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Übersetzungsfehler

Was hat Eva dem Adam verabreicht?

Kürzlich, in einer der gängigen Fernsehquizshows , wurde den staunenden Ratern eröffnet, es war kein Apfel, auch keine Birne oder dergleichen, sondern laut originalem Text eine exotische Frucht, und der Übersetzer habe der besseren Verständlichkeit wegen stattdessen den in unseren Breiten gemeinen Apfel eingesetzt. Aber stimmt das auch? Man kann sich bei Wikipedia auf den rechten Weg bringen lassen (landet damit fast beim hebräischen Urtext, der mir weiterhin verschlossen bleiben mag), also etwa hier. Aber ich berufe mich auf diese Quizfrage nur, um auf ein Musikbuch zu kommen, das von vielfältigem Wissen überquillt und solche Fragen im Vorübergehen löst, so auch die, was im Englischen der Ausdruck „Artificial Intelligence“ wirklich bedeutet. Ich jedenfalls bin ganz naiv darauf hereingefallen und in großer Sorge gewesen, ob an dieser Stelle nicht die wahren Werte unserer Geistesgeschichte verteidigt werden müssten, na ja, wer weiß, – ob es nicht auch meinerseits nur ein Spiel war: hier und hier. Ich habe doch meinen Bach, unbeirrbar. Und nicht zu vergessen: Vilayat Khan, so ein Art von Genie kommt in dem ganzen Überblick nicht vor.

Jetzt lese ich jedenfalls in dem klugen Buch von Claus-Steffen Mahnkopf, wie einfach sich solche Missverständnisse auflösen lassen. Ich zitiere ihn in blauer Farbe:

Eva pflückte bekanntlich vom Baum der Erkenntnis einen Apfel. Im hebräischen Original gibt es jedoch keinen Apfel, aber in der lateinischen Übersetzung ein malum, das, je nachdem, ob das a gedehnt wird ‹Apfel› oder ‹das Böse› heißen kann. Eva nascht am Bösen, aber in der europäischen Kunstgeschichte wurde daraus ein Apfel. Ähnlich heute. Im Englischen gibt es »Artificial Intelligence«, »Intelligence« heißt Daten- und Informationsverarbeitung, und zwar künstlich, also mit Maschinen. Künstliche Datenverarbeitung wird in Deutschland übersetzt mit ›Künstliche Intelligenz‹, eine Formulierung, die so falsch ist, wie sie nicht mehr korrigiert werden kann. Sie ist ein Mem geworden, allerdings eines falschen Denkansatzes. Sie suggeriert, dass Computer und ihre Programme intelligent seien, so wie wir es intelligenten Zeitgenossen nachsagen. Daraus hat sich eine Großideologie gebildet.

Quelle Claus-Steffen Mahnkopf: Die Kunst des Komponierens / Wie Musik entsteht / Verlag Philipp Reclam jun. Ditzingen 2022 (Seite 124 f)

Die transhumanistischen Theorien von der bald bevorstehenden Macht der Algorithmen, die ›intelligenter‹ sein werden, als der Mensch es realiter ist, stammen durch die Bank von technikaffinen Männern, die ihre Allmachtsphantasien auf solche Geräte projizieren und dabei außer kaum belegbaren Behauptungen wenig Substantielles beitragen. Weder überprüfen und klären sie die Grundbegriffe des Denkens, des Lebens, des Verstehens, des Rechnens, des Bewusstseins, des Selbstbewusstseins, der Kreativität, ja des Algorithmus selbst, noch liefern sie uns die Beweise für ihre kühnen Thesen. Wenn Yuval Noah Harari, seines Zeichens Militärhistoriker, zu Zwecken von Bestsellern sich zum Universaldenker aufschwingt und erklärt, wir Menschen seien Algorithmen, und zwar veraltete, dann fragt man sich, welcher veraltete Algorithmus das Harari eingeflüstert hat. Was er über den Zusammenhang von sogenannter Künstlicher Intelligenz und Musik schreibt, bewegt sich, mit Verlaub, unterhalb des Gymnasialniveaus. Er behauptet, dass heute schon Computer Mozart-Symphonien oder Bach-Fugen komponieren können. Noch einmal: Sie können es nicht. Die wenigen Computerkomponierhilfsprogramme erleichtern lediglich Rechnungen wie Proportionen, Transpositionen oder Ähnliches. (…)

