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End-Täuschung

Isenheimer Altar und anderes

Neu war mir der Altar damals nicht. Auch nicht am Tag meiner Konfirmation, als sogar aus Hamburg Verwandte eintrafen und ein großes, in Packpapier gehülltes Gemälde im Kinderzimmer abstellten. Wie lieb sie sind. Mein Herz klopfte, denn meine größte Hoffnung schien in Erfüllung zu gehen: das große bekannte Bach-Portrait von Haussmann. Wer beschreibt meine Enttäuschung, als sich bei der Enthüllung herausstellte – nein, der Komponist Schütz wäre zur Not akzeptabel gewesen – aber das Engelskonzert des Isenheimer Altars, das ging gar nicht, diese falsche Bogenhaltung und diese manierierte Verklärung einer dürftig zirpenden Musik. Kein Zufall, dass dieses repräsentative Bildwerk sich nicht über die Zeit meiner Jugend hinweg erhalten hat. Aber gemerkt habe ich’s mir, in Berlin und in Köln habe ich oft Museen besucht, alte Meister studiert (vielleicht in Anlehnung an Proust). Als Reproduktion zweifellos unzulänglich.

Kunst 1962

Irgendwann Ende der 60er Jahre – im Zuge der Begeisterung für Elsässer Wein – haben wir auch realiter vorm Isenheimer Altar in Colmar gestanden, ich weiß nichts von Erschütterung, aber die Bedeutung des Augenblicks war mir sicher klar. Und nun heute beim Aufblättern der Morgenzeitung: was für ein Zeitsprung über 60 Jahre rückwärts und weiter! Hinein in die farbige Realität des Mittelalters! Restauriert, natürlich wusste ich es längst aus anderen Medien. Aber im Solinger Tageblatt, das mich weiterhin – trotz meines Einspruchs –  mit den hirnlos zusammengestellten Sprüchen der Herrnhuter Brüder ärgert, – ein solcher Blickfang auf der heutigen Kulturseite!

und in Colmar mehr: hier

Und in Solingen wie immer AUCH dies:

  Original: 

Ich hoffe, dass bei den Herrnhutern auf der Rückseite des Kalenderblattes eine Erläuterung zu lesen ist. Denn: Auch wenn man die Bibel Vers für Vers als „Gotteswort“ liest, stehen doch die meisten Verse in einem dichten Zusammenhang, der dazugehört und vermittelt werden muss. Selbst stock-ungläubige Philologen verlangen danach. Deshalb hier das Original neben der privativen  Verfälschung.

Es war in Portugal an der Algarve 2010 oder 2011 – soweit ich weiß – als ich mich mit Beethovens Cellosonate op. 102 beschäftigte. Die Erinnerung saß „tief“. Siehe hier. Alban Gerhardt?

Ach, die Erinnerung trügt. Hier erkenne ich deutlich vor der Person, die ich sein könnte, die Intonationslehre von Doris Geller. Doch das ist nicht der Punkt: den erwähnten Beethoven hatte ich dort ja ebenfalls studiert, später jedoch erinnerungstechnisch vollkommen verdrängt, was jetzt nur mühsam zum Vorschein kam: soso, Webern hat er auch gespielt? Ich habe sogar die Ablaufzeiten beim Beethoven korrigiert, also oft gehört, und erinnere mich einfach nicht an den Ablauf, an die Thematik dunkel, genauer nur daran, dass die Interpretation sehr gut war? Ja, und der Name war falsch, ich wollte nur, dass es Alban Gerhardt gewesen sei. Das ist aber gar nicht so selten: Enttäuschung über sich selbst (statt über andere).

Und der Blick in den zweiten Band der Beethoven-Interpretationen (Riethmüller, Dahlhaus, Ringer, neu wieder im Laaber Verlag) verrät mir auch den Grund (die Ausrede). Es wäre interpretationstechnisch wirklich ein Thema gewesen!!! Ein Vergleich. Aber doch nicht in Portugal…

Text: Hermann Danuser

Die Aufgabe wartet noch. (Hier z.B. – live 1989! ) Dies nur als An- und Vorsatz. Aber: Muss es sein?

