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Ernste oder sogar schwere Musik

Wenn man – wie ich – viele Jahre als Journalist gearbeitet hat, der Musik zu vermitteln versuchte, also solche, die einer Vermittlung bedurfte, hat viele Vorurteile zu bedenken. Zum Beispiel, dass es Leute gibt, die sich allzuleicht unterschätzt fühlen. Dann darf man durchblicken lassen: ich selber hab’s nötig, ich übe selbst und will niemanden belehren! Auch nicht, wenn ich unterstelle, dass die allzuviele denken: Musik hat nichts mit Denken zu tun, sie gefällt einem oder sie gefällt einem nicht. Niemand würde einräumen: ich habe nie zuhören gelernt. Da kann man noch so sehr beteuern, dass es bei Musik nicht viel anders sei als bei einer Sprache. Wenn jemand mir sagt: ich liebe den Klang der portugiesischen Sprache, und ich bitte darum, mir eine Fado-Strophe zu übersetzen, so wird man mir sofort genau das entgegenhalten, – was ich auch einwenden würde, wenn es um Musik geht – das Verständnis liegt nicht auf der Hand und kommt erst recht nicht „aus dem Bauch“! Der Gehörgang ist wie ein Nadelöhr. Da genügt allerdings kein (Leit-)Faden, man muss die Worte kennen, auch die Grammatik und die Redewendungen. Und das klingt schon verdächtig nach Arbeit! Womit Musik angeblich nichts zu tun hat. Ist Hören denn keine Tätigkeit? Singen, Klavierspielen, Noten lernen, – verbraucht alldies keine Energien? (Man wirbt neuerdings gerade bei Klassik mit dem Versprechen von Entspannung. Die Seele baumeln lassen! Im Ernst!) Übrigens: ich spreche nicht von Pädagogik, sondern von Lernprozessen erwachsener Menschen. Mündigen Menschen, die bereit sind zu denken. Im ganz normalen Leben.

Sieht so ein Denker aus? Wissen Sie, wer da Modell gesessen hat? Der „französische Preisboxer und Ringer Jean Baud, der meist im Rotlichtmilieu auftrat.“ (Wikipedia) Was hat sich Rodin dabei gedacht?

Also: wenn ich es den Adressaten zu einfach mache mit der Musik, sind sie auch beleidigt: Wenn ich z.B. nichts von indischer Mystik und tiefen meditativen Erfahrungen erzählen kann, sondern sage: zunächst mal musst du den einen unveränderlichen Grundton wahrnehmen, „für wahr“ nehmen und genau so akzeptieren, wie den ebenen Fußboden im Tanzsaal, das ist die Voraussetzung alles dessen, was an Wundern geschieht. Nein, du kannst nicht mit dem Wunder beginnen. Am besten, du verzichtest ganz darauf. Du brauchst nur den einen Ton, und irgendwann irgendwo, in weiter Ferne, gibt es einen zweiten, ein weiteres Wunder. Aber der eine Ton ist schwer genug, ihn zu singen oder zu spielen, ihn zu gestalten und zu ertragen.

Die Leute fühlen sich nicht ernst genommen. Wie die Kinder, – wenn sie laufen gelernt haben, – sie wollen nach kurzer Zeit nicht mehr dafür gelobt werden, dass sie laufen können. Es ist langweilig. Sie wollen einfach irgendwohin.

Ich denke viel an meine Eltern, eine typische Alterserscheinung, nicht wahr? Aber das geht anderen auch so, die viel jünger sind als ich. Ich lese z.B. ein Buch der Musik mit dem Titel „Flammen“ , es betrifft die Zeit von 1900 bis 1918, in der mein Vater heranwuchs; und ein anderes, „Liebe in Zeiten des Hasses“ , 1929 bis 1939, da lernte er meine 13 Jahre jüngere (spätere) Mutter kennen und lieben. Zum Glück hatte er seine Kapellmeisterlaufbahn aufgegeben und ein solides Studium absolviert, das ihn zum Studienassessor machte, ein respektables Wort, das nur wenige Menschen behalten konnten.

Später gab es einen Familienmythos, warum er nicht weiter als Dirigent reüssierte: in Stralsund, Lübeck oder Bielefeld, 20er Jahre, damals – erzählte meine Mutter – kam der Tonfilm auf, das ruinierte die Laufbahn. Der Witz ist nur: wenn man zurückdenkt, – revidiert – , findet man überall solche Mythen, private und kollektive.

Eine bekannte Wissenschaftlerin, Mai Thi Nguyen-Kim, Chemikerin von Haus aus, die für ihre erhellenden journalistischen Arbeiten ausgezeichnet wurde, sagte einmal,

„dass die ganze Pandemie dem Vertrauen und dem Verständnis in die Wissenschaft eher geschadet hat als genützt“. Der grelle Scheinwerfer der Aufmerksamkeit habe bei vielen Menschen nur die Illusion erzeugt, etwas zu verstehen: Man glaube, man kenne sich aus, tue es aber nicht, sagte Nguyen-Kim. „Das ist noch gefährlicher, als wenn man wenigstens weiß, mit Wissenschaft habe ich nichts zu tun.“

Wie spricht die Wissenschaft? briefly and succinctly („kurz und bündig“)

DIE ZEIT (s.u.)

