne dabei zu frohlocken. Ich habe vor zwei Tagen den Renoir-Film gesehen, war ernstlich berührt und hätte ihn gern noch einmal gesehen… Es würde zu weit führen, darüber nachzudenken (sein Alter und auch: das Altern der Moderne). Hier ist die Fortsetzung des Zitates:

Schön für Renoir, möchte man sagen – und nicht ganz so schön für Wagner? Von der Moderne, die sich hier am Horizont abzeichnet, ist der deutsche Überkünstler gegen Ende seines Lebens mindestens so weit entfernt wie der französische Impressionismus vom Bärenfell Jung-Siegfrieds auf der wagnerschen Opernbühne des 19. Jahrhunderts. Das eigentlich Aufregende aber ist, dass Wagner sich dessen bewusst war. Auch das enthüllt Renoirs Porträt: Indem es einen sich Verabschiedenden zeigt, einen, der bereits Platz gemacht hat. All die Zukunftsorgelei, die Wagner stets lautstark betrieben hatte, in Wort und Ton, in seinen Schriften wie in seinen Musikdramen, sie muss vor einer Zeit, die nicht nur an Gott, sondern auch an der Stellvertreterschaft des Künstlers für dass Göttliche auf Erden zweifelt, notwendig verstummen. Die Schwelle zum nächsten Jahrhundert kann und will Wagner, der Visionär und Utopist, nicht überschreiten – zumal er sich von seinem Selbstbildnis, seinem künstlerischen Rollenverständnbis offenbar nicht zu lösen vermag. Dabei wären Wagner und Sigmund Freud gewiss ein famoses Dioskurenpaar geworden.

ZITATende

(JR) Mit dieser zuletzt genannten Paarung wären wir schon fast bei Thomas Mann und seinem großartigen Essay aus dem Jahre 1933, den ich aufs neue anschaue. Für mich als Leser jedoch steht – sinnvollerweise, aber rein zufällig – erst recht auf der Liste das neue Buch von Volker Hagedorn: FLAMMEN Eine europäische Musikerzählung 1900 – 1918 (Rowohlt 2022). Siehe hier.

Wer genau den gleichen Weg gehen will wie ich, könnte sich schon mal … etwas einhören (die Vorstellung beginnt genau bei 2:20) HIER (Pelléas et Melisande)

Gendern!? Wie in der Musik darüber gedacht wird…

… sodass ich mich womöglich anschließe

Vielleicht mache ich es mir aber zu einfach, indem ich vormerke, was ich gestern und heute gelesen habe (wie vorher auch schon ähnlich von Navid Kermani, der nicht unbedingt zu den Musiker:innen zählt). Ich merke es mir vor, statt es still zu beherzigen oder mir gar eigene Gedanken zu machen, nachdem ich mir immerhin schon hier und hier etwas zum Thema vorsortiert hatte.

Diesmal handelt es sich um nicht weniger als

Die Wahrheit über Cancel Culture HIER

geschrieben von Moritz Eggert, gefunden in der NMZ online, die ich regelmäßig per Mail empfange und allen Musikinteressenten/tinnen empfehle; sie werden im Link auch eine Gelegenheit entdecken, sich zum regelmäßigen Bezug dieser Musiknachrichten einzutragen.

Darüberhinaus entdeckte ich als Abonnent von Musik & Ästhetik mit Verwunderung einen Artikel des Mitherausgebers Claus-Steffen Mahnkopf, weil darin wenig Musiktypisches zum Vorschein kommt, jedoch eben dieses Gender-Problem in allen möglichen Facetten.

Hier wäre Gelegenheit sich etwas einzulesen, vielleicht folgt der Entschluss, koste es was es wolle, den Rest an anderer Stelle weiterzuverfolgen:

Und außerhalb? Z.B. in der ZEIT 7. April 22 von Petra Gehring

4 Auffassungen von Geschlecht !

Quelle: Das gefühlte Geschlecht / Die britische Philosophin Kathleen Stock wurde wegen ihrer Transgender-Theorie stark angegriffen. Dabei ist ihr Buch »Material Girls« alles andere als ein Skandaltext / Von Petra Gehring [hier]

ZITAT

Harsch geht Stock nicht nur mit dem trans-aktivistischen Konzept des Geschlechts als »Gefühl« ins Gericht. Sondern sie schreckt bereits von der These zurück, das Geschlecht sei allein eine Sozialtatsache.

Philosophisch gesehen ist das keineswegs zwingend nötig, denn »gefühlt« ist etwas anderes als »geworden«, und das Gewicht einer durchlebten Geschlechtersozialisation macht sehr wohl aus einer Frau eine Frau. Deshalb ist auch Geschlecht im Sinne von Konzept 3, also seinem sozial bestimmten Charakter, derart real, dass es sich nicht per (Selbst-)Definition abstreifen oder nachträglich aneignen lässt. Und auch die Übereinstimmung von Identität und Geschlecht, also das, was im Trans-Jargon inzwischen  »cis« genannt wird, ist kein Phantom. Vielmehr steht es für eine Art Klassenlage, die tief in den Leib hineinreicht: für Gegebenheiten, die sich ganz ohne Berufung auf Biologie jedem Verdacht auf Beliebigkeit entziehen.

Quelle des hier thematisierten Buches: Kathleen Stock: Material Girls. Warum die Wirklichkeit für den Feminismus unerlässlich ist; Edition Tiamat, Berlin 2022; 384 S., 26,-€

Nachtrag 5.8.22 NZZ

In der Genderfalle: wenn es der öffentlichrechtliche Rundfunk niemandem recht machen kann

Deutsche Sprachwissenschafter fordern von den Anstalten eine Abkehr von Genderstern und Binnen-I. Doch sollten die Senderchefs flächendeckend verbindliche Regeln festsetzen, dürften sie bald selbst als Partei im Kulturkampf betrachtet werden.

Hier

Idiota de mente

Ein Sonderthema, das nichts mit Demenz zu tun hat

Schloss Bruneck (Wikimedia)

Hier  und Hier Etwas zum Lesen (für JR, mit Zusicherung meinerseits: die Lektüre des Originals ist von Bedeutung, wenn auch sehr alt; ein äußerer Anreiz für mich: es hat mit Brixen/Südtirol zu tun, ist assoziativ noch in statu nascendi, und es entgeht mir nicht, dass die Hausarbeit nicht sehr weit führt, wobei aber gerade das Manko produktiv wirkt).

Nikolaus von Kues (Wikipedia-Artikel) Von Kues an der Mosel nach Umbrien…

– Fortsetzung folgt –

Sie folgt, gewiss. Aber woran ich anknüpfe, sollte ich auch andeuten: private Abgründe, hier.

ZITAT

In dem Dialog Idiota de mente treffen die beiden erneut aufeinander. Diesmal aber kommt ein Philosoph hinzu, welcher durch den Redner von den unkonventionellen Gedanken des Laien erfahren hat und sich nun ebenfalls Erleuchtung durch ein Gespräch mit diesem erhofft. Der Redner und der Philosoph treffen den Laien bei seiner Arbeit in einem Kellergewölbe an, als dieser einen Löffel schnitzt. Während sich der Redner schämt, den Philosoph in solch eine Umgebung gebracht zu haben und fürchtet, was dieser nun von ihm denken könne, reagiert dieser mit weltoffener Sicht und kann nichts Schlechtes daran finden, dass der Laie der Kunst des Löffelschnitzens nachgeht8. Der Philosoph wünscht, über den menschlichen Geist belehrt zu werden und erfährt durch den Laien, ,,dass der Geist zum einen den Geist im Körper, die Seele, bezeichnet und zum anderen unendlicher göttlicher Geist ist.9 „Der Laie veranschaulicht am Löffel, wie die ,,mens humana“ Abbild des göttlichen schöpferischen Geistes ist. ,,Die gebildeten Begriffe kann der Geist für sich anblicken, etwa wenn er den Kreis als eine Figur erfasst, bei der alle vom Mittelpunkt zum Umfang gezogenen Linien gleich sind“.