Ähnlich geht es mir heute mit einem philosophischen Buch, in dem ich nicht vorankomme. Soll ich darauf bestehen – oder anderen Verlockungen nachgeben? Solchen, die direkt zu eigener Praxis führen? Z.B – der neue Band Musik & Ästhetik mit unterschiedlichsten Angeboten, – ich gehe sie durch und bin gefesselt von Notenbeispielen: warum ausgerechnet Richard Strauss? Weil ich mich dann ans Klavier begeben darf. Auch ein Salome-Klavierauszug liegt dort griffbereit, vielleicht sogar „Ariadne“? Nicht zum Spielen, nur zur Realisierung der Akkordfolgen… (Ist es ein Zufall? Strauss habe ich in Berlin gehört, 1960, die Zerbinetta-Arie von Ilse Siekbach mit meinem Vater am Flügel, „Großmächtige Prinzessin“ in – Bielefeld, etwa 1955).

Autor: Robert Christoph Bauer (Bio u.a. hier) / Tatsächlich: diese Arbeit zu studieren, ist von A bis Z ein Vergnügen, wenn man es liebt, harmonisch ins Detail zu gehen. Warum? (Im Andenken meines Vaters, der mir einiges im „Louis-Thuille“ gezeigt hat.)

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Habe heute (7.7.22) in aller Frühe die CD von Nicolas Altstaedt vollständig gehört (2007) und dabei – das sei zugegeben – die neue ZEIT durchgeblättert. Mein Eindruck von damals hat sich bestätigt, ein fabelhafter Cellist, aber es gibt nichts „Auffälliges“ im Beethoven-Werk, abgesehen von der Dynamik. Zuviel C-dur (a-moll usw., gewiss). Sehr ungeschickt in der Programmfolge: wenn man nicht aufpasst, setzt in Tr. 5 der Webern ein, G-dur-Akkord, und man zweifelt keinen Augenblick: Beethoven geht weiter, endlich harmonisch spannender. Pure Irritation, es ist ein früher Webern, aus dem Jahr 1899 (da war er kaum 16 Jahre), danach folgen die Stücke Op.11 (1914) und eine Cello-„Sonate“ von nicht 2 Minuten Länge, aus demselben Jahr, aber vom Komponisten offenbar keiner Opuszahl gewürdigt. Das alles schreit nach Kommentar, stattdessen ein ziemlich unergiebiges Gespräch mit Norbert Ely, – wenn man absieht von der Bemerkung zur Bach-Suite: ob man es überhaupt bemerkt hätte, dass da in Scordatur gespielt wird? (Ist doch egal, sagen Sie, wenn es nur klingt???) Aber man schämt sich, wenn man nicht bemerkt hat, dass da eine (nachträglich aufgenommene) zweite Stimme hinzugefügt wurde (in Gigue und Gavotte 2). Dann Ligeti, um die Moderne noch einmal zu Wort kommen zu lassen, allerdings auch hier „ein eher untypisches, frühes Stück“. Ich habe damals mit offenen Augen geschlafen, wollte wohl eher nebenbei den Beethoven knacken, hörte durchaus imponierendes  Cellospiel, habe mich aber nicht mal so aufgeregt, dass ich mich daran erinnere. Vom Bach blieb erst recht nichts haften. Gerade auch nicht die – übertrieben im ppp, extrem „transzendierende“ – Sarabande.

So geht es einem 10 Jahre danach. Man wird radikaler. Oder das Gegenteil. Bin ich vielleicht nur deshalb niedergeschlagen, weil ich nachts – statt Frühlingsluft an der Algarve – die Lanz-Sendung in Solingen-Ohligs erlebt habe? den Moderator endlich relativ kleinlaut, um so erschütternder Habeck (Globalisierung!) und Theveßen (USA am Ende?). Ich kann das nur empfehlen, wenn man eine gewisse psychische Stärke aufbauen bzw. der Gefahr ins Auge schauen will. HIER. Ein Jahr lang verfügbar, bis 6.7.23. Wie wird es dann um uns stehen?

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Ariadne auf Naxos : es ist nur ein kompositorisches Detail, um das es geht. Um es dingfest zu machen, höre ich hier hinein ab 5:05 den Text beachten: „da mischt sich im Herzen leise betörend“.  Dann etwas großräumiger den Zusammenhang erfassen. Als nächstes denselben Text  hier nach 5:20 aufsuchen, die Noten beachten, also die Stelle zwischen Ziffer 115 und 116 identifizieren, „da mischt sich im Herzen leise betörend“, es ist genau diese Stelle, die im Aufsatz von Robert Christoph Bauer behandelt wird, Seite 45 f, Beispiel 3 und Beispiel 4.

