Archiv des Autors: JR

Wörthersee, Thunersee …

Die ganze Welt in drei Werken

… ja, wie ist es nur möglich? Wollten Sie wirklich darüber etwas lesen? Oder zuerst die Musik hören? Bitte HIER (mit Isabelle Faust und Alexander Melnikovm, weiterhin beim Lesen verfügbar halten).

 

Brahms Sonate Nr. 2 A-dur HIER (die im Text angegebenen Zeiten gelten nicht)

Brahms Sonate Nr. 3 D-moll HIER (die im Text angegebenen Zeiten gelten nicht)

Text: 2011© Dr. Jan Reichow für TACET Andreas Spreer / Cover Photo: ©Fotolia / olly / Booklet Layout : Toms Spogis

Diabelli gegen Goldberg

Sinn und Unsinn beim Schreiben über Musik

Schlechter Journalismus zu guter Musik hat immer auch ein Gutes: er zwingt uns, nach dem Wesentlichen zu fragen.

Durch Zufall schneite mir die Welt am Sonntag (20. August 2023) ins Haus, ein neuer Goldberg-Variationen-Interpret interessiert mich wenig, wahrscheinlich mal wieder einer, der an Glenn Gould gemessen werden soll… Ach, es geht wohl eher um einen schönen Zeitvertreib in Schloss Elmau? Wenn das Frühstück auf so absurde Weise in den Vordergrund tritt? Ein elitärer Publikumsmagnet? Besonders, wenn man dort eingeladen ist.

Ja ja, das Universum, die Bananen

& der Hotelbesitzer

Mich beleidigt vor allem die eine Banane für Ravel…

Immerhin: auch Beethoven ist eine Zeile wert:

Und dann kommt er ins Schwärmen über Details. „Allein der Triller in der 28. Variation, wie der etwa Beethoven beeinflusst hat! Die Goldberg-Variationen sind das Wörterbuch für alles Kommende.“

So allgemein genommen, wird es ganz falsch. Man lernt Triller in Beethovens eigener Geschichte, und Beethoven lernt bei Bach, was man ganz anders machen kann.

Ein Brief an Beethoven

Wir wissen ja nicht einmal genau, ob Du sie überhaupt kanntest. Ich bin allerdings davon überzeugt. 33 Diabelli-Variationen gegen Bachs insgesamt 32 Sätze – Aria, 30 Variationen, Aria da capo –, das kann kein Zufall sein. Und es sieht Dir so ähnlich: noch einen Satz mehr zu schreiben als der alte Bach!

Deine 31. Variation, das große Largo in c-Moll, scheint ja geradezu Bachs 25., das g-moll-Adagio, heraufzubeschwören in der extravaganten und herzzerreißend traurigen Art, wie die Melodie ausgeziert ist, ebenso wie im Zusammenstürzen des Gesangs am Ende; zutiefst ergreifend, wie alles gleichsam zu Staub zerfällt. Und dass eine Fughetta und eine Fuge unter Deinen Variationen sind, lässt jeden sowieso an Bach denken.

Auf weite Strecken kommen mir Deine Diabelli-Variationen geradezu vor wie gegen die Goldberg-Variationen angeschrieben. Bach schreibt als Thema eine wundervolle Aria, die er so zu lieben scheint, dass er sie am Ende unverändert wiederholt. Du dagegen hältst nicht viel von Diabellis Walzer, dem „Schusterfleck“, wie Du mal schriebst. Aber irgendwann muss es einen Moment gegeben haben, in dem Dir das Potential aufging, das gerade darin liegt, Variationen über ein triviales Thema zu schreiben.

Der ironische Abstand zum Walzer, dessen Zertrümmerung, wird gerade in den zuletzt komponierten Variationen immer stärker zum Ausgangspunkt Deiner Erfindung – stimmt das? Ist der Sarkasmus das, was Dich je länger desto mehr reizte, bei der Stange hielt? Dachtest Du so etwa: „Was habe ich bisher noch nicht ad absurdum geführt – ach ja, der Walzer hat ja gar keine Melodie. Also nehmen wir diese Nicht-Melodie, dass x-mal wiederholte g der Oberstimme und zeigen, wie doof das ist?“

Der Ton mag irritieren, unkonventionell, aber ansonsten: Jeder Satz interessiert mich, da redet jemand von einer Sache, die er versteht! Sofort entsteht der Drang, das hörend nachzuvollziehen, was er meint. Das ist Andreas Staier.

Staier hier im Deutschlandfunk „Lieber Ludwig, welche Rolle spielten für Dich Bachs Goldberg-Variationen?“ Der Cembalist und Pianist Andreas Staier stellt sich in seinem Brief an Beethoven die Frage, welche Rolle Bachs Goldberg-Variationen bei der Komposition von Beethovens Diabelli-Variationen gespielt haben. Hat er sich gar bestimmte Bach‘sche Variationen vorgenommen, um sie zu negieren, gegen sie zu rebellieren? Von Andreas Staier | 25.05.2020

Ludwig van Beethoven: 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli / 33 variations on a waltz by Diabelli in C major, op. 120 („Diabelli Variations“). Andreas Staier – fortepiano. With an improvised introduction by Andreas Staier. [Bis 3:20]

Die einzelnen Variationen!

Ornithology with „Bird“

… and Anthropology (analytics)

Es hat an Versuchen nicht gefehlt, den Jazz in meine Bemühungen einzubeziehen. Aber an Geduld und Zeit für die Praxis. So 1980.

Lennie Niehaus

Aber solche Noten helfen nichts. ERSTER FEHLER:  Allein die klingenden Stücke wiederzuerkennen, ist fast unmöglich. Man braucht Unterricht durch kundige Hände, vor allem zum Imitieren – um im langsamen Tempo mit Akkord-Schemata umzugehen, siehe unten das reale Charlie-Parker-Tempo. Was man im Ohr hat, ist nicht das Detail, das man braucht, um die Praxis am Klavier zu beginnen. Und die Noten geben nicht die leiseste Vorstellung vom Sinn des melodischen Verlaufs. ZWEITER FEHLER: Nicht mit Bird ernst zu machen, aber in meinem Fall ausgerechnet mit  „Bird: The Complete Charlie Parker on Verve“ – a 1990 box-set. It features every extant note Parker recorded for labels controlled by Norman Granz (unified under the name Verve in 1956, the year after Parker died. Siehe hier. Eine sehr spezielle Auswahl, nicht etwa eine Sammlung seiner wichtigsten Titel. So erlosch meine erste Begeisterung, ehe ich mir über meinen Irrtum klar wurde. Ist dies ein neuer Ansatz dank Youtube? Beginnen mit der dritten Aufnahme, „Ornithology“ Charlie Parker „The Platinum Collection“ ! Merke: auch das Ohr kann schneller – hellhöriger – werden, wenn man Details wichtig nimmt: durch Wiederholung (wie beim Üben am Intrument). Nachhilfe mit dem Auge…

Bass und Harmonien:

Die ganze Melodie lernen:

Die Harmonien auf der Mandoline (für Nichtspieler einfach zum Hören und Einprägen!)