Autorin: Lena Joana Bernotat (Hausarbeit 2020)

Die Wissenschaftlerin  Renate Steiger nennt in ihrer Einleitung zum Dialog „Der Laie über die Weisheit“ den Namen Raimund von Sabunde, aus dessen Wikipedia-Darstellung ein Satz zitiert sei:

Offenbarung (Bibel) und Natur stimmen in seinem Verständnis überein, da sie beide von Gott stammen. Der Naturerkenntnis (durch die von der Erbsünde befreite und vom Glauben erleuchtete Vernunft) gibt er den Vorzug, da sie nicht nur den Klerikern, sondern auch den Laien zugänglich sei und nicht verfälscht werden könne.

Ein erstaunlicher Hinweis, und erst im Fortgang wird ersichtlich, dass die Autorin (und Herausgeberin) mit Blumenbergs Sicht auf „den Cusaner“ kritisch verfahren wird. Die Grundlage des christlichen Denkens ist und bleibt ja ein Buch, an dessen Buchstaben nicht zu rütteln ist, auch wenn sie in Widerspruch mit unserer Erfahrung geraten, andererseits liegt die Natur (scheinbar) unvermittelt vor unseren Augen, beides kommt von Gott, das eine dank Offenbarung, das andere dank unmittelbarer Erfahrung. Eine speziell christliche Falle, – wenn man sich fragt, ob die Abstraktionen des Geistes wirklich ebenso existieren wie die Vielzahl der Dinge -, ist die der Dreifaltigkeit, die dogmatischerweise als Einzahl ebenso vernünftig erscheinen soll wie als Dreizahl: man hilft sich, indem man das Paradox selbst für gottgegeben (natürlich) erklärt. Per ordre de Mufti. Ein Trick wäre, zunächst die Welt der Dinge auch für ein Buch zu erklären, in Konkurrenz zum Buch der Bücher…

So etwa erkläre ich mir, dass man sich (vorläufig) wirklich noch mit dem auseinandersetzen muss, was unter dem Namen Nominalismus – in Abgrenzung vom Rationalismus – zu verstehen ist. Und warum zeitweise der Inhalt des einen Begriffes mit dem des anderen ausgetauschen werden muss. (Private Folgerung: GEDULD – bis endlich die Aufklärung zum Durchbruch bereit ist).

ZITAT Renate Steiger (Anmerkung in der Einleitung Seite XIII)

Siehe u.n. 4,8-10. Dazu H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M.2 1983. Nach Blumenberg enthüllt die Metapher vom Buch der Natur »ihren rhetorischen Gehalt erst als Paradox in der Stoßrichtung gegen die Scholastik“, die Bücherwelt der Kleriker (S.58). Für den Cusaner sei – vorbereitet durch Raymund von Sabunde, von dessen Theologia naturalis Nikolaus sich 1450 eine Abschrift verschafft hat (cod. Cus. 196 I – der Laie eine Figur der Unmittelbarkeit (S. 60). »Der Laie ist der Sprecher der Weisheit, die nicht nur das Pathos der größeren Tiefe gegenüber der Wissenschaft vom scholastischen Typus angenommen hat, sondern … sich einen skeptischen, sogar polemischen Ton gegenüber allem zulegt, was Wissenschaft heißen will. Das hat immer zwei Seiten: Es moniert die Erfahrungsdistanz der scholastischen Begriffsspekulation, und es rekurriert auf den theologischen Hintergrund in den Formen einer schlicht gewordenen Mystik, für deren Typus die Devotio moderna steht.“ (S. 63)

So wird die Unmittelbarkeit der Erfahrung von Wirklichkeit vom bloßen Lesen oder Hörensagen über sie abgesetzt (s.u.n.19).

Autorin: Renate Steiger (1988)

Das Blumenberg-Buch, das sich seit 2021 in meiner wachsenden Blumenberg-Sammlung befindet, entstammt der 11. Auflage des gleichen, mehr als 400 Seiten langen Werkes, dessen Inhaltsverzeichnis einiges über „Die Lesbarkeit der Welt“ erahnen lässt.

Ein anderes, vom Volumen her eher unscheinbar, im Format eines Reclamheftes, lese ich seit jenem Urlaub auf Texel im August 2020 bis heute immer wieder, und ganz allmählich hat der Bezug auf Nikolaus von Kues auch bei mir eine so zentrale Stellung eingenommen, wie von Hans Blumenberg schon 1956 aufgedeckt. Je öfter ich mich in seinem Aufsatz „Nachahmung der Natur“ festlese, Untertitel: „Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen“, desto wesentlicher erscheint es mir. Nicht nur als Wissenstoff, sondern als Lebensmittel. Und als geheime geistige Wunderwaffe habe ich ein Buch bereitgelegt mit dem schlichten Titel „Handwerk“. Ein anderes wird morgen früh um 11 Uhr bei dem Buchhändler meines Vertrauens eingetroffen sein und wird in kürzester Zeit hier abgebildet sein.

Aber was muss ich feststellen: der Dialog des Löffelschnitzers fehlt. Es muss noch einen anderen Band geben, und wirklich, jetzt erst entdecke ich ihn hier, kann aber immerhin, wenn ich die Funktion „Im Buch blättern“ wähle, einiges nachlesen, im oben angekündigten Kues-Dialog „Idiota de mente“ :

: (Screenshots)

Aber was nun? Soll ich endlich ganz von vorn beginnen? Statt darauflos zu recherchieren? Hier sind die Blumenberg-Seiten, die mich auf Nikolaus von Kues brachten, ihn unentbehrlich machten, so dass ich ihn „im Original-Kontext“ sehen und lesen musste:

Seit Aristoteles wird in Bezug auf Kunst (bzw. auf den schöpferischen Menschen) unablässig ein Thema mit unzähligen Variaten wiederholt: dass es sich um Nachahmung der Natur handelt. Und unter Natur kann man ebernso den Gottesbegriff verstehen, je nachdem welche weltanschaulichen Vorgaben herrschen. Mich begann Blumenbergs frühe Abhandlung zu faszinieren, nachdem mir die folgenden Sätze eingeleuchtet hatten, – mir fiel Leonardo ein, dessen schöpferisches Genie sich nicht nur in Abendmahl und Mona Lisa dokumentierte, sondern auch in Kriegsmaschinen und Fluggeräten, ohne dass man alldies zusammendenken mag:

„Es ist vor allem ein Phänomen der »Sprachlosigkeit« der Technik.“ Und vor allem: „Für die herankommende technische Welt stand keine Sprache zur Verfügung.“ Wenig später fällt der Name Leonardo da Vinci, aber verkappt kritisch, da er sich mit der alten Traumvorstellung von der Nachahmung des Vogelflugs beschäftigt hat, während das Problem schöpferisch nur mit einem absolut neuen Prinzip zu lösen war, der Verwendung einer Luftschraube, denn „rotierende Elemente sind von reiner Technizität“ . An dieser Stelle kommt Nikolaus der „Cusaner“ ins Spiel, und was sein Beispiel des löffelschnitzenden Laien hätte bedeuten können, des „Idiota“ (lat.). Mit meinem alten Griechisch-Lexikon kann ich leicht erklären, warum wir uns in der Schule gern schon mal mit der Anrede titulierten: Na, du gemeiner Soldat. Heute kaum noch zu belächeln.