Auf der Seite vorher geht es um die Stelle fünf Takte nach Ziffer 107, in unserm Youtube-Beispiel ab 2:55 (nach den Worten „ohne Grenzen!“) folgt „Eine kurze Nacht, ein hastiger Tag, ein Wehen der Luft, ein fließender Blick verwandelt ihr Herz! Aber sind wir denn gefeit gegen die“ Ziffer 108  „grausamen, entzückenden …“

Damit hätte man als Musiker die Werkzeuge in der Hand, den Text Seite 44 zu verstehen. Zugegeben: leicht ist es nicht. Hier der entsprechende Text von Robert Christoph Bauer:

Ich hätte wohl nur genauer bedenken sollen, was ich da unterstrichen haben (über „Umkehrungsakkorde“). Die Frage bleibt, was der Autor mit einem „kurzen, unaufgelösten E-Dur-Quartsextakkord“ meint. Meint er den (unmittelbar vor Ziffer 108) auf Fis stehenden in H, der Dominante von E-dur? (Nein, siehe Nachtrag 28.7.22 hier).

Mir scheint hier lösen sich Rätsel auf, die ich 1955, als mein Vater mit der Sängerin genau dieses Koloraturkunststück probte, nur  dunkel ahnte. Die Musik der permanenten Modulation verwirrte mich nicht weniger als der Text über „flatterhafte“ Liebe…

*    *    *

Zwei andere Artikel des Journals „Musik und Ästhetik“ Juli 2022 habe ich mit besonderem Interesse gelesen, den über Neue Musik (von Clytus Gottwald) und den über Alte Musik (von Jörg-Andreas Bötticher). Den einen Autor (Generation Altväter) kannte ich, weil ich gegen ihn 1985 polemisiert habe, als er sich im Adorno-Slang über den Boom Alter Musik mockierte; den andern (Generation Nachwuchs) kannte ich nicht, obwohl er sich auf neue Art zur Alten Musik bekennt. Beide aus Insider-Perspektive sprechend, der eine nach wie vor hochtrabend-wichtig („Schlüsselloch“), der andere nachsichtig-kompetent („Sympathieträger“). Letzterer vorbehaltlos zu empfehlen, obwohl er Sloterdijk (statt Adorno) zitiert; manches konnte man ahnen, aber nicht, dass der jetzt eine Traurede für Christian Lindner und Zweitfrau auf Sylt halten würde. Den Böttcher-Beitrag empfehle ich Musiker:innen jeglicher Couleur (ich selbst werde als nächstes seinen MGG-Beitrag über Generalbass lesen, passend zum oben hervorgehobenen Strauss-Artikel).

MGG-Beitrag 1995 mit seinem Mentor und Kollegen Jesper B. Christensen, unerhört instruktive Notenbeispiele!

Zur Erinnerung, – ich dachte damals, es sei schon spät, aber es war noch früh genug für einen teils polemischen teils pädagogischen Artikel (aus den Anfängen der Zeitschrift Concerto 1984):

Finale dieses Artikels (12.07.22)

Wochenendbesuch in Bielefeld (im Anschluss an die Lohe bei Bad Oeynhausen): anders als die Melancholie einem einflüstert, – alles ist schöner geworden. Ohne Ironie: wirklich! Ich werde einen Teil des Schulwegs nachzeichnen, aber er endet nicht an der ehrwürdigen Schule, sondern im herrlichen Museum, gleich dahinter. Allerdings bringen wir es nicht übers Herz, Zeit für die Ausstellung zu opfern, wunderbar: dem Thema Wasser gewidmet. Ich weiß: Bielefeld hatte die Teiche am Tierpark Olderdissen und einen Bach namens die „Lutter“, der damals irgendwo unterirdisch verfrachtet war; man wusste davon, aber man sah sie nie (vgl. hier). Und bis heute wusste ich nichts Weiteres, abgesehen von dem, was sich in der Nähe unserer Schule verändert hat (mehr darüber hier).

Blick zur Neustädter Kirche (längs der Lutter!)

Die Perspektive spielt verrückt. Die Kastanie aber war damals schon riesig.

