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Die Kraft des Orgelwerks BWV 541

Zeugnis der Jugend oder der Reife?

Ich, Ich, Ich – ich höre bis genau 2:28 – von viel Bekümmernis…

Und richte mich wieder auf,neue Kraft fühlend“ (Beethoven):

Orgel 541 a die Noten (alte Bach-Ausgabe) als pdf.

Quellen Hans-Joachim Schulze: Nachwort zur Faksimile-Ausgabe Leipzig 1996 / Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach S.Fischer Frankfurt a M 2000 (Seite 141)

Entstehungszeit: Leipzig

“Das G-Dur” – so wird BWV 541 im Sprachgebrauch der Organisten allgemein heraushebend genannt – ist eines der bekanntesten und meistgespielten Bachschen Orgelwerke überhaupt. Aus gutem Grund natürlich: der fröhliche, mitreißende Überschwang des Präludiums und der heitere Ernst der musikalisch vielschichtigen Fuge nehmen jeden Hörer sogleich für sich ein. Darüber hinaus überzeugt die geschmeidige, zugleich unnachahmlich souveräne, ungezwungene Faktur des Ganzen, die das Werk den Leipziger Jahren, der Zeit vollkommener Meisterschaft Bachs zuweist.

Die musikwissenschaftliche Quellenforschung hat für das Werk folgende Entwicklungsstadien hochwahrscheinlich gemacht: Aus der Auswertung zahlreicher Abschriften läßt sich erschließen, daß Bachs (nicht erhaltene) Erstniederschrift wohl in den allerersten Leipziger Jahren entstanden ist. Um einiges danach nahm er eine Reihe von Verbesserungen vor und fügte zeitweise zwischen Präludium und Fuge den Triosatz BWV 528/3 in e-moll ein (vgl. das zur Entstehungsgeschichte der Triosonaten BWV 525-530, sowie das zu Präludium und Fuge C-Dur BWV 545 Gesagte!). Nicht vor 1733, vielleicht auch erst in den 1740er Jahren, wie es heißt, schritt er dann mit weiteren Änderungen und Korrekturen zur Endredaktion, wobei der Triosatz keine Aufnahme mehr fand. Diese Endfassung ist uns autograph erhalten; BWV 541 ist somit eines der wenigen freien Orgelwerke Bachs, die uns in authentischer Version vorliegen.

Zitat aus: Joachim Winkler hier

Zu Bernard Winsemius siehe Wikipedia hier

typisch der späte Bach?

Auf jeden Fall: Eine musikalische Form, deren Betrachtung Kraft spendet!

Wie höre ich die Form der Fuge, wenn ich kein Notenleser bin? Zumindest die Zeilen mit den Pausen (leeres System) kann ich erkennen – ein wichtiges Zeichen: der Tonsatz, der sich auf der ersten Seite von Stimmeinsatz zu Stimmeinsatz anreicherte, bis zur Vierstimmigkeit, wird dünner, durchsichtiger, nämlich dreistimmig (Seite 2) und sogar zweistimmig (Seite 3), bis zum auffälligen Themeneinsatz im Bass, dem weitere Einsätze, auch unvollständige, in dichtem Wechsel folgen. Gipfelpunkt Fermate auf vermindertem Akkord. (Seite 4) Danach noch dichtere Folge von Themeneinsätzen, vom Bass her, Grundtonart, sich auftürmend, bis zum gehaltenen Sopran-Grundton, dann auch gehaltener Bass-Grundton, thematischer Abschied in der Unterstimmen.

Es hat also keinen Sinn, wie etwa im Wohltemperierten Klavier „Durchführungen“ zu nummerieren und miteinander in Beziehung zu setzen.

Zu allererst: die Geschichte des Themas verfolgen, dann die Zutaten (Motivik) registrieren: zum Beispiel folgt nach dem ersten Durchgang (Seite 1) – mit dem Thema in Alt, Tenor, Bass und Sopran – ein Zwischenspiel mit der Vorahnung (Tonrepetition) und (Seite 2) dem versteckten Neubeginn des Themas im Alt (wie am Anfang), Verdünnung des Satzes zur Dreistimmigkeit mit Vorahnung  und (1 Oktave tiefer) Thema im Tenor (durch Terzparallelen im Sopran verstärkt), danach echte Schlusskadenz im Bass und Zwischenspiel (Laufwerk),  ausgedünnt in Dreistimmigkeit (und Zweistimmigkeit), bis (Seite 3) Neuansatz des Themas im Bass (D-dur mit Laufwerk), dann Thema im Sopran, echte Kadenz A-moll (Seite 4). Abspaltung  Thementeil + Engführung bis Thema im Bass, mündet in Fermaten-Stopp. Danach Affirmation als Themendurchgang Alt, Sopran, Tenor (Orgelpunkt dazu im Sopran und kurz danach auch im Bass), feierliche Schlusstakt-Auflösung.

Hören Sie es? Jetzt wird es also ernst, – Form komprimiert auf kürzeste Hinweise: Wahrnehmen und Erkennen, was passiert, da draußen an der Orgel – und in unserm Gemüt. Wer den Kraftzuwachs erwartet, – erhält ihn auch… Das ist Fügung durch FUGE. Jugendfuge.

Kurzfassung (mit Zeitangaben, bezogen auf die obige Aufnahme mit Bernard Winsemius):

Beginn 3:20 – Durchgang Ende 4:10 – versteckter Neubeginn 4:35 – echte Schlusskadenz 5:14 –  Zwischenspiel bis 5:55 = Neuansatz Thema im Bass – in Sopran A-moll bis 6:26 – Engführung Teilthema bis Thema im Bass 6:34 und zur Fermate 6:55 – Themendurchgang Affirmation bis Ende 7:40

P.S.

Was hätte Bach wohl gesagt zu meinen wenig professionellen Höranweisungen in Sachen „Fuge“? Ein hochprofessioneller Zeitgenosse hat sich daran erinnert, als er einmal über die Fuge schlechthin nachdachte (farbige Hervorhebung von mir):

Bedenken Sie einmal, wie vielmal man den Hauptsatz in einer Fuge hören muß. Wenn man ihn nun noch dazu in eben denselben Tonarten, es sey gleich höher oder tiefer, ohne was anders dazwischen, immer in einem weg hören muß, ist es alsdenn möglich, den Ekel zu verbeißen? Wahrlich, so dachte der größte Fugenmacher unserer Zeiten, der alte Bach, nicht. Sehen Sie seine Fugen an. Wie viel künstliche Versetzungen des Hauptsatzes in andere Tonarten, wie viel vortreflich abgepassete Zwischengedanken finden Sie da nicht! Ich habe ihn selbst einmal, als ich bey meinem Aufenthalte in Leipzig mich über gewisse Materien, welche die Fuge betrafen, mit ihm besprach, die Arbeiten eines alten mühsamen Contrapunktisten für trocken und hölzern, und gewisse Fugen eines neuern nicht weniger großen Contrapunktisten, in der Gestalt nämlich, in welcher sie aufs Clavier appliziret sind, für pedantisch erklären hören, weil jener immer bei seinem Hauptsatze, ohne einige Veränderung bleibt; dieser aber, wenigstens in den Fugen, wovon die Rede war, nicht Feuer genug gezeiget hatte, das Thema durch Zwischenspiele aufs neue zu beleben.

Quelle F.W.Marpurg, Kritische Briefe über die Tonkunst -Berlin, 9.2.1760 III/701

P.P.S 1.6.23

Noch bin ich im Zweifel, ob ich das Wort „Feuer“ inhaltlich so eng (oder so weit?) fassen darf, da schlage ich die neue ZEIT auf, lese (nach dem Artikel über Fledermäuse – gestern Nacht hatte ich sie am Himmel über dem Garten gesichtet!) mit wachsendem Interesse den Artikel des Lebensphilosophen Wilhelm Schmid, den ich einst beim Kongress in Dresden kennengelernt habe und jetzt meist mit Vorsicht umgehe, und er macht hier aufmerksam auf das Wort „Feuer“ in einer Bach-Kantate (Pfingst-Kantate, eine andere als die, die ich kennengelernt habe).

O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe,
Entzünde die Herzen und weihe sie ein.
Lass himmlische Flammen durchdringen und wallen,
Wir wünschen, o Höchster, dein Tempel zu sein,
Ach, lass dir die Seelen im Glauben gefallen.

Fantastic Style

Ein Text von Andrew Manze (1996), der ebensowenig in Vergessenheit geraten sollte wie die zugehörigen Aufnahmen. (Ich knüpfe an Zitate in meinem früheren Artikel an: hier und – hier.)

Was beim flüchtigen Umgang mit den CDs irritieren könnte: ob die zweite sozusagen die erste fortsetzt oder eine relativ selbständige Rolle spielt, – jawohl, sie gehört in den Themenbereich Fantastischer Stil, der in CD 1 anhand verschiedener Komponisten dargestellt ist.

Frappierend die Sonata „Victori der Christen“ CD 2 Tr. 5-11, die tatsächlich eine Bearbeitung der Mysteriensonate „Die Kreuzigung Jesu“ von I.F.Biber darstellt, siehe Text oben: sie ist „nahezu identisch“. Von Anton Schmelzer, dem Sohn! Für Leute, die diese CD besitzen, ist es sicher nützlich, zum Vergleich im Hintergrund das Original greifbar zu haben. Nebenbei handelt es sich dabei auch um eine bemerkenswerte Aufführung:

Von Andrew Manzes Schmelzer-Fassung (Anton !) desselben Werkes kann man zumindest eine kurzen, intensiven Eindruck auf YouTube erhalten:

Alles, was Mattheson über den Stil der Toccata weiß:

auf der Spur von Andreas Weil: hinüber ins Original von Johann Mattheson:

 

Aber jetzt erst weiß man zu schätzen, wie wertvoll Andreas Weils Ausführungen sind, vor allem durch die Beispiele, die man als Normalverbraucher/in natürlich nicht zur Hand hat, – und die mich sofort an ähnliche visuelle Eindrücke bei Bach erinnern:

schlechte Kopie aus Weils tollem Buch…

Es ist nicht so, dass ich im Augenblick nicht sauberer scannen kann: ich möchte nur bei niemandem den Wunsch erlöschen lassen, das Buch selbst zu erwerben. Es lohnt sich, darin ganz sorgfältig nachzulesen, auch wenn man die Mattheson-Werke z.B. im Nachdruck besitzt, – man muss sie entschlüsselt bekommen und mit „zeitgenössischem“ Leben erfüllt sehen. Der nächste Schritt ist, die benannten Musikstücke zu hören… und nachzufühlen. Buxtehude, Lübeck, Bruhns und Bach. Im oben wiedergegebenen Mattheson-Original lese man nach, dass bei all dem an die Orgel und die Meister ihrer Zeit zu denken ist. In § 69. kommt er (nach Frescobaldi) über Händel auf Bach, in § 70. auf die nächstberühmten Meister, von denen die Mehrzahl heute unbekannt ist. (Wer war z.B. der genannte Händel-Schüler Babel?) Er kommt von der Orgel auf andere geeignete Instrumente, auf die „Violdigamb“ und die Laute „in der Kammer“, wobei er die Violine nur wegen ihrer „durchdringenden Stärcke“ hervorhebt. Mir fehlen die anderen Tasteninstrumente, mir fehlt ein Hinweis auf Froberger, der gerade in seinen Praeludien erwähnenswert wäre.