ZITAT

“Ornithology” is based on the form and harmony of “How High the Moon” (Hamilton-Lewis, 1940).

aus: Four Studies of Charlie Parker’s Compositional Processes by Henry Martin

Quelle:

https://mtosmt.org/issues/mto.18.24.2/mto.18.24.2.martin.html#FN23REF HIER

ZITAT

Practice each tune slowly, working it up to speed, and finally trying to play it along with the recording.

One of the most popular contrafacts of the bebop era is Charlie Parker’s Ornithology, based on the well known standard How High the Moon written by Morgan Lewis in 1940

„Ornithology“

Quelle hier:

The Ultimate Guide to Bebop Tunes: 30 Essential Songs

https://de.wikipedia.org/wiki/Ornithology

https://de.wikipedia.org/wiki/Anthropology

↑ bis 0’30“ = 1 Seite Notentext ↓

Notation bei Paul Berliner

Quelle Paul F Berliner: Thinking in JAZZ / The Infinite Art of Improvisation / Chicago Studies in Ethnomusicology / Edited by Philip V. Bohlman und Bruno Nettl / The University of Chicago Press 1994

Wahlverwandtschaften (Lebende Bilder)

Eine vergessene Kunst? Oder bloß ein Spiel?

Wie mein Interesse begann

Schubert und das lebende Bild

Eine andere Beschreibung, die ich durch Zufall in Goethes „Wahlverwandtschaften“ fand und für meine Entdeckung hielt:

Damals gab es doch schon Wikipedia…

https://de.wikipedia.org/wiki/Tableau_vivant hier

Aber wohl noch nicht diese unvergleichliche Website (mit den Erläuterungen zu den lebenden Bildern ab dem Fünften Kapitel):

http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/bseiler/Wahlverwandt/kultur.htm HIER

ZITAT aus dieser Arbeit:

Das Titelblatt der Erstausgabe

Die Aufmerksamkeit, die der Roman fand, war groß, das Urteil jedoch keineswegs nur positiv. Von den moralischen Bedenken abgesehen, wurde auch die nicht immer konsequente Erzählweise beanstandet. Wilhelm Grimm schrieb am 22. November 1809 an seinen Bruder: „Ich begreife auch, daß das ganze Verhältnis sehr langsam und sorgfältig mußte entwickelt werden, nur nicht langweilig, wie es mir durchaus ist. Ich erkläre mir es aus der Art der Entstehung des Buchs, weil es durchaus diktiert ist, wo der Faden wohl nicht streng angehalten worden, sondern ganz gemächlich abgehaspelt worden und zuweilen auf die Lehne des Schlafsessels herabgefallen ist.“

Goethe in seinem Arbeitszimmer

Auch wenn Goethe stehend und nicht sitzend diktierte, muss man wohl wirklich die oft umständliche Allgemeinheit der Aussagen auf diese Arbeitsweise zurückführen. Zur Besinnung auf plastische Einzelheiten wird man bei einem vorwärtsdrängenden Diktieren kaum veranlasst.

Zitat-Ende / der Autor:

SEILER Bernd W. Seiler, Januar 2015 hier

Zu Humboldts Kritik: Mir waren bei der Goethelektüre durchaus auch stilistische Schwächen aufgefallen, die sich aus der Praxis des Diktierens ergeben, z.B. die stereotype Verwendung des Wortes „entgegnen“ statt entsprechender Varianten. Andererseits: las er denn das Diktierte nachher nicht mehr durch? –  Mir fiel jedoch das Wort vielleicht nur deshalb auf, weil es heute so viel auffälliger klingt als  „antworten“, das ich nicht moniert hätte.

Ein anderes Thema dieses interessanten Autors:

http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/bseiler/Lesmona/ hier

Blumenberg-Doppel

Zum textkritischen Vergleich

Aus verschiedenen Gründen ist es interessant, wenn ein Schriftsteller ein und dieselbe Episode zweimal verwendet, aber nicht als Fertigteil, sondern mehr oder weniger verändert. Er kann die Funktion den unterschiedlichen Zusammenhängen anpassen. Etwas unwahrscheinlicher ist, dass es in unfertigem Zustand demselben Zettelkasten entnommen wurde, der schon vormals als Quelle benutzt wurde. Und dieser Vorgang könnte in Vergessenheit geraten sein. Oder die Anpassung von ehedem könnte als unerheblich betrachtet worden sein. Es gibt – vermeintlich – noch keine verbindliche Formulierung. Man vergleiche etwa den Fall des Dritten Brandenburgischen Konzerts bei Bach (auch im weiteren: hier):

Bachs Kompositionspartitur ist – wie beim größten Teil seiner Konzerte – nicht erhalten. Nachdem er die daraus kopierte Widmungspartitur 1721 weggegeben hatte, griff er 1729 wieder auf sein Handexemplar zurück, um eine zweite Fassung als Einleitungssinfonia zu seiner Kantate BWV 174 Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüte zu schreiben.

Der Vergleich der beiden erhaltenen Versionen zeigt immer wieder Unterschiede im Detail. Bach nutzte bei der Abschrift in die Widmungspartitur vor allem die Gelegenheit, die Celli im ersten Satz weiter zu individualisieren. Da die Sinfoniafassung zum Teil von einem Kopisten geschrieben wurde, folgt sie offenbar eng der Kompositionspartitur.

Hans Blumenberg: Goethe zum Beispiel Insel-Verlag 1999 Seite 79 f

*    *    *

Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß Suhrkamp 1987 Seite 175 f

IN WIEN

Bei seiner Ankunft in Wien schreibt Karl Friedrich Zelter am 12. August 1819 an den Altersfreund Goethe, sein Wunsch …

(Fortsetzung folgt)

Frühe Bewusstseinsspaltung

Rückblick auf Adornos Nachhilfe

As ich 1955 anfing, ernsthaft philosophische Literatur zu lesen (ich glaube, „Sokrates im Gespräch“ von Romano Guardini), stieß ich bald auf Nietzsche, nicht ahnend, dass er es mir zu leicht machte. Kant, von dem ich ein/zwei Jahre später (für Langeoog) zwei Bände der Dünndruck-Gesamtausgabe aus der Bielefelder Stadtbücherei entlieh, daneben eine voluminöse „Einführung in das Werk“ unbekannter Provenienz. Im Original – einigen naturwissenschaftlichen Schriften – blieb ich stecken. Jedenfalls begegnete mir nicht dort, sondern in Nietzsches „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ zum ersten Mal das Wort „Subjekt-Objekt-Spaltung“; es erschien mir wie die Andeutung höherer Weihen. Ich weiß nicht, ob  mir klar war, dass Nietzsche diesen Begriff von Schopenhauer übernommen hatte, und dass er über diesen Philosophen bereits eine frühe Schrift veröffentlicht hatte. Schumann, Brahms, Wagner (Lohengrin). Laufend Neues in der Musik? 1956 kaufte ich Hindemiths „Unterweisung im Tonsatz“, nachdem ich ihn in der Oetkerhalle persönlich erlebt hatte („Sinfonia serena“), siehe live hier. Mein Vater, der mir immerhin die Harmonielehre von Louis/Thuille erschloss, sah die Sache skeptisch. Er sagte auch: Von Schönberg spricht in 100 Jahren kein Mensch mehr. Ein günstiger Anlass zu weiterer Opposition meinerseits, die zunächst bei Hindemith verweilte.