Aber nun zur Sache:

Man kann die einzelnen Sätze gar nicht bedeutungsvoll genug nachlesen. Gott ist eine so selbstverständliche Grundlage alles „alten“ Denkens und Fühlens, dass wir es nicht mit einem Lächeln abtun können, um z.B. den Rationalismus des Bachschen Weltverständnisses mit unserm eigenen zu vermischen. Man verstehe nur, weshalb ein Bach-Jünger wie John Eliot Gardiner in seinem großen Buch von der „Himmelsburg“ ein ganzes Kapitel dem „Räderwerk des Glaubens“ widnete. Und nun einen solchen Satz (s.o.):

Aber die Berufung auf den schon vorhandenen und das Fluggeschäft gottgegebenerweise ausübenden Vogel hat gar nicht soi sehr die Funktion einer genetischen Erklärung. Sie ist vielmehr der Ausdruck für das mehr oder weniger bestimmte Gefühl der Illegitimität dessen, was der Mensch da für sich beansprucht. Der Topos der Naturnachahmung ist eine Deckung gegenüber dem Unverstandenen der menschlichen Ursprünglichkeit, die als metaphysische Gewaltsamkeit vermeint ist.

Erlauben wir uns einen Seitenblick auf J.S.Bachs „weltlichen“ Zeitgenossen Johann Mattheson, über den wir bei Wikipedia folgendes erfahren:

Im Gegensatz zum Zeitgeist zu Beginn des 18. Jahrhunderts vertrat Mattheson die Auffassung, dass die Musik nicht theologisch, sondern sozial sein sollte. Die Musik soll nach Mattheson ihren eigenen Regeln folgen und nicht von außen auferlegten kontrapunktischen Regeln unterliegen, die sie in ein scheinbar wohlgestaltetes Korsett zwängen. Sie soll nicht allein zu Gottes Ehre (Soli Deo Gloria) komponiert und gespielt werden, sondern vielmehr um den Menschen zu gefallen und sie u. a. zum Tanz zu bewegen. Mattheson prägte daher ein für seine Zeit untypisches, gesellschaftlich ausgerichtetes Musikverständnis – ganz nach dem Vorbild des in Frankreich aufkommenden galanten Stils, der dabei stets von einem elitären, exklusiven Menschenbild ausging.

Ziehen wir keine übertriebenen Rückschlüsse: offiziell wird Mattheson immer wieder den Zeitgeist bekräftigen. Man muss nur zur Kenntnis nehmen, mit welcher Emphase er den himmlischen Ursprung jeglicher Musik beschwört und sich darauf beruft, dass die Engel selbst sich der musikalischen Werkzeuge der Menschen bedienen. Spricht so ein großer Aufklärer in unserm Sinne?

Quelle: Johann Mattheson: Versuch einer systematischen Klang=Lehre wider die irrigen Begriffe von diesem geistigen Wesen, von dessen Geschlechten, Ton=Arten und auch vom mathematischen Musikanten nebst einer Vor=Erinnerung wegen der behaupteten himmlischen Musik / Hamburg 1748 / Nachdruck DDR Leipzig 1981 für Bärenreiter Kassel

Man bedenke, dass Nikolaus von Kues seine Schriften zum Lob des Laien als ein getreuer Kirchenmann, wenn auch nicht unangefochten, 300 Jahre vor Mattheson und Bach verfasst hat! Der aufklärerische Kern schlief im Innern der kirchlichen Lehre, und genau das will Blumenberg in allen Verästelungen nachvollziehen. Und wir können uns nicht darüber erheben und sagen: erst um 1800 oder seit der Französischen Revolution brach urplötzlich die Vernunft aus dem  wirren abendländischen Denken hervor, wie die Sonne aus der Nacht des Mittelalters. Neu war die Sprache, die man dafür entwickelte, was nicht bedeutet, dass es vorher keinen Sprache gab. Im Gegenteil:

Das Unformulierbare ist das Unvertretbare. Das Paradies war: für alles einen Namen zu wissen und durch den Namen sich geheuer zu machen.

Siehe im letzten Blumenberg-Text oben Seite 14 unten. – Was aber war nochmal „Nominalismus“ ?

(Fortsetzung folgt)

A wie Adorno

Eine Rückkehr

Adorno (Theodor Wiesengrund-Adorno) hat mich begleitet seit 1960, genauer: seit 1959 – mit „Dissonanzen“, das Buch gehörte meinem Bruder, es muss es in der Mainzer Musikwissenschaft bzw. Schulmusik Pflichtlektüre gewesen sein. Fast gleichzeitig entlieh ich – noch zuhaus – aus der Bielefelder Stadtbücherei die „Philosophie der Neuen Musik“ und ließ mich davon nicht entmutigen. Ein eigenes Exemplar las ich in Berlin, mit Rot- und Blaustift versehen, endlos Zeile für Zeile, im Café Kranzler, immer wieder mit lichten Augenblicken, aufflammender Begeisterung. Ich ließ mich durch seine Position gegen Strawinsky nicht beirren. Danach kam jedes Jahr mindestens ein weiteres Buch dran. Auch Rundfunkvorträge, von denen ich glaubte, dass sie im Äther verlorengehen könnten, verschriftlichte ich nach den Tonbandaufnahmen in stundenlangen Sitzungen (in Köln-Niehl und in Gummersbach, wo ich unterrichtete und manchmal übernachtete). Ich habe die Anfänge schon einmal rekapituliert. HIER. Auch in Visp (Visperterminen), wo er gestorben ist, habe ich seiner gedacht, auf langen Wanderungen. Mein Zimmer in der Solinger Wohnung Querstraße war mit einem langen Zitat aus dem „Getreuen Korrepetitor“ tapeziert, das ich täglich betrachtete. Was mich nicht schreckte: wie er Bach gegen seine Liebhaber zu verteidigen suchte, wie er mit dem Jazz verfuhr, mich störten eher seine Imitatoren. Ich polemisierte gegen Clytus Gottwald, dessen Verdikt über Historische Aufführungspraxis mich ärgerte, da wollte ich seine Neue Musik auch nicht hören. Manfred Gräter, den ich als späteren Kollegen im WDR nie kennenlernte, aber sein frühes Buch hat mich durchaus beschäftigt, zu Zeiten wo mir Hindemith noch das Maß der Moderne bedeutete.

Um so willkommener der neue Anstoß.

https://lenitiv.notion.site/Adorno-Audiothek-2f95092d2b2645d7a1d82b11df50bce0

Zur Adorno-Audiothek Hier !!!!

Ein Beispiel:

Adorno über Popmusik

Die ästhetischen Grausamkeiten der Beatles

hier

Vom Kosmos

Nominalismus: was schert mich das? Und auch: was lehrt mich das?

Schall und Rauch? Goethe „Faust“

Das Weltbild meiner Kindheit (ich liebte die Tiere, also: dies musste alles wahr sein):

Heute beginne ich aber mit Wikipedia: HIER über den Universalienstreit. Oder auch: Nominalismus. Ich: immer in grün.

aus Wikipedia a.a.O.

Auch dies sei zunächst dahingestellt. Ich zitiere aus einem Text über den Philosophen Hans Blumenberg (unter Weglassung der Quellenhinweise, außerdem: statt ß meist ss, unerwähnt: kleine Umsetzung eines Textbausteins). ZITAT (Wetz S. 31 bzw. 30):

In der vorchristlichen Antike galt der Kosmos als Inbegriff des schlechthin Möglichen; außer dem Wirklichen war nichts möglich. Auch im christlichen Mittelalter von Augustinus bis Albertus Magnus und Thomas von Aquin soll das »Was der Welt«, deren essentieller Bestand, für Gott als Schöpfer alternativlos gewesen sein. Dessen Willensmacht bezog sich lediglich auf das »Dass der Schöpfung«, deren existentiellen Bestand: Es lag in seiner Macht zu entscheiden, ob die Welt sein wird oder nicht, aber nicht, welche Gestalt sie haben soll.

All diese Grundaussagen sind nach Blumenberg im spätmittelalterlichen Nominalismus fragwürdig geworden.