Worüber ich gern in diesem Zusammenhang noch berichtet hätte: betr. Praeludien von Louis Couperin – verwandt im freien Prinzip mit Froberger – s.a. hier  (falscher Link, richtigen suchen!) Artikel in Musik & Ästhetik, eine letzten Ausgaben…

Nachgeliefert:

Hier der kurze Einblick zur weiteren Erinnerung: die erstaunliche Vorstellungswelt der Préludes von Louis Couperin, dargestellt von Niels Pfeffer in Musik & Ästhetik Heft 108, April 2023:

Ich weiß nicht, ob man versteht, dass der Artikel von Niels Pfeffer ein großes Potential Verunsicherung vermittelt für dem, der sich seiner Bach-Werke sicher zu sein scheint: als gebe es bei Louis Couperin (heimlicher Gedanke: bei Froberger, dem frühen Bach-Leitbild!) eine Ästhetik, die Bach nicht gekannt oder aufgegeben hat! Das Labyrinthische vielleicht nicht, aber das indirekte Kadenzieren, die geplante Verunsicherung. Man lese sich nur noch hinein in diese „Reflexion“:

Fortsetzung: man rate…

„… als ob das Cembalo sie von sich aus, ohne die Zustimmung [consentement] Accompagnateurs, zurückgibt.“

In welcher Zeit befinden wir uns mit diesem Zitat? In der heutigen Moderne? Wir befinden uns in einem Traktat von Michel Saint-Lambert, veröffentlich in Amsterdam – 1710.  „Ohne die Zustimmung“ – – –  Werk ohne Autor???

Warum lese ich im Zusammenhang mit Louis Couperin / Froberger nie das Wort vom „stile phantastico“? Vielleicht liegt doch der gemeinsame Bezugspunkt bei Frescobaldi?

Hören Sie Bachs Partita V mit – Niels Pfeffer (https://www.nielspfeffer.com/cembalo):

*     *     *

Und – Themawechsel, an den inspirierten Booklettext zu Anfang dieses Artikels anknüpfend – auch darüber berichten, wie Andrew Manze anlässlich seiner Aufnahme Mozartscher Violinkonzerte (2006) zu außergewöhnlichen Einsichten gekommen ist… als Geiger habe ich ihn zum ersten Mal im WDR gelobt bei der Besprechung der Matthäus-Passion mit Ton Koopman. Mitte der 90er Jahre…

Wie war es eigentlich 1933?

https://www.rbb-online.de/doku/b/berlin-1933.html

HIER → dort in das folgende Bild klicken:

Aus einer anderen Sendereihe:

https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/komplizen-des-boesen-1933-1938-faszination-und-gewalt-102.html HIER alle Folgen HIER

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Private Motivation: siehe http://s128739886.online.de/jahreszeiten-lebenszeiten/

oder hier „Vom Wesen der Stadt“

Die berühmte Toccata und der junge Bach

Neues aus der Alten Musik

Soeben auf den Tisch gekommen, – teilweise schwierig (für Fachmusiker gedacht), aber bei genauem Studium absolut faszinierend!

Inhaltsverzeichnis

Haben Sie sich gut orientiert? Auch ab Ziffer 3.? Ich erinnerte mich sofort an die entsprechenden Passagen in „Bachs Welt“, dem Buch von Volker Hagedorn, das mich vor einigen Jahre über Monate gefesselt hat. Die Stelle vom Aufbruch aus Ohrdruf stand mir sogleich wieder vor Augen. Die Musik, die ich damals im Internet recherchiert hatte. Unvergesslich die Atmospäre, die sich aus alldem zusammensetzte.

Quelle hier

Und hier müssen wir unbedingt zur Hochzeitskantate 1679 und zur Trauermusik um 1710 kommen. Ausklang: A propos „Wendel Bach“.

Recht uninformiert bleibt, wer da glaubt, die Musik sei erst mit Johann Sebastian Bach zum wahren Leben erwacht und mit ihm allein für uns „Moderne“ von Relevanz. Glücklich, wer weiß, dass Bach Vorfahren und Verwandte hatte, deren Gedächtnis er selbst glühend bewahrte. „Meine Freundin, du bist schön“ von  Johann Christoph Bach (1642-1703, Stammbaum Nr.13) oder gar „Meine Bande sind zurissen“ von Johann Ludwig Bach (1677-1731) – aus dem kleineren Nebenstamm der Bache, zurückgehend auf Hans B. in Wechmar, der vielleicht ein Bruder des Stammvaters Veit d. Ä.war.

Zurück zu dem oben abgebildeten Werk über den komponierenden Organisten: man sollte vielleicht erwähnen, dass es über 50 Seiten wirkt wie eine Harmonielehre für Anfänger: nur dass diesmal alles neu benannt ist, nach Maßgabe der alten Moduslehre: lauter einfache Kadenzen, mit oder ohne Vorhalt in einer Stimme, auf verschiedenen Stufen, mit Trugschluss oder ohne usw., – man kann die Geduld verlieren.

Aber man darf nicht aus den Augen lassen: es geht um BACH, – und dann noch etwas: es gibt eine Vorbedingung, ohne deren Erfüllung vieles von Bach uns heute verschlossen bleibt: man muss den protestantischen Choral kennen – auch wenn man Katholik oder Moslem oder Agnostiker ist -, von innen her kennen, mehr: man muss ihn lieben (es ist leicht!).

Ohne Liebe zum Choral bleiben uns die größten Kunstwerke des Abendlandes verschlossen, sagen wir: die Matthäuspassion. Und darum sind auch Bachs Choralvorspiele kein Nebenschauplatz . Das heißt auch: auf den folgenden Seiten des Buches bekommt die Begeisterung neue Nahrung, wenn das innere Ohr wach ist. Andernfalls – sei für klingende Musik gesorgt…

Quelle (s.o.): hier

Buch-Beispiel 84 Choral 2) (ist transponiert, steht an Ort und Stelle in F-dur) siehe und höre übernächstes Youtube-Beispiel Matthäuspassion „O Haupt voll Blut und Wunden“. Buch-Beispiel 84 Choral 1) im folgenden Video ab 16:02 (melodisch als Cantus firmus im Bass schon ab 0:15, also vom ersten Takt an!) – Es geht in den Buch-Beispielen nur um die Kadenz des Chorales, genauer: um die beiden Schlusstakte. Aber im Hintergrund steht – natürlich – die ganze Musik, die davor gewesen ist!!! Hören Sie doch einfach alles! (Information zu dieser Kantate BWV 135 in Wikipedia hier.)

zu Buch-Beispiel 84 1) u. 2)

Ich kann nicht verhehlen, dass dieses Buch für musikalische Normalverbraucher auch eine Zumutung ist. Zweifellos gehört zur Lektüre, dass man imstande ist, sich die Musikbeispiele selbst zu erschließen: am Klavier, an einem Tasteninstrument. sogar am Keyboard; dass man sie vielleicht in Bachs sämtlichen Orgelwerken nachschlagen kann, usw., dass man eine CD-Sammlung aktivieren kann, sich auf Youtube einiges zusammensucht… Das Papierwissen ist unersetzlich, bedeutet aber für die praktische Hörerfahrung nur eine erste Motivierung, sonst landet es im Vergessen. Deshalb kopiere ich auch noch zwei Seiten des Buches, die mir immer wieder Auftrieb gegeben haben: den jungen Bach hat es wirklich gegeben! Wir können ihn uns in Ohrdruf und in Lüneburg real vorstellen! Nur die detektivische Arbeit, die Andreas Weil zur Auflösung des Rätsels um die berühmte Toccata geleist hat, will ich hier nicht kurz zusammenfassen; das findet man an Ort und Stelle.

 

Und ich kopiere das passende Booklet, ich will ja wissen, was Kenner sagen. Immer wieder gilt es: lesen und HÖREN! Und zwar fokussiert. Zum Beispiel Harald Vogel

 

Dabringhaus und Grimm, Musikproduktion, Kataloge hier

Es hat aber keinen Zweck, die Musik von Tr.1  bis Tr. 24 zu hören und zu sagen: Ach, eine Kirche, der Klangraum, die Vielfalt und die Farben der Pfeifen, – eher das Gegenständliche: wie die tönenden  Gebilde sich aufbauen, angefangen mit dem Praeludium (stile fantastico), die Fuge mit dem Oktavsprungthema (hört man es immer?), später: höre ich den Choral? – auch in der „Partita diverse“ – wie verändert er sich?

Eine kleine Panik entsteht, wenn man die Orientierung verliert, – wie hier, mit dieser wunderschönen CD in der Hand. Der Booklettext folgt einer freier gewählten Reihenfolge des Vortragenden: wenn ich demnach seinen Worten als getreuer Schüler mit dem Blick auf die richtige Musik folgen wollte, müsste ich eine vertrackte Trackfolge wählen, nämlich:

1   2   3   4   6   10   5   7   8   9   11   21   24   26   27   25   22    23   28 –  die Choräle werden pauschal abgehandelt, auch wenn sie an verschiedenen Stellen auftauchen, außerdem sind da noch andere Lücken, wie zwischen 11 und 21, da gibt es noch die Untertracks zu Partita 2-10, all das ist tückisch. In einer ansonsten kostbaren Aufnahme.

Zum Schluss ein kurzer Rückblick in die Zeit, die für mein Bach-Erlebnis prägend war, das Jahr etwa vor meiner Konfirmation. Die Entdeckung des vielseitigen Geistes Albert Schweitzer.

Nicht einmal die rüde Behandlung der Katze hätte meine Zuneignung mindern können; ich wusste, was er mit Blick auf alle Tiere über den Begriff „Ehrfurcht vor dem Leben“ geschrieben hatte. Der Beruf „Urwaldarzt“ erschien mir eine Zeit lang verlockend, aber ich entlieh mir aus der Bielefelder Stadtbibliothek auch sein Bach-Buch und war von dieser ersten Begegnung mit rhetorischen Figuren fasziniert. Die französische Ausgabe allerdings von 1904, aus der ich zwei Seiten wiedergebe, stammt aus dem Nachlass von Prof. Dr. Michael Schneider, der Mitte der 50er Jahre ein ganz ähnlichers Konzert in Bielefeld zur Einweihung der neuen Orgel in der Pauluskirche gab. Wir wohnten gegenüber, ich war für einige Monate Orgelschüler von Kantor Eberhard Eßrich, und dieser kam ebenso wie Michael Schneider aus der Schule des berühmten Karl Straube , dessen Lebenslauf mich heute besonders betr. der Zeit nach 1933 interessiert.