Auch unter selbsternannten Musikphilosophen wird eine Revolution durch die Digitalisierung ausgerufen. Sie wollen die Ersten sein, die eine neue Epoche heraufziehen sehen. Doch das geschieht seit bald 100 Jahren immer wieder, und es ist jedes Mal anders gekommen. Zukunftswissenschaft ist streng genommen ein Widerspruch in sich. Hegel wusste, warum er die Eule der Minerva erst mit der Abenddämmerung ihre Kreise ziehen ließ.

Ich weiß, wovon die Rede ist: vor über 10 Jahren hat es doch diesen Disput gegeben um das Buch von Harry Lehmann – „Die digitale Revolution der Musik“ -, ich habe es nicht lange in Betracht gezogen, weil es eine Zukunft entwirft, ohne einen Gedanken an andere Musikkulturen der Welt zu verschwenden. Da fällt mir ein, – wie steht es denn darum hier bei Mahnkopf? Er berichtet, wie er als Komponist in Shanghai gearbeitet hat: mit „rein chinesischen Instrumenten“ (Seite 165), aber die rein chinesische Musik, die damit gemacht werden könnte, interessiert ihn nicht, nur das ganz, ganz andere Klangwerkzeug. Sicher, er arbeitet dort als westlicher Komponist… Aber er kann doch (noch ein wenig weiter) über den Tellerrand gucken!

Kurze Zeit später scheint er es zu tun, er spricht von „klassischer südindischer Musik“ – die gibt es also, man nennt sie auch karnatische Musik, füge ich hinzu, weithin gerühmte Komponisten, ja, sie verstanden etwas von der Kunst des Komponierens, von der Kunst einen bloßen Raga in die Form einer Krti zu verwandeln. Aber was erzählt uns dazu der westliche Avantgardist? Null. Nichts. Hätte er nicht wenigstes sagen können, dass man in solch einem riesigen Land herumreisen kann, gewaltige kulturgetränkte Städte erkunden, – und nirgendwo kennt man den Namen Beethoven. Zu seiner Zeit haben sie einst die Violine von den englischen Militärmusikern übernommen, ja, sagten sie, aber wir können sie wirklich spielen, wir begleiten unsere Sänger:innen bei ihren Krtis damit! Und nun Mahnkopf:

Bei Sängern klassischer südindischer Musik beispielsweise sitzt der Kehlkopf höher als bei westlichen, so dass sie das Vibrato in Geschwindigkiet und Amplitude – auch getrennt voneinander – regeln können. Gerade dieser doppelte Zugriff auf das Vibrato (bei Streichern ganz üblich) wird in der zeitgenössischen Musik erwünscht. Freilich fehlen in der westlichen Welt jene anatomischen Voraussetzungen: Der Kehlkopf ist, wo er ist. Geiger können zwischen einem modernen und einem barocken Instrument wechseln, der Sänger jedoch bleibt, weil er selbst das Instrument ist, ein Individuum.

(Zitat a.a.O. Seiter 167) Klingt klar und deutlich. Schleierhaft dagegen bleibt, wieviel Unsinn man auf engem Raum zusammendrängen kann, wenn ein einziges Mal wirklich von „klassischer südindischer Musik“ die Rede sein soll! Wo tatsächlich im Gesang überhaupt nicht vibriert wird. Es gibt unendlich feine und flinke Ornamentationen, aber kein Dauervibrato, und soweit ich weiß, sind die Kehlen dort nicht anders gebaut, sondern nur anders ausgebildet. (Dürfte man eigentlich so genderfrei von anatomischen Details berichten, die den männlichen Kehlköpfen fremder Völker eigen sind? Was gäbe es da erst über die Khöömi-Sänger in Tuva  zu mutmaßen.)