Der theologische Absolutismus des spätmittelalterlichen Nominalismus verkehrte das zeitlich vorausgehende System des mittelalterlich-scholastischen Rationalismus gewissermaßen in sein Gegenteil. Dort wurde behauptet, was hier in Abrede gestellt wird. Im Hochmittelalter wurde das Ganze der vergänglichen Schöpfung noch als sinnvoller Ordnungszusammenhang von beruhigender Beständigkeit, Verlässlichkeit und Wohlgeordnetheit vorgestellt. Dieses Ganze hatte den Charakter eines hierarchischen Stufenbaus, an dessen Spitze der Mensch stand, der in der Ordnung des Wirklichen eine Vorzugsstellung beanspruchte, da er sich als Krone der für ihn eingerichteten und zu seinen Gunsten disponierten Welt betrachten durfte. Zugleich sah er sich durch seine Gottebenbildlichkeit in den Stand gesetzt, Gott und die Welt sicher erkennen zu können. Seine Gottebenbildlichkeit war Garant für die Zuverlässigkeit seiner Gottes- und Welterkenntnis, denn Gott ebenbildlich zu sein hieß, im Besitz eines Verstandes zu sein, der tendenziell mit dem Gottes übereinstimmte.

All diese Grundaussagen sind nach Blumenberg im spätmittelalterlichen Nominalismus fragwürdig geworden. Die sichtbare Welt offenbarte jetzt nur noch einen kleinen Ausschnitt des Gott Möglichen, der seiner Schöpfung jederzeit ein anderes Aussehen geben konnte. Nachdem so Gottes Wille zu höchster Mächtigkeit gesteigert worden war, soll es anschließend zu einem großen Vertrauensverlust in seine Zuverlässigkeit gekommen sein. Wurde Gott aber in seiner absoluten Macht für die Menschen unberechendbar, so konnte auch die Wohlgeordnetheit der Schöpfung sowie die Sonderstellung und Bedeutsamkeit des Menschen nicht mehr länger metaphysisch begründet werden. Der Zuverlässigkeitsschwund Gottes zog einen Ordnungsschwund der Welt und einen Bedeutsamkeitsschwund des Menschen nach sich. Gott, der im Spätmittelalter die Menschheit aller metaphysischen Garantien und Zusicherungen beraubte, war für sie ebenso unbelangbar wie ungreifbar geworden. Mit seiner Macht hatte auch seine Verborgenheit zugenommen. Die »potentia absoluta« ist ein »deus absconditus«. Nun ist ein verborgener Gott aber für die Menschen soviel wie ein toter Gott, denn von Fürsorge für Welt ist bei einem solchen Gott nichts mehr zu spüren. Folgerichtig schreibt Blumenberg: Der nominalistische Gott ist ein verborgener Gott » – und ein verborgener Gott ist pragmatisch so gut wie ein toter«. Oder: »Der nominalistische Gott ist der überflüssige Gott, er kann durch den Zufall […] ersetzt werden.«

Dies bedeutete das Ende des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit als Epoche der humanen Selbstbehauptung.

Quelle Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg zur Einführung (2004) www.junius-verlag.de / Seite 30 ff

Die andere Quelle (1920):

Das wichtigste Buch meiner Oma (neben dem „Realien-Buch“), und wenn ich darin las, daraus abmalte o.dgl., schaute sie mit Wohlgefallen auf mich und ersparte sich und mir die weitausholenden und lang andauernden eigenen Predigten… Das kleine Bild – hier in Vergrößerung – hing „in groß & bunt“ über ihrem Bett und beflügelte meine kindlichen Träume unermesslich: das Kind in freundlicher Gesellschaft mit Löwe und Lamm – das könnte doch ICH selber sein. Ich war es. So wie ich auch, in all meiner Hilflosigkeit, jederzeit  „der starke Hans“ oder „der Tannendreher“ war.

 

Fortsetzung Text (Quelle a.a.O. Seite 32):

Dies bedeutete das Ende des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit als Epoche der humanen Selbstbehauptung. Die verschärfte Transzendenz des göttlichen Umgangs mit der Schöpfung erzwang gewissermaßen die Immanenz der menschlichen Daseins- und Weltorientierung. Der seit dem Ausgang des Mittelalters von den Ordnungs- und Bedeutsamkeitsgarantien verlassene Mensch sah sich fortan mehr und mehr zur Selbstbehauptung gegen eine rücksichtslose Welt veranlasst. Wenn Gottes Zuverlässigkeit schwindet, seine Allmacht sich das menschliche Handeln restlos unterwirft und schließlich der Mensch sogar seine Bedeutsamkeit einbüßt, dann wird die menschliche Vernunft zwangsläufig herausgefordert, sich durch Abkehr von der Metaphysik auf sich selbst zu konzentrieren sowie die Welt den eigenen Bedürfnissen gemäß verfügbar und beherrschbar zu machen.

Damit wird die innere Logik des Zusammenhangs von theologischem Absolutismus und humaner Selbstbehauptung deutlich: Der spätmittelalterliche Nominalismus mit seinem Willkürgott hatte den Menschen einer solchen Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit der Natur ausgeliefert und in eine derartige metaphysische Unsicherheit gestürzt, dass er nun sein Geschick selbst in die Hand nehmen musste: »Der in der Verborgenheit Gottes seiner metaphysischen Garantien für die Welt beraubte Mensch konstruiert sich eine Gegenwelt von elementarer Rationalität und Verfügbarkeit.« Anders formuliert: »Je gleichgültiger und rücksichtsloser die Natur gegenüber dem Menschen erscheint, um so weniger gleichgültig kann sie ihm sein, um so rücksichstloser muss er selbst das, was ihm als Natur gegeben ist, […] verfügbar machen und als den Spielraum seiner Daseinschancen sich unterwerfen.« So legt der theologische Absolutismus indirekt dem Menschen die Last der Selbstbehauptung auf. Mit dieser These widerspricht Blumenberg der weitverbreiteten Ansicht, dass die Neuzeit mit einem absoluten Neuanfang begonnen habe und in keinem Verhältnis zum Mittelalter stehe. Der Beginn der Neuzeit sei kein absoluter Anfang, weil er irreduzible Voraussetzungen im spätmittelalterlichen Nominalismus habe. Die Neuzeit sei aus einer extremen Nötigung des Menschen zur Selbstbehauptung hervorgegangen, die sich aus dem theologischen Absolutismus herleiten lasse. Repräsentant und Prototyp der auf sich selbst gestellten Neuzeit sei Faust.

(a.a.O. Seite 33)

Damit bin ich mit meiner Abschrift genau an dem Punkt angelangt, der für mich persönlich wichtig war und ist. Warum?

1 ich brauche den großen historischen Zusammenhang, auch, weil ich die großen Narrative, die Bilderwelt des Christentums nicht über Bord werfen kann. Damit verbunden die Welt aller symbolischen Formen samt der Musik.  Und Faust ist das Stichwort, das mich mit den Jahren um 1958 verknüpft (und gewissermaßen versöhnt). 

2 dann – das Wort Verfügbarkeit… (bzw. Unverfügbarkeit) – Resonanz… (nicht zu verwechseln mit Konsonanz, auch Neue Musik gehört dazu.)

