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Idiota de mente

Ein Sonderthema, das nichts mit Demenz zu tun hat

Schloss Bruneck (Wikimedia)

Hier  und Hier Etwas zum Lesen (für JR, mit Zusicherung meinerseits: die Lektüre des Originals ist von Bedeutung, wenn auch sehr alt; ein äußerer Anreiz für mich: es hat mit Brixen/Südtirol zu tun, ist assoziativ noch in statu nascendi, und es entgeht mir nicht, dass die Hausarbeit nicht sehr weit führt, wobei aber gerade das Manko produktiv wirkt).

Nikolaus von Kues (Wikipedia-Artikel) Von Kues an der Mosel nach Umbrien…

– Fortsetzung folgt –

Sie folgt, gewiss. Aber woran ich anknüpfe, sollte ich auch andeuten: private Abgründe, hier.

ZITAT

In dem Dialog Idiota de mente treffen die beiden erneut aufeinander. Diesmal aber kommt ein Philosoph hinzu, welcher durch den Redner von den unkonventionellen Gedanken des Laien erfahren hat und sich nun ebenfalls Erleuchtung durch ein Gespräch mit diesem erhofft. Der Redner und der Philosoph treffen den Laien bei seiner Arbeit in einem Kellergewölbe an, als dieser einen Löffel schnitzt. Während sich der Redner schämt, den Philosoph in solch eine Umgebung gebracht zu haben und fürchtet, was dieser nun von ihm denken könne, reagiert dieser mit weltoffener Sicht und kann nichts Schlechtes daran finden, dass der Laie der Kunst des Löffelschnitzens nachgeht8. Der Philosoph wünscht, über den menschlichen Geist belehrt zu werden und erfährt durch den Laien, ,,dass der Geist zum einen den Geist im Körper, die Seele, bezeichnet und zum anderen unendlicher göttlicher Geist ist.9 „Der Laie veranschaulicht am Löffel, wie die ,,mens humana“ Abbild des göttlichen schöpferischen Geistes ist. ,,Die gebildeten Begriffe kann der Geist für sich anblicken, etwa wenn er den Kreis als eine Figur erfasst, bei der alle vom Mittelpunkt zum Umfang gezogenen Linien gleich sind“.

Autorin: Lena Joana Bernotat (Hausarbeit 2020)

Die Wissenschaftlerin  Renate Steiger nennt in ihrer Einleitung zum Dialog „Der Laie über die Weisheit“ den Namen Raimund von Sabunde, aus dessen Wikipedia-Darstellung ein Satz zitiert sei:

Offenbarung (Bibel) und Natur stimmen in seinem Verständnis überein, da sie beide von Gott stammen. Der Naturerkenntnis (durch die von der Erbsünde befreite und vom Glauben erleuchtete Vernunft) gibt er den Vorzug, da sie nicht nur den Klerikern, sondern auch den Laien zugänglich sei und nicht verfälscht werden könne.

Ein erstaunlicher Hinweis, und erst im Fortgang wird ersichtlich, dass die Autorin (und Herausgeberin) mit Blumenbergs Sicht auf „den Cusaner“ kritisch verfahren wird. Die Grundlage des christlichen Denkens ist und bleibt ja ein Buch, an dessen Buchstaben nicht zu rütteln ist, auch wenn sie in Widerspruch mit unserer Erfahrung geraten, andererseits liegt die Natur (scheinbar) unvermittelt vor unseren Augen, beides kommt von Gott, das eine dank Offenbarung, das andere dank unmittelbarer Erfahrung. Eine speziell christliche Falle, – wenn man sich fragt, ob die Abstraktionen des Geistes wirklich ebenso existieren wie die Vielzahl der Dinge -, ist die der Dreifaltigkeit, die dogmatischerweise als Einzahl ebenso vernünftig erscheinen soll wie als Dreizahl: man hilft sich, indem man das Paradox selbst für gottgegeben (natürlich) erklärt. Per ordre de Mufti. Ein Trick wäre, zunächst die Welt der Dinge auch für ein Buch zu erklären, in Konkurrenz zum Buch der Bücher…

So etwa erkläre ich mir, dass man sich (vorläufig) wirklich noch mit dem auseinandersetzen muss, was unter dem Namen Nominalismus – in Abgrenzung vom Rationalismus – zu verstehen ist. Und warum zeitweise der Inhalt des einen Begriffes mit dem des anderen ausgetauschen werden muss. (Private Folgerung: GEDULD – bis endlich die Aufklärung zum Durchbruch bereit ist).