   

Hier, nicht weit von der gewaltigen Kastanie, stand in der Anfangszeit ein Bismarck-Denkmal, das irgendwann von Schülern der Oberstufe farblich verunstaltet wurde. Skandal à la Feuerzangenbowle! Später stand dort die Kopie der Rodin-Skulptur „Der Denker“, neben der ich mich einmal, ironisch-komisch geduckt, in ähnlicher Pose ablichten ließ, als es um ein Foto für die Wahl des Schulsprechers 1958 ging. Dieses Foto wurde nicht dafür verwendet, aber gewählt wurde ich tatsächlich, obwohl die Chancen für einen Altsprachler nicht optimal standen. Die Kunsthalle Bielefeld ist der Firma Oetker zu verdanken, die mir – ein nicht ganz vergleichbarer Vorgang – schon ab 1960 mit einem monatlichen Zuschuss von 200.- DM beim Studium half. Den Ort wählte ich in größtmöglicher Entfernung vom Heimatort: nicht in Detmold, was im doppelten Sinne nahelag, sondern in Berlin. Erst 1962 (wegen der Geige) in Köln (statt des angestrebten Wunschziels Wien), was letztlich eine neue Weichenstellung fürs ganze Leben brachte.

s.a. hier – Einen Widerspruch gibt es noch aufzulösen: die Kopie der Rodin-Skulptur soll es – dort in der Nähe des Gymnasiums – gar nicht gegeben haben, als ich noch zur Schule ging (vgl. hier). Sondern erst 1966. Spielt mir die Erinnerung einen solchen Streich? Ist auch hier eine Ent-täuschung fällig? Fortsetzung folgt vielleicht…

(Alle Fotos JR, Portugal: E.Reichow)

Epilog 

Plakat

CD Cover

Was steht auf dem Plakat – rund um das Bild – geschrieben?

I am convinced that almost all great men who, because of their accomplishments, are
recognized as leaders even of small groups share the same ideals. But they have little
influence on the course of political events. It would almost appear that the very domain of
human activity most crucial to the fate of nations is inescapably in the hands of wholly
irresponsible political rulers.
Political leaders or governments owe their power either to the use of force or to their
election by the masses. They cannot be regarded as representative of the superior moral
or intellectual elements in a nation. In our time, the intellectual elite does not exercise any
direct influence on the history of the world; the very fact of its division into many
factions makes it impossible for its members to co-operate in the solution of today’s
problems. Do you not share the feeling that a change could be brought about by a free
association of men whose previous work and achievements offer a guarantee of their
ability and integrity?

Es handelt sich um einen Ausschnitt aus dem Brief, den Albert Einstein 1931 an Sigmund Freud geschrieben hat. Das Plakat oben stammt aus der Bielefelder Kunsthalle. Design: Goshka Macuga „Pavillon for [an] International Institute of Intellectual Co-Operation“ (2016). Mehr dazu hier.

Die musizierende Gruppe aus dem Iran hat damit zunächst nichts zu tun. Ich habe mich bei der Betrachtung des Plakats ihrer erinnert (ebenso wie des Abendmahls von Leonardo da Vinci). Wunderbare Melismen, die einstimmig wirken, aber durch die aufeinanderfolgenden Einsätze der Stimmen ein vielstimmiges, parallel und zugleich in sich verschoben ablaufendes Muster schaffen. Ich möchte nicht, dass solche Musik je in Vergessenheit gerät: Hossein Alizadeh.

Razé No

Und wünsche mir, dass ihr Geist nicht im Widerspruch steht zu dem, der im Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud 1932 zum Ausdruck kam. Mir geht es um Tr.3 (Homayun), aber Tr. 10, der hier greifbar ist, vermittelt auch einen schönen ersten Eindruck.

Themen vereinfachen

Ernste oder sogar schwere Musik

Wenn man – wie ich – viele Jahre als Journalist gearbeitet hat, der Musik zu vermitteln versuchte, also solche, die einer Vermittlung bedurfte, hat viele Vorurteile zu bedenken. Zum Beispiel, dass es Leute gibt, die sich allzuleicht unterschätzt fühlen. Dann darf man durchblicken lassen: ich selber hab’s nötig, ich übe selbst und will niemanden belehren! Auch nicht, wenn ich unterstelle, dass die allzuviele denken: Musik hat nichts mit Denken zu tun, sie gefällt einem oder sie gefällt einem nicht. Niemand würde einräumen: ich habe nie zuhören gelernt. Da kann man noch so sehr beteuern, dass es bei Musik nicht viel anders sei als bei einer Sprache. Wenn jemand mir sagt: ich liebe den Klang der portugiesischen Sprache, und ich bitte darum, mir eine Fado-Strophe zu übersetzen, so wird man mir sofort genau das entgegenhalten, – was ich auch einwenden würde, wenn es um Musik geht – das Verständnis liegt nicht auf der Hand und kommt erst recht nicht „aus dem Bauch“! Der Gehörgang ist wie ein Nadelöhr. Da genügt allerdings kein (Leit-)Faden, man muss die Worte kennen, auch die Grammatik und die Redewendungen. Und das klingt schon verdächtig nach Arbeit! Womit Musik angeblich nichts zu tun hat. Ist Hören denn keine Tätigkeit? Singen, Klavierspielen, Noten lernen, – verbraucht alldies keine Energien? (Man wirbt neuerdings gerade bei Klassik mit dem Versprechen von Entspannung. Die Seele baumeln lassen! Im Ernst!) Übrigens: ich spreche nicht von Pädagogik, sondern von Lernprozessen erwachsener Menschen. Mündigen Menschen, die bereit sind zu denken. Im ganz normalen Leben.