Beilage aus Hindemiths „Unterweisung“

Drei Jahre später – im Bielefelder Freibad – hatte ich Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ (ebenfalls aus der städtischen Bibliothek) zu knacken gesucht, 1960 in Berlin dann ernsthaft (mühevoll – im Café Kranzler) mit einem Stift, der das Unterstreichen in Blau und Rot erlaubte, damals auch noch mit Lineal. Großer Respekt. Irgendwann habe ich gelesen, dass Ludwig Klages ein Buch „Der Geist als Widersacher der Seele“ geschrieben hatte, von dem ich annahm, dass es mir zutiefst entspräche. Weit gefehlt. In solchen Widersprüchen glaubte ich mich einrichten zu können. Die 60er Jahre waren von Adorno gezeichnet, was mich letztlich vor einem Versinken in Mystizimus (Indien) bewahrte. Nach fast allen anderen Werken von ihm erwarb ich 1970 – kurz nach seinem Tode – auch noch das letzte mit dem Titel „Stichworte“, das ich jetzt – im August 2023 – wieder hervorholte, um das zu wiederholen, was ich damals nicht verstanden hatte. Vor allem die Stichworte, die spezifisch philosophischen Themen gewidmet waren. Seite 20 ff hätte schon früh zur Einsicht führen können. Statt meine Zeit mit Merkzetteln zu vergeuden und sie in Bücher über Parapsychologie oder Halbwahrheiten wie „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ zu verteilen, die mich von Berlin nach Köln begleiteten.

„dauernd im Transzendentalen“, nur „bestritten von  seichten Empirikern“?

das Gegengift ab Seite 11, 151, 169

Aber jetzt erst, nach 50 Jahren, könnte ich wohl ernsthaft damit anfangen…

Zum Beispiel dort, wo Adorno mit seinen Worten über Subjekt-Objekt-Spaltung spricht. Und diese mit der Schimäre eines zeitlich oder außerzeitlich ursprünglichen Zustands glücklicher Identität von Subjekt und Objekt verbindet (Seite 152), passend zu den Gedanken in „Vernunft und Offenbarung“ (Seite 20). Ich zitiere den Passus (Seite 152 f) ausdrücklich, Verständnishilfen interpolierend, weil ich immer mal wieder in die Falle getappt bin, ein vages All-Einheitsgefühl – wie im Zustand einsetzender Trunkenheit – für eine Verheißung mystischen Glücks zu halten.

Das Bild eines zeitlich oder außerzeitlich ursprünglichen Zustands glücklicher Identität von Subjekt und Objekt aber ist romantisch [„romantisch“ als Epoche]; zuzeiten [eben: zu Eichendorffs Zeiten] Projektion der Sehnsucht, heute nur noch Lüge. Ungeschiedenheit, ehe das Subjekt sich bildete, war der Schrecken des blinden Naturzusammenhangs, der Mythos; die großen Religionen hatten ihren Wahrheitsgehalt im Einspruch dagegen.

Übrigens ist Ungeschiedenheit nicht Einheit; diese erfordert, schon der Platonischen Dialektik zufolge [die Kunst der logischen Unterteilung siehe hier],Verschiedenes, dessen Einheit sie ist. Das neue Grauen, das der Trennung, verklärt [!] denen, die es erleben, das alte, das Chaos, und beides ist das Immergleiche. Vergessen wir über der Angst vor der gähnenden Sinnlosigkeit die einst nicht geringere vor den rachsüchtigen Göttern, welche der epikureische Materialismus und das christliche Fürchtet euch nichtvon den Menschen nehmen wollte. Anders nicht als durch das Subjekt ist das vollziebar. [An dieser Stelle wird Adornos Text durch Abbreviatur unnötig schwierig, enthält vielleicht sogar einen Druckfehler:] Würde es liquidiert, anstatt in einer höheren Gestalt aufgehoben, so bewirkte das [eine] Regression des Bewußtseins nicht bloß [allgemein als „Regression“] sondern eine [Reduktion] auf reale Barbarei. Schicksal, [das] die Naturverfallenheit der Mythen [kennzeichnet], stammt aus totaler gesellschaftlicher Unmündigkeit, einem Zeitalter, darin Selbstbesinnung noch nicht die Augen aufschlug, Subjekt noch nicht war [einem Zeitalter, in dem von „Subjekt“ noch niemand hätte reden können]. Anstatt jenes Zeitalter durch kollektive Praxis zur Wiederkehr zu beschwören, wäre der Bann des alten Ungeschiedenen zu tilgen. Seine Verlängerung ist das Identitätsbewußtsein des Geistes, der repressiv sein Anderes sich gleichmacht.

Es ist eine Adorno-Stelle, in deren Verlauf er unnötig feierlich, geradezu biblisch wird. An Gottfried Benn gemahnend. ( „Verlorenes Ich“ oder „Astern“ ). Ansonsten bedeuten die roten Eintragungen keine Beckmesserei, sondern eigene Verständnisbrücken.

Man kann den Gedankengang der 12 Abschnitte des Artikels „Zu Subjekt und Objekt“ rekapitulieren, indem man nach der Lektüre nur die jeweils ersten Zeilen als Markzeichen memoriert:

1 Mit Erwägungen über Subjekt und Objekt einzusetzen, bereitet die Schwierigkeit anzugeben, worüber eigentlich geredet werden soll.

2 Die Trennung von Subjekt und Objekt ist real und Schein.

3 In der Erkenntnistheorie wird unter Subjekt meist soviel wie Transzendentalsubjekt verstanden.

4 Durch die Einsicht in den Vorrang des Objekts wird nicht die alte intentio recta restauriert, das hörige Vertrauen auf die so seiende Außenwelt (…)

5 Vom Vorrang des Objektes ist legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr also denn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung.

6 Was unter dem Namen Phänomenalismus geht: daß von nichts gewußt werde, es sei den durchs erkennenden Subjekt hindurch, das verband sich seit der Kopernikanischen Wendung mit dem Kultus des Geistes. Beides wird von der Einsicht in den Vorrang des Objekts aus den Angeln gehoben.