Ich weiß nicht, was man zu solchem Gerüchtegebräu sagen soll, wenn sich schon ein Yuval Noah Harari  angeblich manchmal „unterhalb des Gymnasialniveaus“ bewegt (a.a.O. Seite 125). Vielleicht habe ich  ihn überschätzt? Damals habe ich ihn jedenfalls ganz anders gelesen, aber mir ist gewiss auch manches, was mich damals beschäftigt hat, längst wieder fremd geworden (siehe u.a. hier).

Ich würde einen wichtigen Punkt verhehlen, wenn ich nicht auch erwähnen würde, dass mir das Lesen viel Vergnügen und Anregung bereitet hat. Ich bewundere Claus-Steffen Mahnkopf seit seinem großen Tristan-Buch, und auch jetzt wieder beeindruckt er mich mit seiner Stofffülle und der Vielfalt der (westlichen) Aspekte. Zugegeben: selbst im noch recht nahen 20. Jahrhundert wird er mir oft zu anekdotisch-zufällig. Beispiel: wenn es um die „Öffnung immer weiterer Kulturkreise durch die Globalisierung“  geht, Seite 180, liefert er eine absurde private Meinung aus Litauen, und sie wird nicht diskutabler, wenn der, der sie äußert, sich Komponist nennt. Da könnte ich auch die ästhetischen Ansichten meines Opas anführen, der aus dem Ersten Weltkrieg erzählte, wo auch manchmal gesungen wurde. Was da fehlt, das fehlt mir überhaupt oft im Weltbild der Avantgarde: die „Welt“ ist nur da, wo auch in Neue Musik westlicher Prägung investiert wird. Und auch die Geschichte ist uns nur dort nah, wo sie uns greifbar in schriftlichen Dokumenten vorliegt. Die klassischen südindischen Kompositionen wurden zum ersten Mal notiert von Josef Kuckertz, aber man muss sie trotzdem in voller Länge im Original hören (HÖREN!), sonst hat man nichts davon. Ja, und dazu noch etwas „Theorie“ lernen, aber die indische …

Warum muss man Hildegard von Bingen erwähnenswert finden, nicht aber Tyagaraja, Muttusvami Dikshitar und Syama Shastri, die großen Zeitgenossen von Mozart, Beethoven, Schubert? – Ja, ich weiß warum, aber lassen wir es damit bewenden…

Etwas hat mich nachhaltig an dem Buch fasziniert: die Wendung, die da ein zeitgenössischer Komponist nimmt, um einen richtig alten, traditionellen Wert zu positionieren: SINN.

Natürlich lassen sich Klangdesigns errechnen, so wie Bildsequenzen. Aber es sind akustische Kaleidoskope, ohne jeden musikalischen Sinn. Rohmaterial vielleicht, Klänge, aber keine Musik. Computer verarbeiten mathematische Fakten, nicht Sinn. Musik gehört aber zum Reich des Sinns. Natürlich können Computer Töne aneinanderreihen, wie sie das auch mit Bildern, Filmsequenzen und Wörtern vermögen. Aber das war es dann auch schon. Denn Texte, Musikstücke, Bilderfolgen und Filme brauchen einen sinnvollen Zusammenhang; sofern Kunstanspruch dabei ist, erst recht. Sinn, der Verweisungszusammenhang von Lebendigem, ist aber eine Dimension, die einem Computer prinzipiell unzugänglich ist, da dieser nicht lebt.

(Zitat Mahnkopf a.a.O. Seite 126 f)

Ich bin (als lebendiger Mensch) sehr zufrieden!