Sieht so ein Denker aus? Wissen Sie, wer da Modell gesessen hat? Der „französische Preisboxer und Ringer Jean Baud, der meist im Rotlichtmilieu auftrat.“ (Wikipedia) Was hat sich Rodin dabei gedacht?

Also: wenn ich es den Adressaten zu einfach mache mit der Musik, sind sie auch beleidigt: Wenn ich z.B. nichts von indischer Mystik und tiefen meditativen Erfahrungen erzählen kann, sondern sage: zunächst mal musst du den einen unveränderlichen Grundton wahrnehmen, „für wahr“ nehmen und genau so akzeptieren, wie den ebenen Fußboden im Tanzsaal, das ist die Voraussetzung alles dessen, was an Wundern geschieht. Nein, du kannst nicht mit dem Wunder beginnen. Am besten, du verzichtest ganz darauf. Du brauchst nur den einen Ton, und irgendwann irgendwo, in weiter Ferne, gibt es einen zweiten, ein weiteres Wunder. Aber der eine Ton ist schwer genug, ihn zu singen oder zu spielen, ihn zu gestalten und zu ertragen.

Die Leute fühlen sich nicht ernst genommen. Wie die Kinder, – wenn sie laufen gelernt haben, – sie wollen nach kurzer Zeit nicht mehr dafür gelobt werden, dass sie laufen können. Es ist langweilig. Sie wollen einfach irgendwohin.

Ich denke viel an meine Eltern, eine typische Alterserscheinung, nicht wahr? Aber das geht anderen auch so, die viel jünger sind als ich. Ich lese z.B. ein Buch der Musik mit dem Titel „Flammen“ , es betrifft die Zeit von 1900 bis 1918, in der mein Vater heranwuchs; und ein anderes, „Liebe in Zeiten des Hasses“ , 1929 bis 1939, da lernte er meine 13 Jahre jüngere (spätere) Mutter kennen und lieben. Zum Glück hatte er seine Kapellmeisterlaufbahn aufgegeben und ein solides Studium absolviert, das ihn zum Studienassessor machte, ein respektables Wort, das nur wenige Menschen behalten konnten.

Später gab es einen Familienmythos, warum er nicht weiter als Dirigent reüssierte: in Stralsund, Lübeck oder Bielefeld, 20er Jahre, damals – erzählte meine Mutter – kam der Tonfilm auf, das ruinierte die Laufbahn. Der Witz ist nur: wenn man zurückdenkt, – revidiert – , findet man überall solche Mythen, private und kollektive.

Eine bekannte Wissenschaftlerin, Mai Thi Nguyen-Kim, Chemikerin von Haus aus, die für ihre erhellenden journalistischen Arbeiten ausgezeichnet wurde, sagte einmal,

„dass die ganze Pandemie dem Vertrauen und dem Verständnis in die Wissenschaft eher geschadet hat als genützt“. Der grelle Scheinwerfer der Aufmerksamkeit habe bei vielen Menschen nur die Illusion erzeugt, etwas zu verstehen: Man glaube, man kenne sich aus, tue es aber nicht, sagte Nguyen-Kim. „Das ist noch gefährlicher, als wenn man wenigstens weiß, mit Wissenschaft habe ich nichts zu tun.“

Wie spricht die Wissenschaft? briefly and succinctly („kurz und bündig“)

DIE ZEIT (s.u.)

Quelle: hier Wikipedia Fauci

Warum also?