Das Konzertprogramm, das ich in dem Buch fand, spiegelt etwa vom Geist dieser Jahre, zitiert auch Albert Schweitzer und weiß sogar von der Gläubigkeit des Interpreten: „Die Größe des Orgelspiels Prof. Schneiders liegt neben der selbstverständlichen Virtuosität in der beseelten, gläubigen Wiedergabe vor allem der Orgelwerke J. S. Bachs“.

Und das Konzert endete mit – welchem Werk????

    Ja, auch ich erlebte in jenem Jahr meiner Konfirmation eine Phase intensiver Frömmigkeit, die wohl mit Bach zu tun hatte, mit seinem Stellvertreter auf Erden, dem Kantor, und – dem Vorbild Albert Schweitzers. Auch mit der abenteuerlichen Tatsache, dass er nun in Afrika lebte…

Aber nicht mit meinen Eltern.

nach der Konfirmation Pauluskirche Bielefeld. Mein Vater war skeptisch, meine Mutter grübelte gern. Zu Albert Schweitzer sagt sie „Was für ein Kopf!“, wie später nur noch über Richard von Weizsäcker.

*   *   *

Ausblick

Das Buch von Andreas Weil enthält ein wichtiges Kapitel über den Stile fantastico, allerdings auf eine spätere Entwicklung bezogen, während Andrew Manze bei Athanasius Kircher im17. Jahrhundert ansetzt. Unglaublich schön. Hören Sie auf niemanden, der Ihnen erzählt, das sei eintönig und langweilig (natürlich immer knapp instrumentiert, damit die freie Tempoentfaltung des Einzelnen fantasievoll ausgekostet werden kann), und wer gleich zu Anfang mit Einwürfen wie „zu tief!“ oder „unsauber!“ kommt, sei zur Geduld vermahnt: in die Tiefe hören, vielleicht auch die scheinbar „falschen“ Töne als Reiz der alten Stimmung zu begreifen…

(Manze-Text inzwischen nachlesbar hier)

Andreas Weil zitiert aus einer Arbeit von Matthias Schneider, die Geschichte des Stylus phantasticus sei eine „Verwirrung mit Geschichte“. „Das liegt auch darin begründet, weil sich die den Stil kennzeichnenden Merkmale allmählich verändern. War zunächst die Verwendung von kontrapunktischen Techniken kennzeichnend für den Stylus phantasticus , so verkehrte er sich im Laufe des 17. Jahrhundert ins Gegenteil, indem kontrapunktische Abschitte unerwünscht waren. (S.84) Er setzt zwar auch bei Michael Praetorius und Athanasius Kircher an, kommt dann ab mit Johann Mattheson zum Wandel der Entwicklung, wobei die nordeutsche Toccata eine entscheidende Rolle spielt.

weiter in Andreas Weil a.a.O. Seite 86

Woher kam der Jazz?

Maximilian Hendlers Forschungsreisen

Zitat:

Die befremdlichen Züge, welche die Musik der Afroamerikaner für Weiße an sich hatte und immer noch hat, führten zu einem bis heute weiterwirkenden Irrtum. Die afroamerikanische Musik kommt von den Schwarzen – die Schwarzen kommen aus Afrika -, daher kommt die afroamerikanische Musik aus Afrika. Die Jazzforscher, die alles, was nicht in der Musikästhetik der westlichen Hochkultur enthalten ist, nach Afrika verlegen wollen, ziehen ein Faktum nicht in Betracht: Der größte Teil der traditionellen afrikanischen Musik wurde zu religiösen und sozialen Anlässen gemacht, an denen Afrika extrem reich war und selbst heute noch immer ist.

Für die Afrikaner, die in die amerikanische Sklaverei gerieten, fielen diese Anlässe weg. Ihnen blieb nichts anderers übrig, als sich jener musikalischen Formen zu bedienen, die sie zunächst bei ihren weißen Besitzern und später auch beim weißen Proletariat zu hören bekamen. Ihre Rezeption dieser Musikformen bildet die Basis, aus der in den Jahrzehnten um 1900 der Jazz erwuchs.

GRAZ 2008

WIEN 2023

Was mich das angeht?

Titel, die leicht aufzufinden sind:

S.40 My Gal is a highborn Lady hier oder hier

S.41 Crappy Dan hier

S.43 All coons look alike to me hier (Arthur Collins) hier und hier

S.47 Nobody / When life seems hier

S.77 A Georgia camp meeting hier

S.89/90  Jelly Roll Morton (gesamt) hier Tiger Rag hier different tempi hier

S.94 A happy little chappie hier ?

S.106 Scott Joplin Easy winners (mit Noten) hier

S.106 Frank P. Banta hier

S.120 Original Dixieland Jazz Band 1917 Tiger Rag hier Livery Stable Blues hier

S.126 Duke Ellington 1927 (?) Bugle Call Rag hier

(Fortsetzung folgt)

Als Gegenposition sei an dieser Stelle auf das Buch von Gerhard Kubik (1999) verwiesen, der ein ausgewiesener Afrikakenner ist. Was die Argumentation, dass der Blues aus Afrika kommt, nicht von vornherein glaubwürdiger macht, – als habe sich über Generationen von Sklaven eine solche Erinnerung halten können. Zu berücksichtigen wäre die schlichte Tatsache, dass mit ihrer Ankunft in Amerika das absolute kulturelle Prägerecht der afrikanischen Sklaven die Kirchen und Sekten  übernommen hatten. Da blieb nichts übrig.

Der Name Kubik kommt bei Hendler nicht vor, weil die neueren Forschungen am überlieferten Material und die Einbeziehung der frühen Schichten europäischer Volksmusik einen ganz anderen Weg wiesen.

Und vor allen Dingen: statt den schnellen Weg nach Afrika zu nehmen, lohnt es sich in die Tiefe der Geschichte einzutauchen, und nicht nur dort, wo sie für Menschen unserer Zeit (rückwirkend) interessant ist und Musikprojektionen befeuert. Man lese daraufhin den Wikipedia-Artikel „Great Awakening“ mit Blick auf die unterprivilegierten Schichten der amerikanischen Bevölkerung.

Edwards’ Predigten waren machtvoll und zogen von etwa 1731 an ein großes Publikum an. Der aus England eingereiste methodistische Prediger George Whitefield setzte die Erweckungsbewegung fort, bereiste die britischen Kolonien und predigte in einem dramatischen und emotionalen Stil, der in dieser Zeit neu war. Neu war auch, dass Whitefield im Publikum jedermann – auch Afroamerikaner und Sklaven – akzeptierte…

Durch das Great Revival gelangten erstmals auch viele Sklaven zum christlichen Glauben. In den südlichen Kolonien erlaubten die Baptisten seit den 1770er Jahren sowohl Sklaven als auch Sklavenhaltern das Predigen. Nachdem Frauen in den Kirchen bis dahin überrepräsentiert gewesen waren, stieg auch die Anzahl der männlichen Kirchenmitglieder…

Wie die amerikanische Theologin Kimberly Bracken Long 2002 dargestellt hat, führen Geisteswissenschaftler die Camp Meetings seit den 1980er Jahren auf die Tradition der Holy Fairs zurück, die im 17. und 18. Jahrhundert in Schottland verbreitet waren. Bis dahin hatte man ihre Wurzeln ausschließlich in der amerikanischen Grenzland-Erfahrung vermutet…

Die Bemühungen, christliche Lehren auf die Lösung sozialer Probleme anzuwenden, waren wichtige Vorläufer und Präzedenz-Fälle für die Social-Gospel-Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, auch wenn sie in ihrer eigenen Zeit nur sehr eingeschränkt auf bestimmte Themen wie Alkohol und Sklaverei zur Geltung kam und nicht auf die Gesamtwirtschaft bezogen wurden…

NEU (11.05.23) DIE ZEIT Seite 52 Buch-Empfehlung

Fragwürdige Geschichte (Musik)

Der Blick auf die Epochen

siehe andere Versuche:

Das Jahr Tausend

Wendezeiten der (Musik-)Geschichte

Klarheit zur Zeit meiner Väter (vor 1933)

Johannes Wolf hier

  Geschichte der Musik in allgemeinverständlicher Form. 3 Bdd., Leipzig 1925–1929

Zitate: „Ein neuer Stil bahnt sich im 14. Jahrhundert in Ober-Italien, speziell in Florenz an, ein Stil der weltlichen Liedmusik, welche mit dem literarischen Aufschwung jener Zeit Hand in Hand geht.“ Die Renaissance S.64

„Kaum hatte Italien, vornehmlich in Toscana, die Literatur in der Volkssprache zu höherem Fluge ausgeholt, so wandte sich das Interesse dem klassischen Altertum als dem zu erstrebenden Vorbilde zu. Schon ein Dante und ein Petrarca wirkten für eine Wiederbelebung der Antike.“ Die Barockzeit S.1

 

Zitat: Dritter Abschnitt S.33: „Die Revolution braust 1789 von Frankreich her über alle Länder hin, eine neue Zeit bricht an. Geistige wie künstlerische Umwälzungen erfolgen, das Individuum ringt um Anerkennung.“

Achtung:

Neuere Geschichtsschreibung

Ich wusste es nicht mehr: aber in den 50er, 60er Jahren war es nicht verwunderlich, dass eine Musikgeschichte – die auch noch die zeitgenössische Phase umfassen sollte – mit einem Akzent auf dem SINN endete. Ich habe es damals nicht in Frage gestellt, nein, – überhaupt nicht gelesen.

Ja, es beginnt und endet mit: Sinn

Quelle s.u.

Heute fällt es mir auf, wenn ich einen Komponisten, der John Cage erlebt hat, ihn nicht beim Bedenken der Forderung nach SINN berücksichtigt sehe. Schließlich hat der den Sinn der Musik, gerade der eigenen, wie kein anderer in Frage gestellt. Mir war das klar, seit ich in den DuMont-Dokumenten von 1960 seine Beschreibung angewandter Kompositionsmethode gelesen hatte.

Daher erschien mir beim Blogbeitrag über Claus-Steffen Mahnkopf (hier) die Wiederkehr des Wortes SINN überraschend.

