Wie ich von einem Satz zum „Gedankenaufbau“ komme
wenn man mehr punktuelle Klarheit sucht, als hier gegeben…
Man lasse sich nicht abschrecken, – der Text insgesamt ist lesbar wie eben ein Gesetzestext, die schwierigen Sätze, die ich herausgreife, sind aus meiner Sicht auch exemplarisch gemeint. Zu vergegenwärtigen wäre, wo sie im Gesamtzusammenhang stehen: Erster Zusatz / Von der Garantie… (S.39)
Zum ewigen Frieden HIER TEXT (darin Bd. 11, Seite 218)
Ich habe also diesen Text und mein altes Reclam-Heft (Nov.1956) , das ausführliche (winzig klein gedruckte) Zusätze enthält, die aus einer nachträglichen Überarbeitung durch Kant selbst stammen. Davon gehe ich aus, ohne hier eine philologisch-textkritische Arbeit leisten zu wollen. Ich will das mir Gegebene lediglich grammatisch und inhaltlich verstehen. Es ist schwer genug. Nachhilfe zur Selbsthilfe. Zunächst durch äußere Gliederung und durch eine farbige (rote) Kennzeichnung des Grundgedankens. Blau sind in diesem Artikel meine persönlichen Anmerkungen gekennzeichnet. Das Wort „daedala“, dem man am Anfang des Textes bei der „Künstlerin Natur“ begegnet, sollte man sich lexikalisch erläutern (am besten hier), zumal Kant später mit dem Wort „ikarische Flügel“ darauf anspielt. (JR)
ERSTER ZUSATZ. Von der Garantie des ewigen Friedens
Das, was diese Gewähr (Garantie) leistet, ist nichts Geringeres, als die große Künstlerin Natur (natura daedala rerum),
aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen, und darum, gleich als Nötigung einer ihren Wirkungsgesetzen nach uns unbekannten Ursache, Schicksal, bei Erwägung aber ihrer Zweckmäßigkeit im Laufe der Welt, als tiefliegende Weisheit einer höheren, auf den objektiven Endzweck des menschlichen Geschlechts gerichteten, und diesen Weltlauf prädeterminierenden Ursache Vorsehung genannt wird,
die wir zwar eigentlich nicht an diesen Kunstanstalten der Natur erkennen, oder auch nur daraus auf sie schließen, sondern (wie in aller Beziehung der Form der Dinge auf Zwecke überhaupt) nur hinzudenken können und müssen, um uns von ihrer Möglichkeit, nach der Analogie menschlicher Kunsthandlungen, einen Begriff zu machen, deren Verhältnis und Zusammenstimmung aber zu dem Zwecke, den uns die Vernunft unmittelbar vorschreibt (dem moralischen), sich vorzustellen, eine Idee ist,
die zwar in theoretischer Absicht überschwenglich, in praktischer aber (z.B. in Ansehung des Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden, um jenen Mechanism der Natur dazu zu benutzen) dogmatisch und ihrer Realität nach wohl gegründet ist. –
Der Gebrauch des Worts Natur ist auch,
wenn es, wie hier, bloß um Theorie (nicht um Religion) zu tun ist,
schicklicher für die Schranken der menschlichen Vernunft (als die sich in Ansehung des Verhältnisses der Wirkungen zu ihren Ursachen, innerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung halten muß),
und bescheidener, als der Ausdruck einer für uns erkennbaren Vorsehung,
mit dem man sich vermessenerweise ikarische Flügel ansetzt,
um dem Geheimnis ihrer unergründlichen Absicht näher zu kommen.
Kurzfassung der zwei Sätze nach grammatikalischen Gesichtspunkten:
Das, was diese Gewähr (Garantie) leistet, [bedeutet]: die große Künstlerin Natur (natura daedala rerum), emporkommen zu lassen, und darum Schicksal und Vorsehung genannt wird, [zwei Begriffe] , deren Verhältnis und Zusammenstimmung sich vorzustellen, eine Idee ist, die z.B. in Ansehung des Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden dogmatisch [verbindlich] und wohl gegründet ist. –
Der Gebrauch des Worts Natur ist schicklicher und bescheidener als der Ausdruck einer Vorsehung.
Mir scheint, dass ein in Klammern verstecktes Wort – es handele sich bloß um Theorie (nicht um Religion) – das entscheidende Movens dieses geschraubten Satzes ist. Kant will Häresie-Vorwürfen von Seiten der Kirche von vornherein die Luft aus den Segeln nehmen. Daher auch noch der spätere lange Einschub, der in einer überarbeiteten Fassung zu lesen ist (Reclam-Text, im digitalen Text oben aber auch im Anhang – unter Anmerkung 10 – wiedergegeben):
Ich bin keineswegs sicher, dass ich den Kantschen Satz korrekt aufgelöst habe (wichtig zu erwähnen, dass im Reclam-Text ein Komma vorhanden ist, das im digitalen Text fehlt: sich vorzustellen, (!) eine Idee ist, die zwar in theoretischer Absicht etc.) und werde gewiss öfter hierher zurückkehren, statt unwillig zu werden und den Stil des Autors zu schmähen. Nichts hindert mich, zuerst alles andere zu lesen, das leichter zu verstehen ist, in der Hoffnung, auch hier zur rechten Intuition zu kommen. Die deutsche Sprache entwickelte sich ja erst in diesen Jahrzehnten zur Biegsamkeit, und überall im Satzbau spürt man, dass es noch die lateinischen Konstruktionen sind, die beim Philosophieren vorbildlich wirken. Was uns jedoch – als dem Lateinischen entfremdete moderne Menschen – leicht entgeht…
Nach ausgiebiger Lektüre: Was ich schon damals als Schüler (Nov. 1956) falsch gemacht habe: ich wollte unbedingt den Original-Text lesen und habe die Einleitung verschmäht. Dabei hätte ich dort eine erste Übersicht gewonnen, ja grundsätzliche Klarheit. Autor: Theodor Valentiner.
