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Blumenberg lesen

Die Realität des Leibes

Ein Thema, das es in sich hat. Gerade weil es nur um die Einschätzung des Äußeren geht. Kann ich einem Menschen ansehen, was für einen Charakter er zeigen wird, wenn wir uns genauer kennenlernen? Oft genug habe ich festgestellt, dass er oder sie schon nach einem ausgiebigen Gespräch ganz anders aussieht. Keine Einbildung, unsere Einschätzung der Anderen – auch äußerlich – beruht auf den Erfahrungen, die wir machen oder revidieren, ob nach einem Gespräch oder einer Anzahl von Begegnungen. Lebenserfahrung heißt das. Man muss das gelernt haben, denkt man, aber es gab doch immer wieder Menschen, die sich zum Beispiel auf den ersten Blick verliebten. Oder dies  von sich behaupten: es habe sie wie ein Blitz getroffen. Aber wenn mich nun der Blitz fortwährend trifft, aber der/die andere merkt es nicht, – was dann? Lavater hieß ein Mann des frühen 19. Jahrhunderts, der fest daran glaubte (und Geld damit verdiente), dass er Menschen, die er nicht kannte, nach Bildern präzise einzuschätzen vermochte, und er hat das angeblich oft unter Beweis gestellt.

Ich benutze die Tatsache, dass ich mit diesem Problem aus dem täglichen Leben vertraut bin, dafür, dass ich einen Philosophen, den ich lese, auf seine Verständlichkeit prüfe. Was verlangt er von mir? Ich setze dort rote Schrägstriche, wo ich stocke; gebe aber die Anmerkungen seines Textes nur wieder, wenn ich es unbedingt brauche. Oder gehe darüber hinaus, um restliche Unklarheiten zu beseitigen.

TEXT Blumenberg Seite 686

Die Realität als real anzunehmen, das ist also nicht das Selbstverständliche, auch nicht hinsichtlich der Realität des Leibes. Man muß etwa vergleichen, wie Sokrates und Lichtenberg mit dem Bewußtsein ihrer eigenen Häßlichkeit als Index für die Überwindbarkeit des Leibes angesehen, in gewissem Sinne also als Merkmal seiner Irrealität. Wenn das Gesamtleben der Seele zwischen Präexistenz und Unsterblichkeit nach dem Totengericht die leibliche Dauer zur Episode degradiert, dann darf eben dieser Leib nicht so ernst genommen werden, wie es seine Einschätzung durch andere dem Subjekt aufzuerlegen scheint. Der Ausweg in Unsterblichkeit oder Metempsychose war dem Antiplatoniker Lichtenberg versperrt. Er verwandte all seinen polemischen Scharfsinn darauf, die Physiognomik aus dem Spiel zu bringen. Vom Äußeren des Leibes Schlüsse auf den Wesenskern des Individuums zu ziehen, wie es Lavater und andere Scharlatane der Zeit lehren zu können behaupten, sollte unter dem strikten Verbot der Vernunft selbst stehen. Einer der vielen theoretisch verwendeten Blindgeborenen der Zeit, den Cheselden in den »Philosophical Transactions« behandelt hatte, entsprach genau / der Herrschaft des Wunsches über die Vernunft: Er hatte vor seiner Heilung erwartet, die Personen sollten am schönsten aussehen, denen er am meisten gewogen war, und die Speisen auch dem Auge am angenehmsten sein, die am besten geschmeckt hatten. (17) / Aber nicht anders ergeht es dem Meister der Physiognomik mit seiner singulären Chance, den Erwarteten vor sich zu sehen: Lavater trifft zum ersten Mal Goethe in Frankfurt und verrät im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe, so daß ihm Goethe nach seinem angeborenen und angebildeten Realismus versichern muß, / daß sie es nach dem Gefallen Gottes und der Natur, ihn so zu machen, auch dabei wollten lassen bewenden. / (18) Das Wort Realismus fällt hier nicht umsonst.

(18) Goethe, Dichtung und Wahrheit XIV, ed. Scheibe, 502. Immerhin hatte Lavater schon vor der Bekanntschaft mit Goethe das verwechselte Bildnis als solches erkannt und verworfen (a.a.O. 499). Noch der sehr alte Goethe verhält sich ›physiognomisch‹: Leider deutet mir so fratzenhaftes Äußeres auf eine innere Verworrenheit. (Tagebuch 17.5.1831 über den Maler Preller, der 1832 den toten Goethe zeichnen wird).

Nähere Erkundigung an Ort und Stelle bei GOETHE Dichtung und Wahrheit XIV

Es dauerte nicht lange, so kam ich auch mit Lavatern in Verbindung. Der / »Brief des Pastors« an seinen Kollegen hatte ihm stellenweise sehr eingeleuchtet: denn manches traf mit seinen Gesinnungen vollkommen überein. Bei seinem unablässigen Treiben ward unser Briefwechsel bald sehr lebhaft. Er machte soeben ernstliche Anstalten zu seiner größern Physiognomik, deren Einleitung schon früher in das Publikum gelangt war. Er forderte alle Welt auf, ihm Zeichnungen, Schattenrisse, besonders aber Christusbilder zu schicken, und ob ich gleich so gut wie gar nichts leisten konnte, so wollte er doch von mir ein für allemal auch einen / Heiland gezeichnet haben, wie ich mir ihn vorstellte. Dergleichen Forderungen des Unmöglichen gaben mir zu mancherlei Scherzen Anlaß, und ich wußte mir gegen seine Eigenheiten nicht anders zu helfen, als daß ich die meinigen hervorkehrte.