Natürlich lassen sich Klangdesigns errechnen, so wie Bildsequenzen. Aber es sind akustische Kaleidoskope, ohne jeden musikalischen Sinn. Rohmaterial vielleicht, Klänge, aber keine Musik. Computer verarbeiten mathematische Fakten, nicht Sinn. Musik gehört aber zum Reich des Sinns. Natürlich können Computer Töne aneinanderreihen, wie sie das auch mit Bildern, Filmsequenzen und Wörtern vermögen. Aber das war es dann auch schon. Denn Texte, Musikstücke, Bilderfolgen und Filme brauchen einen sinnvollen Zusammenhang; sofern Kunstanspruch dabei ist, erst recht. Sinn, der Verweisungszusammenhang von Lebendigem, ist aber eine Dimension, die einem Computer prinzipiell unzugänglich ist, da dieser nicht lebt.

(Zitat Mahnkopf a.a.O. Seite 126 f)

Der Blick über die Epochen im „Wörner“ (1965) 

Quelle Karl H. Wörner: Geschichte der Musik / Ein Studien- und Nachschlagebuch / Fünfte, durchgesehene und erweiterte Ausgabe / Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1972 (1954)

Die folgenden Seiten sollen (mich) anmahnen, in welchem Buch ich heute die ständige Suche nach einem passablen Überblick über die Geschichte widergespiegelt finden könnte. Über Reinhart Koselleck. In Erinnnerung daran, dass es mit Altdorfers Gemälde „Alexanderschlacht“ beginnt, in der Mitte James Cooks historische Begegnung mit dem polynesischen Glaubenssystem in die Gegenwart transponiert und mit einer Geschichte der Reiterdenkmäler endet („Pferdezeitalter“).

Wikipedia

Kosellecks Ansatz zur Begriffsgeschichte hat den Bedeutungswandel von Ausdrücken zum Inhalt, damit soll die Wirklichkeitserfahrung vergangener Epochen herausgestellt werden. Weil dieser Wandel um 1800 infolge politischer und industrieller Revolutionen besonders groß war, prägte Koselleck den Begriff der Sattelzeit für den Zeitraum von circa 1750 bis 1850. Alte Worte haben demnach neuen Sinngehalt gewonnen, so dass sie heute keiner Übersetzung mehr bedürfen. Synonym dazu wird der Begriff der Schwellenzeit verwendet.

 

Quelle Stefan-Ludwig Hoffmann: Der Riss in der Zeit / Kosellecks ungeschriebene Historik / Suhrkamp Berlin 2023

Die Brandenburgischen

Wem gewidmet?

näher bitte! noch näher!!

Wer ist dieser Herr? Kein Mensch, der sich was sagen lässt. Wenn man Wikipedia vertraut, findet man ihn hier : Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt.

Wenn man allerdings wie ich in Bielefeld aufgewachsen ist, fragt man als erstes: Brandenburg??? Der große Kurfürst, – hat er mit dem zu tun, ist vielleicht sogar identisch…? Leider nein, dieser lebte viel früher (1620-1688), hieß Friedrich Wilhelm und ist berühmt aus anderen Gründen. Nicht etwa wegen irgendwelcher Musikstücke, einer Sammlung, über welche man heutzutage als Krönung des eigenen Musikerlebens ein kluges Buch schreiben kann. Und dort stoßen dann die wirklich neugierig Lesenden auf eine Art Stammbaum, auf dem links oben sich der große Kurfürst, rechts unten der Widmungsträger der Bachschen „Brandenburgischen Konzerte“ befindet. Und dann kann man versuchen einzuordnen, was einem wirklich am Herzen liegt, z.B. Johann Sebastian Bach (1685-1750). Welch eine Klarheit umgibt uns!

(Tafel nach Goebel)

Zugegeben: Stammbaum ist etwas zuviel gesagt. Die beiden Zweige besagen nichts anderes als: des Großen Kurfürsten erste Ehe samt 6 Kindern und des Großen Kurfürsten zweite Ehe samt 7 Kindern, von denen das letzte – in der Erbtitelfolge ganz unbedeutend – als Widmungsträger der Bachschen Concerti für die musikalische Welt eine zentrale Stellung eingenommen hat: Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt.

Der Vater erhielt sein Ehren-Epitheton „groß“, weil er im Jahre 1675 die Schweden in der Schlacht bei Fehrbellin besiegt hat. Ja, und der andere, der jüngste Sohn, was wurde über ihn aktenkundig? Immerhin gibt es einen Vermerk im Braunschweiger Botschafter am 13. Oktober 1731 (zitiert nach Goebel):

Der Markgraf Christian ist am vergangenen Montag von dem Lust-Schloße Malchau nach dem 6 Meilen von dannen gelegenen Jagdorte Liepe abgegangen, sich auch daselbst mit dem Jagen ein Plaisir zu machen.

Sicherlich kein herausragendes Ereignis in der Biographie des Markgrafen, sondern Normalität des höfischen Vergnügens hier und anderswo, so dass Bach, gerade als er noch in höfischen Diensten stand – also vor seiner Leipziger Zeit – mit dem diesbezüglichen musikalischen Bedarf von Grund auf vertraut war. Jagdsignale, Jagdinstrumente und die zugehörigen Musiker gehörten zu seiner verfügbaren Ausstattung, selbst wenn es um eine Kirchenkantate oder ein offizielles Geburtstagsständchen ging.

Aus der Wikipedia-Biographie:

Seinem [des Königs] Onkel Christian Ludwig, der ein großes Interesse an Musik und den Künsten hatte, gestattete der König jedoch die Beibehaltung einer eigenen Kapelle im Berliner Stadtschloss und übertrug ihm die Herrschaften Malchow und Heinersdorf – diese brachten Christian Ludwig, zusammen mit seinen Einkünften aus dem mütterlichen Erbe, seinem Offizierspatent als Generalmajor (seit 1695) und später Generalleutnant in Stettin und als Regimentschef des Regiments zu Fuß (1806: No. 7) sowie seinem Amt als Kommendator der Kommende Lagow und Administrator und evangelischer Dompropst von Halberstadt allein für das Jahr 1734 konkret 48.945 Taler ein.

Er war zudem der vierte Empfänger des Preußischen Ordens vom Schwarzen Adler. Im Winter 1718/19 besuchte Johann Sebastian Bach die Stadt Berlin und beeindruckte den musikbegeisterten Christian Ludwig mit seinem Können. Christian Ludwig bat Bach um einige seiner Kompositionen und erhielt im Frühling 1721 eine Partitur mit dem Titel Six Concerts avec plusieurs instruments, die heute unter dem Namen Brandenburgische Konzerte bekannt ist.

Vergeblich suche ich in Goebels stoffreichem Historienteil nach einer solchen – vielleicht nur phantasievollen – Ausschmückung der Brandenburgischen Begegnung und halte mich daher weiterhin an Christoph Wolffs knappe Darstellung, s.u.1). Bei Reinhard Goebel führt der Name Mietke zu einem Anhaltspunkt, aber es bleibt doch im Graubereich, ob Bach bei dieser Gelegenheit dem Widmungsträger persönlich begegnet ist, – was aber doch sehr wahrscheinlich ist. Was sonst könnte ihn denn zu einer solchen Riesenarbeit motiviert haben? s.u. 2).

1) 2)

Quelle 1) Christoph Wolff: Johann Sebastian BACH / S.Fischer Frankfurt a. M. 2000 (S.229) 2) Reinhard Goebel: Johann Sebastian Bachs „Brandenburgische Konzerte“ / Verlag Dohr Köln 2023 (S.13)

Fest steht, dass Bach selbst die persönliche Begegnung in seiner Widmung aktenkundig gemacht hat:

Damit verlasse ich die biographische Vorgeschichte und folge den Suggestionen, die Bach mit dem Werk selbst hat geben wollen. Wobei ich mich auf das erste Konzert beschränke und letzlich allen Anregungen folge, die ich Goebel verdanke und die ich anhand von klingender Musik nachzuvollziehen suche. Wenn sich hier und da ein kritischer Ansatz zeigt, mindert das nicht die Leistung seines Buches. Es animiert zu Widerspruch, weil es so prägnant die physischen und materialgebundenen Anteile der Werke in die Analyse einbezieht, während wir an ihnen vielleicht ein Ideal Bachscher Instrumentalmusik verinnerlicht haben.

Dass die Jagd an sich einen hohen Stellenwert hatte für die hohen Herren in jener Zeit, liegt auf der Hand, und es ist nicht meine Aufgabe, daran Kritik zu üben. Wenn Bach ein Werk schreibt, das dem begeisternden Tumult und vielstimmigen Treiben dieses Sports ein musikalisches Äquivalent an die Seite stellt, habe ich nur alle Komponenten wahrzunehmen, die er zu diesem Zweck hervorhebt. Ganz wichtig: wenn es einen Text gibt, der es erlaubt, sie bestimmten Bedeutungen zuzuordnen.

1713 / 1715 Jagdkantate Was mir behagt, das ist die munt’re Jagd BWV 208  Text hier und hier

Zitat aus Wikipedia hier:

1713 aus Anlass des 31. Geburtstags von Christian von Sachsen-Weißenfels als festliche Tafelmusik komponiert, die am Abend nach einer ausgedehnten Jagdveranstaltung des Fürsten von Schloss Neuenburg, im Jägerhof in Weißenfels erklang.

Hat diese große Tafelmusik wirklich mit einem so unscheinbaren Rezitativ begonnen?  Nein, erfährt man von Goebel, es gab „eine aus Allegro – Adagio – Menuet bestehende Komposition (…), die man heute allgemein als die Sinfonia zu der (…) Jagdkantate BWV 208 aus dem Jahr 1715 apostrophiert. Diese (…) überlieferte dreisätzige Werkgestalt ergänzte Bach für die brandenburgische Version bei der Niederschrift 1720/21 um einen zwischen Adagio und Menuet interpolierten Konzertsatz und einen kleinen, aber bedeutenden Zusatz im Menuet-Finale.“ (Goebel S.34) Aber das Textbuch von damals könnte doch bedeutende inhaltliche Hinweise auch zu der vorher gespielten Musik gegeben haben? Goebel hatte immerhin angekündigt: „Die emblematisch-allegorische Aussage dieses Eröffnungswerkes lässt sich umstandslos mit den Worten das Eingangsrezitativs zu Bachs für den Hof in Weißenfels bestimmten  Jagd-Kantate BWV 208 fassen: Was mir behagt, ist nur die munt’re Jagd.“ (Seite 33)

1721 Brandenburgisches Konzert No. 1 hier

1726 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten BWV 207 (1726), weltliche Kantate, siehe   hier (Wiki), Text hier, zu Ehren des Prof. Gottlieb Kortte: Glück, Dankbarkeit, Fleiß, Ehre / vorangestellt ein Chor, der den „lüster[n]en Hörer herbeilocken soll, um zu erfahren, was der Lohn der Tugend sei“. Der Chor beruht auf dem Material des 1. Satzes Brandenburgisches Konzert  Nr.1  / 1726 Chor = „Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten“ = Rückparodie einer verschollenen Sopranarie nach dem Muster des genannten Konzerts. Zitat Wikipedia:

Bach strukturierte die Kantate in zehn Sätzen, beginnend mit einem instrumentalen Marsch. Er schrieb sie für vier Solisten, die allegorischen Figuren repräsentieren: Glück (Sopran), Dankbarkeit (Alt), Fleiß (Tenor) und Ehre (Bass).