Quelle: hier Wikipedia Fauci

Warum also?

DIE ZEIT 21.04.22 Seite 31: Was Experten lernen müssen Ihr Wissen ist gefragter denn je, doch sie dringen nicht durch. Deshalb sollten sie anders kommunizieren als bisher / Von Maximilian Probst und Ulrich Schnabel

Hinter der optimistischen Rede von der Vereinfachung steckt – das entnehme ich diesem ZEIT-Artikel –

die alte, idealistische Hypothese, dass es zur Förderung der Vernunft nur entsprechende Erklärungen brauche, dass sich der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« (Jürgen Habermas) am Ende wie von selbst Gehör verschaffe. Doch diese Annahme ist naiv. Denn ausgerechnet die Wissenschaft selbst hat in den vergangenen Jahren ein ums andere Mal belegt, dass Menschen ihre Urteile und Ansichten von der Welt gar nicht auf der Basis einer gesicherten Faktenlage und guter Argumente bilden. Statt an der Vernunft orientieren sie sich lieber an ihrem Umfeld, an dem, was ihre moralischen oder religiösen Überzeugungen nahelegen, oder schlicht an ihrem »Bauchgefühl«. Wer also mehr Wissenschaftskommunikation fordert, sollte sich zuerst einma mit der Sozialpsychologie beschäftigen.

Ich bin in Sorge, dass Sie mir angesichts so einfacher Tatsachenbehauptungen (und länglicher Fachworte) schon nicht mehr zuhören, daher nur noch der Verweis auf die in der ZEIT angegebenen Forschungen (beginnend mit den Sozialpsychologen Albert Hastorf und Hadley Cantril am Beispiel eines legendären Footballspiels aus dem Jahre 1951).

Mein persönliches Beispiel des Scheiterns ist der Philosoph Hegel (nicht er!!! – das hätten Sie vielleicht der Einfachheit halber gehofft, nicht er scheiterte, sondern ich an ihm).

Als ich gestern gegen 17.30 h im Taxi fuhr, um mein Auto aus der Werkstatt am andern Ende der Stadt abzuholen, drehte der Fahrer das Radio lauter: ich dachte, es sei was Türkisches, las aber auf dem Display RSG (Radio Solingen) Shakira „Underneath your Cloathes“ und unterließ ein weiteres Gespräch, weil ich nicht wusste, ob er den Titel kennt und deshalb lauter gestellt hatte. Oder nur, weil unser Thema nichts hergab. Aus irgendeinem Grund suchte ich jedenfalls abends Shakira auf youtube, genauer: ich wollte wissen, aus welcher Sicht der Song gendertechnisch gemeint war, ich wollte es mir nicht zu einfach machen. Aber doch, es war ganz einfach. Über 72 Millionen Aufrufe, so viele Menschen können nicht irren, oder? Ich erinnere mich an eine Talkshow, in der ein kluger Mann – wenn auch als Laie – über Musik , speziell über Wagner sprach, und ich war erschüttert. (Wenn das so geht, dann darf ich auch über Hegel reden!)

Noch etwas entnehme ich dem oben angeführten ZEIT-Artikel:

Entscheidend für die richtige Kommunikation ist auch die Unterscheidung des »schnellen« und des »langsamen Denkens«, die wir dem Kognitionspsychologen Daniel Kahnemann verdanken. Das schnelle Denksystem ist intuitiv, automatisch und gefühlsgesteuert, das andere hingegen rational, gründlich und eher anstrengend. Wissenschaftler apellieren fast ausnahmslos an das zweite, »langsame« Denksystem; schließlich entspricht dies genau ihrer Methodik mit Messungen, Theorien und Diskussionen, aus denen sich allmählich ein Konsens herausschält.

Im Alltag hingegen agieren die meisten Menschen im schnellen Denkmodus. Weil wir oft zu wenig Zeit haben, um alle Informationen sorgfältig abzuwägen, verlassen wir uns auf Heuristiken, gedankliche Faustregeln: Aussage, die wir zuvor schon einmal gehört haben, halten wir für glaubhafter als neue (weshalb oft wiederholte Fake News wirken); wir wählen Nachrichten unbewusst so aus, dass sie unsere vorgefassten Meinungen bestätigen – aber halten uns bei all dem selbst für vollkommen objektiv und unbeeinflusst.

Es gibt noch einiges an Stoff, was sich aus dem Artikel lernen lässt, z.B. über das Gegenmodell des „echten Dialogs“, doch ich knüpfe an die Schwierigkeit mit Hegel an, bzw. an unseren Solinger Zeitgenossen, der in der Tat ein Meister der klaren Sprache ist, und vielleicht deshalb auch so ratlos reagiert, wenn es um emotional komplexere Musik geht.

Richard David Precht, der öffentlich zugibt, er sei mit Hegel nie warm geworden, wirft den zeitgenössischen Philosophen vor, sie betrieben bei Hegel eine „Altbausanierung des Geistes“. „Es gibt in Deutschland nur eine Handvoll Philosophen, die sich intensiv mit KI [sc. Künstlicher Intelligenz] beschäftigen, und ungefähr sieben bis achtmal so viele, die sich mit Hegel beschäftigen.“ Nun ist es wenig verwunderlich, dass ein Verbote-Enthusiast wie Precht mit kritisch-dialektischem Denken und emphatischem Freiheitsbewusstsein vom Schlage eines Hegel wenig anfangen kann. Dennoch hat er in einem Punkt recht, zumindest was die deutsche Hegelianer-Szene angeht. In der Tat wird dort oft philosophische Altbausanierung betrieben.