Der Gedankenaufbau ist natürlich und eindrucksvoll. Es sind ganz konkrete ethische Forderungen, die den Präliminarartikeln zugrunde liegen. Der Staat ist eine Gesellschaft von Menschen, und Staaten untereinander sind in ihrem Verhalten wie Menschen anzusehen, die unter dem Sittengesetz stehen.
Als Unrecht gilt, wenn einer in dem andern nicht die freie Persönlichkeit achtet, wenn er bei Vereinbarungen geheime Vorbehalte macht, wenn er ihn nur als Mittel zum Zweck, als Sache behandelt, wenn er gewaltsam in die Rechte des anderen eingreift. Ohne Anerkennung dieser Forderungen ist weder zwischen Völkern nocht im Einzelleben ein friedliches Nebeneinander auf die Dauer denkbar. Niemals darf es zu Handlungen kommen, die ein künftiges Vertrauen der sich feindlich Gegenüberstehenden untergraben. Spezielle Forderungen über Abrüstung, wie sie uns heute geläufig, werden eingehend begründet.
Die drei Definitivartikel beschäftigen sich mit rechtlichen Fragen. Welche Verfassung ist für Erhaltung des Friedens am günstigsten? Natürlich diejenige, bei der die Entscheidung über Krieg und Frieden in den Händen der Hauptbeteilgten, das ist des ganzen Volkes, liegt. Das ist der Fall bei der republikanischen Verfassung, wobei die ausführende Gewalt von der gesetzgebenden getrennt und die gesetzgebende bei der Volksvertretung ist. Die nach kantischer Ausdrucksweise republikanische – nach heutigem Gebrauch demokratische* – Verfassung steht im Gegensatz zu der despotischen, bei der ein oder mehrere Machthaber, nicht aber das Volk über Krieg entscheiden.
Der zweite Definitivartikel fordert ein föderalistisches System, einen Friedensbund, der sich allmählich über alle Staaten erstrecken soll und die Aufgabe hat, den Freiheitszustand der Staaten gemäß der Idee des Völkerrechtes vorzubereiten.
Endlich verlangt der dritte Definitivartikel ein Weltbürgerrecht, das jedem Fremdling das Recht zusichert, bei der Ankunft auf dem Boden eines anderen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde müssen sich alle nebeneinander dulden. Und da heute „die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“, so ist die Idee eines Weltbürgerrechtes ein notwendiger Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte.
Die Präliminarartikel und die Definitivartikel stellen bestimmte Forderungen. Die nächste Frage wird sein: Ist denn Aussicht vorhanden, daß diese Forderungen erfüllt werden? Darauf antwortet zunächst der erste Zusatz. Er untersucht
Achtung: jetzt betrifft es genau den Satz, mit dem ich oben begonnen hatte!
Er untersucht, wieweit der Mensch in der Natur eine Hilfe findet, umd dem Zustand eines Dauerfriedens näherzukommen. Nun hatte die Kritik der Urteilskraft gezeigt, daß in der Natur nicht nur mechanische Kräfte wirken, sondern daß wir zu einer Erklärung der organischen Natur zweckmäßig wirkende Kräfte voraussetzen müssen. An diese Erkenntnis knüpft Kant an, wenn er im ersten Satz sagt, daß „aus dem mechanischen Naturlauf sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet und daß die große Künstlerin Natur durch die Zwietracht der Menschen, selbst gegen deren Willen, Eintracht emporkommen läßt“. Die Natur hat dafür gesorgt, daß Menschen allerwärts auf Erden leben können. Dabei war ihr sogar der Krieg dienlich. Vor allem aber – und das ist wesentlich für die Absicht auf den ewigen Frieden – kommt die Natur dem zur Praxis so ohnmächtigen Vernunftswillen zu Hilfe, indem sie die selbstsüchtigen Neigungen der Menschen benutzt, daß sie sich unter Zwangsgesetze begeben, die den Zustand eines dauernden Friedens fördern. Kurz, sie werden gute Bürger, weil sie Vorteil davon haben, und nicht etwa aus moralischer Gesinnung.
Anm. zu nach heutigem Gebrauch demokratische* :
Das Hauptkriterium für Kants Republikanismus ist – wie man im Reclam auf Seite 28 lesen kann – „das Prinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebnden“. Mit anderen Worten: die Gewaltenteilung, die aus heutiger Sicht für die Demokratie bindend ist. Siehe Wikipedia hier :
Heute ist Gewaltenteilung Bestandteil jeder modernen Demokratie; ihre Ausprägung variiert jedoch stark von Land zu Land.