7 Identitätsdenken, Deckbild der herrschenden Dichotomie, gebärdet sich im Zeitalter subjektiver Ohnmacht nicht länger als Verabsolutierung des Subjekts. (…) Es ist die gegenwärtig charakteristische Form verdinglichten Bewußtseins, falsch wegen seines latenten und desto verhängnisvolleren  Subjektivismus.

8 Auch nach der zweiten Reflexion der Kopernikanischen Wendung behält Kants anfechtbarstes Theorem, die Distinktion von tranzendentem Ding an sich und konstituiertem Gegenstand, einige Wahrheit.

9 Ebensowenig allerdings ›gibt‹ es eigentlich Subjekt. Dessen Hypostasis im Idealismus führt auf Ungereimtheiten.

10 Die Differenz von Subjekt und Objekt schneidet sowohl durch Subjekt wie durch Objekt hindurch. (…) An Subjekt läßt eigentlich alles dem Objekt sich zurechnen: was daran nicht Objekt ist, sprengt semantisch das »Ist«.

11 Objekt ist, wenngleich abgeschwächt, auch nicht ohne Subjekt. Fehlte Subjekt als Momentan an Objekt selber, so würde dessen Objektivität zum Nonsens.

12 Die Reflexion des Subjekts auf seinen eigenen Formalismus ist die auf Gesellschaft, mit der Paradoxie, daß, gemäß der Intention des späten Durkheim, die konstitutiven Formanten gesellschaftlich entsprungen sind.

*    *    *

Nochmal von vorn: was ist denn daran falsch, wenn ich – wie Descartes bzw. nach seinem Vorbild – anfange mit dem „Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“ ? Da habe ich doch – besonders in der deutschen Übersetzung – den Angelpunkt des Denkens oder sagen wir: der Weltbetrachtung: „ich“.

Leider hat sich aber inzwischen die Philosophie vollkommen auf dieses denkende Ich (das eigene Erkenntnisvermögen) konzentriert, und dabei ist es sehr fragwürdig geworden. Anders als in meiner Jugend hilft einem heute Wikipedia auf den rechten Denkweg. Zitat:

Mit der Reflexion auf das eigene Erkenntnisvermögen erfolgte in der Neuzeit ein Bedeutungswandel. Der Begriff des Subjekts wurde nun eingeschränkt auf das erkennende Ich. Es entstand die Vorstellung eines Dualismus von einer (geistigen) Innenwelt und einer (materiellen) Außenwelt. Seitdem versteht man in der Philosophie unter Subjekt den menschlichen Geist, die Seele, das seiner selbst gewisse und sich selbst bestimmende Ich-Bewusstsein. Daraus ergibt sich allerdings ein philosophisches Problem, denn die Welt erscheint einem Subjekt nicht mehr zwangsläufig so, „wie sie wirklich ist“, vielmehr wird nunmehr alles Wahrgenommene subjektiv, indem es vom Erkenntnisapparat des Subjekts zurechtgeschnitten wird (Subjekt-Objekt-Spaltung). Indem es sich auf die Dinge in der Welt richtet, ist das Subjekt Träger sogenannter intentionaler Akte. Die intentionalen Gegenstände der Erkenntnis werden dann im Denken repräsentiert und als Objekte bezeichnet.

Nachzulesen im Wikipedia-Artikel „Subjekt“: im Zitat habe ich die Links eliminiert, in der Hoffnung, dass wir zunächst einmal den Denkfluss nicht durch Einschübe und weiteres Nachlesen unterbrechen müssen. Man kann es natürlich in einem zweiten Durchgang nachholen oder erweitern: also hier.

*    *    *

Was macht Adorno etwas schwierig zu lesen? Ein Beispiel aus „Vernunft und Offenbarung“ (Stichworte Abschnitt 3 , Seite 12 f), wo er beginnt mit: „Das Opfer der Intellekts, das einmal, bei Pascal und Kiekegaard, vom fortgeschrittensten Bewußtsein (….ich kürze) gebracht war, ist mittlerweise sozialisiert, und wer es bringt (das Opfer, – heute zu bringen vorgibt), ist dabei unbeschwert von Furcht und Zittern : keiner hätte mehr mit Empörung darauf reagieren können als Kiekegaard selbst.

JR „Furcht und Zittern“ ist natürlich eine Anspielung auf ein Werk dieses Titels von Kierkegaard, die Worte sind also eine nur für Kenner wahrnehmbare Anspielung. Nachzuvollziehen heute z.B. hier. Oder hier: „Kierkegaard bekräftigt in dieser Schrift, dass der Mensch, indem er aus der ethischen Sphäre heraus- und in die religiöse Sphäre eintritt, als der Einzelne höher steht als das Allgemeine, also das Ethische, und nur noch Gott Gehorsam schuldet. Ausdrücklich wird daher Abrahams Absicht gutgeheißen, Isaak auf Gottes Befehl hin zu opfern, auch wenn sich Abraham damit über die Ethik hinwegsetzt. Gleichzeitig wird ausgeführt, dass kraft des Glaubens alles möglich ist.“

Bei Adorno geht es weiter, an die Formulierung „ist mittlerweile sozialisiert“ anknüpfend, mit den Worten „Anpassung in der verwalteten Welt“:

Zitat (Adorno a.a.O.)

Weil zuviel Denken, unbeirrbare Autonomie (Akk.:) die Anpassung in der verwalteten Welt erschwert und Leiden bereitet, projizieren Ungezählte dies ihr gesellschaftlich diktiertes Leiden auf die Vernunft als solche.

Sie soll es sein, die Leiden und Unheil über die Welt gebracht hat. Die Dialektik der Aufklärung, die in der Tat den Preis des Fortschritts, all das Verderben mitbenennen muß, das Rationalität als fortschreitende Naturbeherrschung bereitet, wird gewissermaßen zu früh abgebrochen (…).

JR: Vorausgesetzt natürlich, man kennt das Buch „Dialektik der Aufklärung“, siehe zumindest hier. [Lesepause]

1971

[und Fortsetzung des zuletzt zitierten Satzes:]

… zu früh abgebrochen, nach dem Modell eines Zustands, dessen blinde Geschlossenheit den Ausweg zu versperren scheint.

Krampfhaft, willentlich wird verkannt, daß das Zuviel an Rationalität,

über das zumal die Bildungsschicht klagt und das sie in Begriffen wie Mechanisierung, Atomisierung, gern auch Vermassung registriert,

ein Zuwenig an Rationalität ist,

die Steigerung nämlich aller kalkulierbaren Herrschaftsapparaturen und-mittel auf Kosten des Zwecks,

der vernünftigen Einrichtung der Menschheit, die der Unvernunft bloßer Machtkonstellationen überlassen bleibt,

und zu der das Bewußtsein,

getrübt von unablässiger Rücksicht auf bestehende positive Verhältnisse und Gegebenheiten,

sich überhaupt nicht mehr zu erheben getraut.