Die Anzahl derer, welche keinen Glauben an die Physiognomik hatten, oder doch wenigstens sie für ungewiß und trüglich hielten, war sehr groß, und sogar viele, die es mit Lavatern gut meinten, fühlten einen Kitzel, ihn zu versuchen und ihm wo möglich einen Streich zu spielen. Er hatte sich in Frankfurt, bei einem nicht ungeschickten Maler, die Profile mehrerer namhaften Menschen bestellt. Der Absender erlaubte sich den Scherz, Bahrdts Porträt zuerst statt des meinigen abzuschicken, wogegen eine zwar muntere aber donnernde Epistel zurückkam, mit allen Trümpfen und Beteuerungen, daß dies mein Bild nicht sei, und was Lavater sonst alles, zu Bestätigung der physiognomischen Lehre, bei dieser Gelegenheit mochte zu sagen haben. Mein wirkliches nachgesendetes ließ er eher gelten; aber auch hier schon tat sich der Widerstreit hervor, in welchem er sich sowohl mit den Malern als mit den Individuen befand. Jene konnten ihm niemals wahr und genau genug arbeiten, diese, bei allen Vorzügen, welche sie haben mochten, blieben doch immer zu weit hinter der Idee zurück, die er von der Menschheit und den Menschen hegte, als daß er nicht durch das Besondere, wodurch der einzelne zur Person wird, einigermaßen hätte abgestoßen werden sollen.

(…)

Unser erstes Begegnen war herzlich; wir umarmten uns aufs freundlichste, und ich fand ihn gleich, wie mir ihn so manche Bilder schon überliefert hatten. Ein Individuum, einzig, ausgezeichnet wie man es nicht gesehn hat und nicht wieder sehn wird, sah ich lebendig und wirksam vor mir. Er hingegen verriet im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe. Ich versicherte ihm dagegen, nach meinem angeborenen und angebildeten Realismus, daß, da es Gott und der Natur nun einmal gefallen habe, mich so zu machen, wir es auch dabei wollten bewenden lassen. Nun kamen zwar sogleich die bedeutendsten Punkte zur Sprache, über die wir uns in Briefen am wenigsten vereinigen konnten; allein dieselben ausführlich zu behandeln, ward uns nicht Raum gelassen, und ich erfuhr, was mir noch nie vorgekommen.

Weitere Erkundigungen über das Verhältnis Lavater / Goethe bei Rüdiger Safranski (da er sich ‚physiognomisch‘ verhält: war der Dichter wirklich so skeptisch gegenüber dem „Scharlatan“?).  Der „Brief des Pastors“ sagt mir nichts, (schau doch nach, z.B. hier), auch wüsste ich gern, ob Goethe für ihn im Ernst einen „Heiland“ gezeichnet hat. (Ja, er hat!) Dann kann die Distanz zu Lavater nicht so gravierend gewesen sein…

Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens Biographie / Carl Hanser Verlag München 2013

Man sollte es bei Goethe selbst nachlesen (a.a.O. hier)

Was ihm [Lavater] dagegen die größte Pein verursachte, war die Gegenwart solcher Personen, deren äußere Häßlichkeit sie zu entschiedenen Feinden jener Lehre von der Bedeutsamkeit der Gestalten unwiderruflich stempeln mußte. Sie wendeten gewöhnlich einen hinreichenden Menschenverstand, ja sonstige Gaben und Talente, leidenschaftlich mißwollend und kleinlich zweifelnd an, um eine Lehre zu entkräften, die für ihre Persönlichkeit beleidigend schien: denn es fand sich nicht leicht jemand so großdenkend wie Sokrates, der gerade seine faunische Hülle zugunsten einer erworbenen Sittlichkeit gedeutet hätte. Die Härte, die Verstockung solcher Gegner war ihm fürchterlich, sein Gegenstreben nicht ohne Leidenschaft, so wie das Schmelzfeuer die widerstrebenden Erze als lästig und feindselig anfauchen muß.[20]

Lavater-Links hier und hier

Erholung der Augen, in Erwartung eines näheren Einblicks in das Wesen des Leibes (JR)

Foto: E.Reichow

Was mich am meisten beschäftigt, ist der Wirklichkeitsbegriff, und der steht hier im Hintergrund, wenn vom „Leib“ die Rede ist. Trotzdem bleibe ich mit Blumenberg lieber beim Leib. (Blumenberg a.a.O. Seite 658)