3 das Hören (Bach ohne Pietismus)

Nur die folgenden Inhalte als visuelle Wegmarken:

  alle nur möglichen Narrative…

Villanders: Kapelle mit „Fegefeuer“

Man könnte meinen, ich hätte es inzwischen ein für allemal begriffen, nachdem ich ja schon 2020 das entsprechende Blumenberg-Original über die Geburt des schöpferischen Menschen mit Rotstift durchgearbeitet habe. Trotz (oder wegen) meiner Oma habe ich in meiner Jugend ja durchaus kein brennendes Interesse für Kirchenväter entwickelt (Nietzsche hätte mich früher oder später auch davon kuriert). Nur an eins erinnere ich mich: Religionsunterricht in der Oberstufe, Thema Buddhismus – ich hatte schon Laotse gelesen, aber auch Marc Aurel -, und wandte ein, da könne man ja schon alles finden, was dem Christentum Positives zugeschrieben werde, und der Lehrer hob hervor: was fehle, sei die tätige andere (himmlische) Seite: die Gnade. Ich habe nicht weiterargumentiert, – dafür brauche man aber die Sünde, die Schuld, vor allem das Sündenbewusstsein, mit anderen Worten, die ANGST und ein glaubwürdiges Jenseits, die Drohung des Fegefeuers und die Macht der Kirche, all diese Hilfsvorstellungen durchzudrücken, die Möglichkeit, uns „Erlösung von dem Übel“ zu versprechen. Aber in Südtirol habe ich immer wieder daran gedacht. Daher die gespannte Aufmerksamkeit, wenn Augustinus mit dem Gnadebegriff bei Blumenberg auftaucht:

Und jetzt ist das entscheidende Kapitel des Büchleins erreicht, Grund genug, es immer wieder genau hier aufzuschlagen, zurückzugehen, voranzuschreiten… „die Inkongruenz von Sein und Natur … als Möglichkeit schöpferischer Originalität erkennen und ergreifen“ zu können.

Quelle:

s.a. hier im Blog unter „Tiere sehen“ (Texel)

Wenn Sie mich aber fragen, was denn die Einleitung dieses Artikels, die Symbolbilder mit den Pferdchen, zur Klärung beigetragen haben, so frage ich zurück, was denn an der Inkongruenz von Sein und Natur so problematisch sein soll? Lesen Sie doch auf der zweiten Seite des eben wiedergegebenen Kapitels VI die Sätze vom Sein der Welt und dessen hypothetischer Ersetzbarkeit, verstehen Sie, weshalb die Debatte über die Allmacht Gottes und über dessen Unendlichkeit eine so existentielle Bedeutung erlangen konnte. Was hing denn für den Menschen davon ab? Wie kam es, dass aus den logischen Elementen  emotionale  wurden? Da steht der leicht übersehene Satz von Hans Blumenberg: „Ich vermag keine Darstellung dieses Transformationsprozesses zu geben. Mir geht es darum, etwas über das Anwachsen der Inkongruenz von Sein und Natur und damit über die Relevanz des Spielraumes der schöpferischen Ursprünglichkeit auszumachen.“

Mienenspiel (ein Leben)

Wie wir denken und fühlen

Prinzessin sein

    

10 Jahre später: Übung

Augen, Nase, Mund?

Kein Selbstportrait (Rihanna?)

Wiederum 10 Jahre später: Zum Studium der Anthropologie

HIER 

Was gibt es noch? Weitere Beispiele für „Kultur-Anthropologie“: Hier

Visuelle Anthropologie Hier Weiteres (aus München) Hier

Osteuropa betreffend: hier Wiki hier  Mediathek Osteuropa hier

Großstadt hier

Wie [man] das Leben gestaltet.

Der suggerierte Zusammenhang einer Geschichte in diesem Blog-Verlauf ist ziemlich frei erfunden bzw. assoziiert (JR). Dank an Eos!

Individuum:

2022

Alle Fotos ©

[ Lesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophische_Anthropologie hier ]

Kants verschachtelte Sprache

Wie ich von einem Satz zum „Gedankenaufbau“ komme

wenn man mehr punktuelle Klarheit sucht, als hier gegeben…

Man lasse sich nicht abschrecken, – der Text insgesamt ist lesbar wie eben ein Gesetzestext, die schwierigen Sätze, die ich herausgreife, sind aus meiner Sicht auch exemplarisch gemeint. Zu vergegenwärtigen wäre, wo sie im Gesamtzusammenhang stehen: Erster Zusatz / Von der Garantie… (S.39)

Zum ewigen Frieden HIER TEXT (darin Bd. 11, Seite 218)

Ich habe also diesen Text und mein altes Reclam-Heft (Nov.1956) , das ausführliche (winzig klein gedruckte) Zusätze enthält, die aus einer nachträglichen Überarbeitung durch Kant selbst stammen. Davon gehe ich aus, ohne hier eine philologisch-textkritische Arbeit leisten zu wollen. Ich will das mir Gegebene lediglich grammatisch und inhaltlich verstehen. Es ist schwer genug. Nachhilfe zur Selbsthilfe. Zunächst durch äußere Gliederung und durch eine farbige (rote) Kennzeichnung des Grundgedankens. Blau sind in diesem Artikel meine persönlichen Anmerkungen gekennzeichnet. Das Wort „daedala“, dem man am Anfang des Textes bei der „Künstlerin Natur“ begegnet, sollte man sich lexikalisch erläutern (am besten hier), zumal Kant später mit dem Wort „ikarische Flügel“ darauf anspielt. (JR)

ERSTER ZUSATZ. Von der Garantie des ewigen Friedens

Das, was diese Gewähr (Garantie) leistet, ist nichts Geringeres, als die große Künstlerin Natur (natura daedala rerum),

aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen, und darum, gleich als Nötigung einer ihren Wirkungsgesetzen nach uns unbekannten Ursache, Schicksal, bei Erwägung aber ihrer Zweckmäßigkeit im Laufe der Welt, als tiefliegende Weisheit einer höheren, auf den objektiven Endzweck des menschlichen Geschlechts gerichteten, und diesen Weltlauf prädeterminierenden Ursache Vorsehung genannt wird,

die wir zwar eigentlich nicht an diesen Kunstanstalten der Natur erkennen, oder auch nur daraus auf sie schließen, sondern (wie in aller Beziehung der Form der Dinge auf Zwecke überhaupt) nur hinzudenken können und müssen, um uns von ihrer Möglichkeit, nach der Analogie menschlicher Kunsthandlungen, einen Begriff zu machen, deren Verhältnis und Zusammenstimmung aber zu dem Zwecke, den uns die Vernunft unmittelbar vorschreibt (dem moralischen), sich vorzustellen, eine Idee ist,

die zwar in theoretischer Absicht überschwenglich, in praktischer aber (z.B. in Ansehung des Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden, um jenen Mechanism der Natur dazu zu benutzen) dogmatisch und ihrer Realität nach wohl gegründet ist. –

Der Gebrauch des Worts Natur ist auch,

wenn es, wie hier, bloß um Theorie (nicht um Religion) zu tun ist,

schicklicher für die Schranken der menschlichen Vernunft (als die sich in Ansehung des Verhältnisses der Wirkungen zu ihren Ursachen, innerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung halten muß),

und bescheidener, als der Ausdruck einer für uns erkennbaren Vorsehung,

mit dem man sich vermessenerweise ikarische Flügel ansetzt,

um dem Geheimnis ihrer unergründlichen Absicht näher zu kommen.

Kurzfassung der zwei Sätze nach grammatikalischen Gesichtspunkten:

Das, was diese Gewähr (Garantie) leistet, [bedeutet]:  die große Künstlerin Natur (natura daedala rerum), emporkommen zu lassen, und darum Schicksal und Vorsehung genannt wird, [zwei Begriffe] , deren Verhältnis und Zusammenstimmung sich vorzustellen, eine Idee ist, die z.B. in Ansehung des Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden dogmatisch [verbindlich] und wohl gegründet ist. –

Der Gebrauch des Worts Natur ist schicklicher und bescheidener als der Ausdruck einer Vorsehung.