ZITAT Renate Steiger (Anmerkung in der Einleitung Seite XIII)

Siehe u.n. 4,8-10. Dazu H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M.2 1983. Nach Blumenberg enthüllt die Metapher vom Buch der Natur »ihren rhetorischen Gehalt erst als Paradox in der Stoßrichtung gegen die Scholastik“, die Bücherwelt der Kleriker (S.58). Für den Cusaner sei – vorbereitet durch Raymund von Sabunde, von dessen Theologia naturalis Nikolaus sich 1450 eine Abschrift verschafft hat (cod. Cus. 196 I – der Laie eine Figur der Unmittelbarkeit (S. 60). »Der Laie ist der Sprecher der Weisheit, die nicht nur das Pathos der größeren Tiefe gegenüber der Wissenschaft vom scholastischen Typus angenommen hat, sondern … sich einen skeptischen, sogar polemischen Ton gegenüber allem zulegt, was Wissenschaft heißen will. Das hat immer zwei Seiten: Es moniert die Erfahrungsdistanz der scholastischen Begriffsspekulation, und es rekurriert auf den theologischen Hintergrund in den Formen einer schlicht gewordenen Mystik, für deren Typus die Devotio moderna steht.“ (S. 63)

So wird die Unmittelbarkeit der Erfahrung von Wirklichkeit vom bloßen Lesen oder Hörensagen über sie abgesetzt (s.u.n.19).

Autorin: Renate Steiger (1988)

Das Blumenberg-Buch, das sich seit 2021 in meiner wachsenden Blumenberg-Sammlung befindet, entstammt der 11. Auflage des gleichen, mehr als 400 Seiten langen Werkes, dessen Inhaltsverzeichnis einiges über „Die Lesbarkeit der Welt“ erahnen lässt.

Ein anderes, vom Volumen her eher unscheinbar, im Format eines Reclamheftes, lese ich seit jenem Urlaub auf Texel im August 2020 bis heute immer wieder, und ganz allmählich hat der Bezug auf Nikolaus von Kues auch bei mir eine so zentrale Stellung eingenommen, wie von Hans Blumenberg schon 1956 aufgedeckt. Je öfter ich mich in seinem Aufsatz „Nachahmung der Natur“ festlese, Untertitel: „Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen“, desto wesentlicher erscheint es mir. Nicht nur als Wissenstoff, sondern als Lebensmittel. Und als geheime geistige Wunderwaffe habe ich ein Buch bereitgelegt mit dem schlichten Titel „Handwerk“. Ein anderes wird morgen früh um 11 Uhr bei dem Buchhändler meines Vertrauens eingetroffen sein und wird in kürzester Zeit hier abgebildet sein.

Aber was muss ich feststellen: der Dialog des Löffelschnitzers fehlt. Es muss noch einen anderen Band geben, und wirklich, jetzt erst entdecke ich ihn hier, kann aber immerhin, wenn ich die Funktion „Im Buch blättern“ wähle, einiges nachlesen, im oben angekündigten Kues-Dialog „Idiota de mente“ :

: (Screenshots)

Aber was nun? Soll ich endlich ganz von vorn beginnen? Statt darauflos zu recherchieren? Hier sind die Blumenberg-Seiten, die mich auf Nikolaus von Kues brachten, ihn unentbehrlich machten, so dass ich ihn „im Original-Kontext“ sehen und lesen musste:

Seit Aristoteles wird in Bezug auf Kunst (bzw. auf den schöpferischen Menschen) unablässig ein Thema mit unzähligen Variaten wiederholt: dass es sich um Nachahmung der Natur handelt. Und unter Natur kann man ebernso den Gottesbegriff verstehen, je nachdem welche weltanschaulichen Vorgaben herrschen. Mich begann Blumenbergs frühe Abhandlung zu faszinieren, nachdem mir die folgenden Sätze eingeleuchtet hatten, – mir fiel Leonardo ein, dessen schöpferisches Genie sich nicht nur in Abendmahl und Mona Lisa dokumentierte, sondern auch in Kriegsmaschinen und Fluggeräten, ohne dass man alldies zusammendenken mag:

„Es ist vor allem ein Phänomen der »Sprachlosigkeit« der Technik.“ Und vor allem: „Für die herankommende technische Welt stand keine Sprache zur Verfügung.“ Wenig später fällt der Name Leonardo da Vinci, aber verkappt kritisch, da er sich mit der alten Traumvorstellung von der Nachahmung des Vogelflugs beschäftigt hat, während das Problem schöpferisch nur mit einem absolut neuen Prinzip zu lösen war, der Verwendung einer Luftschraube, denn „rotierende Elemente sind von reiner Technizität“ . An dieser Stelle kommt Nikolaus der „Cusaner“ ins Spiel, und was sein Beispiel des löffelschnitzenden Laien hätte bedeuten können, des „Idiota“ (lat.). Mit meinem alten Griechisch-Lexikon kann ich leicht erklären, warum wir uns in der Schule gern schon mal mit der Anrede titulierten: Na, du gemeiner Soldat. Heute kaum noch zu belächeln.