In diesem Abschnitt gab es einen kleinen Internethinweis, der realisiert werden kann:

https://www.youtube.com/watch?v=T0EfC3ocAdI HIER

Es ist übrigens kein Digital- oder KI-Muffel, der so schreibt, wie eben zitiert. Die zweite Hälfte seines schmalen, aber höchst anregenden Buches dreht sich um die Antinomie künstlicher Vernunft, Big Data und Überwachungskapitalismus, – hier und da steige ich aus, aber man kann immer wieder aufs neue Anlauf nehmen und sich eines wachsenden Durchblicks erfreuen. Ich glaube, auch den Versuch meines Artikels „Herr und Knecht“ könnte ich heute ganz anders fassen. Dank Alexander Schubert.

Übrigens habe ich den Verdacht, dass Richard David Precht sich nicht um ein angemessenes Hegel-Verständnis bemüht hat, – aber ich besitze weder seine Geschichte der Philosophie, noch habe ich vor sie zu lesen, es sieht mir zu einfach aus, – obwohl ich ihn, wenn ich ihn reden höre, durchaus überzeugend finde – aber meine Hochachtung vor Hegel beruht auf anderen Erfahrungen, die ich etwa bei Adorno (Musik!) „gespürt“ habe: ich weiß, dass es nicht um gute Worte und „common sense“ geht. Und  wenn ich den süffigen Ausdruck „Altbausanierung des Geistes“ höre, weiß ich, dass man bei Precht nicht an der richtigen Adresse ist. Allerdings bin ich auch von den Hegel-Philosophen etwas enttäuscht. Sie helfen mir nicht, wenn ich zum wiederholten Male ratlos in der „Phänomenologie des Geistes “ blättere, weil ich im ersten Teil steckengeblieben bin, und dann stoße ich zufällig auf das Kapitel von der „Schädellehre“ und glaube zu verstehen, wovon die Rede ist und will es nicht glauben:

Und warum hilft mir da niemand, wie im Fall Lavater / Goethe ? Das war 1774 und etwas später, mit Hegel sind wir am Anfang des 19. Jahrhunderts, wir können also nicht die heute allgemein präsente physiologische Wissenschaft voraussetzen. Aber eine Vorwarnung vonseiten der Hegelianer wäre doch angemessen: Zwar war Hegel ein gewaltiger Denker, aber trotzdem kein Stellvertreter des wissenschaftlichen Weltgeistes. Bei Vieweg (siehe im Blog hier) sehe ich den quasi zufälligen Hinweis auf „unangemessen breite Darstellungen“, neben „dunklen und unausgereiften Passagen“, etwa im Fall des ›metaphysischen Epirismus‹ in der Naturforschung (Vieweg S.265):

Auch biographische Episoden nehmen Einfluss wie der Besuch des Schädellehrers Gall in Weimar und Jena sowie die Präsenz von Froerup, eines Adepten der ›Schädellehre‹. Mitunter gingen Hegel die Pferde durch, etwa in der peinlichen Anspielung auf Novalis‘ Erkranken an der Schwindsucht.

Wie kann es sein, dass ich eher zufällig bei einem Hegelianer auf Seite 215 auf den erlösenden Satz zur Qualität der Schädellehre (Phrenologie) stoße???

Unter dem Lemma [Stichwort] der »beobachtenden Vernunft« diskutiert Hegel nicht allein die Perspektive der modernen Naturwissenschaften, die zwar weiß, dass es ihre Aktivität ist, die die Befragung der Natur ermöglicht, diese allerdings als etwas bloß Vorhandenes begreift. Vielmehr diskutiert er auch obsolete Positionen wir die Phrenologie, die mit ihrer grotesken Verwechslung geistiger Eigenarten mit einer Typologie der Physiognomie von Schädeln deutlich macht, dass auf der Ebene der Beobachtung des Naturgeschehens kein angemesssenes Verständnis unserer Rationalität entwickelt werden kann. Die Gestalten praktischer Vernunft, die Hegel dann im Folgenden diskutiert, sind von diesem Einwand befreit. Allerdings gelingt es ihnen nicht, widerspruchsfrei zu einem konkreteren Gehalt des Handelns vorzudringen [usw.usw.]

Na also, mit wieviel mehr Freude folge ich diesem Autor, der freimütig – wenn auch quasi im Vorübergehen – die Defizite benennt, die man als Laie einem solchen, anscheinend [oder scheinbar] allwissenden Vater der modernen Philosophie nicht unterstellen mag. Nur Mut!