Mir scheint, dass ein in Klammern verstecktes Wort –  es handele sich bloß um Theorie (nicht um Religion) – das entscheidende Movens dieses geschraubten Satzes ist. Kant will Häresie-Vorwürfen von Seiten der Kirche von vornherein die Luft aus den Segeln nehmen. Daher auch noch der spätere lange Einschub, der in einer überarbeiteten Fassung zu lesen ist (Reclam-Text,  im digitalen Text oben aber auch im Anhang – unter Anmerkung 10 – wiedergegeben):

Anklicken!

Ich bin keineswegs sicher, dass ich den Kantschen Satz korrekt aufgelöst habe (wichtig zu erwähnen, dass im Reclam-Text ein Komma vorhanden ist, das im digitalen Text fehlt: sich vorzustellen, (!) eine Idee ist, die zwar in theoretischer Absicht etc.) und werde gewiss öfter hierher zurückkehren, statt unwillig zu werden und den Stil des Autors zu schmähen. Nichts hindert mich, zuerst alles andere zu lesen, das leichter zu verstehen ist, in der Hoffnung, auch hier zur rechten Intuition zu kommen. Die deutsche Sprache entwickelte sich ja erst in diesen Jahrzehnten zur Biegsamkeit,  und überall im Satzbau spürt man, dass es noch die lateinischen Konstruktionen sind, die beim Philosophieren vorbildlich wirken. Was uns jedoch – als dem Lateinischen entfremdete moderne Menschen – leicht entgeht…

Nach ausgiebiger Lektüre: Was ich schon damals als Schüler (Nov. 1956) falsch gemacht habe: ich wollte unbedingt den Original-Text lesen und habe die Einleitung verschmäht. Dabei hätte ich dort eine erste Übersicht gewonnen, ja grundsätzliche Klarheit. Autor: Theodor Valentiner.

Der Gedankenaufbau ist natürlich und eindrucksvoll. Es sind ganz konkrete ethische Forderungen, die den Präliminarartikeln zugrunde liegen. Der Staat ist eine Gesellschaft von Menschen, und Staaten untereinander sind in ihrem Verhalten wie Menschen anzusehen, die unter dem Sittengesetz stehen.

Als Unrecht gilt, wenn einer in dem andern nicht die freie Persönlichkeit achtet, wenn er bei Vereinbarungen geheime Vorbehalte macht, wenn er ihn nur als Mittel zum Zweck, als Sache behandelt, wenn er gewaltsam in die Rechte des anderen eingreift. Ohne Anerkennung dieser Forderungen ist weder zwischen Völkern nocht im Einzelleben ein friedliches Nebeneinander auf die Dauer denkbar. Niemals darf es zu Handlungen kommen, die ein künftiges Vertrauen der sich feindlich Gegenüberstehenden untergraben. Spezielle Forderungen über Abrüstung, wie sie uns heute geläufig, werden eingehend begründet.

Die drei Definitivartikel beschäftigen sich mit rechtlichen Fragen. Welche Verfassung ist für Erhaltung des Friedens am günstigsten? Natürlich diejenige, bei der die Entscheidung über Krieg und Frieden in den Händen der Hauptbeteilgten, das ist des ganzen Volkes, liegt. Das ist der Fall bei der republikanischen Verfassung, wobei die ausführende Gewalt von der gesetzgebenden getrennt und die gesetzgebende bei der Volksvertretung ist. Die nach kantischer Ausdrucksweise republikanischenach heutigem Gebrauch demokratische* – Verfassung steht im Gegensatz zu der despotischen, bei der ein oder mehrere Machthaber, nicht aber das Volk über Krieg entscheiden.

Der zweite Definitivartikel fordert ein föderalistisches System, einen Friedensbund, der sich allmählich über alle Staaten erstrecken soll und die Aufgabe hat, den Freiheitszustand der Staaten gemäß der Idee des Völkerrechtes vorzubereiten.

Endlich verlangt der dritte Definitivartikel ein Weltbürgerrecht, das jedem Fremdling das Recht zusichert, bei der Ankunft auf dem Boden eines anderen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde müssen sich alle nebeneinander dulden. Und da heute „die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“, so ist die Idee eines Weltbürgerrechtes ein notwendiger Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte.

Die Präliminarartikel und die Definitivartikel stellen bestimmte Forderungen. Die nächste Frage wird sein: Ist denn Aussicht vorhanden, daß diese Forderungen erfüllt werden? Darauf antwortet zunächst der erste Zusatz. Er untersucht

Achtung: jetzt betrifft es genau den Satz, mit dem ich oben begonnen hatte!

Er untersucht, wieweit der Mensch in der Natur eine Hilfe findet, umd dem Zustand eines Dauerfriedens näherzukommen. Nun hatte die Kritik der Urteilskraft gezeigt, daß in der Natur nicht nur mechanische Kräfte wirken, sondern daß wir zu einer Erklärung der organischen Natur zweckmäßig wirkende Kräfte voraussetzen müssen. An diese Erkenntnis knüpft Kant an, wenn er im ersten Satz sagt, daß „aus dem mechanischen Naturlauf sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet und daß die große Künstlerin Natur durch die Zwietracht der Menschen, selbst gegen deren Willen, Eintracht emporkommen läßt“. Die Natur hat dafür gesorgt, daß Menschen allerwärts auf Erden leben können. Dabei war ihr sogar der Krieg dienlich. Vor allem aber – und das ist wesentlich für die Absicht auf den ewigen Frieden –  kommt die Natur dem zur Praxis so ohnmächtigen Vernunftswillen zu Hilfe, indem sie die selbstsüchtigen Neigungen der Menschen benutzt, daß sie sich unter Zwangsgesetze begeben, die den Zustand eines dauernden Friedens fördern. Kurz, sie werden gute Bürger, weil sie Vorteil davon haben, und nicht etwa aus moralischer Gesinnung.

Anm. zu nach heutigem Gebrauch demokratische* :

Das Hauptkriterium für Kants Republikanismus ist – wie man im Reclam auf Seite 28 lesen kann  – „das Prinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebnden“. Mit anderen Worten: die Gewaltenteilung, die aus heutiger Sicht für die Demokratie bindend ist. Siehe Wikipedia hier :

Heute ist Gewaltenteilung Bestandteil jeder modernen Demokratie; ihre Ausprägung variiert jedoch stark von Land zu Land. 

Kant und Putin

Ein Bericht über seine bizarren Lektüren

Thomas Assheuer schreibt in der ZEIT vom 2. März 22:

Zunächst, im ersten Jahrzehnt seiner Amtszeit, zeigen seine Reden – durchaus glaubwürdig – eine Hinwendung zu Immanuel Kant, für Putin ein Gewährsmann kollektiv vernünftiger Politik. Dieser großartige Denker, erklärt er 2005, sei der »gemeinsame Landsmann « von Deutschen und Russen, und ein Philosoph des Friedens sei er auch: »Ich erinnere daran, dass Kant kategorisch dagegen war, zwischenstaatliche Meinungsverschiedenheiten durch Krieg zu lösen (…). Wir müssen seine Lehren über die Lösung von Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln in die Tat umsetzen«.

Nicht lange, und Putins Interesse am Aufklärer Kant kühlt ab. Spätestens mit seiner dritten Amtszeit, also ab 2012, stehen nur noch konservative Autoren auf der Leseliste; fortan geht  es Putin nicht mehr um den russischen Beitrag zur »europäischen Familie«, es geht ihm um Abgrenzung und Selbstbehauptung.

Quelle DIE ZEIT 2. März 2022 Seite 59  »Wer sagt denn, dass das Gute immer gewaltfrei sein sollte?« Wladimir Putin, am 22.2.2022 / In Putins Weltbild ist Russland ein Reich des Widerstandes gegen den Westen. Das zeigen auch seine bizarren Lektüren / Von Thomas Assheuer / Zur neuen ZEIT-Ausgabe, persönlich genommen, siehe hier !