DIE ZEIT 21.04.22 Seite 31: Was Experten lernen müssen Ihr Wissen ist gefragter denn je, doch sie dringen nicht durch. Deshalb sollten sie anders kommunizieren als bisher / Von Maximilian Probst und Ulrich Schnabel

Hinter der optimistischen Rede von der Vereinfachung steckt – das entnehme ich diesem ZEIT-Artikel –

die alte, idealistische Hypothese, dass es zur Förderung der Vernunft nur entsprechende Erklärungen brauche, dass sich der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« (Jürgen Habermas) am Ende wie von selbst Gehör verschaffe. Doch diese Annahme ist naiv. Denn ausgerechnet die Wissenschaft selbst hat in den vergangenen Jahren ein ums andere Mal belegt, dass Menschen ihre Urteile und Ansichten von der Welt gar nicht auf der Basis einer gesicherten Faktenlage und guter Argumente bilden. Statt an der Vernunft orientieren sie sich lieber an ihrem Umfeld, an dem, was ihre moralischen oder religiösen Überzeugungen nahelegen, oder schlicht an ihrem »Bauchgefühl«. Wer also mehr Wissenschaftskommunikation fordert, sollte sich zuerst einma mit der Sozialpsychologie beschäftigen.

Ich bin in Sorge, dass Sie mir angesichts so einfacher Tatsachenbehauptungen (und länglicher Fachworte) schon nicht mehr zuhören, daher nur noch der Verweis auf die in der ZEIT angegebenen Forschungen (beginnend mit den Sozialpsychologen Albert Hastorf und Hadley Cantril am Beispiel eines legendären Footballspiels aus dem Jahre 1951).

Mein persönliches Beispiel des Scheiterns ist der Philosoph Hegel (nicht er!!! – das hätten Sie vielleicht der Einfachheit halber gehofft, nicht er scheiterte, sondern ich an ihm).

Als ich gestern gegen 17.30 h im Taxi fuhr, um mein Auto aus der Werkstatt am andern Ende der Stadt abzuholen, drehte der Fahrer das Radio lauter: ich dachte, es sei was Türkisches, las aber auf dem Display RSG (Radio Solingen) Shakira „Underneath your Cloathes“ und unterließ ein weiteres Gespräch, weil ich nicht wusste, ob er den Titel kennt und deshalb lauter gestellt hatte. Oder nur, weil unser Thema nichts hergab. Aus irgendeinem Grund suchte ich jedenfalls abends Shakira auf youtube, genauer: ich wollte wissen, aus welcher Sicht der Song gendertechnisch gemeint war, ich wollte es mir nicht zu einfach machen. Aber doch, es war ganz einfach. Über 72 Millionen Aufrufe, so viele Menschen können nicht irren, oder? Ich erinnere mich an eine Talkshow, in der ein kluger Mann – wenn auch als Laie – über Musik , speziell über Wagner sprach, und ich war erschüttert. (Wenn das so geht, dann darf ich auch über Hegel reden!)

Noch etwas entnehme ich dem oben angeführten ZEIT-Artikel:

Entscheidend für die richtige Kommunikation ist auch die Unterscheidung des »schnellen« und des »langsamen Denkens«, die wir dem Kognitionspsychologen Daniel Kahnemann verdanken. Das schnelle Denksystem ist intuitiv, automatisch und gefühlsgesteuert, das andere hingegen rational, gründlich und eher anstrengend. Wissenschaftler apellieren fast ausnahmslos an das zweite, »langsame« Denksystem; schließlich entspricht dies genau ihrer Methodik mit Messungen, Theorien und Diskussionen, aus denen sich allmählich ein Konsens herausschält.

Im Alltag hingegen agieren die meisten Menschen im schnellen Denkmodus. Weil wir oft zu wenig Zeit haben, um alle Informationen sorgfältig abzuwägen, verlassen wir uns auf Heuristiken, gedankliche Faustregeln: Aussage, die wir zuvor schon einmal gehört haben, halten wir für glaubhafter als neue (weshalb oft wiederholte Fake News wirken); wir wählen Nachrichten unbewusst so aus, dass sie unsere vorgefassten Meinungen bestätigen – aber halten uns bei all dem selbst für vollkommen objektiv und unbeeinflusst.

Es gibt noch einiges an Stoff, was sich aus dem Artikel lernen lässt, z.B. über das Gegenmodell des „echten Dialogs“, doch ich knüpfe an die Schwierigkeit mit Hegel an, bzw. an unseren Solinger Zeitgenossen, der in der Tat ein Meister der klaren Sprache ist, und vielleicht deshalb auch so ratlos reagiert, wenn es um emotional komplexere Musik geht.