Wohl ist einer ratio, als stures Herrschaftsmittel, frevelhaft verabsolutiert, Selbstbesinnung geboten,

und davon drückte das religiöse Bedürfnis heute einiges aus.

Aber diese Selbstbesinnung kann nicht bei der bloßen Negation des Gedankens durch sich selbst, bei einer Art von mystischem Opfer stehenbleiben [Anspielung auf Abraham/Isaak], nicht durch einen »Sprung« sich vollziehen:

der ähnelte nur allzusehr der Katastrophenpolitik.

Sondern Vernunft muß versuchen, die Rationalität selber,

anstatt als Absolutes sie

sei es zu setzen, sei es zu verneinen,

als ein Moment innerhalb des Ganzen zu bestimmen, das freilich diesem gegenüber auch sich verselbständigt hat.

 Sie muß ihres eigenen naturhaften Wesens innewerden.

Dies Motiv ist den großen Religionen nicht fremd: gerade es [dies Motiv] bedarf heute der ›Säkularisierung‹,

soll es nicht, isoliert und überhöht, zur Verfinsterung der Welt helfen, die es bannen möchte.

(Fortsetzung folgt)

Als ich am 12.08.23 die neueste Adorno-Lektüre begann (8:13) und als sie endete (12:08)

 

Klinikum Solingen Ausblick 8. Stock

Zeit Raum

Ergänzung zu Parsifal hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Satz_vom_zureichenden_Grund hier

Schopenhauer: hier

Allgemein genommen besagt der Satz vom zureichenden Grunde, daß nichts ohne Grund ist, warum es sei oder auch, daß immer und überall Jegliches nur vermöge eines Andern ist… Mit einer treffenden Metapher gibt Schopenhauer dem Satz vom Grunde eine vierfache Wurzel.

(1) Dem Satz vom zureichenden Grunde des  Seins , d. h. von der Aufeinanderfolge der Zeit oder dem Nebeneinandersein im Raum folgt das

(2) Kausalitätsgesetz oder der Satz vom Grunde des  Werdens , d. h. von den Veränderungen, die in der Zeit eintreten und einander bestimmen, weiter, als drittes,

(3) das Motivations-Gesetz, das Gesetz vom zureichenden Grunde des Handelns , der die ganze Reihe der überlegten Handlungen erklärt, d. h. der Handlungen, die mit klarem Bewußtsein eines verfolgten Zieles und der zu seiner Erreichung gebrauchten Mittel ausgeführt werden, und schließlich, als viertes,

(4) das Prinzip der  Erkenntnis, das die vorangegangenen voraussetzt und umfaßt. *

RELIGION bei Wagner HIER

„Fragt ihr, was die Erkenntnis des Verfalles der Menschheit nützen soll, so fragt die wahrhaft großen Dichter aller Zeiten; fragt die Gründer wahrhafter Religionen“, schreibt Wagner und verweist auf Goethe und Schopenhauer. Er stellt dann erneut die Frage nach der „Regeneration“ eines der „Kriegs-Zivilisation“ verfallenen Menschengeschlechtes und wirbt vehement für die Ideen Schopenhauers, der Wege zur Umkehr des fehlgeleiteten Willens aufgezeigt hätte. Der richtige Weg sei zu finden, wenn man erkenne, dass die ganze Zivilisation aus Mangel an Liebe zugrunde geht und diese Lieblosigkeit der Welt als ihr eigentliches Leiden verständlich gemacht werden müsse. Verstehen aber hieße: Mitleiden, um dadurch das Leiden des Anderen mindern zu können. Dieses Verständnis könne die Musik fördern, in dem sie Gefühle und das Gemüt ansprechen könne.“

Plinius (Pompeji, Vesuvausbruch)

Non scholae sed vitae discimus? Na gut, es ist nie zu spät…

In der Nähe des Klaviers liegen ausgemusterte Lehrbücher. Doch die Farbe blau … nicht grau.

inliegend der Kommentar, davon nur 1 Seite, betrifft die Textseiten 15-17.  Immerhin erfährt man, dass Plinius häufig an Sodbrennen litt… (Anm.19)

Der zufällige Blick in ein altes Latein-Schulbuch erweckt widerstreitende Gefühle. Was hinderte mich eigentlich damals, den Stoff spannend zu finden? Mir fehlten die angrenzenden Wissensgebiete. Oder sie waren ohne lebendigen Anreiz. Die Plinius-Briefe hätten mich interessieren müssen, schon weil es „Briefe“ waren, die sich auf wirklich Erlebtes bezogen. Aus freien Stücken hätte ich heute hinter den Namen  in der Überschrift nicht einmal die Stichworte Pompeji und Vesuv schreiben können. Vor oder nach Christus? Plinius der Ältere oder der Jüngere? Sind sie nicht Vater und Sohn? Avunculus? Später änderte sich alles, – als alles spezifisch Lateinische schon längst vergessen war, 1970 Pompeji in Essen und auf Konzertreise in Süditalien hier. Daran erinnere ich mich, wenn ich heute als erstes bei Wikipedia nachschaue.

„Vom Vulcanusfest an [jährliches Fest des Gottes Vulcan am 22. August] begann er bei künstlicher Beleuchtung zu arbeiten, […] und zwar lange vor Tag; im Winter aber begann er um ein oder spätestens um zwei Uhr, oft schon um Mitternacht – freilich konnte er jederzeit sehr gut schlafen, manchmal auch mitten in der Arbeit, um dann sofort wieder weiterzufahren. Vor Tagesgrauen ging er zu Kaiser Vespasian, denn auch jener benützte die Nacht zur Arbeit, dann zu dem ihm aufgetragenen Geschäft. Nach Hause zurückgekehrt, widmete er den Rest der Zeit seinen Studien.“

„Daher pflege ich zu lachen, wenn mich gewisse Leute einen fleißigen Gelehrten nennen, der ich im Vergleich zu ihm der größte Faulpelz [desidiosissimus] bin – doch etwa nur ich, den teils öffentliche Verpflichtungen, teils solche meinen Freunden gegenüber zersplittern? Wer von denen, die ihr ganzes Leben der Wissenschaft widmen, müßte nicht neben ihm gleichsam als Träumer und Nichtstuer erröten?“[

HIER Wikipedia zu Plinius dem Jüngeren, der die Katastrophe üb/erlebte. In unserm Latein-Text gab es sogar die deutsche Zwischen-Überschrift Der Vesuvausbruch des Jahres 79 mit dem Zusatz (VI 20); das muss doch die jungen Leute von heute (wie damals auch?) fesseln. Scrollen Sie bitte unten zum Buch-Text und weiter zum Link der Übersetzungen, klicken Sie dort in der Liste auf Buch 6.20 und lesen Sie:

„Du sagst, der Brief, den ich Dir auf Deinen Wunsch über den Tod meines Onkels schrieb, habe Dich begierig gemacht, zu erfahren, was ich, der ich in Misenum zurückgeblieben war – an dieser Stelle hatte ich abgebrochen – , erlebt hätte, nicht nur an Ängsten, sondern auch an Geschehnissen. Obwohl ich schaudere, daran zu denken, will ich beginnen. Nach der Abfahrt meines Onkels verwandte ich den Rest des Tages auf meine Arbeit – deswegen war ich ja zurückgeblieben – ; dann Bad, Essen, unruhiger, kurzer Schlaf. Vorhergegangen waren während vieler Tage Erdstöße, kaum furchterregend, weil in Campanien gewöhnlich; in jener Nacht aber nahm das Beben so zu, daß man glaubte, es gerate nicht nur alles in Bewegung, sondern gründlich durcheinander. Meine Mutter stürzte in mein Schlafgemach; ich wollte gerade aufstehen, um sie zu wecken, falls sie schliefe.“

Die lateinischen Texte und deren Übersetzungen, Satz für Satz, findet man HIER

Wäre es damit nicht verführerisch leicht, im lateinischen Satzbau wieder Fuß zu fassen? … tibi de morte avunculi mei scripsi… .[der ich] Dir vom Tode meines Onkels geschrieben habe …  Zumal nach schlechten Erfahrungen in der Schule. Grundkenntnisse vorausgesetzt. Selbst das abweisende Druckbild entfernter Jahrzehnte rückt durch Vergrößerung psychologisch näher.

Und was nun? Mehr Grundlagen? Aber welche und wie? Ich aktiviere mir ein hervorragendes Buch (WBG):

Der Test-Text ist hier allerdings unvollständig wiedergegeben. Man kann ihn auch nicht isoliert vom Lehrbuch gebrauchen, aber er erhöht die Motivation erheblich („non scholae discimus“). Das Lehrbuch im Ganzen setzt wiederum voraus, dass man 6 -7 umfangreiche Nachschlagewerke greifbar hat, Wörterbücher, Grammatiken, Lateinische Phraseologien usw. (daher im obigen Text auch die Literaturhinweise in Gestalt von Großbuchstaben). Trotzdem: Ich nutze es ohne weitere Hilfen, weil es unzählige Anregungen bietet durch Mustersätze, kommentierte Übersetzungen und Bemerkungen zur „Andersartigkeit römischen Denkens“.

Quelle Gregor Maurach: Lateinische Stilübungen / Ein Lehrbuch zum Selbstunterricht / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1997 ISBN 3-534-13692-6

Und was ist eine Plinianische Eruption? Am besten hier in Wikipedia selbst nachlesen!

Neue Meldung 12.08.2023

https://www.merkur.de/wissen/super-vulkan-italien-fachleute-warnen-studie-neapel-supervulkan-campi-flegrei-92334142.html hier

Neuer Film ZDF 3.4.23

HIER

Wegtauchen aus bürgerlicher Enge

Traumwelt der Kindheit, heutige ZEIT-Lektüre

Ich weiß, was man gegen ZEIT-Leser:innen und ZEIT-Autor:inn:en sagen kann und fühle mich nur halb getroffen. Alles in sich Antagonistische scheint mir per se richtig, z.B. die Doppelseite über Martin Walser (von Iris Radisch, Adam Soboczynski und Edgar Selge), also: wo es gerade intrinsisch nachvollzogen wird. So sehe ich die Kunst seit meiner Kindheit und zwar mal mit Unbehagen, mal mit Glücksgefühlen. Durch Distanz und durch Immersion. Verstehe ich dies Wort richtig? Eintauchen, Untertauchen, Aufgehen in … Es ist mir im Zusammenhang mit „Parsifal“ aufgefallen, – was meint Christine Lemke-Matwey damit? Es muss „in“ sein, wenn es so auffällig nebenbei eingesetzt wird. Gestern – eine ZEIT später – fand ich es wieder, bei Hanno Rauterberg und seinem hochmodernen Blick auf Wagners König Ludwig, der irgendwie auch in meine Kindheit gehört: ich lernte mit den Jahren, über seine Schlösser ironisch zu lächeln, während die amerikanische Seifenschaum-Disney-Kultur mich von vornherein abstieß. Eine wohlige Distanzierung von der schrecklich heilen Welt, die als Traum gekennzeichnet war. Wieder eine Ausklammerung. Es muss was Gigantisches sein, aber immer mit kuscheligen Ecken. Hat es mit Wiedergewinnung der (Klein-)Bürgerlichkeit nach den großen Kriegen zu tun? Und meinerseits: eine „Abrechnung“ mit der Generation der Väter. Oder soll ich es Wiederverzauberung nennen?

Neuschwanstein /Wikipedia © Thomas Wolf, www.foto-tw.de (CC BY-SA 3.0 DE)

Weltkulturerbe?

DIE ZEIT Ganz oben

Grimms Märchen 1945 Care aus USA 1947

Die aus engstem Kreis erweiterte Familie

1951 Im Hintergrund der Flügel, an der Wand Wagner. Weiße Bluse Tante Ruth, hinter ihr stehend: Schuldirektor Paul Müller, rechts: Hans Bernhard Reichow, vorne links mein erster Geigenlehrer Gerhard Meyer / 10 Jahre später: Hochzeit Bruder Bernd 1961, der Vater im Mittelpunkt fehlt, links neben mir eine Untermieterin, andere Seite: die Frau meines zweiten Geigenlehrers Hans Raderschatt. Die Eltern meiner Mutter, im Hintergrund der Flügel des toten Schwiegersohnes, der ihnen 1937 den schlimmen Brief geschrieben hatte – und damit bis in die übernächste Generation recht behalten hat.

Die Repräsentanten des alten Lebens (50er Jahre) „da draußen“, auch das Schulkollegium  Ratsgymnasium Bielefeld, mein Klassenlehrer (Nietzsche-Kenner) Lübbert, letzte Reihe oben, der 3. von rechts, und mein Vater: der 5. in der 1. Reihe von links:

Männergesellschaft / mein Vater in Aktion:

Statt als Kapellmeister wirkt er in der Schule und außerhalb, – im „Bielefelder Kammertrio“ – mit Gerhard Meyer und Rainer Ponten: hier – etwas deplaziert mit Arensky-Musik bei Sinalco (!) in Detmold. Lebenslang kann ich das Hauptthema singen.

←Anfang und Ende→ der 50er Jahre:

Artur Reichow (1901-1959)

In der aktuellen ZEIT las ich jedes Wort über Walsers Tod (26.07.23), zu Lebenszeiten (nach der Frankfurter Rede) wenig von ihm.  Obwohl ich mindestens 6 seiner Bücher besitze. Heute Morgen – erstes Kapitel aus „Ein liebender Mann“. Wirklich gelesen. Nie habe ich diese Seite mit den Notenlinien gesehen, die das gurrende Taubenpaar betrifft. Hat Goethe sie wirklich aufgezeichnet? Aber danach: Goethes wirkliche letzte Elegie…

Martin Walser: Ein liebender Mann / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 2008 (S.173) Umschlaggestaltung: Alissa Walser

Zum Thema Taubenruf (Hornbostel) siehe hier.