Dabei hat Kant in seiner Schrift zum Ewigen Frieden bereits eine ironische (zynische?) Handlungsanleitung entworfen, „sophistische Maximen“ nennt er das, eine unmoralische Klugheitslehre, die nun fast nahtlos wirklich zu Putin passt:

Mit Seite 59 beginnen, dort 1. Fac et excusa (JR Schaffe Fakten und entschuldige dich für Kollateralschäden), 2. Si fecisti, nega (JR Wenn du etwas Schlimmes angerichtet hast, streite ab, dass du es warst), 3. Divide et impera (JR Entzweie die anderen, um so leichter sind sie rauszuhalten und zu beherrschen).

1795 (nach den großen Kritiken)

Blumenberg lesen

Die Realität des Leibes

Ein Thema, das es in sich hat. Gerade weil es nur um die Einschätzung des Äußeren geht. Kann ich einem Menschen ansehen, was für einen Charakter er zeigen wird, wenn wir uns genauer kennenlernen? Oft genug habe ich festgestellt, dass er oder sie schon nach einem ausgiebigen Gespräch ganz anders aussieht. Keine Einbildung, unsere Einschätzung der Anderen – auch äußerlich – beruht auf den Erfahrungen, die wir machen oder revidieren, ob nach einem Gespräch oder einer Anzahl von Begegnungen. Lebenserfahrung heißt das. Man muss das gelernt haben, denkt man, aber es gab doch immer wieder Menschen, die sich zum Beispiel auf den ersten Blick verliebten. Oder dies  von sich behaupten: es habe sie wie ein Blitz getroffen. Aber wenn mich nun der Blitz fortwährend trifft, aber der/die andere merkt es nicht, – was dann? Lavater hieß ein Mann des frühen 19. Jahrhunderts, der fest daran glaubte (und Geld damit verdiente), dass er Menschen, die er nicht kannte, nach Bildern präzise einzuschätzen vermochte, und er hat das angeblich oft unter Beweis gestellt.

Ich benutze die Tatsache, dass ich mit diesem Problem aus dem täglichen Leben vertraut bin, dafür, dass ich einen Philosophen, den ich lese, auf seine Verständlichkeit prüfe. Was verlangt er von mir? Ich setze dort rote Schrägstriche, wo ich stocke; gebe aber die Anmerkungen seines Textes nur wieder, wenn ich es unbedingt brauche. Oder gehe darüber hinaus, um restliche Unklarheiten zu beseitigen.

TEXT Blumenberg Seite 686

Die Realität als real anzunehmen, das ist also nicht das Selbstverständliche, auch nicht hinsichtlich der Realität des Leibes. Man muß etwa vergleichen, wie Sokrates und Lichtenberg mit dem Bewußtsein ihrer eigenen Häßlichkeit als Index für die Überwindbarkeit des Leibes angesehen, in gewissem Sinne also als Merkmal seiner Irrealität. Wenn das Gesamtleben der Seele zwischen Präexistenz und Unsterblichkeit nach dem Totengericht die leibliche Dauer zur Episode degradiert, dann darf eben dieser Leib nicht so ernst genommen werden, wie es seine Einschätzung durch andere dem Subjekt aufzuerlegen scheint. Der Ausweg in Unsterblichkeit oder Metempsychose war dem Antiplatoniker Lichtenberg versperrt. Er verwandte all seinen polemischen Scharfsinn darauf, die Physiognomik aus dem Spiel zu bringen. Vom Äußeren des Leibes Schlüsse auf den Wesenskern des Individuums zu ziehen, wie es Lavater und andere Scharlatane der Zeit lehren zu können behaupten, sollte unter dem strikten Verbot der Vernunft selbst stehen. Einer der vielen theoretisch verwendeten Blindgeborenen der Zeit, den Cheselden in den »Philosophical Transactions« behandelt hatte, entsprach genau / der Herrschaft des Wunsches über die Vernunft: Er hatte vor seiner Heilung erwartet, die Personen sollten am schönsten aussehen, denen er am meisten gewogen war, und die Speisen auch dem Auge am angenehmsten sein, die am besten geschmeckt hatten. (17) / Aber nicht anders ergeht es dem Meister der Physiognomik mit seiner singulären Chance, den Erwarteten vor sich zu sehen: Lavater trifft zum ersten Mal Goethe in Frankfurt und verrät im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe, so daß ihm Goethe nach seinem angeborenen und angebildeten Realismus versichern muß, / daß sie es nach dem Gefallen Gottes und der Natur, ihn so zu machen, auch dabei wollten lassen bewenden. / (18) Das Wort Realismus fällt hier nicht umsonst.

(18) Goethe, Dichtung und Wahrheit XIV, ed. Scheibe, 502. Immerhin hatte Lavater schon vor der Bekanntschaft mit Goethe das verwechselte Bildnis als solches erkannt und verworfen (a.a.O. 499). Noch der sehr alte Goethe verhält sich ›physiognomisch‹: Leider deutet mir so fratzenhaftes Äußeres auf eine innere Verworrenheit. (Tagebuch 17.5.1831 über den Maler Preller, der 1832 den toten Goethe zeichnen wird).

Nähere Erkundigung an Ort und Stelle bei GOETHE Dichtung und Wahrheit XIV

Es dauerte nicht lange, so kam ich auch mit Lavatern in Verbindung. Der / »Brief des Pastors« an seinen Kollegen hatte ihm stellenweise sehr eingeleuchtet: denn manches traf mit seinen Gesinnungen vollkommen überein. Bei seinem unablässigen Treiben ward unser Briefwechsel bald sehr lebhaft. Er machte soeben ernstliche Anstalten zu seiner größern Physiognomik, deren Einleitung schon früher in das Publikum gelangt war. Er forderte alle Welt auf, ihm Zeichnungen, Schattenrisse, besonders aber Christusbilder zu schicken, und ob ich gleich so gut wie gar nichts leisten konnte, so wollte er doch von mir ein für allemal auch einen / Heiland gezeichnet haben, wie ich mir ihn vorstellte. Dergleichen Forderungen des Unmöglichen gaben mir zu mancherlei Scherzen Anlaß, und ich wußte mir gegen seine Eigenheiten nicht anders zu helfen, als daß ich die meinigen hervorkehrte.

Die Anzahl derer, welche keinen Glauben an die Physiognomik hatten, oder doch wenigstens sie für ungewiß und trüglich hielten, war sehr groß, und sogar viele, die es mit Lavatern gut meinten, fühlten einen Kitzel, ihn zu versuchen und ihm wo möglich einen Streich zu spielen. Er hatte sich in Frankfurt, bei einem nicht ungeschickten Maler, die Profile mehrerer namhaften Menschen bestellt. Der Absender erlaubte sich den Scherz, Bahrdts Porträt zuerst statt des meinigen abzuschicken, wogegen eine zwar muntere aber donnernde Epistel zurückkam, mit allen Trümpfen und Beteuerungen, daß dies mein Bild nicht sei, und was Lavater sonst alles, zu Bestätigung der physiognomischen Lehre, bei dieser Gelegenheit mochte zu sagen haben. Mein wirkliches nachgesendetes ließ er eher gelten; aber auch hier schon tat sich der Widerstreit hervor, in welchem er sich sowohl mit den Malern als mit den Individuen befand. Jene konnten ihm niemals wahr und genau genug arbeiten, diese, bei allen Vorzügen, welche sie haben mochten, blieben doch immer zu weit hinter der Idee zurück, die er von der Menschheit und den Menschen hegte, als daß er nicht durch das Besondere, wodurch der einzelne zur Person wird, einigermaßen hätte abgestoßen werden sollen.