Quelle Daniel Martin Feige: Die Natur des Menschen / Eine dialektische Anthropologie / Suhrkamp Verlag Berlin 2022. [Zitat Seite 215]

Womit ich nicht suggerieren möchte, dass dieses Buch leicht zu lesen ist. Wenn ich dem Autor gerecht werden wollte, müsste ich diesen Beitrag ins Ungemessene erweitern, um zunächst einen anderen Essay zu referieren, der in dem Band „Gibt es Musik?“ steht: „Zur Dialektik der postkolonialen Kritik“. Was eine schöne Gelegenheit ergäbe, die Brücke zur Epidemiologie zurückzuschlagen, die oben im ZEIT-Artikel mit Anthony Fauci avisiert wurde. Hier geht es um den Musikbegriff und die Tatsache, dass es ihn nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben hat, was uns nicht hindern kann, ihn zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen. Denn auch der Begriff des Bakteriums ist in einer interkulturellen Betrachtung nicht schon dadurch diskreditiert, „dass er erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten kulturellen Kontext auftaucht.“

Ich wende mich stattdessen abschließend dem Begriff „Kalbfleisch“ zu, der am Anfang und am Ende eines journalistisch gedachten Einführungstextes assoziiert wird und mir als Beispiel der Tendenz zur Vereinfachung einer komplexen musikalischen Thematik dienen kann. Bachs „Kunst der Fuge“. Die hier schon behandelte Version von Reinhard Febel.

Der Clou: er schlachtet es gar nicht. Aber was tut er dann?

Und nochmals abschließend zitiere ich zur CD II Tr. 3 (Kurztext von Andreas Groethuisen):

bei Koroliov (s.u.) CD II Tr.6 u 7

Und – wie Kolneder in seiner komplexesten Arbeit eine neu gedachte Fugen-Version einmal zu einfach sah:

Quelle Walter Kolneder Die Kunst der Fuge Mythen des 20. Jahrhunderts Teil I, Heinrichshofen Verlag Wilhelmshaven1977

Nach all den Bemerkungen, abschließend und wieder neu beginnend, erlaube ich mir eine weitere zu meiner eigenen Hörpraxis (eine Übung): ich nehme mir eine andere Klavierfassung der „Kunst der Fuge“ und höre zunächst dieses „Original“, Stück für Stück, dazu jeweils die „Übermalung“ von Reinhard Febel (s.a. Hören hier), parallel sozusagen. Und danach füge ich noch eine letzte Bemerkung an (sonst kann ich mich nicht vom Thema trennen).

Evgeni Koroliov TACET hier

Meine letzte Bemerkung (folgt, liegt noch auf meinem Nachttisch)

Man könnte meinen, zu dieser Musik gehört immer der Ehrgeiz, drei (oder sogar vier) Stimmen gleichzeitig hören zu müssen, ein dreifach geflochtenes, endloses Band. Wobei ich im Moment an den Bestseller „Gödel, Escher, Bach“ gedacht habe, und an die tönende Aufnahme, die von kleinen Pausen zwischen den Sätzen und Tempowechseln durchsetzt ist, von Ausdünnung und Verdickung des Tonsatzes, von den vielfachen Erscheinungsweisen des Themas, – während meine Aufmerksamkeit anders gebündelt oder zerstreut wird, wenn ich die Noten durchblättere, deren Anblick mir etwas bedeutet, obwohl sie einen realen Verlauf wirklich nicht im geringsten ersetzen können.

Ich kann mich aber auch von den meisten Aufgaben befreien und nur alle anderen, neuen Parameter wahrnehmen, während mich zugleich ein imaginärer Strom umfasst und fortträgt, in dem mir nicht die kleinste Welle unbekannt ist.

Sagen Sie nicht: das war vermutlich kurz vorm Einschlafen, nein, nie war ich wacher als in diesem Augenblick.

Bach endlich entschlüsselt?

Zur Kunst der Fuge

Gleich mehrfach wurde mir dieser FAZ-Artikel von wohlmeinenden Freunden zugesandt, und die Handschrift Bachs fasziniert mich unmittelbar, immer aufs neue, und der Satz des Pythagoras – was für eine Überschrift! Ich erwarte ein neues „Gödel, Escher, Bach“, mindestens. Und nun? Der Berg kreißte und gebar ein Mäuslein.

Bach Pythagoras FAZ FAZ 26. Juli 2017 Seite N3

Gewiss, die dekadische Tetraktys ist kein Mäuslein. Und über Pythagoras habe ich mich gerade erst wieder auf den Stand gebracht, den ich nie im Leben innehatte. Interessant z.B. hier, unter „diverse mathematische Themen“, darunter „Pythagoras und die Pythagoreer“, jedenfalls für einen mathematischen Laien wie mich. Muss ich mir doch noch das nicht gerade preiswerte Buch von Dentler zulegen, das ich schon 2004 versäumt habe?

Bach Pythagoras FAZ Dorisch aus FAZ-Artikel wie oben 26.7.2017

Was bedeutet eigentlich dieser Satz: „Die pythagoreischen Kennzeichen beginnen bei der Tonart d-Moll, dem alten Dorisch, das Pythagoras über alles stellte“? Wenn es denn wirklich die dorische Kirchentonart wäre. Wenn er sie eindeutig meinte. Warum jedoch schreibt Bach das Vorzeichen b in die Noten, während er die Violin-Solosonate I, die in g-Moll steht, nicht mit den zwei zugehörigen Vorzeichen versieht, sondern nur mit einem, – wie uns immer gesagt wurde: aus dorischen Gründen.