*     *     *

Und wissen Sie, was mir nun fehlt, – nach all den Hinweisen auf emblematisch-allegorische Aussagen (die sogar expressis verbis vorliegen)? Dass ein großer Name genannt wird, der all diese angedeuteten Freuden und Tugenden überragt, und sei es, dass er schließlich durch Abwesenheit geradezu intensiv glänzt und so nur noch den „lüsternen Hörer herbeilocken soll“: DIANA.

Was die maßgebliche Version des Konzertes angeht, fordert Goebel uns heraus: „Warum aber war Bach die Präsentation dieses Instruments [der Piccolo-Violine] so wichtig? Welchen Symbol-Charakter hatte in diesem Zusammenhang dieses Instrument, welchen allegorischen Mehrwert? Nescimus!“

Ja, ist es denn wohl zu verwegen herauszuplatzen und zu entgegnen: doch! wir wissen es, das  kann doch nur Diana selbst sein! Betrachten Sie es recht (mit dem Hirsch):

Diane chasseresse et ses nymphes, huile sur toile de Pierre Paul Rubens réalisée (1636-1639)

Der Ton trügt: so sicher bin ich meiner Sache nicht, schließlich komme ich nicht ganz allein auf solch eine Idee. Oder weil ich das Textbuch der Jagdkantate gelesen habe! Ich höre auch ganz unterschiedliche Aufnahmen und nicht alle mit gleicher Zustimmung, selbst im Falle einer Nachfolge von Nikolaus Harnoncourt…

Concentus Musicus Wien, Festspiele Styriarte 2019, Konzert 20.07.2019 in Schloss Eggenberg, s.a. hier, Einführungstext beginnt bei 1:05, Leitung, Cembalo und Moderation: Stefan Gottfried (Textverschriftlichung JR). Musik ab 5:30

Diese Götter der Antike stehen hier nicht für sich selbst, sondern für Eigenschaften, die man im Barock für Tugenden des Fürsten empfand, sie erzählen sozusagen vom idealen Fürsten. Dasselbe hatte vielleicht auch J S Bach im Sinn, als er seine 6 Brandenburgischen Konzerte komponierte. Sie heißen deswegen Brandenburgische Konzerte, weil er sie 1721 dem Markgraf von Brandenburg widmete und ihm ins Berliner Schloss schickte. Dort residierte der Markgraf in Räumen wie diesem: über und über bedeckt mit Göttern der Antike. Bach selbst hat seine Brandenburgischen Konzerte im Köthener Schloss aufgeführt, dort diente die Gemäldegalerie als Konzertsaal, ebenfalls ein Raum wie dieser, voll von antiken Gottheiten. Hat sich Bach von diesen Bildern inspirieren lassen, als er die Konzerte komponierte, – wir glauben ja, und das hat natürlich etwas mit dem Styriarte-Thema des heurigen Jahres zutun, mit den Metamorphosen des Ovid. Im ersten Brandenburgischen Konzert geht es um die Jagd und die Jagdgöttin Diana. Bach hat diese Musik ursprünglich als Vorspiel zu seiner Jagdkantate komponiert: Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd. So singt Diana am Anfang der Kantate, und unter dieses Motto hat Bach auch sein Konzert gestellt. Zu munterem Treiben des Orchesters (SPIELT) gesellen sich zwei Jäger mit ihren Hörnern und schmettern ihre Signale, die zur Jagd aufrufen. (SPIELT) Zwei Gruppen nehmen Aufstellung, hier die lieblichen Nymphen der Diana, im Orchester durch die Streichinstrumente verkörpert, dort die wackren Schäfer, die auf ihren Instrumenten, Oboe und Fagott, spielen. Und über allem thront ein Violino piccolo, eine kleine Geige, die eine Terz höher gestimmt ist als normal: die Jagdgöttin selbst. Der erste Satz beschwört prachtvoll das Jagdrevier der Diana. Man kann sehr schön hören, wie die drei Gruppen, die Nymphen, die Schäfer, die hornspielenden Jäger sich ständig einander die Motive zuspielen. Im Mittelsatz wird die Musik langsam, leise, träumerisch, die Geige spielt eine ausdrucksvolle Melodie in Moll, die von der Oboe aufgegriffen wird, während sich die anderen Instrumente schlafen legen. Wenn die Geige Diana verkörpert, dann muss die Oboe ihr Geliebter sein, der Schäfer Endymion. Ihr Schäferstündchen spielt sich in der Nacht ab. Denn Diana ist ja auch die Mondgöttin, man hört es am silbrigen Glanz dieses Satzes. Am nächsten Morgen blasen die Hörner dann endlich zur Jagd. Das merkt man am galoppierenden Rhythmus des Themas und an den schmetternden Signalen der Hörner, allen voran die virtuose Piccologeige der Diana. Zur Feier der gelungenen Jagd findet dann noch ein Ball statt, viermal spielen alle ein festliches Menuett, dazwischen hat jede der drei Jagdgruppen ihren Auftritt. Die Schäfer mit ihren Oboen tanzen ein Menuett, die Nymphen wagen sich mit ihren Streichinstrumenten an eine kesse Polonaise, und die Jäger schmettern zur Begleitung der Oboen einen Marsch. (MUSIK ganz)

Nun? Was soll man weiter sagen? Scheint doch absolut o.k., abgesehen von einer Kleinigkeit – denn eins ist wohl ebenso klar: Protest ab „Endymion“!!! Von einem Schäferstündchen kann wohl keine Rede sein, einfach absurd! Hören Sie nur einmal das Adagio! Die Oboe, offenbar piano wie alle anderen. Und dann die Piccolovioline im Takt 5 forte (!), ich denke: durchdringend, scharf… Was sind das für ungeheure Affekte, ich sehe da nichts, nein, nichts vom silbrigen Glanz einer stillen mondhellen Nacht. Wohl höre ich etwas vom schweren Tod eines menschenähnlichen, fühlenden Wesens, und sei es in Gestalt eines Hirsches! Schauen Sie noch einmal genau auf das Rubensbild der Diana und auf die Tiere vor ihr. Besser noch: untersuchen Sie in der Bilderfolge des Tizian (im folgenden Link) genauer den „Tod des Aktaeon“: die Hunde zerfleischen ihn, man erkennt im Dunkel seinen Hirschkopf.

Ja, diese andere Möglichkeit gäbe es tatsächlich: hier – und damit die andere Form des Diana-Mythos. Ist es deutlich, wie die Melodien – piano in Oboe, forte in Violino piccolo (Diana) – aufeinander verweisen, wie sie sich „spiegeln“, wie sie einander ins Auge fassen? Was für eine Schönheit, was für eine abgrundtiefe Trauer! Und im Takt 35 – ein dumpfer Schlag – ist alles vorbei, die V.piccolo hat sich schon seit Takt 30 unter die Tutti-Violinen gemischt, sie holt Atem, der Hirsch ist tot.

Natürlich kennt auch Lateinlehrer Bach seinen Ovid (wie wir, wenn wir hier nachlesen), sieht auch die entsprechenden Bilder an den Wänden der Jagdschlösser, ist in der Lage, völlig verschiedene (oder auch in der Struktur ähnliche!) Musiken dazu zu schreiben… Nicht Endymion schläft, Actaeon – als Hirsch – stirbt, und – allegro – WEITER GEHT DIE JAGD, Diana allen voran. Ausgesungen hat es sich, die auf der Violino piccolo gebrochenen Akkorde reden ein ruppige Sprache!

*    *    *

Man höre – „unbefangen“ – die Anfänge der folgenden Aufnahmen (es geht um die Musik, nicht um die Beurteilung der Interpretation, auch sehr kurze Ausschnitte, z.B. die ersten30 Sekunden):

Und was soll diese letzte Musik? Nein, es ist nicht dasselbe Thema … aber man könnte es verbessert haben, wenn man es zufällig nach 1717 aus Dresden vernommen hätte, wo Heinichen sein Hofamt angetreten hatte. …man? nur einer hätte es so tun können, wie wir es nun kennen.

Ja, wenn das stimmt, was ich oben von Goebel abgeschrieben: „Diese (…) überlieferte dreisätzige Werkgestalt ergänzte Bach für die brandenburgische Version bei der Niederschrift 1720/21 um einen zwischen Adagio und Menuet interpolierten Konzertsatz und…“), dann wäre es genau der dritte Bachsche Satz, der bisher fehlte, und er ist soviel besser als der Kopfsatz von Heinichen, schon in der Weiterkonstruktion des Themas, dass man nicht mehr von Imitat sprechen könnte, eher von einer dezenten Dresden-Kritik aus der Leipziger Werkstatt, nebst Verbeugung in Richtung Brandenburg…

Das Thema Dresden beschäftigt Goebel auf einigen Seiten seines Buches, zumal die Hochzeit König August des Starken im September 1719, die „sich als eines der großen Hoffeste des frühen 18. Jahrhunderts lange im kollektiven Bewusstsein als schlicht ‚unnachahmlich‘ hielt.“ Und man wisse, „dass vor allem die kurz gehaltenen Berliner Königskinder neidisch auf Dresden und seine joviale Festkultur waren“ (Goebel a.a.O.Seite 39). Warum – das ist dabei eine schwer zu lösende Frage – warum fügt Bach in seine abschließende Tanzfolge für den Brandenburger eine „Poloineße“ ein, seit Polens Eingemeindung das Markenzeichen der Dresdner Musikszene, – ist das nun ein Scherz, dieser etwas duckmäuserischer Satz mit einem plötzlich dreinfahrenden forte-Aufbegehren, wohlgemerkt ein Satz, zu dem die Violino piccolo (stellvertretend für des Fürsten Diana-Nähe) ausdrücklich zum Schweigen aufgefordert wird. Scherzhaft gemeint ist ganz sicher im höfischen Menuet das Jagdsignal der Hörner, das von Anfang bis Ende etwas ungebührlich präsent ist und sicherlich auch mal dynamisch witzig auftrumpfen darf. Das Trio II für die 2 Hörner und mit allen Oboen unisono ist von so hinreißender Wirkung, dass ich die Gruppe nicht selten erlebt habe, wie sie in der Körpergestik trabende Pferde suggerierten. Goebel verweist mit Recht darauf, dass das Menuet in seiner frühen Phase recht schnell genommen wurde, – die Tanzfolge bot hier gewiss keinen besinnlichen Ausklang, sondern auch allerhand Gelegenheit zu fürstlichem Entertainment, wenn nicht sogar vom Hörnerklang gestützte Späße.