ZEIT-ZITATE

Die kleinbürgerliche Herkunft Walsers ist in der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur keine Besonderheit (in Frankreich ist so was bis heute eine Sensation), auch die Herren Böll, Enzensberger und Grass waren ja Schreiner-, Postbeamten- und Lebensmittelhändlerkinder. Doch gelang Walser mit seiner magischen Mixtur aus kleinbürgerlichem Strebertum, Tief- und Eigensinn plus höherem Klamauk eine literarische Tiefenbohrung kleindeutscher Gefühlslagen, die auch in dieser Liga absolut einmalig waren.

↑ Iris Radisch

Ich mochte Ein liebender Mann , aber ich verehre den Roman nicht. Ich verehre die frühen Romane, vor allem Ehen in Philippsburg, den so präzisen, kühlen Roman über den hässlichen Ehrgeiz der Nachkriegsgesellschaft. Ein liebender Mann ist warmherzig und poetisch, über weite Strecken mehr Gedicht als Roman, aber er grenzt, wie fast alle seiner Alterswerke, auch ans Kokette, ans peinlich Offenherzige. Goethe als Walser, Walser als Goethe, ein Mensch kraftvoll mit sich im Reinen…

↑ Adam Soboczynski

Und das ist deshalb etwas Besonderes, weil Erfahrungen, wie Martin Walser sie beschrieb, einen wesentlichen Widerspruch offenbarten: Sie waren einzigartig, durch und durch subjektiv, an sein persönliches Erleben gebunden und doch teilbar, also nachvollziehbar, und in der Art, wie sie Sprache wurden, im Augenblick der Formulierung so real und verbindend, dass sie für unzählige Menschen, die ihm begegneten, zu Bausteinen ihrer Welt wurden.

↑ Edgar Selge

Noch einmal zurück zur „Männergesellschaft“ des Ratsgymnasiums Bielefeld: Sie sehen, dass ich alle Anlässe wahrnehmen, um individuelle, halb private, halb übergreifende Netze zu spinnen.

Über viele von den abgebildeten Lehrpersonen könnte ich Geschichten erzählen: Kuhlmann – falsch und böse;  Oberwahrenbrock – versuchte auf Langeoog angebliche Homosexualität unter Schülern zu ahnden, Röttger – ihm verdanke ich eine schallende Ohrfeige für eine Lappalie; Fränzchen Wiese – listig, aber Alkoholiker; vorn in der Mitte Winkler – Homer-Kenner, geheimnisvoller Mensch, leise, gerecht und weise; vorn links – wie gesagt mein Vater, vorne rechts (mit Fliege) Hellmuth Dempe, Philosoph. Von den beiden Letztgenannten hat meine Mutter einen Streit überliefert, irgendeine (politische?) Prestigesache, Rechthaberei, beim zufälligen Aufeineinandertreffen im Freudental an der Bielefelder „Promenade“, also gemeinsam Kaffeetrinkend bis zum erregten Abbruch… Von diesem Philosophen Dempe ist ein Buch herausgekommen, eingeleitet von Frieder Lötzsch , der damals übrigens Klavierschüler meines Vaters war: hier. Ich besitze es (noch!) nicht. Was ich gern wüsste: Ob er „im einfachen Leben“ meinem Vater überlegen war, der einige Wochen später starb? Ob er Überlegenheit auskostete? Musste das sein?

(Nachtrag am 8.9.2023)

Ich bin heute ausgegangen von der Lektüre der ZEIT vom 3. August 2023, Thema u.a. der Tod von Martin Walser, von dem ich seit Jahrzehnten nichts mehr gelesen habe, – außer „Ein fliehendes Pferd“ -, vielleicht aufgrund seiner skandalösen Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Iris Radisch geht darauf ein. Ich würde darüber nicht mehr diskutieren wollen, stattdessen lieber „Ein liebender Mann“ lesen.

Natürlich interessiert mich das lange Statement der ZEIT auf Seite 1 zur Einschätzung der AfD:

Die AfD ist eine Protestpartei. Sie wird von vielen Menschen nicht aus innerster Überzeugung gewählt, sondern aus Unzufriedenheit mit der etablierten Politik. Aber man sollte sich als Wähler schon darüber im Klaren sein, mit welchem politischen Feuer man da spielt. Sonst brennt es irgendwann. Noch legt die AfD vor allem in den Umfragen zu. Wenn ihr das bei Wahlen gelingen sollte, ist es zu spät.

Quelle ZEIT 3.8.23 Keine Alternative Die AfD radikalisiert sich zunehmend und wird damit zur Gefahr für den Standort Deutschland / Von Mark Schieritz

Und was mich ebenso interessiert, ist der andere Leitartikel. Angesichts der katastrophalen Haltung der Katholischen Kirche in Sachen Pädophilie vergisst man fast die Frage: sieht es etwa bei der evangelischen Kirche besser aus?

Quelle ZEIT 3.8.23 Sie ist nicht heiliger Erstmals lässt die evangelische Kirche Pädophilie in iher jüngsten Geschichte untersuchen. Warum so spät? / Von Evelyn Finger

Es sind doch gerade die Jahrzehnte, in denen eine neue Aufklärung stattfinden sollte; was in den 50er Jahren nicht gelungen war, sollte nun auf eine neue Grundlage gestellt werden. Und es waren nicht nur die 68er, die daran arbeiteten, es waren die Antiautoritären, die Kinseys, die Sexologen, Arno Plack mit dem Bestseller: „Die Gesellschaft und das Böse“, 1970 eine ganze rororo-Reihe, herausgegeben vom Institut für Sexualforschung an der Universität Hamburg, da erschienen „reihenweise“ Aufklärungsbücher wie „Repressive Familienpolitik“, „Sexualunterdrückung“ oder „Sexualerziehung“, dies letzte aus der Feder von Helmut Kentler !!! Siehe den hier gegebenen Wikipedia-Link, an den sich offenbar der Wortlaut dieses Leitartikels anlehnt, es taucht  auch die ZEIT mit Adam Soboczynski auf :

DIE ZEIT 3.8.23

*    *    *

Was fehlt? Es genügt nicht, auf die alten Schlösser (Neuschwanstein, Versailles, Bayreuth etc.) zurückzuschauen und zu sagen: gut für den Tourismus, gut für die Wirtschaft. Und: es ist ja doch Kultur, die wir brauchen: die großen Träume!  Wir wollen ja keineswegs die Weltzustände von damals zurück. Zur Ergänzung des AfD-Artikels gehört z.B. die Analyse im „langweiligen“ Teil der ZEIT: über das Momentum in der Politik, – die AfD ignoriert die Klimawende, auf die allerdings die Politik tatsächlich „ungeschickt“ reagiert hat. Das zu beschreiben und zu verstehen, braucht Zeit und Geduld. Verweis auf die Energiepolitik der Dänen und Schweden. Einfacher ist bloßer Protest. „Kaum etwas verunsichert die Menschen im Land mehr; man muss sich da gar nichts zurechtbiegen, um die Umfrageerfolge der AfD zu verstehen. Wollen wir nicht auch in dieses gelobte Energieland, das sich gleich hinter der Grenze im Norden erleben lässt? (…) Selten wurde für so viel politischen Einsatz und so viel gesellschaftlichen Schaden so wenig Konkretes erreicht.“

