Dieterich Buxtehude und die Orgel
Dies soll er sein, ob er mir gefällt oder nicht: Dieterich Buxtehude (um 1637 bis 1707), der – neben der Orgel und anderen Tasteninstrumenten – auch die Gambe spielte. Während das rosafarbene Gewand zu Johann Adam Reincken (1643-1722) gehört, der am Cembalo sitzt. Das Gemälde von Johannes Voorhout entstand 1674. Die beiden Musiker waren also in ihren 30er Jahren, das ganze Bild ist – wie Harald Vogel schreibt – „ein Dokument für den luxuriösen Lebensstil der beiden persönlichen Freunde“.
Die Aufnahmen der Firma Dabringhaus & Grimm mit Harald Vogel stammen aus den Jahren 1984 – 1993, Erscheinungstermin der neuen Box 20.9.2019. Eine Übersicht aller eingespielten Titel mit Anspielmöglichkeit findet man bei jpc hier. Textauszug:
Auf der nun erstmals dieser Gesamtausgabe beiliegenden DVD führt Harald Vogel im Rahmen einer »musikalischen Entdeckungsreise« persönlich in die historische Technik der berühmten Schnitger-Orgel in Cappel ein und spielt Orgelmusik Dietrich Buxtehudes. Das 32-seitige, durchgehend vierfarbig gedruckte Booklet beinhaltet Fotos und Detailangaben zu Dispositionen und Registrierungen aller 17 Orgeln, die bei der Einspielung zum Einsatz gekommen sind. Auch auf der beiliegenden DVD werden sämtliche Register der Cappeler Schnitger-Orgel separat vorgeführt.
Cappel (Screenshot DVD)
15 Werke an zwei Orgeln, die erste der 7 Silberscheiben, die man in der Box vorfindet, dazu das Booklet zu den einzelnen Werken und ein Extra-Heft, das die Disposition aller vorgeführten historischen Orgeln auflistet, für Experten eine spannende Lektüre. Aber was mich am meisten elektrisierte, war der letzte Hinweis auf der Rückseite der Box, gleich oben unter dem Portrait, nach CD 7, denn da steht „DVD-Video“: in der Tat ein Film mit Interpretationen und Erläuterungen von Harald Vogel, eine bessere Einführung in seine Orgelwelt kann ich mir nicht vorstellen. Ich möchte den Spieltisch sehen, die Manuale, die Register, die man zieht, die Füße, die über die Pedale huschen. Klangfarben und Mischungen und die schönen Namen, die es dafür gibt. Und bei allem denke ich natürlich auch an Bach und einige gewaltige Werke, die ich von ihm in Erinnerung habe, die 6 Bände der Orgelwerke, die ich mir im Laufe der Jahre zugelegt habe; einige habe ich analysiert, als ich Jacobus Kloppers (1966) las, abgesucht nach den Regeln der Rhetorik. Jetzt aber geht es um die Vorbilder, deren Gestik ich wiederzuerkennen hoffe, als Basis hatte ich nur einen Band Buxtehude, etwas Pachelbel und Böhm. Aber man müsste auch Zugang zu einer Orgel haben. Oder wenigstens dieses Video, das die weitgehende Identifikation erlaubt.
Diese Orgelsammlung ist also auch ein Weg zu Bach, und dass der junge Bach den Weg nach Norden gewählt hat, um bei den größten Orgelmeistern seiner Zeit zu lernen, kann man gar nicht hoch genug veranschlagen. Volker Hagedorn hat das eindrucksvoll nachgezeichnet in seinem Buch über die Familiengeschichte der Bachs:
Eine neue Welt geht dem zwölf-, dreizehnjährigen Sebastian auf, als er eine Choralfantasie von Dietrich Buxtehude hört, die sein Bruder in einer Abschrift besitzt, als vielleicht Erster und Einziger in Thüringen. Die überschaubaren 19 Register der Michaelisorgel reichen dieser Musik nur bis zur Schulter, aber immerhin wird inzwischen das Rückpositiv fertig geworden sein, ohne das es dabei nicht geht und das Christoph schon bei seinem Amtsantritt acht Jahre zuvor dringlich eingeklagt hatte. Buxtehude hat diese Fantasie vermutlich 1668 komponiert, mit 30 Jahren, um sich auf das Organistenamt an der Lübecker Marienkirche zu empfehlen. Seine Fantasie über den Choral „Nun freut euch, lieben Christen gmein“, 258 Takte lang, ist ein Werk für geräumige Kirchen und Gehirne, für einen Gottesdienst in Ohrdruf völlig ungeeignet. Sie beginnt wie eine improvisierende Fingerübung, die sogleich zur Imitation führt und über den Choral schon fantasiert, ehe er, im dreizehnten Takt, erstmals in halben Noten explizit erklingt, freilich nur für vier Takte, eine Choralzeile, zu der sogleich ein neues Thema eingeführt wird, eine Achtelrepetition. Mitunter wird ein Zeile zerlegt und „in solchem Ausmaß wiederholt, dass jede Erinnerung an ihre einstige Verbindung mit dem Text völlig verlorengeht“, schreibt Kerala J. Snyder, die zugleich darauf hinweist, dass alle melodischen Erfindungen Buxtehudes einen Bezug zum Text haben.