Richard David Precht, der öffentlich zugibt, er sei mit Hegel nie warm geworden, wirft den zeitgenössischen Philosophen vor, sie betrieben bei Hegel eine „Altbausanierung des Geistes“. „Es gibt in Deutschland nur eine Handvoll Philosophen, die sich intensiv mit KI [sc. Künstlicher Intelligenz] beschäftigen, und ungefähr sieben bis achtmal so viele, die sich mit Hegel beschäftigen.“ Nun ist es wenig verwunderlich, dass ein Verbote-Enthusiast wie Precht mit kritisch-dialektischem Denken und emphatischem Freiheitsbewusstsein vom Schlage eines Hegel wenig anfangen kann. Dennoch hat er in einem Punkt recht, zumindest was die deutsche Hegelianer-Szene angeht. In der Tat wird dort oft philosophische Altbausanierung betrieben.

In diesem Abschnitt gab es einen kleinen Internethinweis, der realisiert werden kann:

https://www.youtube.com/watch?v=T0EfC3ocAdI HIER

Es ist übrigens kein Digital- oder KI-Muffel, der so schreibt, wie eben zitiert. Die zweite Hälfte seines schmalen, aber höchst anregenden Buches dreht sich um die Antinomie künstlicher Vernunft, Big Data und Überwachungskapitalismus, – hier und da steige ich aus, aber man kann immer wieder aufs neue Anlauf nehmen und sich eines wachsenden Durchblicks erfreuen. Ich glaube, auch den Versuch meines Artikels „Herr und Knecht“ könnte ich heute ganz anders fassen. Dank Alexander Schubert.

Übrigens habe ich den Verdacht, dass Richard David Precht sich nicht um ein angemessenes Hegel-Verständnis bemüht hat, – aber ich besitze weder seine Geschichte der Philosophie, noch habe ich vor sie zu lesen, es sieht mir zu einfach aus, – obwohl ich ihn, wenn ich ihn reden höre, durchaus überzeugend finde – aber meine Hochachtung vor Hegel beruht auf anderen Erfahrungen, die ich etwa bei Adorno (Musik!) „gespürt“ habe: ich weiß, dass es nicht um gute Worte und „common sense“ geht. Und  wenn ich den süffigen Ausdruck „Altbausanierung des Geistes“ höre, weiß ich, dass man bei Precht nicht an der richtigen Adresse ist. Allerdings bin ich auch von den Hegel-Philosophen etwas enttäuscht. Sie helfen mir nicht, wenn ich zum wiederholten Male ratlos in der „Phänomenologie des Geistes “ blättere, weil ich im ersten Teil steckengeblieben bin, und dann stoße ich zufällig auf das Kapitel von der „Schädellehre“ und glaube zu verstehen, wovon die Rede ist und will es nicht glauben:

Und warum hilft mir da niemand, wie im Fall Lavater / Goethe ? Das war 1774 und etwas später, mit Hegel sind wir am Anfang des 19. Jahrhunderts, wir können also nicht die heute allgemein präsente physiologische Wissenschaft voraussetzen. Aber eine Vorwarnung vonseiten der Hegelianer wäre doch angemessen: Zwar war Hegel ein gewaltiger Denker, aber trotzdem kein Stellvertreter des wissenschaftlichen Weltgeistes. Bei Vieweg (siehe im Blog hier) sehe ich den quasi zufälligen Hinweis auf „unangemessen breite Darstellungen“, neben „dunklen und unausgereiften Passagen“, etwa im Fall des ›metaphysischen Epirismus‹ in der Naturforschung (Vieweg S.265):

Auch biographische Episoden nehmen Einfluss wie der Besuch des Schädellehrers Gall in Weimar und Jena sowie die Präsenz von Froerup, eines Adepten der ›Schädellehre‹. Mitunter gingen Hegel die Pferde durch, etwa in der peinlichen Anspielung auf Novalis‘ Erkranken an der Schwindsucht.

Wie kann es sein, dass ich eher zufällig bei einem Hegelianer auf Seite 215 auf den erlösenden Satz zur Qualität der Schädellehre (Phrenologie) stoße???

Unter dem Lemma [Stichwort] der »beobachtenden Vernunft« diskutiert Hegel nicht allein die Perspektive der modernen Naturwissenschaften, die zwar weiß, dass es ihre Aktivität ist, die die Befragung der Natur ermöglicht, diese allerdings als etwas bloß Vorhandenes begreift. Vielmehr diskutiert er auch obsolete Positionen wir die Phrenologie, die mit ihrer grotesken Verwechslung geistiger Eigenarten mit einer Typologie der Physiognomie von Schädeln deutlich macht, dass auf der Ebene der Beobachtung des Naturgeschehens kein angemesssenes Verständnis unserer Rationalität entwickelt werden kann. Die Gestalten praktischer Vernunft, die Hegel dann im Folgenden diskutiert, sind von diesem Einwand befreit. Allerdings gelingt es ihnen nicht, widerspruchsfrei zu einem konkreteren Gehalt des Handelns vorzudringen [usw.usw.]