Zum Buch: HIER

P.S. Eine private Geschichte von anekdotischer Evidenz

Ich beziehe mich auf die Aufführungssituation bei Kagels Match (1964), von der Mahnkopf auf Seite 186 erzählt. Ich war dabei. Bei den Proben im Kölner Funkhaus, der Aufführung und der Nachfeier mit Siegfried Palm im Ristorante „Alfredo“. Gerade wurde ich wieder drastisch daran erinnert: der Percussionist der damaligen Szene starb am 19. Februar dieses Jahres: Christoph Caskel, er war in derselben Stadt wie ich geboren (Greifswald), sein Vater war ein bekannter Orientalist.

Siegfried Palm, der agile Cellist und erfinderische Pionier ausgefuchster Streichertechniken für die Neue Musik, hatte uns hier Zugang verschafft (Lehrer der Cellistin Edith Frieser und unser gemeinsamer Kammermusiklehrer). Sein – in unseren Augen – wesentlich jüngerer Kollege Klaus Storck war neu in der „Branche“, ziemlich bekannt in der Alte-Musik-Szene (man munkelte, er wollte dies Image loswerden), gab sich redlich Mühe, den Kagel-Spaß über die Bühne zu bringen. Für uns sehr interessant, aber auch nicht ganz neu, damals erlebte man allenthalben auf Podien der Neuen Musik sogenannte Happenings. Bei Kagel faszinierte die bis in jede Geste festgelegte und festlegende Notation, zudem die irgendwie auch lebendigen Klanggestalten.

Was ich eigentlich erzählen wollte: als ich 20 Jahre später – auf anderen Wegen – im WDR unterwegs und in vielen Sendungen die Genres der Musik, die ich kennengelernt hatte, zu verbinden suchte, und zwar in einer Nachmittagssendung, in der man den zuhörenden Menschen nicht alles, aber doch einiges an Fremdheit zumuten konnte, ein Übungsplatz namens Musikpassagen, da kam ich auf die Idee, Kagels „Match“, das ich einst so lebhaft erfahren hatte, aus dem Archiv zu holen, zumindest in Ausschnitten vorzuspielen und zugleich etwas von der Geschichte zu rekapitulieren. Es gelang mir nicht. Ich hörte es zum erstenmal seit damals in meinem Büro ab, an einer der großen fahrbaren Maschinen, auf der Suche nach einem attraktiven Ausschnitt. Und fand nichts, was ich rein „akustisch“, ohne die Bühnen-Atmosphäre von einst, einem (hoffentlich) neugierigen (Klassik-)Publikum auf WDR 3 vorsetzen mochte. Und hatte nicht den Mut, das zu sagen, und gleichzeitig an anderer Stelle in freundlich werbendem Tonfall auf Einzelheiten indischer oder persischer Musik einzugehen, als sei „fremd“ und „fremd“ das gleiche… Zugleich schämte ich mich für mangelnde Einsatzbereitschaft.

Nebenbei: was ist eigentlich von Mauricio Kagel geblieben? Habe ich jemals noch von einem Kammermusikprogramm gehört, in dem „Match“ enthalten war? War es etwa an diese drei miteinander kontrastierenden und damals auch prominenten Personen auf der Bühne gebunden?

Am liebsten würde ich noch einmal auf das Problem der Übersetzungsfehler zurückkommen.

Gendern!? Wie in der Musik darüber gedacht wird…

… sodass ich mich womöglich anschließe

Vielleicht mache ich es mir aber zu einfach, indem ich vormerke, was ich gestern und heute gelesen habe (wie vorher auch schon ähnlich von Navid Kermani, der nicht unbedingt zu den Musiker:innen zählt). Ich merke es mir vor, statt es still zu beherzigen oder mir gar eigene Gedanken zu machen, nachdem ich mir immerhin schon hier und hier etwas zum Thema vorsortiert hatte.