Selbst wenn die großartigen Heinichen-Concerti heute hinter Bachs Brandenburgischen vollständig verblassen, lohnt es sich, sie gerade im Blick auf diese neu zu hören und mit Hilfe von Goebels Booklet zu erschließen, auch hinsichtlich der Atmosphäre der Zeit und – wie gehabt – der Festkultur, ob Jagd, Hochzeit, Universitätsfeier, prominenter Geburtstag. Wenn es um Bachs Musik geht, können wir nicht sagen: Ach, das Lob der Tugenden eines Professors namens Gottlieb Kortte ist mir gar zu bieder, hatte Bach denn kein größeres Thema?

Nein, er hatte auch nicht die Wahl in einer anderen Zeit zu leben, und wenn er einen Anlass sah, einen Chor umzubauen oder neu zu erfinden wie „Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten“, eine geniale Jagdmusik in einem neuen Zusammenhang wiederzuerwecken, dann dürfen wir ihm ewig dankbar sei, ihm und den Zeitumständen! Zurück zu Heinichen:

… die Concerti »per l’orchestra di Dresda« – man kann sie augenblicklich nur so bezeichnen, da jeder herkömmliche Gattungsbegriff unzutreffend ist -, die hier erstmals komplett vorgelegt werden.

Ein Großteil dieser Konzerte erklang hinter streng verschlossenen Türen (das unverkennbare Jagdkolorit deutet auf das bei Dresden gelegene Wasserschloß Moritzburg*) und verschwand nach Heinichens Tod hinter ebensolchen: Schon der äußerst mitteilsame Heinichen-Artikel in E. L. Gerbers »historisch-biographischem Lexikon« von 1790 erwähnt die Concerti mit keinem Wort.

Wie wir aus späterer Korrespondenz zwischen Telemann und Pisendel erahnen können,  betrachteten höfische Auftraggeber, besonders aber die sächsischen Kurfürsten, die kompositorischen Leistungen ihrer Dichter als Privatbesitz; das kompositorsche Vermächtnis eines Zelenka jedenfalls wurde wie ein Augapfel  und auch mit Argusaugen gehütet. Wurden solche »geschützten« Kompositionen unter der Hand zwischen Interessenten weitergereicht und verbreitet, so bemühte man sich zumindest, die Provenienz zu verschleiern: Entweder veränderte man den Satzbestand oder man fügte sogar gravierende, sinnentstellende Fehler ein, mit denen wir heute bisweilen unsere liebe Last haben.

Quelle ©Reinhard Goebel: Johann David Heinichen: Zwölf Concerti Grossi / Booklet Archiv Produktion

* Moritzburg: Es lohnt sich, diesen Wiki-Artikel zu studieren, z.b. betreffend der Sammlung Rothirschgeweihe im Speisesaal – oder anderswo:

Im Monströsensaal befinden sich 39 krankhaft veränderte Geweihe, darunter auch der berühmte 66-Ender, der 1696 von Friedrich III. Markgraf von Brandenburg erlegt worden war. Während die auf holzgeschnitzten Tierköpfen montierten Trophäen im Speise- und Steinsaal im Vordergrund stehen, ergänzen sie im Monströsensaal die hier vorherrschenden Ledertapeten mit deren Darstellungen aus der antiken Mythologie.

Vielleicht gehen Sie auch dem hier gegebenen Link nach und positionieren den Markgrafen auf unserem oben wiedergegebenen Stammbaum zwischen Großem Kurfürst und kleinstem Halbbruder. Ja, man kannte sich.

Jetzt fehlt mir noch, was Goebel Schönes über das „unnachahmliche“ Hochzeitsfest in Dresden im September 1719 in seinem Buch über  Bachs Brandenburgische Konzerte referiert:

Die musikalischen Beiträge zu diesem vierwöchigen Fest stammen aus der Feder von Johann David Heinichen, Johann Christoph Schmidt und Antonio Lotti und waren derart vielversprechend und spektakulär modern, dass Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann sich als lauschende Zaungäste bei den „Dresdner Herzensfreunden“ [so Telemann & Pisendel] einfanden, ja, vielleicht auch hier und dan selbst musizierend Hand anlegten [wichtige Anmerkung hierzu S.39].

So lange wie das ungefähre Dutzend der Concerti grossi „per l’orchestra di Dresda“ von Johann David Heinichen oder auch eine so meisterhafte Kreation wie Telemanns Suiten-Konzert F-Dur TWV 51: F 4 unbekannt und ungehört waren, so lange löste auch das dem ersten der Bach’schen Six Concerts angehängte Menuet-Rondo Befremdem, Ratlosigkeit und Erklärungs-Notstand aus.

Das typisch Dresdnerische mancher Concerti Heinichens ist – neben prominenter Verwendung der Zeichen setzenden Hörner und von Satz zu Satz wechselnden Solisten – ein nahtloses auslaufen des Concerto über angehängte Suiten – auch wieder mit buntester Kombination der vorhandenen Orchester-Instrumente –  in das höfische Fest.

Quelle Reinhard Goebel: Johann Sebastian Bachs „Brandenburgische Konzerte“ / Verlag Dohr Köln 2023 (Seite 39)

Musica Antiqua Köln unter der Leitung von Reinhard Goebel bei einer Aufnahme in Hamburg (etwa 1985). Produkt: J.S.Bach (Ouverture) Suite Nr. 4 D-Dur BWV 1069 [Goebel wendet sich gerade zurück, spricht mit dem Geiger schräg hinter ihm, und der bin ich.)

*     *     *

Zitat (zum Brandenburg I, bzw. „Vereinigte Zwietracht“:

Gewisse Redundanzen dieses Satzes lassen sich nur aus der Form der Devisen-Arie erklären: Im einer solchen wird die musikalische Motivik eines Arien-Textes im Ritornell emblematisch präfiguriert, beim Entritt der Stimme rückwirkend durch den Text erklärt, im Orchester dann (wortfrei – nun aber mit Kenntnis des Textes) erneut aufgegriffen und danach erst mit der Vertonung neuer Textteile weitergeführt. Die Devise ist in diesem Satz aber bereits drei Mal (bei einer reinen Instrumentalmusik damit das entscheidende Mal zu viel und überflüssig!) erklungen, bevor in Takt 24 endlich Bewegung in den Satz kommt.

Quelle Goebel a.a.O. Seite 37f

Aha, … „endlich Bewegung in den Satz kommt“, ich war eigentlich schon ganz zufrieden…

Eins fehlt also noch: ich möchte mir probeweise Goebels Hörweise aneignen, da wo sie in seinen Bemerkungen durchschimmert. Er hört im Brandenburgischen Concerto innerlich den Chor (oder das Sopran-Solo) mit, aus dem es rückübertragen worden ist. Er hört im Violino-Piccolo-Part also den verborgenen Text – und spürt so Unregelmäßigkeiten auf, die uns vielleicht entgehen, falls wir nicht kleinkrämerisch Takte nachzählen und vergleichen. Aber ein bisschen würde es schon stören, wenn man genauer hinhörte, statt sich davontragen zu lassen. Man muss also zumindest wissen, wo welche Textzeilen behandelt waren und wie oft sie wiederholt werden, bevor es weitergeht. Beginn in den Brandenburg-Noten Takt 17:

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten,
Der rollenden Pauken durchdringender Knall!
Locket den lüsteren Hörer herbei,
Saget mit euren frohlockenden Tönen
Und doppelt vermehretem Schall
Denen mir emsig ergebenen Söhnen,
Was hier der Lohn der Tugend sei.

Aber kann es wirklich etwas bedeuten, ob eine Wiederholung mehr durch den Text motiviert ist oder nicht?  welcher in jedem Fall unzählige Male dasselbe sagt? Ein mir noch ungelöstes Rätsel.

Und seither grübele ich (unten), was Goebel (s.o.) gemeint hat (Stichwort Devisen-Arie). Für mich geschieht im Brandenburg I Satz 3 am Anfang folgendes:

Takt 1-4 Aufsteigendes Thema in öffnende Geste hineinlaufend 0:07

Takt 5-7 Absteigende Antwort / Takt 8-11 Abwartende Haltung 0:20

Takt 12-16+ Zusammenfassende und abschließende Geste 0:29

Takt 16-20 Solo V. Piccolo Schein-Wiederholung mit anders öffnender Geste 0:36

Takt 21-24 Tutti wie zu Anfang (auch öffnende Geste), aber pianissimo! 0:43

Takt 25-30 Absteig. Antwort mit massiver V.P., modulierender Halbschluss 0:54

Takt 31-34 V.P. weiter aufsteigend, die Modulation festigend 1:02

Takt 35-38 Tutti Thema C-dur mit Halbschluss 1:09

TAKT 38-40 V.P. Soloabschluss C-dur (im Chor der Kantate steht hier der letzte „durchdringend[e] Knall“. )* 1:13

Wenn Sie diesen Abschnitt hören wollen (orchestral), dann bewusst oben ab Anfang bis genau 1:13, nur bis da, – obwohl es ja unmittelbar weitergeht; in der Chorkantate folgt nach diesem angehängten Zwischenspiel die Strophe „Locket den lüsteren Hörer“.

Aber da ist nichts, was musikalisch zuviel ist und nach einer Erklärung durch die Devisen-Arie ruft, – tut mir leid.