Quelle DIE ZEIT 3.8.23 Seite 25 Aus dem Takt gekommen Die Bundesregierung verschwendet ungeheuer viel politische Energie im Ringen um die Klimawende – Zeit für ein neues Zusammenspielt / Von Uwe Jean Heuser

Was hat mein Vater damit zu tun? Seine Zeit muss überwunden sein. Endgültig hinter uns liegen. Die Träume auch. Allenfalls brauchbar als eine gedankliche Übung.

Eilige Bayreuth Notizen 2023

Parsifal Mediathek bis 23.08.2023 / auf BR bis 31.Dezember 2023

im Wohnzimmer: Doppelt verminderte Realität

Ich denke zurück an die Realität des Filmes über die Amzari-Sängerin

… an die ZEIT-Lektüre:

Auch Wagner hätte, angesichts des ungeheuerlichen Potentials von AR, VR (Virtual Reality) und KI (künstlicher Intelligenz), wohl keinen Parsifal geschrieben, der fünf Stunden lang um die Leerstelle des Weiblichen kreist und in dem Frauen nur als verdammte Verführerinnen oder notdürftig geläuterte Kräuterhexen vorkommen; kein Musikdrama, in dem es so pseudoliturgisch-kunstreligiös-buddhistisch-hinduistisch-alchemistisch wallt und wabert, dass man kaum den Plot mitkriegt: die Geschichte des Schwanentöters und Erlösers Parsifal, der durch Kundrys Kuss »welthellsichtig« wird und erkennt, dass es Amfortas, dem Gralskönig, und seinen siechen Rittern weniger an Energie gebricht oder an esoterischen Kraftquellen als an Menschlichkeit und Mitleid.

Christine Lemke-Matwey

Im Wohnzimmer (unter des Miniatur-Beethovens Aufsicht):

Am Schreibtisch mit Computer: Musik im Höreindruck viel besser („Reduced Reality“)

Wie wär’s mit Parsifal im Handy? Etwa als Bußübung.

Hier Mediathek Gesamtaufführung bis 23.08.23

BR Hier bis 31.12.23

Weiteres zur Aufführung hier zu Augmented Reality hier

Inhaltsangabe lesen: Inakzeptables von vornherein – „im Kampf gegen den abtrünnigen Ritter Klingsor, der trotz seines Verlangens nach Heiligkeit nicht fähig war, ein reines Leben zu führen und sich deshalb selbst entmannte und eine Zauberburg geschaffen hat, den heiligen Speer verloren, als er sich von der dämonischen Kundry verführen ließ.“

Zwischen den Akten 1. Pausengespräch mit Jay Scheib 2. mit Sängerin der Kundry Elina Garanca

Gralsritter: „Gemeinschaft der Kobaltminenarbeiter“ siehe Anfang 1.Pausengespräch  mit Jay Scheib

Kobaltbergbau

Stichwort: „Coltan“ Jean Ziegler

Milo Rau Ausbeutung hier

Zu Wagners Vorstellungen über „Kunstreligion“ im Zusammenhang mit „Parsifal“ siehe HIER

ZEIT-Lektüre:

Die eigentliche Hypothek der Aufführung aber liegt, man staune, in der erschwerten Zugänglichkeit der Musik. Die Sinne sind an diesem Abend schlicht überfordert. Und so schiebt sich das Auge vors Ohr. Das mag eine Frage der Übung und der Erfahrung sein. Aber geht so Immersion? Entspricht das Wagner?

Christine Lemke-Matwey

Quelle DIE ZEIT 27. Juli 2023 Seite 39: PARSIFAL / Mit Brille sieht man doppelt: In Bayreuth wird Richard Wagners letztes Werk jetzt digital erweitert – Revolution oder Budenzauber? Von Christine Lemke-Matwey

Den Wagnerverächtern ins Stammbuch – die gewaltigste Stelle des Werkes (s.o.): Mediathek ab 1:04:39 / BR ab 01:00:22

der meistzitierte Satz: „Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“.

Der größere Text-Zusammenhang und die Motiv-Tafel:

Quelle: Richard Wagners MUSIKDRAMEN Sämtliche komponierten Bühnendichtungen / durchgesehen, mit den ursprünglichen Fassungen verglichen, mit Einleitungen sowie den hauptsächlichsten Motiven und Notenbeispielen versehen, nebst einem Vorwort, einem Anhang und einer Zeittafel aus Wagners Leben herausgegeben von Edmund E.F. Kühn / Globus Verlag G.m.b.H., Berlin W 66 / 1914 / JR Berlin 7.7.1960

Man muss zum Verständnis eigentlich keine Esoterik bemühen, auch nicht in kühnem Vorgriff auf Einstein dessen Relativitätstheorie beschwören, sondern vielleicht dasselbe tun wie Wagner, der sich an die Philosophie hielt, schon seit 1854, als er auf dem Weg zum „Tristan“ Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ viermal hintereinander las. Wir lesen den hier wiedergegebenen Dramentext, auch das Kleingedruckte: wie die beiden Protagonisten zu schreiten scheinen (!), „verwandelt sich die Bühne von links nach rechts hin in unmerklicher Weise: es verschwindet der Wald; in Felsenwänden öffnet sich ein Tor, welches nun die beiden einschließt; dann wieder werden sie in aufsteigenden Gängen sichtbar, welche sie zu durchschreiten scheinen“ (!). Verwandlung auch in der Musik, Chromatik („Heilandsklage“), Modulation, Diatonik, das feierliche Schreiten, das Glockenläuten, schließlich folgt der Ritus, den man in der katholischen Kirche Wandlung nennt. Und wir suchen Ähnliches in dem faszinierenden Text, der uns die Grundbedingungen unseres Bewusstseins und unserer Begriffsbildung zu erschließen scheint (!):

Quelle Arthur Schopenhauer: Werke in zwei Bänden Bandt 1 Herausgegeben von Werner Brede

Es kann nicht schaden, damit noch lange fortzufahren. Dann Musik mit verwandelten Ohren zu hören. Oder zu warten, bis man den zerschmetterten Kobaltblock zu Parsifals Füßen erlebt hat, den grünen Tümpel, den sie durchwaten, und Wagners Ideen von Erlösung beiseitezuwischen. Bayreuther Publikum strömt heraus. Die trostlose Erde hat uns wieder!