Na also, mit wieviel mehr Freude folge ich diesem Autor, der freimütig – wenn auch quasi im Vorübergehen – die Defizite benennt, die man als Laie einem solchen, anscheinend [oder scheinbar] allwissenden Vater der modernen Philosophie nicht unterstellen mag. Nur Mut!

Quelle Daniel Martin Feige: Die Natur des Menschen / Eine dialektische Anthropologie / Suhrkamp Verlag Berlin 2022. [Zitat Seite 215]

Womit ich nicht suggerieren möchte, dass dieses Buch leicht zu lesen ist. Wenn ich dem Autor gerecht werden wollte, müsste ich diesen Beitrag ins Ungemessene erweitern, um zunächst einen anderen Essay zu referieren, der in dem Band „Gibt es Musik?“ steht: „Zur Dialektik der postkolonialen Kritik“. Was eine schöne Gelegenheit ergäbe, die Brücke zur Epidemiologie zurückzuschlagen, die oben im ZEIT-Artikel mit Anthony Fauci avisiert wurde. Hier geht es um den Musikbegriff und die Tatsache, dass es ihn nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben hat, was uns nicht hindern kann, ihn zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen. Denn auch der Begriff des Bakteriums ist in einer interkulturellen Betrachtung nicht schon dadurch diskreditiert, „dass er erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten kulturellen Kontext auftaucht.“

Ich wende mich stattdessen abschließend dem Begriff „Kalbfleisch“ zu, der am Anfang und am Ende eines journalistisch gedachten Einführungstextes assoziiert wird und mir als Beispiel der Tendenz zur Vereinfachung einer komplexen musikalischen Thematik dienen kann. Bachs „Kunst der Fuge“. Die hier schon behandelte Version von Reinhard Febel.

Der Clou: er schlachtet es gar nicht. Aber was tut er dann?

Und nochmals abschließend zitiere ich zur CD II Tr. 3 (Kurztext von Andreas Groethuisen):

bei Koroliov (s.u.) CD II Tr.6 u 7

Und – wie Kolneder in seiner komplexesten Arbeit eine neu gedachte Fugen-Version einmal zu einfach sah:

Quelle Walter Kolneder Die Kunst der Fuge Mythen des 20. Jahrhunderts Teil I, Heinrichshofen Verlag Wilhelmshaven1977

Nach all den Bemerkungen, abschließend und wieder neu beginnend, erlaube ich mir eine weitere zu meiner eigenen Hörpraxis (eine Übung): ich nehme mir eine andere Klavierfassung der „Kunst der Fuge“ und höre zunächst dieses „Original“, Stück für Stück, dazu jeweils die „Übermalung“ von Reinhard Febel (s.a. Hören hier), parallel sozusagen. Und danach füge ich noch eine letzte Bemerkung an (sonst kann ich mich nicht vom Thema trennen).

Evgeni Koroliov TACET hier

Meine letzte Bemerkung (folgt, liegt noch auf meinem Nachttisch)

Man könnte meinen, zu dieser Musik gehört immer der Ehrgeiz, drei (oder sogar vier) Stimmen gleichzeitig hören zu müssen, ein dreifach geflochtenes, endloses Band. Wobei ich im Moment an den Bestseller „Gödel, Escher, Bach“ gedacht habe, und an die tönende Aufnahme, die von kleinen Pausen zwischen den Sätzen und Tempowechseln durchsetzt ist, von Ausdünnung und Verdickung des Tonsatzes, von den vielfachen Erscheinungsweisen des Themas, – während meine Aufmerksamkeit anders gebündelt oder zerstreut wird, wenn ich die Noten durchblättere, deren Anblick mir etwas bedeutet, obwohl sie einen realen Verlauf wirklich nicht im geringsten ersetzen können.

Ich kann mich aber auch von den meisten Aufgaben befreien und nur alle anderen, neuen Parameter wahrnehmen, während mich zugleich ein imaginärer Strom umfasst und fortträgt, in dem mir nicht die kleinste Welle unbekannt ist.

Sagen Sie nicht: das war vermutlich kurz vorm Einschlafen, nein, nie war ich wacher als in diesem Augenblick.