*diese beiden Takte der Solo-V.P. (bzw. des Chores) sind Zusatz, denn „eigentlich“ würde auf Takt 38 direkt Takt 41ff folgen: analog „Takt 5-7 Absteigende Antwort / Takt 8-11 Abwartende Haltung“ sowie „Takt 12-16+ Zusammenfassende und abschließende Geste“ / so dass wir erst Ende Takt 52 ans überzeugende Ende des ersten Hauptteils gelangt sind. [Zeitpunkt:1:35] Etwas ganz Neues beginnt… das sonderbare Kurzgespräch des Violino Piccolo mit der Oboe (im Chor: „Locket den lüsteren Hörer herbei“), Zwischenkadenz A-moll Takt 63. [1:55]

Und der Zusatz: nach dem Muster „Takt 8-11 Abwartende Haltung“ sowie „Takt 12-16+ Zusammenfassende und abschließende Geste“, denn es soll wieder – etwas ganz Neues beginnen… [2:07] nämlich ab Takt 70 das nächste sonderbare Kurzgespräch des Violino Piccolo mit den Gefährten der 1. Geige und: die Große Adagio-Kadenz! Beruhigung. Da-capo ist willkommen. [2:41]

Ich würde sagen: dieses zweimal erwähnte ganz Neue bezeichnet man in der Rhetorik als „Perturbatio“ (s.a. hier)

*     *     *

Erster Versuch zur Textverteilung des Satzes in „Vergnügte Zwietracht“

RITORNELL

T.17 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

T.21 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Der rollenden Pauken durchdringender Knall! / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

T.41 RITORNELL

T.53 Locket den lüsteren Hörer herbei, / Saget mit euren frohlockenden Tönen /

Und doppelt vermehretem Schall / Denen mir emsig ergebenen Söhnen /

Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei. T.66

T.67 RITORNELL

T.73 Locket den lüsteren Hörer herbei, / Locket den lüsteren Hörer herbei, /

Saget mit euren frohlockenden Tönen / Und doppelt vermehretem Schall / Denen mir emsig ergebenen Söhnen / Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei.  / T. 88-89 ADAGIO (→folgt DACAPO)

T.90 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

T.115 RITORNELL

hier Noten dazu (Petrucci)

Neuer Versuch, die beiden Sätze nebeneinander zu sehen (Synopse): beide in externen Fenstern zum Abhören bereitstellen

n : Neues Material

HIER 1 Brandenburgisches I, 3

(0:00) bis 0:29/1:13 — 1:35 n1:48/1:55 n2:07/2:29 -Adagio- 2:41 (Dacapo) — 4:00 Ende

HIER 2 Vereinigte Zwietracht

(3:07) bis 3:22 — 4:01/4:21 n4:44/4:55 n5:16/5:21 -Adagio- 5:35 (Dacapo) — 6:45 Ende

Damit sind die erwähnten unterschiedlichen (Takt-)Längen noch nicht geklärt. Es muss also an dieser Stelle etwas präzisiert werden.

Ich betrachte jedoch im Prinzip die analytische Arbeit, die ich mir vorgenommen hatte, als erledigt. Jede/r andere hätte mit einer gewissen Hartnäckigkeit, die zum Frühling gehört, darauf kommen können. Dank an Reinhard Goebel, der mich mit seinem Buch auf gewisse Formprobleme aufmerksam gemacht hat! Der Tag passt auch: Ostermontag, 10. April 2023 / 21.30 Uhr / Bad Lippspringe / Cecilien-Klinik / JR

 

Grabstein als Last

Als mein Vater am 31. August 1959 gestorben war, ging es zunächst gar nicht um den Grabstein. Niemand hatte es damit eilig. Fest stand aber schon, dass darauf Platz sein sollte für den Namen und die Daten unserer Mutter. Niemand ahnte – am wenigstens sie selbst – dass sie noch fast ein halbes Jahrhundert vor sich hatte.

Schon zu Weihnachten präsentierte ihr ein seit alters befreundeter Künstler als Geschenk einen Grabsteinentwurf, der in der engeren Familie auf einhellige Ablehnung stieß. Erstens: dieses harfenähnliche Instrument, vielleicht in Erinnerung an ein weihnachtliches Schulkonzert meines Vaters, das er selbst zu unser aller Befremden betitelt hatte: „Zwingt die Saiten in Kythera“, – oder Cythara? niemand kannte den Choral oder die Bach-Kantate BWV 36, in der er vorkommt. Was soll das Wort „zwingt“? Und das andere: hieß es vielleicht korrekt Kythara? Natürlich, siehe hier. Eine altgriechische Zither oder Leier? Aber mein Vater sah sich doch lebenslang am Flügel, nicht einmal eine Gitarre rührte er an, die unter Schülern plötzlich hoch im Kurs stand. Für sie hatte er sogar Gershwin geübt. Aber – was ist das: feixte dieser Grabstein nicht ungehörig?

Der Entwurf hatte keine Chance. So peinlich er uns war, wie sollte man es begründen? Der eigentliche Grund lag tiefer, aber niemand kam drauf. Nicht das Altgriechisch-Zopfig-Musische störte, sondern das Soldatische, das meinem Vater immer unsympathisch gewesen war. Ein Heldengrab? Es ist dem alten vaterländischen Orden nachempfunden. Eine Art Eisernes Kreuz für musikalische Verdienste posthum? Am Ende der fünfziger Jahre?

Und heute, nach weiteren 60 Jahren fällt es mir auf, was genau uns damals widerstrebte:

Quelle Wiki hier

In meiner Sammlung familiärer Erinnerungsstücke befindet sich auch das folgende Verdienstkreuz (für Onkel Ernst, den Bruder unsrer Mutter, der seit 1943 dann im Osten „vermisst“ war).

Was für ein Formenspiel, was hat das alles zu bedeuten? Ich lese hier. Im folgenden Zitat geht es um die Ordensstiftung im Jahr 1813 (alles weitere siehe im Link):

Auch die Form des neuen Ehrenzeichens war symbolisch aufgeladen. Bewusst wurde die Anlehnung an das Balkenkreuz des Deutschen Ordens gesucht: ein schwarzes Tatzenkreuz mit sich verbreiternden Balkenenden auf einem weißen Mantel, wie ihn die Deutschritter schon seit dem 14. Jahrhundert tragen. Damit sollte der nun beginnende Krieg in die Tradition der Kreuzzüge gerückt und so sakralisiert werden. Im Mittelpunkt der Symbolwelt um das Eiserne Kreuz stand die Ehefrau Friedrich Wilhelms III., Königin Luise. Seit ihrem Tod 1810 hatte sich um sie ein Mythos als vorbildliche Gattin, liebende Mutter, preußische Madonna und Märtyrerin gesponnen, an den der König mit dem Eisernen Kreuz anknüpfte.

All dies hat mit meinem Vater nichts zu tun. Die 50er Jahre waren auch für uns mit seinem Lebensende vorbei… Sein Grabstein sollte abgerundet sein. Ich fuhr im April 1960 nach Berlin, um dort zu studieren, wo auch er studiert hatte. Wichtiger war allerdings: Ich wollte so weit wie nur möglich fort von zu Hause.

Die ernste Geschichte der Figura

Im Mittelpunkt: Flaubert

FIGURA: Seit Tagen verfolgt mich aufs Neue dieser Begriff, ich überlege, lese hier, lese dort, auch im eigenen Blog, aber wenn ich es nicht auf meine der Gegenwart angepasste Art notiere und repetiere, wird alles, was ich daraus gelernt habe, wieder verschwinden. In alle Winde zerstreut. Wie schon früher einmal. Hätte ich etwa unter dem Namen Stendhal (Kap. XVIII) nachgeschaut? Also los. Zunächst: Nichts als dies Stückchen Text. Mögliche Überschrift: „Die einsame Frau“. Und sucht man Aufklärung über den beiläufig erwähnten französischen Ort „Tostes“, so findet man hier etwas, – aber nötig ist das nicht.

Am Nachmittag erschien zuweilen vor den Fenstern des Eßzimmers ein sonnengebräunter Männerkopf mit einem schwarzen Schnurrbarte und einem trägen Lächeln um den Mund, in dem die Zähne leuchteten. Alsbald begann eine Walzermelodie aus einem Leierkasten, auf dessen Deckel ein kleiner Ballsaal aufgebaut war mit daumenhohen Figuren darin: Frauen in roten Kopftüchern, Tiroler in Lodenjacken, Affen in schwarzen Röcken, Herren in Kniehosen; alle tanzten sie zwischen den Sofas und Lehnstühlen und Tischen, wobei sie sich in Spiegelstücken vervielfältigten, die mit Goldpapier aneinandergereiht waren. Der Leierkastenmann drehte die Kurbel und spähte dabei nach rechts und links nach allen Fenstern. Hin und wieder spie er einen langen Strahl tabakbraunen Speichels gegen die Prellsteine oder stieß mit dem Knie seinen Kasten in die Höhe, dessen Gurt ihm die Schultern drückte. In einem fort, bald schwermütig und schleppend, bald flott und lustig, dudelte die Musik hinter dem roten Taftbezug, der unter einer schnörkelhaft ausgestanzten Messingleiste an den Leierkasten angenagelt war. Es waren Melodien, die gerade Mode waren und die man überall hörte, in den Theatern, Salons und Tanzsälen, Klänge aus der fernen Welt, die auf diese Weise die einsame Frau erreichten. Diese Klänge im Dreivierteltakt wollten dann nicht wieder aus ihrem Kopfe weichen. Wie die Bajadere über den Blumen ihres Teppichs, tanzten ihre Gedanken im Rhythmus dieser Melodien und wiegten sich von Traum zu Traum und von Trübsal zu Trübsal. Wenn der Mann die milden Gaben in seiner Mütze gesammelt hatte, umhüllte er seinen Kasten mit einem blauwollnen Uberzug, nahm ihn auf den Rücken und verließ das Dorf schweren Schrittes. Emma schaute ihm lange nach.

Am unerträglichsten waren ihr die Mahlzeiten im Eßzimmer unten im Erdgeschoß. Der Ofen rauchte, die Türe knarrte, die Wände waren feucht und der Fußboden kalt. Die ganze Bitternis ihres Daseins schien ihr da auf ihrem Teller zu liegen, und aus dem Dampf des ausgekochten Rindfleisches wehte ihr gleichsam der Brodem ihres ihr so widerwärtig gewordenen Lebens entgegen. Karl aß und aß, während sie ein paar Nüsse knackte oder, auf die Ellenbogen gestützt, sich damit vergnügte, mit der Messerspitze allerlei Linien in das Wachstuch zu kritzeln.

In der Wirtschaft ließ sie jetzt alles gehen, wie es ging. Ihre Schwiegermutter, die einen Teil der Fastenzeit zu Besuch nach Tostes kam, war ob dieses Wandels arg verdutzt. Emma, die erst in ihrem Äußeren so akkurat und adrett gewesen war, lief nunmehr tagelang in ihrem Morgenkleide umher, trug graue baumwollne Strümpfe und fing an zu knausern und zu geizen. Sie meinte, man müsse sich einschränken, da sie nicht reich seien, fügte aber hinzu, sie sei höchst zufrieden und überaus glücklich, und in Tostes gefalle es ihr über alle Maßen. Mit solch wunderlichen Reden beschwichtigte sie die alte Frau Bovary. Im übrigen zeigte sie sich für die guten Lehren der Schwiegermutter nicht empfänglicher denn früher. Als diese gelegentlich die Bemerkung machte, die Herrschaft sei für die Gottesfurcht der Dienstboten verantwortlich, ward Emmas Antwort von einem so zornigen Blick und einem so eiskalten Lächeln begleitet, daß die gute Frau ihr nicht wieder zu nahe kam.

Die Übersetzung – so steht es am Ende dieser Ausgabe im Projekt Gutenberg – stammt von Arthur Schurig. Ich lasse es dabei bewenden. „Frau Bovary“ (sic!) von Gustave Flaubert.