Und noch etwas: meinte eigentlich Pythagoras mit „dorisch“ überhaupt unser (Bachs) Dorisch, das wir als dorische Kirchentonart verstehen? War nicht das, was ER darunter verstand, in Wahrheit unser Phrygisch? Da soll doch im Mittelalter eine Umbenennung erfolgt sein. War es nicht so? Und die männlich-kernige Griechentonart wäre demnach aus unserer Sicht eher eine weiblich-weiche, was bekanntlich ganz unerträglich wäre. – Ich bin kein Fachmann für altgriechische Musiklehre und auch nicht für die Kirchentöne oder Modi des Mittelalters. Ich denke, darüber sollte man aber im Gespräch der Fachleute Triftiges erfahren. Wie auch sonst etwas über eine offenbar schwelende Bach-Problematik… Liegt der Schlüssel bei Pythagoras?

Für mich ein willkommener Anlass zu rekapitulieren: wann fing das eigentlich an? Damals haben wir immer nur Contrapunctus I gespielt, auch bei der Beerdigung König, Fa. Steinhäger in Steinhagen bei Bielefeld (kein Scherz).

Bach Fuge Graeser

Man könnte meinen, es sei ein böses Omen gewesen, dieser Steinhäger-Beginn, aber da war ich längst ein regelmäßiger Gast in der Musikabteilung der Bielefelder Stadtbibliothek, als Albert-Schweitzer-Verehrer kannte ich sein Bach-Buch, aber auch den Spitta. Das andere Datum (1964) bedeutete jedoch einen Neubeginn, vermutlich verbunden mit einer Gesamtaufführung, vielleicht im Kölner Bach-Verein, farbig instrumentiert (Graeser oder Schwebsch? unter Franzjosef Maier, vielleicht Gesamtleitung Herbert Collum). Die Probleme der Instrumentierung waren längst bekannt. Andererseits wusste man seit je, dass Bach selbst mit Um-Instrumentierungen seiner Werke keine Probleme hatte, selbst in solchen Fällen, die für meine kleinliche Geiger-Sicht gar nicht erlaubt sein dürften, also z.B. ein wundersam idiomatisches Werk für Violine solissimo auf ein schnödes Tasteninstrument zu übertragen. Er tat es. Und nun soll er die „Kunst der Fuge“ durch Verweigerung der Instrumentation auf geradezu pythagoreische Weise verrätselt haben!? Mein Gott, – es ist ganz egal, ob Sie die 4 Stimmen am Klavier zusammenstümpern oder auf 4 mittelmäßige Streicher verteilen. Setzen Sie sich doch hin und lassen Sie die Fugen kraft Ihres Geistes vor dem inneren Ohr vorüberziehen. Jeder gute Musiker würde Ihnen von Herzen gratulieren.

Man kennt Hamlets unbesiegbaren Zweifel und weiß: Wahnsinn allein genügt nicht, der Wahnsinn verbindet sich nur allzugern mit Methode, und zwar mit einer Genauigkeit, die schwindlig macht. Ich kann noch so oft sagen: das glaube ich nicht, immer wieder kommt in irgendeiner Form die Antwort: es geht nicht um Glauben, sondern um Wissen. Natürlich nicht um Wissen in unser aller oberflächlichem, grobstofflichen Sinn, sondern um das tiefe Wissen, das in der Frühzeit der Menschheit noch weit verbreitet war. Undsoweiter undsoweiter. Die Logik wird nicht über Bord geworfen, sie gilt an ihrem Platze, und zwar genau so lange, wie sie sich dienlich zeigt. Aber das wahre Wissen geht weit über sie hinaus, umfasst sie, ist selbstverständlich integral und kann sich jederzeit in höhere Sphären zurückziehen. Ich spreche nicht mehr über Dentler und auch nicht über den, den ich zitieren will. Aber jeder, der mit dieser verkünderklaren Stimme spricht, muss damit rechnen, dass auf der anderen Seite nicht alles geglaubt wird, was wie Wissen daherkommt.

ZITAT

So darf  als gesichert gelten, dass die Einprägung des Namens BACH (in allen möglichen Erscheinungsformen) da, wo sie auftritt, eine vom Komponisten bewusst vorgenommene Handlung ist.

Weitaus schwieriger ist die Tatsache zu erklären, dass sich ganz eindeutig Geburts- und Todesdaten des Komponisten sowie die Zahl seiner Lebenstage als Zahlenstrukturen in der Bachschen Musik nachweisen lassen. Dies übersteigt fürs erste unsere Denkmöglichkeiten und mag darum auch zunächst einmal zu heftigem Widerspruch reizen. Doch gerade diese Ebene bildet einen Schlüssel, der uns erkennen lässt, in welcher Weise Bachs Individualität mit dem objektiven Zahlenkosmos der Welt verbunden war. Rudolf Steiner weist im ersten Priesterseminarkurs darauf hin, dass sich gewisse Zahlen „ja doch einfach empirisch aus dem Weltall“ gewinnen ließen; man müsse sich, um diese Empirie durchzuführen, „ein Gefühl erwerben, auch für die innere zahlenhafte Gliederung im Weltenall“. Nun, Bach muss in eminentestem Maße über dieses „Gefühl“, das heißt einen entsprechend organisierten Astralleib, verfügt haben!