Aber nun zur Sache:

Man kann die einzelnen Sätze gar nicht bedeutungsvoll genug nachlesen. Gott ist eine so selbstverständliche Grundlage alles „alten“ Denkens und Fühlens, dass wir es nicht mit einem Lächeln abtun können, um z.B. den Rationalismus des Bachschen Weltverständnisses mit unserm eigenen zu vermischen. Man verstehe nur, weshalb ein Bach-Jünger wie John Eliot Gardiner in seinem großen Buch von der „Himmelsburg“ ein ganzes Kapitel dem „Räderwerk des Glaubens“ widnete. Und nun einen solchen Satz (s.o.):

Aber die Berufung auf den schon vorhandenen und das Fluggeschäft gottgegebenerweise ausübenden Vogel hat gar nicht soi sehr die Funktion einer genetischen Erklärung. Sie ist vielmehr der Ausdruck für das mehr oder weniger bestimmte Gefühl der Illegitimität dessen, was der Mensch da für sich beansprucht. Der Topos der Naturnachahmung ist eine Deckung gegenüber dem Unverstandenen der menschlichen Ursprünglichkeit, die als metaphysische Gewaltsamkeit vermeint ist.

Erlauben wir uns einen Seitenblick auf J.S.Bachs „weltlichen“ Zeitgenossen Johann Mattheson, über den wir bei Wikipedia folgendes erfahren:

Im Gegensatz zum Zeitgeist zu Beginn des 18. Jahrhunderts vertrat Mattheson die Auffassung, dass die Musik nicht theologisch, sondern sozial sein sollte. Die Musik soll nach Mattheson ihren eigenen Regeln folgen und nicht von außen auferlegten kontrapunktischen Regeln unterliegen, die sie in ein scheinbar wohlgestaltetes Korsett zwängen. Sie soll nicht allein zu Gottes Ehre (Soli Deo Gloria) komponiert und gespielt werden, sondern vielmehr um den Menschen zu gefallen und sie u. a. zum Tanz zu bewegen. Mattheson prägte daher ein für seine Zeit untypisches, gesellschaftlich ausgerichtetes Musikverständnis – ganz nach dem Vorbild des in Frankreich aufkommenden galanten Stils, der dabei stets von einem elitären, exklusiven Menschenbild ausging.

Ziehen wir keine übertriebenen Rückschlüsse: offiziell wird Mattheson immer wieder den Zeitgeist bekräftigen. Man muss nur zur Kenntnis nehmen, mit welcher Emphase er den himmlischen Ursprung jeglicher Musik beschwört und sich darauf beruft, dass die Engel selbst sich der musikalischen Werkzeuge der Menschen bedienen. Spricht so ein großer Aufklärer in unserm Sinne?

Quelle: Johann Mattheson: Versuch einer systematischen Klang=Lehre wider die irrigen Begriffe von diesem geistigen Wesen, von dessen Geschlechten, Ton=Arten und auch vom mathematischen Musikanten nebst einer Vor=Erinnerung wegen der behaupteten himmlischen Musik / Hamburg 1748 / Nachdruck DDR Leipzig 1981 für Bärenreiter Kassel

Man bedenke, dass Nikolaus von Kues seine Schriften zum Lob des Laien als ein getreuer Kirchenmann, wenn auch nicht unangefochten, 300 Jahre vor Mattheson und Bach verfasst hat! Der aufklärerische Kern schlief im Innern der kirchlichen Lehre, und genau das will Blumenberg in allen Verästelungen nachvollziehen. Und wir können uns nicht darüber erheben und sagen: erst um 1800 oder seit der Französischen Revolution brach urplötzlich die Vernunft aus dem  wirren abendländischen Denken hervor, wie die Sonne aus der Nacht des Mittelalters. Neu war die Sprache, die man dafür entwickelte, was nicht bedeutet, dass es vorher keinen Sprache gab. Im Gegenteil:

Das Unformulierbare ist das Unvertretbare. Das Paradies war: für alles einen Namen zu wissen und durch den Namen sich geheuer zu machen.

Siehe im letzten Blumenberg-Text oben Seite 14 unten. – Was aber war nochmal „Nominalismus“ ?

(Fortsetzung folgt)