Und hier der Sekundär-Text, der mich immer wieder in Bewegung setzt, man schaue noch einmal auf den Mittelteil der oben wiedergegebenen deutschen Übersetzung: er entspricht dem französischen Zitat, das jetzt in der fünften Zeile zu lesen ist: Am unerträglichsten waren ihr die Mahlzeiten im Eßzimmer unten im Erdgeschoß… 

Quelle Erich Auerbach: MIMESIS Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur / Vierte Auflage Francke Verlag Bern und München 1946 (4.1967)

Dies Werk besaß ich seit April 1969, ohne es in allen Kapiteln durchzuarbeiten, aber wohl ahnend, welche Bedeutung es haben könnte. Angesichts der vielen Anregungen von außen, versäumte ich die Welt in wesentlichen Zügen. Schon 1962 hatte ich – dank Hugo Friedrichs „Struktur der modernen Lyrik“ – Flauberts „Trois Contes“ bzw. „Drei Erzählungen“ gelesen, mich aber dummerweise über die zweite („Saint Julien L’Hospitalier“) so geärgert, dass ich ihren Wert nicht erkennen konnte. Die dritte aber las ich nur noch, weil ich sie auf „Salome“ bezog, die Strauss-Oper, die ich bis zur Besinnungslosigkeit hörte (LP Gesamtaufnahme mit Nilsson & Solti bei einem Bielefelder Freund). Ich hätte mir die abschreckende, übertriebene Heiligengeschichte als einen magischen Film vorstellen müssen, etwa wie Jean Cocteaus „Orphée“, den ich in Berlin -zigmal gesehen hatte (auch die Fortsetzung).

Damals hat mich „Jesus Christus“ geschockt, – der Freigeist Flaubert vorm Kreuz eingeknickt? – heute habe ich mich sofort an Wikipedia gehalten, um den Wahrheitsgehalt des letzten Satzes zu eruieren, der mir damals aus der Luft gegriffen schien. (Ich hätte auch das lehrreiche Nachwort von Walter Boehlich wirklich lesen sollen, so wäre ich klüger geworden. Es ist nie zu spät:)

Der zweisprachige Flaubert-Band war damals als Nr. 44  in der Reihe Die Fischer-Bibliothek der hundert Bücher erschienen, heute nur noch antiquarisch aufzufinden. Grund genug für mich, 2017 die neue deutsche Ausgabe im Hanser-Verlag zu erwerben, neue Übersetzung von Elisabeth Edl, die auch ein lesenswertes Nachwort beiträgt; wunderbar der Anhang mit den Briefen des Autors aus der Entstehungszeit der Drei Geschichten sowie (Vorsicht!) aus seiner Reise in den Orient.

Den Covertext zu lesen, ist nicht ersprießlicher als eine Schein-Kritik zweier Berliner Aufführungen der „Neunten“ (Barenboim, Jurowski). Wir haben Thielemann erlebt (Semper-Oper) und uns geprüft. Zur Gänze. Der Kritiker aber ließ durchschimmern, man könne sich vorstellen, wie Beethovens Sinfonie nach dem langsamen Satz abbräche, gleich der „Unvollendeten“ von Schubert. Mein Gott, warum denn nicht, wenn einem zu lang wird. Auch von dem gendergerechten Prolog sprach er, „Schwestern, überm Sternenzelt“? Und er fände es besser ohne… Wie recht er hat. Salome, die tanzt, bis sie Johannes‘ des Täufers Kopf bekommt – fünf Jahre nach ihrer gefeierten Neuübersetzung der Madame Bovary / usw. usw. – ja, gerade höchstes Lob kann verletzen. Ich bin kein Maßstab, ich habe 60 Jahre gebraucht, ehe ich es neu lesen kann.

*    *    *

Doch zurück zum Auerbach-Titel: handelt es sich bei den Flaubert-Texten um „dargestellte Wirklichkeit“ ? Es ist doch bloße Fiktion? Eine dumme Frage, die man aber doch für sich selbst einmal klären muss. Auch fiktive Wirklichkeit wird nicht anders dargestellt als reale Wirklichkeit. Mit denselben Mitteln, wie denn sonst?!

(Fortsetzung folgt)

Urtext mit geheimen Zeichen?

Wie der Praktiker zur wissenschaftlichen Arbeit kommt

Für angehende Musiker[innen] gehört es schon früh zu den selbstverständlichen Fragen, ob die in den Noten – als Achtel, Viertel oder wie auch immer – scheinbar eindeutig dargestellten Töne kurz oder lang, markiert oder leichtfüßig wiederzugeben sind. Alles, was nicht ausdrücklich in den Noten steht – und das ist viel -, kann zu einem Problem werden. Viele Details, die den Vortrag betreffen, werden im lebendigen Unterricht vermittelt, manches, was um 1800 selbstverständlich war, gerät in einer anderen Epoche in Vergessenheit. Es muss gesagt und vorgemacht werden, es kommt nicht von selbst. Auch neue, groteske Missdeutungen werden regelrecht eingeübt. Ich nenne nur ein Beispiel: im Laufe des 19. Jahrhundert wurde es selbstverständlich, dass ein guter Musiker über den Taktstrich hinwegdenkt, dass er eine Melodielinie partout über mehrere Takte hinwegspannt. Dies nicht zu tun, war geradezu ein Zeichen für unmusikalisches Verhalten. In meiner Lernzeit (50er Jahre) gab es dementsprechend die geigerische Manie, den Schluss eines Taktes immer zu crescendieren und in die Eins des nächsten Taktes hinüberzuziehen. Ein Markenzeichen dieser nicht abbrechenden Intensität war auch das Dauervibrato, das man zur Schau trug, als dürfe es keine entspannteren Phasen geben.

Insofern musste erst wieder gelernt werden, dass vieles z.B. in der Barockmusik ganz anders zu handhaben ist; dass es einen rastlos wandernden Bass gab, dass andererseits die Tanzmusik bestimmte Betonungen – auch taktweise – vorgab und die Musik trotzdem nicht langweilig wird, sondern gerade dadurch erst ihren hinreißenden Drive bekommt.

Heute wundert sich kein musikalischer Mensch mehr, dass über solche Fragen der Artikulation, Betonung und Phrasierung endlos gestritten werden kann. Dass es – auch nach jahrzehntelanger bewährter Orchesterpraxis – niemals überflüssig wird, nachzufragen, wie genialische Menschen denn wohl selbst ihre Werke einem Publikum dargeboten oder mit Schülern ausgearbeitet haben. Und was sie dabei in die Noten eintrugen, um ja nicht missverstanden zu werden. Jeder Hinweis wäre nützlich. Ich erinnere nur an den Vortrag der Mazurken von Chopin: wie nah oder wie fern stehen sie noch der Praxis der polnischen Volksmusik? – oder dem, was der Komponist selbst als „Nationalcharakter“ empfand, aber schon als hauptstädtische Modifikation betrachtet werden könnte (siehe hier).

Ich hatte mich in den 60er Jahren relativ früh mit „Aufführungspraxis“ beschäftigt, dank meinem Lehrer Franzjosef Maier, erst recht seit er uns im Kurs für Alte Musik Köln Georg Muffats Vorrede zum „Florilegium secundum“ studieren ließ (die wohl auch für ihn neu war) und wie man mit solchem Rüstzeug nicht nur „Terpsichore“ von Praetorius adäquat erarbeiten konnte, sondern entsprechend auch die genuin französische Musik: Suiten von Lully, Rameau oder Campra. Damals eine neue Welt! (Maiers Name fehlt übrigens in den Annalen der Stadt Köln, siehe hier ab Seite 6, Dr. Alfred Krings war die treibende Kraft.)

Die praktizierenden Musiker begannen erfolgreich ins Gehege der Musikwissenschaft einzudringen und machten ungeahnte klangliche Entdeckungen. August Wenzinger, Fritz Neumeyer, Gustav Leonhardt, Nikolaus Harnoncourt und viele andere. Concentus musicus Wien, Cappella Coloniensis, Collegium Aureum, La Petite Bande. Am Anfang ahnte niemand, dass eine musikalische Revolution bevorstand. Für mich war es eine Offenbarung, als ich im Musikhaus Tonger zufällig diese Abhandlung entdeckt hatte und all die Zeichen zu hinterfragen begann, die mir eigentlich aus der Violinschule von Leopold Mozart schon seit den 50er Jahren (Musikbücherei Bielefeld) vertraut sein mussten. Aber der Fall liegt so: man kennt es in der Schriftlichkeit, als archaisches Faktum, aber man realisiert es nicht, die Bedeutung erreicht uns erst auf einer ganz anderen Ebene.

Bielefeld 50er Jahre

Neu war in den 60er Jahren, dass die Zeichen uns auf den Leib rückten, wir schafften uns auch das Material an, die Bögen, um die gemeinten Stricharten auch „taktil“ zu erleben. Wir versuchten es zumindest. Wie geht ein Springbogen, ein Spiccato, mit solchen Bögen?

Entwicklung des Bogens (nach David D. Boyden 1971)

Soviel – so knapp wie möglich – zu meiner Vorgeschichte des (Kennen-)Lernprozesses der „Aufführungspraxis“ oder der „historisch informierten Spielweise Alter Musik“ oder wie auch immer Sie es nennen wollen, wobei die Spannweite der Impulse, die von der „Alten Musik“ ausgingen, sich kontinuierlich über Klassik, Romantik in Richtung Moderne erweiterte, wo wir mit Leibowitz, Kolisch, Adorno zugleich wieder bei Beethoven gelandet sind… Man lese nur Thomas Seedorf über die Erweiterung des Repertoires hier. Ein Zwischenstopp bei Ravel, dessen Bolero hier nicht als Beitrag zur Geschichte der Aufführungspraxis gedacht ist: eine Melodie-, Harmonie-, Monotonie- und Instrumentationslehre ohnegleichen…

Ist es ein Wunder, dass auch heute noch ein Buch mit neuen Erkenntnissen zu Beethovens Aufführungspraxis uns in Aufregung versetzen kann? Nein, es ist kein Wunder, zumal es von diesem Dirigenten stammt, einem Mann der Praxis: Uroš Lajovic, aus der Schule der Praktiker Bruno Maderna und Hans Swarowsky. Und mit besonderer Sympathie habe ich unter dem beflügelnden Vorwort des Buches den Namen eines ehemaligen WDR-Kollegen gelesen, – mit dem entsprechenden berufsbezogenen Zusatz: Michael Schwalb, Cellist und Musikjournalist.

(Fortsetzung folgt)

Beethoven-Link betr. Punkt und Keil hier , siehe Schwalb Seite 10

(Fortsetzung oder Ergänzung folgt)