Diesmal handelt es sich um nicht weniger als

Die Wahrheit über Cancel Culture HIER

geschrieben von Moritz Eggert, gefunden in der NMZ online, die ich regelmäßig per Mail empfange und allen Musikinteressenten/tinnen empfehle; sie werden im Link auch eine Gelegenheit entdecken, sich zum regelmäßigen Bezug dieser Musiknachrichten einzutragen.

Darüberhinaus entdeckte ich als Abonnent von Musik & Ästhetik mit Verwunderung einen Artikel des Mitherausgebers Claus-Steffen Mahnkopf, weil darin wenig Musiktypisches zum Vorschein kommt, jedoch eben dieses Gender-Problem in allen möglichen Facetten.

Hier wäre Gelegenheit sich etwas einzulesen, vielleicht folgt der Entschluss, koste es was es wolle, den Rest an anderer Stelle weiterzuverfolgen:

Und außerhalb? Z.B. in der ZEIT 7. April 22 von Petra Gehring

4 Auffassungen von Geschlecht !

Quelle: Das gefühlte Geschlecht / Die britische Philosophin Kathleen Stock wurde wegen ihrer Transgender-Theorie stark angegriffen. Dabei ist ihr Buch »Material Girls« alles andere als ein Skandaltext / Von Petra Gehring [hier]

ZITAT

Harsch geht Stock nicht nur mit dem trans-aktivistischen Konzept des Geschlechts als »Gefühl« ins Gericht. Sondern sie schreckt bereits von der These zurück, das Geschlecht sei allein eine Sozialtatsache.

Philosophisch gesehen ist das keineswegs zwingend nötig, denn »gefühlt« ist etwas anderes als »geworden«, und das Gewicht einer durchlebten Geschlechtersozialisation macht sehr wohl aus einer Frau eine Frau. Deshalb ist auch Geschlecht im Sinne von Konzept 3, also seinem sozial bestimmten Charakter, derart real, dass es sich nicht per (Selbst-)Definition abstreifen oder nachträglich aneignen lässt. Und auch die Übereinstimmung von Identität und Geschlecht, also das, was im Trans-Jargon inzwischen  »cis« genannt wird, ist kein Phantom. Vielmehr steht es für eine Art Klassenlage, die tief in den Leib hineinreicht: für Gegebenheiten, die sich ganz ohne Berufung auf Biologie jedem Verdacht auf Beliebigkeit entziehen.

Quelle des hier thematisierten Buches: Kathleen Stock: Material Girls. Warum die Wirklichkeit für den Feminismus unerlässlich ist; Edition Tiamat, Berlin 2022; 384 S., 26,-€

Nachtrag 5.8.22 NZZ

In der Genderfalle: wenn es der öffentlichrechtliche Rundfunk niemandem recht machen kann

Deutsche Sprachwissenschafter fordern von den Anstalten eine Abkehr von Genderstern und Binnen-I. Doch sollten die Senderchefs flächendeckend verbindliche Regeln festsetzen, dürften sie bald selbst als Partei im Kulturkampf betrachtet werden.

Hier

Musik machen – oder Liebe?

Von der performativen Wende

In einem sehr lesenswerten Text über „Die Qualitätsfrage“ beschäftigt sich Claus-Steffen Mahnkopf mit dem gestörten Verhältnis der Kunstwelt gegenüber der großen Musik. Aufklärung sei ohnmächtig gegenüber der Faktizität des Wandels der Musikkultur.

Die Postmoderne agierte mit der Verleugnung von Wahrheitsansprüchen performativ (also nicht argumentativ); der Turbokapitalismus wirkt bis in die hintersten Winkel der Köpfe und Herzen der Kunstakteure hinein. Die Folgen sind ein bequemes Mittelmaß und ironischerweise ein besonders unangenehmer Geniekult, nämlich der der wenigen verbliebenen „großen Komponisten“. Das  Mittelmaß zeigt sich nicht nur in der Produktion, sondern auch bei den Akteuren, denen Toleranz gegenüber Schlamperei mehr zählt als die Insistenz auf Problembewältigung.