Im Horizont des so ausgegrenzten Wirklichkeitsbegriff erscheint der Leib als Dunkelkörper. Auf den ersten Blick hat er die solitäre Stellung im Pflegeverhalten des Individuums, das sich mit ihm stehen und fallen weiß, präsentiert er sich in zentraler Wichtigkeit und auf der höchsten Dringlichkeitsstufe als unübersehbare Wirklichkeit. Trotzdem bedarf es keines großen deskriptiven ASufwands, um den Befund zu sichern, daß in komoarativer Betrachtung die Realität des Eigenleibs unter dem Niveau derjenigen fremder physischer Körper – und unter diesen vor allem fremder Leibkörper – liegt. Sie affizieren die Aufmerksamkeit als mögliche Hindernisse, im Fremdleibesfall als Freund und Feind, Hilfe oder Gefahr, dazwischen einzustufebn auch als: nicht bewertungsbedürftig.

Fremdkörper und Fremdleiber sind primär undurchsichtig für die Aufmerksamkeit, und von ihnen her wird auch der Eigenleib als primär undurchsichtig oder in den Stand der Undurchsichtigkeit versetzbar eingeschätzt. Für das Ich ist der Eigenleib, auf dem Niveau der Normalität, schlechthin durchsichtig; so durchsichtig, daß es sich immer schon außerhalb seiner befindet. Der Grund dafür liegt nahe: Der Eigenleib ist der Inbegriff derjenigen Organe, die uns Zugang zur Realität alles dessen, was nicht wir selbst sind, verschaffen. Es ist für das Bewußtsein das, worüber hinaus es durch es selbst gelangt.

Die ständige Mittelhaftigkeit des Eigenleibs gibt ihm eine Qualität, die wir auch für andere Medien kennen, in denen es so etwas wie ›ständigen Aufenthalt‹ gibt und deren Empfindung sich dabei verliert. Daß Luft etwas ist und nicht nichts ist, ist Kindern nicht leicht klarzumachen, und noch Erwachsene können sich verhalten, als ob es nicht so wäre. Der Leib als das, was empfindet, was tastet oder sieht, ist seinerseits leicht das Übersehene, das selten Getastete, obwohl oft Bearbeitete, und als solches der Wahrnehmung längst Entglittene. das Unempfundene. Das geht sogar ins Normative. Gesundheit und Wohlbefinden lassen sich definieren als Erfüllung der Anordnung, der Leib habe sich nicht bemerkbar zu machen.

Ich erinnere mich an einen weit zurückliegenden Spiegelartikel, in dem der prägnante Satz vorkommt: „Gesundheit ist das Schweigen der Organe“. Was ich nicht ganz gelungen fand, weil es auch tückisch schweigende Krankheiten gibt, die warten bis es zu spät ist. Dazu passte irgendwie der Satz: „ob man gesund ist oder krank, ist nur eine Frage der Gründlichkeit der Untersuchung“. Kurz: ich erinnere mich meines Körpers, während ich vom Leibe lese, nachts wach werde und an Blumenbergs Worte denke, besonders, was er über den Boden, auf dem ich stehe oder liege, geschrieben hat, oder von der Luft, die ich als kleines Kind kennengelernt habe, als wir Drachen steigen ließen, oder jetzt, wenn ich wieder einschlafen möchte, was mir ganz gut gelingt, wenn ich mich an Hararis Empfehlung halte (siehe hier), ich – ich – ich, ja, was sonst? ich bin Luft für mich.

Weiter mit Blumenberg (und Goethe).

Zwischenstopp 

Zitat (Seite 660)

Über den gealterten Goethe schreibt Wilhelm von Humboldt aus Karlsbad an seine Frau Charlotte am 15. Juni 1812: Allein man sieht, daß er oft an seinen Körper erinnert wird. Das ist, als Beobachtung wie als Formulierung, eine Errungenschaft.

(…) Worauf es mir ankommt, ist die prämodale Gleichgültigkeit von Lebenswelt und Eigenleib. Gleichgültig sind sie durch Unauffälligkeit, durch die Unmöglichkeit, nach ihrer Realität ›von innen‹ auch nur zu fragen. Der Durchsichtigkeit des Leibes von innen, seiner Undurchsichtigkeit von außen, entspricht derselbe Doppelsachverhalt bei Lebenswelten: Weil sie von innen durchsichtig sind, sind sie von außen unzugänglich, als solche selbst nicht präsent. Darauf beruht der eigentümliche Sachverhalt, daß bei Hochkulturen mit sehr bewußten Ritualen – also meist im Besitz von so etwas wie ›Theologien‹ – theoretisch durchschaubar und analysierbar sind, primitive Lebenswelten dagegen nicht. Woher soll auch in sie hineingesehen und abgelesen werden können, was etwas bedeutet, das niemals auf seine Bedeutung hin befragungsbedürftig geworden ist, also nicht einmal den Anflug einer Rezeptur erhalten hat? Daß es der Andere ist und nicht wir selbst, erfahren wir gerade an der Undurchsichtigkeit.

(Fortsetzung folgt)

Nachtrag 21.07.2023 Ein neuer (alter) Blumenberg ist angekommen(1999)