Es ist ein solcher Text, der den Funkenflug in unbescholtenen Bach-Verehrern auslöst, die sagen: wenn es den jungen Bach so beeindruckt hat, muss ich es auch kennen, und zwar genau in dem Klanggewand, nach dem dieses Werk verlangt: ein Werk für geräumige Kirchen und Gehirne , so ein Satz sitzt! Und endlich werde ich fündig: CD 7, Track 2, Werkverzeichnis BuxWV 210, es dauert eine gute Viertelstunde.
In verschiedenen Stilen und Stimmen und zehn Abschnitten führt der Komponist vor, was in Martin Luthers Lied steckt und in der noch älteren weltlichen Melodie, die der Reformator benutzt, zu der er die Geschichte von Kreuzigung und Erlösung erzählt, von der „süßen Wunderthat“, über die sich die Christen freuen mögen. Monodie und Kontrapunktik, Echo und Tanzrhythmen gibt es da, geschmeidige Spiele mit schmerzvoller Chromatik. Die Musik mag Sebastian selbst wie eine Wundertat erscheinen, er ist entschlossen, sie selbst zu spielen. Er schreibt sie ab und wird die Blätter mitnehmen, wenn er Ohrdruf verlässt. Es ist auch der Komponist dieses Werkes, Buxtehude, der ihn nach Norddeutschland zieht, den er selbst in Lübeck aufsuchen und behorchen wird, was ihm so wichtig ist, dass er für diese Reise sogar eine Kantorenstelle aufs Spiel setzt. Er wird die Blätter noch haben, als er seine dritte Stelle in Weimar antritt. Dort lässt er sie oder muss sie dort lassen, als er nach eine Inhaftierung wegen „Halsstarrigkeit“ unehrenhaft entlassen wird. Dann verschwinden sie für fast dreihundert Jahre, und Sebastian wird für lange Zeit der letzte sein, der weiß, auf welcher Höhe er sich mit dreizehn Jahren bewegt hat.
Quelle Volker Hagedorn: Bachs Welt / Die Familiengeschichte eines Genies / Rowohlt Reinbeck bei Hamburg 2016 (Seite 281 ff)
Siehe dazu auch den Eintrag im Blog hier. Wichtige Themen kehren unweigerlich wieder. Das eben beschriebene Choralvorspiel studiere ich lieber mit Noten. Bei einer Erstbegegnung mit Buxtehude würde ich ein Präludium mit zugehörigen Fugen empfehlen, das auf CD 4 zu finden ist, g-moll („ex g“ ); es ist auch auf Youtube zu finden, hier sind dazu Harald Vogels Bemerkungen aus dem Booklet:
Das mesopotamische Relief bringt uns keine analytische Unterstützung, aber eine weitere Verrätselung des Kunstwerkes wird uns auch nicht aus der Bahn werfen. Hier ein paar Hinweise zur Form: (folgt)
Nach der oben wiedergegebenen Bemerkung zum Plenumklang möchte ich – in Erinnerung an die Klopperslektüre, die mir damals zugunsten eines durchgehenden Plenumklangs bei Bach zu argumentieren schien (anstelle einer farblich abgestuften Registrierung) – festhalten, was Harald Vogel an anderer Stelle dazu ausführt:
Eigentlich eine Sensation: in der Registrierung einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Bach und Buxtehude hervorzuheben, – also nicht von Bach rückwärts auf Buxtehude zu schließen, sondern diesen von den früheren Orgelmeistern wie Scheidemann, Tunder oder Weckmann her aufzufassen.
