BWV 944 A-moll
Der Anlass zu dieser Erkundung im Blog: das Programm in SG-Wald und die Gespräche mit JMR über die erstaunliche Fuge (plus vorangehende Fantasie), die er vorbereitet hat. Auch der Text dazu (aus dem Bach-Buch von Spitta):
Die Noten besitze ich seit Sept. 1985, habe sie vor allem anhand der CD von Andreas Staier (1988) studiert, wenn man das so nennen kann. In Erinnerung an seine unglaublich „wilde“ Fantasie BWV 922… ebenfalls in A-moll.
Aber eben diese fehlt… BWV 944.
Die Cembalistin auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz trägt dieselben Noten in der Tasche, ich erkenne auch bald die aufgeschlagene Fuge, 9 Seiten lang, ja, aber wie wird sie blättern?
Das Originalinstrument Cembalo zwingt zu einem überschaubaren Tempo, aber es gibt kein „originales“ Tempo, das auch für einen virtuosen Klavierspieler verpflichtend wäre. Ich habe die Fuge in einer Aufnahme des jungen Pollini gehört, – das kann nicht das Ziel sein. Andererseits – wenn man die Fuge schon gut kennt und alles versteht, glasklar und auch optisch präsent, – wer wollte da anfangen zu mäkeln, wie der Fuchs bei den Trauben?
Zur Notation der einleitenden Fantasia:
Quelle Paul Badura-Skoda: BACH INTERPRETATION Die Klavierwerke Johann Sebastian Bachs / Laaber Verlag Laaber 1990 Seite 411 f
Die Fantasia schweift ins Wesenlose …. (?) etwa die Fuge auch, die fein gefügte?
Frage also: Gibt es einen Weg, die Form einer solchen Fuge befriedigend ins Auge zu fassen und sich nicht zu bescheiden mit der Auskunft: „perpetuum mobile“ ?
Plan: Die Folge der Stimmen hoch-tief etc. und Übergang zur Hoch-Tief-Wanderung der Fragmente… kulminierend in den Orgelpunkt-Teilen Seite 6 und 8.
Und dies HIER nicht pauschalisierend.
Die genauere (hörende) Betrachtung verweilt – in Chiara Massinis Aufnahme anfangend bei 0:30 – bei den beiden Teilen, die bis 1:29 bzw. 2:08 dauern. Also betreffend 1) und 2), und natürlich wiederholend nach Bedarf…
1) Die Fuge ist dreistimmig. Als erstes das sechstaktige, aus Sechzehnteln bestehende Thema einprägen! Man sollte es bei jeder Wiederkehr eindeutig wiedererkennen, auch wenn nun kein Takt mehr folgt OHNE durchgehende Sechzehntelgänge. Die drei Stimmen kennzeichne ich als Oberstimme, Mittelstimme und Bass, O – M – B, jeden durch eine Themenfolge und die zugehörigen Zwischenspiele bezeichneten Teil der Fuge sehe ich als „Durchführung“. Wir haben hier allerdings nur zwei „reguläre“. Bach ist zu nichts verpflichtet, wenn der Geist zu ihm spricht…
Die erste Durchführung – von Takt 1 bis Takte 33 – enthält die Themenfolge O – M – B und endet mit dem Kadenztakt in Takt 33, der zugleich als Scheineinsatz den neuen Durchführungsbeginn in Takt 34 signalisiert. (Chiara Massini 1:29)
2) Die 2. Durchführung, M – B – O, beginnt in Takt 34, das Ende des Formteils würde ich allerdings schon nach der Kadenz in Takt 53 ansetzen, weil das Thema O noch einmal in e-moll kommt (wie schon in O Takt 44), zugleich die volle Dreistimmigkeit erreicht ist (Chiara Massini 2:08) und in diesem neuen Teil 3 ein paralleler Vorgang geplant ist:
3) ab Takt 54 also Thema O in e-moll, ab Takt 72 Thema B in d-moll, ab Takt 93 Thema M in C-dur bis Kadenztakt 108 (zugleich Scheineinsatz) (Chiara Massini 3:48),
4) dort beginnt C-dur mit Themenfragmenten (Modulationen!), zielt auf den Orgelpunkt H-dur, Ausdünnung, „Zusammenbruch“, und es folgt (Chiara Massini 4:14)
5) ein Neubeginn mit Thema M in e-moll ab Takt 122, dann Thema O in a-moll, Thema Kadenz (Scheineinsatz) B in g-moll ab Takt 156, mit Themenfragmenten (Modulationen), zielt auf den Orgelpunkt E-dur, Ausdünnung, „Zusammenbruch“ und aus der Tiefe
6) scheinbarer Neubeginn mit Thema in a-moll (Chiara Massini 5:55), ausweichend, Laufwerk, ab hier nur noch Akkordschläge als Begleitung, allmählicher Aufstieg. Ab Takt 192 wird die zweite Hälfte des Themas a-moll nachgeholt und zum Ende geführt.