(…)

Unser erstes Begegnen war herzlich; wir umarmten uns aufs freundlichste, und ich fand ihn gleich, wie mir ihn so manche Bilder schon überliefert hatten. Ein Individuum, einzig, ausgezeichnet wie man es nicht gesehn hat und nicht wieder sehn wird, sah ich lebendig und wirksam vor mir. Er hingegen verriet im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe. Ich versicherte ihm dagegen, nach meinem angeborenen und angebildeten Realismus, daß, da es Gott und der Natur nun einmal gefallen habe, mich so zu machen, wir es auch dabei wollten bewenden lassen. Nun kamen zwar sogleich die bedeutendsten Punkte zur Sprache, über die wir uns in Briefen am wenigsten vereinigen konnten; allein dieselben ausführlich zu behandeln, ward uns nicht Raum gelassen, und ich erfuhr, was mir noch nie vorgekommen.

Weitere Erkundigungen über das Verhältnis Lavater / Goethe bei Rüdiger Safranski (da er sich ‚physiognomisch‘ verhält: war der Dichter wirklich so skeptisch gegenüber dem „Scharlatan“?).  Der „Brief des Pastors“ sagt mir nichts, (schau doch nach, z.B. hier), auch wüsste ich gern, ob Goethe für ihn im Ernst einen „Heiland“ gezeichnet hat. (Ja, er hat!) Dann kann die Distanz zu Lavater nicht so gravierend gewesen sein…

Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens Biographie / Carl Hanser Verlag München 2013

Man sollte es bei Goethe selbst nachlesen (a.a.O. hier)

Was ihm [Lavater] dagegen die größte Pein verursachte, war die Gegenwart solcher Personen, deren äußere Häßlichkeit sie zu entschiedenen Feinden jener Lehre von der Bedeutsamkeit der Gestalten unwiderruflich stempeln mußte. Sie wendeten gewöhnlich einen hinreichenden Menschenverstand, ja sonstige Gaben und Talente, leidenschaftlich mißwollend und kleinlich zweifelnd an, um eine Lehre zu entkräften, die für ihre Persönlichkeit beleidigend schien: denn es fand sich nicht leicht jemand so großdenkend wie Sokrates, der gerade seine faunische Hülle zugunsten einer erworbenen Sittlichkeit gedeutet hätte. Die Härte, die Verstockung solcher Gegner war ihm fürchterlich, sein Gegenstreben nicht ohne Leidenschaft, so wie das Schmelzfeuer die widerstrebenden Erze als lästig und feindselig anfauchen muß.[20]

Lavater-Links hier und hier

Erholung der Augen, in Erwartung eines näheren Einblicks in das Wesen des Leibes (JR)

Foto: E.Reichow

Was mich am meisten beschäftigt, ist der Wirklichkeitsbegriff, und der steht hier im Hintergrund, wenn vom „Leib“ die Rede ist. Trotzdem bleibe ich mit Blumenberg lieber beim Leib. (Blumenberg a.a.O. Seite 658)

Im Horizont des so ausgegrenzten Wirklichkeitsbegriff erscheint der Leib als Dunkelkörper. Auf den ersten Blick hat er die solitäre Stellung im Pflegeverhalten des Individuums, das sich mit ihm stehen und fallen weiß, präsentiert er sich in zentraler Wichtigkeit und auf der höchsten Dringlichkeitsstufe als unübersehbare Wirklichkeit. Trotzdem bedarf es keines großen deskriptiven ASufwands, um den Befund zu sichern, daß in komoarativer Betrachtung die Realität des Eigenleibs unter dem Niveau derjenigen fremder physischer Körper – und unter diesen vor allem fremder Leibkörper – liegt. Sie affizieren die Aufmerksamkeit als mögliche Hindernisse, im Fremdleibesfall als Freund und Feind, Hilfe oder Gefahr, dazwischen einzustufebn auch als: nicht bewertungsbedürftig.

Fremdkörper und Fremdleiber sind primär undurchsichtig für die Aufmerksamkeit, und von ihnen her wird auch der Eigenleib als primär undurchsichtig oder in den Stand der Undurchsichtigkeit versetzbar eingeschätzt. Für das Ich ist der Eigenleib, auf dem Niveau der Normalität, schlechthin durchsichtig; so durchsichtig, daß es sich immer schon außerhalb seiner befindet. Der Grund dafür liegt nahe: Der Eigenleib ist der Inbegriff derjenigen Organe, die uns Zugang zur Realität alles dessen, was nicht wir selbst sind, verschaffen. Es ist für das Bewußtsein das, worüber hinaus es durch es selbst gelangt.

Die ständige Mittelhaftigkeit des Eigenleibs gibt ihm eine Qualität, die wir auch für andere Medien kennen, in denen es so etwas wie ›ständigen Aufenthalt‹ gibt und deren Empfindung sich dabei verliert. Daß Luft etwas ist und nicht nichts ist, ist Kindern nicht leicht klarzumachen, und noch Erwachsene können sich verhalten, als ob es nicht so wäre. Der Leib als das, was empfindet, was tastet oder sieht, ist seinerseits leicht das Übersehene, das selten Getastete, obwohl oft Bearbeitete, und als solches der Wahrnehmung längst Entglittene. das Unempfundene. Das geht sogar ins Normative. Gesundheit und Wohlbefinden lassen sich definieren als Erfüllung der Anordnung, der Leib habe sich nicht bemerkbar zu machen.

Ich erinnere mich an einen weit zurückliegenden Spiegelartikel, in dem der prägnante Satz vorkommt: „Gesundheit ist das Schweigen der Organe“. Was ich nicht ganz gelungen fand, weil es auch tückisch schweigende Krankheiten gibt, die warten bis es zu spät ist. Dazu passte irgendwie der Satz: „ob man gesund ist oder krank, ist nur eine Frage der Gründlichkeit der Untersuchung“. Kurz: ich erinnere mich meines Körpers, während ich vom Leibe lese, nachts wach werde und an Blumenbergs Worte denke, besonders, was er über den Boden, auf dem ich stehe oder liege, geschrieben hat, oder von der Luft, die ich als kleines Kind kennengelernt habe, als wir Drachen steigen ließen, oder jetzt, wenn ich wieder einschlafen möchte, was mir ganz gut gelingt, wenn ich mich an Hararis Empfehlung halte (siehe hier), ich – ich – ich, ja, was sonst? ich bin Luft für mich.

Weiter mit Blumenberg (und Goethe).

Zwischenstopp 

Zitat (Seite 660)

Über den gealterten Goethe schreibt Wilhelm von Humboldt aus Karlsbad an seine Frau Charlotte am 15. Juni 1812: Allein man sieht, daß er oft an seinen Körper erinnert wird. Das ist, als Beobachtung wie als Formulierung, eine Errungenschaft.

(…) Worauf es mir ankommt, ist die prämodale Gleichgültigkeit von Lebenswelt und Eigenleib. Gleichgültig sind sie durch Unauffälligkeit, durch die Unmöglichkeit, nach ihrer Realität ›von innen‹ auch nur zu fragen. Der Durchsichtigkeit des Leibes von innen, seiner Undurchsichtigkeit von außen, entspricht derselbe Doppelsachverhalt bei Lebenswelten: Weil sie von innen durchsichtig sind, sind sie von außen unzugänglich, als solche selbst nicht präsent. Darauf beruht der eigentümliche Sachverhalt, daß bei Hochkulturen mit sehr bewußten Ritualen – also meist im Besitz von so etwas wie ›Theologien‹ – theoretisch durchschaubar und analysierbar sind, primitive Lebenswelten dagegen nicht. Woher soll auch in sie hineingesehen und abgelesen werden können, was etwas bedeutet, das niemals auf seine Bedeutung hin befragungsbedürftig geworden ist, also nicht einmal den Anflug einer Rezeptur erhalten hat? Daß es der Andere ist und nicht wir selbst, erfahren wir gerade an der Undurchsichtigkeit.

(Fortsetzung folgt)

Nachtrag 21.07.2023 Ein neuer (alter) Blumenberg ist angekommen(1999)