Die Präludien gelten als Buxtehudes zentrale Kunst, und da der einprägsame Name Kerala J. Snyder auch von Harald Vogel zitiert wird, nehme ich hier den MGG-Artikel als Ausgangsmaterial:
um den Satz noch zu vollenden:
…bald vielstimmig, bald auch auf eine kurtze Zeit nach dem Tact; ohne Klang-Maasse; doch nicht ohne Absicht zu gefallen, zu übereilen und in Verwunderung zu setzen“ (1739, S.86).
Autorin: Kerala J. Snyder
Irritierend: das Ostinato des Präludiums lautet in den Noten anders als es Harald Vogel spielt (die Noten sind aus IMSLP kopiert, finden sich aber in der Peters-Ausgabe genau so, nämlich mit dem wiederholten G als zweitem Ostinato-Ton, auch der Revisionsbericht im Anhang gibt in diesem Punkt keine Variante an).
Um auf die oben schon wiedergegebenen Texte zu Buxtehudes Kunst der Choralfantasie (und ihre Bedeutung für den jungen J.S.Bach) zurückzukommen, mache ich nochmals aufmerksam auf den Tr. 2 der CD 7 „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ Bux WV 210. Hier folgt Harald Vogels Einführung im Booklet der Buxtehude-Box, vorweg aber die Melodie des Chorals mit dem Text der ersten Strophe. Die Kenntnis ist unabdingbar.
Man macht sich keinen Begriff, wie oft man bei einer solchen Choralfantasie Worte, Motive, Zeilen des Chorals mitsprechen oder mitdenken kann und soll. Es ist ein Teil der Andacht, des tätigen Mitvollzugs, und es wirkt dank der wechselnden musikalischen Gestaltung keinen Moment langweilig oder sinnlos. Ich habe versucht, in die folgenden Noten einzuzeichnen, was man denkt, wenn man den Choral verinnerlicht hat: und die Menschen jener Zeit brauchten keine Noten, um jede Choralanspielung zu erkennen, man hörte sie sogar aus dem Geläut der Glocken heraus, das nach Choralanfängen benannt war. Meine Bezeichnung der alten Noten ist keine analytische Meisterleistung, aber man wird beim Lesen die Ohren spitzen. Zum Anhören habe ich nur ein Youtube-Beispiel der alten Schule; ich genieße es, weil ich der Gesamtaufnahme Buxtehude mit Harald Vogel sicher bin, die ganz andere historische Perspektiven erschließt. Wolfgang Rübsam, im externen Fenster hier. Man stelle die Musik an und komme hierher zurück, um die Noten zu verfolgen.
Es scheint ein Leichtes, Buxtehudes Choralfantasie zu verstehen, wenn man die Noten verfolgt. Aber – dem ist nicht so. Sie werden vielleicht bei weitem nicht so viele Choralzitate erkennen, wie Sie in blauer Schrift angemerkt sind, und wahrscheinlich er habe ich noch einige übersehen. Es ist leicht, dies dem Organisten anzukreiden, z.B. habe nicht deutlich genug registriert oder artikuliert. Ich erinnere mich, wie sich eine Diskussion ergab, als ein Freund an der Orgel mit Bachs Bearbeitung des Vivaldi-Doppelkonzert spielte. Der Vivaldi war mir gut bekannt, aber er gefiel mir nicht, es ärgerte mich, dass bestimmte Stellen einfach nicht zu hören waren. (Ich versuche heute noch, die Sache zu identifizieren.) Ah, hier ist sie, pars pro toto:
Stellen Sie sich das Tutti angemessenerweise in organo pleno vor, – was passiert ab Mitte Takt 9 und in den folgenden Takten? Sie hören von der bewegten Oberstimme gar nichts mehr, und das kann nicht von Bach beabsichtigt sein. Was folgt daraus? Die langen, durchgehaltenen Töne müssen gekürzt werden, je nach Akustik eine Achtelnote oder eine Viertelnote pro Takt, nur als Akzent. Der Freund aber empfand und hörte gar kein Defizit, weil seine Finger aktiv damit beschäftigt waren, die Töne zu spielen, um die es ging.
(Fortsetzung folgt)