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An der obigen Übersicht, die eine Orientierung ohne gedruckte Noten ermöglichen sollte, missfällt mir, dass die gutwilligen Rezipienten zuviel Zeit verlieren mit der Identifizierung der Stellen, die durch Taktzahlen bezeichnet sind. Im Folgenden erwarte ich nur, dass man das Thema zweifelsfrei beim Hören erkennt, entsprechend den rotgefärbten X-Reihen (die natürlich nicht genau die Zahl der Sechzehntel wiedergeben, aber immer ein vollständiges Themenzitat meinen). Die Relationen der Tonarten könnten vielleicht nur erfahrenen Hörern einleuchten, etwa in der Reihe e-moll, d-moll, C-dur, H-dur (durch Fettdruck hervorgehoben). Notfalls findet man sich in der echten Wiedergabe immer zurecht, weil sie dem Verlauf der einzelnen Minuten folgen, wo dann jede bezeichnete Stelle genau zu lokalisieren ist.
Diese Fuge ist kein Stück zum Grübeln, es wirkt atemberaubend und soll es wohl auch sein. Das heißt aber nicht, dass wir orientierungslos durch musikalische Räume irren.
BWV 944 interpretiert von der Pianistin Gile Bae
0:00 Fantasia (bis 1:17)
1:00 (ab 1:19) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (1:29) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (1:42) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 1:49)
2:00 (ab 2:02) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 2:11) (ab 2:16) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (ab 2:30) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 2:37) dann modulierend
3:00 (ab 2:55) d-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 3:01) dann modulierend (ab 3:21) C-dur xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 3:27) motivisch weiter (bis 3:39) C-dur motivisch weiter bis H-dur-Orgelpunkt (bei 3:51) (hier = Bass-Tremolo)
4:00 (ab 3:56) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 4:03) motivisch weiter (bis 4:17) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 4:24) modulierend weiter – über g-moll 4:40 – bis E-dur-Orgelpunkt (ab 5:01)
5:00 Ende des Orgelpunkts und Anfang des Schlussteils (ab 5:07) a-moll xxxx-xxxx-yyyy-zzzz abgewandeltes Thema (Akkordakzente als Begleitung), (ab 5:25) der vorher ausgesparte Rest des Themas: – zweistimmige parallel oder in Gegenbewegung laufende Sechzehntel – wie im vorigen Teil vor 4:24. Plus lapidarer Schluss. (5:40)
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Dieser Artikel ist – wie so oft – ein Work in Progress, und ich bin mir darüber im Klaren, dass er hier und da wieder die Dikussion auslöst, ob es nicht eher „zeitgemäß“ sei, – unserer Zeit gemäß -, Bach auf dem modernen Flügel vorzutragen. Im übrigen könne man diese Fuge auch auf dem Cembalo in rasanterem Tempo angehen (und durchhalten). Bei solchen Fragen bin ich auf eine andere Aufnahme gestoßen (worden), die auf dem Cembalo unvergleichlich schön klingt, nebenbei aber auch zeigt, dass eine ganz andere Geschwindigkeit möglich ist, so dass es sich lohnt, über die Mechaniken der beiden Tasteninstrumente aufs neue nachzudenken. Ich schlage vor, bei Philipp Spitta – dem anfangs Zitierten – zu beginnen. Es ist erstaunlich: geschrieben im Jahr 1873.
Ein Klangwunder ohnegleichen, es lohnt sich immer wieder einzutauchen. Oben im letzten Notenbeispiel sehen Sie, was Bach als Vorlage lieferte und dem Spieler zur Ausgestaltung überließ. Wer hätte das geahnt?
Wenn Sie, nach einigen Wiederholungen, sich lösen können und die Fuge anschließen wollen – sie folgt auf dem Fuße – HIER.
Besonders interessant die Differenzierung des Tempos im Bereich des E-Orgelpunktes und der Neuansatz in dem Schlussteil (mit den Akkorden der linken Hand): fast wie eine Stretta, die neue Gestalt des Themas. Sehr überzeugend. Kein „perpetuum mobile“.
Der Interpret ist Léon Berben. Aufnahme 2010. Biographie: https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%A9on_Berben Website http://leonberben.org/
Und weiter im Spitta:
Quelle : Joh. Seb. Bach von Philipp Spitta / Dritte unveränderte Auflage / Erster Band / Leipzig Druck und Verlag von Breitkopf & Härtel 1921