Ich möchte daher an diesem Punkt als Arbeitshypothese den Gedanken formulieren, dass im Falle Bachs objektive Zahlengesetzmäßigkeiten des Weltganzen mit persönlich-biografischen in erstaunlicher Weise zusammenfallen. Derartiges – biografische Daten, die zugleich kosmische sind – wird im Allgemeinen nur bei sehr hohen Individualitäten mit einer wichtigen weltgeschichtlichen Mission der Fall sein. Ich möchte diese Hypothese wenigstens mit einem Beispiel untermauern: der kosmischen Einbindung der Zahl 23869, der Zahl der Lebenstage Bachs.

Quelle Frank Berger: Der okkulte Bach / Zahlengeheimnisse in Leben und Werk Johann Sebastian Bachs / Verlag Freies Geistesleben Stuttgart 2000 / Neuausgabe 2016 (Seite 47f)

In den Text sind – wie üblich – zahlreiche vertrauenbildende Worte eingestreut wie erklären, nachweisen, Denkmöglichkeiten, Widerspruch, erkennen, empirisch, Arbeitshypothese, – und zugleich wird alles, was da tatsächlich verhandelt wird, mit Signalen versehen, die blindestes Vertrauen einfordern: Rudolf Steiner, Priesterseminar, Astralleib, ein Gefühl … für die innere zahlenhafte Gliederung im Weltenall, Bach als eine der „hohen Individualitäten mit einer wichtigen weltgeschichtlichen Mission“, samt der kosmischen Einbindung seiner 23869 Lebenstage…

Da ist jedes weitere Wort überflüssig. – Wir sind in diesem Artikel von Pythagoras ausgegangen, und so sei wenigstens erwähnt, dass er im vorliegenden Buch keine Rolle spielt; an seiner Stelle fungieren die Rosenkreuzer mit ihrer christlichen Zahlenkabbalistik. In Bachs musikalischem Gesamtwerk sollen sich bedeutungsvolle Zahlen finden, „die auf Christian Rosenkreutz direkt verweisen (sowohl dessen Lebensdaten als auch die von Bach selbst in Rosenkreuzer-Zählung)“  und sie „müssen so lange als von Bach bewusst gesetzte Strukturen gelten, bis sich andere Entschlüsselungen dieser Werte nachweisen lassen, die auf andere Bezüge hindeuten.“ (Berger, a.a.O. Seite 63).

Mit anderen Worten: des Entschlüsselns wird kein Ende sein! Nimmermehr! Und wie gesagt (s.o. FAZ-Artikel), jetzt auch auf CD: Ein Vorschlag zur Entschlüsselung der „Kunst der Fuge“.

Das Gespräch Richter / Dentler (siehe Video oben)

Schauen wir einmal genau auf den Punkt, der im Interview mit Hans-Eberhard Dentler geklärt werden soll: wie ergiebig bzw. beweiskräftig ist nun eigentlich der Bezug auf Pythagoras für unser Verständnis der Kunst der Fuge? (Ich habe diesen Teil des Gespräches aufgeschrieben und in 7 Punkte eingeteilt.)

1) 4:04 Bei der Überprüfung der Modalitäten bzw. der Ausgaben und Bearbeitungen der „Kunst der Fuge“ kam ich eben zu dem Schluss, dass nicht eine einzige eine Gültigkeit, eine wirklich künstlerische Gültigkeit beanspruchen kann, und so sagte ich mir selber, ich möchte auf die Quellen zurückgreifen, die absolut sicher sind. Ich möchte die Fakten kennenlernen, ja, das heißt das Autograph, das übrigens nicht viele Leute kennen, ja, man muss ja die Faksimile-Ausgabe bei sich zu Hause haben, und dann den Erstdruck, der problematisch ist, ja weil Bach ja bei der Erstellung des Erstdruckes, bei dem er selbst beteiligt war, wie man weiß, darüber verstarb. Seine Beteiligung ging ja bis zum 13. Contrapunctus.

Was ist Ihrer Meinung nach bei dieser Befassung das wichtigste, an der Kunst der Fuge, am Werk?

2) Wie ich vorgehe, war absolute Partiturtreue. Wichtigste Erkenntnis bei diesem Studium war, das ist, dass ich zur Überzeugung gelangte, dass hier ein wirkliche Besetzung im Rätsel vorliegt. D.h. sie ist bisher einfach noch nicht erkannt worden, und was gab mir diese Sicherheit dabei? Als ich eine wirklich außerordentliche Entdeckung machte, nämlich: ich fand die Tetraktys im Autograph vor: MUSIK HOCH

3) 6:14 Die Tetraktys ist eine mathematische Formel, eine pythagoreische Formel, und sie zeigt an, dass hier pythagoreisches Gedankengut das Fundament darstellt. Denn schon im Altertum galt die Tetraktys als Zeichen für Pythagoras persönlich, weil man sich scheut, den Namen Pythagoras auszusprechen. Es ist also sozusagen ein Markenzeichen, und das hat Johann Sebastian Bach im Autograph ganz deutlich getan, und zwar nicht nur einmal.