Er sieht zwei Ursachen für das gestörte Verhältnis der Kunstwelt gegenüber der Idee der großen Musik. Die erste sei die Angst.  Und er fragt, ob es die Angst vor hoher libidinös-erotischer Bindung sei, die „entsteht, wenn Musik uns erst einmal und dann für das ganze Leben verführt hat“. Zumal wenn wir sie, als „große Kunst“, nicht mehr mit der Idee eines sinnvollen, erfüllten und gehaltvollen Lebens zu verbinden vermögen, „ja mit einer Kultur der Liebe“. Und in einem mutigen Sprung zieht er eine Verbindung zu dem, was man mit „Liebe machen“ umschreibt, einmal „um ihn oder sie, biblisch gesprochen, zu erkennen – oder einfach um Spaß zu haben.“  Der Vergleich ist nicht unergiebig, aber mir geht es an dieser Stelle um die zweite Ursache. Mahnkopf widmet sich hier dem, „was Hanno Rauterberg in einer glänzenden Analyse des Kulturbetriebs Postautonomie nennt.“ Ich zitiere das gern, weil es mich in meiner Lektüre weiterführt (siehe hier) und einen weiteren Zusammenhang schafft. Bemerkenswert das Wort von der performativen Wende.

Der Zeitgeist – die ubiquitären Verstrickungen des Kapitals, der gesteigerte Narzissmus der Akteure (Künstler, Kunstvermarkter, Kunstaussteller, Kunstberichterstatter), die symbolischen Potenzen der Mediengesellschaft, die Erschöpfung der großen Theorien – ist so mächtig, dass die Kunst zu angepasster, sich andienender, mitverdienender Gesellschaftskunst wird, die ihre Eigenlogik aufgibt und damit ihre Souveränität aufgibt. Auf eine ähnlich kenntnisreiche Studie des zeitgenössischen Musiklebens werden wir wohl noch lange warten müssen, können jedoch hochrechnen: Auch hier hat der Zeitgeist zu einer Anpassung und zu immer subtileren Formen gefälschten Bewusstseins geführt.

Wir müssen uns eingestehen, dass der Modus des Betriebs nach der performativen Wende, mithin das Primat des Machens, eine Korrektur, obwohl sie dringlicher denn je ist, nicht vorsieht. Das Verschwinden einer autonomen professionellen Musikkritik (*Anm.) und eines intellektuellen Diskurses auf der Höhe der Wissenschaft, in dem die systemrelevanten Entscheidungen wie Kompositionsaufträge, Repertoirebildung, Anerkennung nicht primär unter dem Aspekt der Qualität getroffen werden. Qualität ist diesem Modus zufolge eine sekundäre „Tugend“.

Hierbei gibt es drei Verlierer. Das Publikum bekundet durch konzentriertes Zuhören, mithin Stille im Saal und den entsprechenden Applaus sehr wohl ein Gespür für Qualität. Allein, es entscheidet nicht, hat keine Macht. Und die Interpreten, die, von einer Uraufführung zur anderen gejagt, kaum ein Stück richtig erlernen und verstehen können und auf eigene Repertoirebildung verzichten müssen.

Verlierer ist auch der Komponist. Musikalische Kreativität außerhalb des Systems der Aufführungen, mithin des Musikbetriebs, kommt kaum weit. Mag man eigene Instrumente und klangliche Apparaturen kreieren, die für die Rezeption von Musik unverzichtbare Öffentlichkeit fehlte.

Quelle Claus-Steffen Mahnkopf: Die Qualitätsfrage / in: Musik & Ästhetik Heft 78 April 2016 (Seite 88 f)

*Anm.: Mahnkopf verweist an dieser Stelle auf den Essay von Julia Spinola zur Frage Schafft sich die Musikkritik ab? (Siehe Musik & Ästhetik 66 (2013).