Und wo finden Sie im Werk die Tetraktys?

4) Im Autograph und zwar nach den ersten 8 Fugen, mit dem ersten Kanon beginnen, „Canon im hypodiapason“, das sind die ersten drei Worte, die Bach geschrieben hat, im Autograph, es ist eine Reinschrift, und hier stellt sie sich folgendermaßen dar, diese mathematische Formel, was ist die Tetraktys? Die sogenannte heilige 4, die auf der Zehnzahl beruht, 1 bis 2 bis 3 bis 4 gleich 10 [1 – 2 – 3 – 4 = 10]. ???????????????????????????????????????????????????????????????

Welche Maxime war Ihnen bei der Suche nach der richtigen Besetzung die wichtigste?

5) Absolute Partiturtreue!

Und welche Entdeckung haben Sie bei dieser Suche nach Partiturtreue gemacht?

6) Entdeckung würde ich es nicht nennen, aber … Erkenntnis. Nämlich, dass die Besetzung im Rätsel verborgen ist. In der Partitur.

Und wie kommen Sie darauf?

7) Ich konnte also zehn pythagoreische Kennzeichen destillieren: Erstens das Rätselprinzip, dass Bach gar keine Besetzungsangaben macht, nicht einmal seinen Namen nennt, dass es sonst keine Erklärungen gibt.

Dann das dualistische Prinzip: Kontrapunkt. Dass die Gegenteile sozusagen die Prinzipien der Dinge darstellen, das ist streng pythagoreisch. Es gibt ja eine Gegensatztafel, eine sogenannte Gegensatztafel bei den Pythagoreern, und da ist ja der Kontrapunkt, da gibt es nichts Expliziteres als den Contrapunctus. Dann das Spiegelprinzip; wir wissen ja, dass zahlreiche Spiegelfugen in der Kunst der Fuge vorhanden sind, ich nenne hier Contrapunctus XII, 1 und 2, Contrapuncus XIII, 1 und 2, da gibt es noch weitere Spiegelfugen.

Dann die Tetraktys selbst, die noch andere Bedeutungen hat, wurde sogar als Eidesformel des Pythagoras damals gebraucht.

Dann zum Beispiel ganz wichtig die Zahl 4 ist stellvertretend für die Tetraktys, sie ist sozusagen das ordnungsstiftende Prinzip.

Dann gibt es – und das können wir festmachen an verschiedenen Dingen, z.B. 4 Halbe [meint: 4/2 Takt] , also den Stylus antiquus [stile antico], auf den anspielen … so sind ja die ersten drei Fugen im Autograph geschrieben.

Dann, dass wir z.B. 4 verschiedene Fugentypen haben, einfache Fugen, Doppelfugen, Tripelfugen, dann die Quadrupelfuge, sollte noch ne weitere geschrieben werden.

Dann das Monadenprinzip, wir haben eine Tonart, wir haben ein Prinzip, ein Grundthema, dann die dorische Weise, das d-Moll, was sich von der dorischen Weise herleitet, und das soll die bevorzugte Tonweise von Pythagoras gewesen sein, ist in alten Quellen bezeigt, auch bei Iamblichos zum Beispiel. Dann der Zusammenhang mit der Sphärenmusik, weil der Pythagoräer dachte: unsere Musik ist nichts anderes als die Nachahmung der Sphärenmusik, und da wir das nicht hören können, sondern nur Pythagoras, wie er selbst sagt, hat er uns Abbilder geschaffen. Das heißt, das ist also auch ein Hinweis auf die Partitur, sie soll gespielt werden. Es sind Abbilder, und hier, warum er es nicht sagt, warum es im Rätsel begriffen ist, das ist ein didaktisches Mittel. Weil die Pythagoräer anhand der Rätsel lehren.

Ja, und zu guter Letzt die Oktavdefinition, Quarte, Quinte, nach Philolaos, und die sogenannten pythagoreischen Konsonanzen, auf die Bach ganz besonders Rücksicht nimmt in seiner Kanonreihe, ja, er nimmt auch griechische Termini anstelle von italienischen, es ist also ein Hinweis, und dann zu guter Letzt muss man wissen, dass die Fuge schon bei Platon, aber dann noch mehr bei Plotin ein Symbol darstellt: es ist nämlich – Fuge im philosophischen, im theologische Bereich bedeutet „Rückkehr zu Gott“. [11:28]

Kommentar JR:

Der Gesprächsverlauf ist bar jeder Logik, und selbst wenn ich einkalkuliere, dass es im Video Schnitte gibt, die nicht von den Gesprächspartnern gewollt sind, erkennt man, dass eine Klärung gar nicht angestrebt wird. Was also hat es mit der Tetraktys auf sich, von der Dentler in Punkt 2) sagt, er habe sie im Autograph vorgefunden: aufgeblendete Musik erhöht die Spannung, aber dann folgt in Punkt 3) nur ein Definitionsversuch, was die Tetraktys bei Pythagoras sei und der Hinweis, es sei das „Markenzeichen“ des Pythagoras, das auch Bach „ganz deutlich“ für sich eingesetzt habe, „und zwar nicht nur einmal“. Der Gesprächspartner hakt nach: Wo denn? (Er will eine genauere Angabe haben.) Die Antwort ist nur scheinbar genauer:  „Im Autograph und zwar nach den ersten 8 Fugen“. Vielleicht in der Überschrift des nun folgenden Kanons? Wer in den Dokumenten nachschaut, – was beileibe nicht so schwierig ist, wie Dentler behauptet, – hat tatsächlich den Eindruck, dass hier eine Zäsur zu denken ist: der seltsame Haken hinter dem mittleren Notensystem (in der Handschrift), das reichhaltige Ornament im Druck. Aber wer will das wohl nach dem Studium der Noten bestreiten? Und wer braucht dafür die Tetraktys, die zu der Zahl 8 eigentlich nichts Gravierendes aussagt, nichts, was nicht ebenso in der bloßen Fugenfolge stünde: Eine Zäsur ist sinnvoll.

Bach Kunst der Fuge älter 8 EndeBach Kunst der Fuge 8 Ende

Der Interviewer hat offenbar aufgegeben und belässt die Frage nach der Tetraktys im Ungewissen. Stattdessen der Schwenk, welche Maxime denn bei der Suche nach der richtigen Besetzung die wichtigste war. Und die an Plattheit nicht zu überbietende Antwort:  „Absolute Werktreue“. Dann die Aufzählung der „pythagoreischen Kennzeichen“, die in ihrer Allgemeinheit auch auf eine Sammlung von Küchenrezepten anwendbar wäre. Und das Fehlen von etwas (z.B. des Namens) als besonders deutlichen Hinweis für etwas zu werten. Und das Wort Fuge, – als musikalischer Terminus neben Conductus und Motetus zum ersten Mal erwähnt bei Jacobus von Lüttich um 1330 –  unbedingt im Sinne des Plotin (ca. 250 n.Chr.) als φυγη mit Bezug auf Gott verstehen zu wollen, oder sogar nach Plato, jedenfalls unabhängig von der Vorstellung polyphoner Gebilde, denen der Begriff seit dem späten Mittelalter untrennbar zugeordnet ist. Schließlich das ahistorische Verständnis des Dorischen. Ich fürchte, wer von Weisen und der dorischen Tonweise spricht, hat von Kirchentönen noch nichts gehört. Es schreit zum Himmel. So auch der irgendwie beweiskräftig gedachte – weil von Dentler erstmals dem Pythagoras zugeschriebene – Zusatz zum Nachtgebet der Thomaner. (Siehe obiges youtube-Video bei 13:40). Schön, davon gehört zu haben. Und nun zurück zu Bach.

***

3. August 2017 16:15

Aus einem Mailwechsel, der mir soeben zur Kenntnis gebracht wurde:

Vielleicht hätte Herr Richter mal bei Bach digital nachsehen sollen, wann das Berliner Autograph P 200 entstanden ist: 
  1. Die ersten acht Fugen schon 1742 (also Contrapunctus 1, 3, 2, 5. 9. 10a, 6 und 7) plus der Canon in Hypodiapason.
  2. Die nächsten Fugen und Kanons erst im Zeitraum 1742-1746.
Immerhin war das Autograph fertig, LANGE BEVOR Bach Mitglied in der Mizlerschen Sozietät wurde.
(…)
Wie naiv kann man eigentlich sein???
***
P.S. (JR)
Übrigens hätte man mit dem Buch von Peter Schleuning schon seit 1993 auf einen
hervorragenden Kenntnisstand kommen können, hier nur ein Vorgeschmack:
Schleuning Fuge Ornamente
Quelle Peter Schleuning : Johann Sebastian Bachs >Kunst der Fuge< / Ideologie,
Entstehung, Analyse / dtv/Bärenreiter München Kassel u.a. 1993
ZITAT (Seite 56 f):
Der Pionier moderner Bearbeitungen für Ensemble – ihre erstaunliche Zahl und Art ist verzeichnet bei Kolneder (…) – ist Wolfgang Graeser. Nach einer offenbar planmäßigen Unterdrückung der historischen Fakten zur Frage der Besetzung konnte er jene orchestrale „Gesamt“-Aufführung 1927 in der Leipziger Thomas-Kirche vorbereiten, die für die Aufnahme der „Kunst der Fuge“ über Jahrzehnte dasjenige sicherte, was ihrem Verständnis besonders abträglich ist: Erschütterung. Auch eine Bemühung von Heinrich Husmann um „Die >Kunst der Fuge< als Klavierwerk“ konnte nichts daran ändern. Die Ästhetik des frühen monumentalen Tonfilms hatte auch Bachs Musik ergriffen und ergreifend gemacht.
Dies spricht selbstverständlich keineswegs gegen heutige Aufführungen in Ensemble-Besetzung. So erscheint mir, was die Deutlichkeit der Stimmverläufe und der thematischen Arbeit betrifft, die Darstellung mit Saxophon-Quartett optimal.
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Soweit Peter Schleuning.
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In diesem Sinne: damit wir nicht in tiefster Betroffenheit verharren, lasse ich unsern
Artikel mit einem Foto ausklingen, das mir ein Freund aus Leipzig nach dem Besuch
der Thomaskirche zuschickte. Titel „Bachs Fugen“ :
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Bachs Fugen