Die Kraft des Orgelwerks BWV 541

Zeugnis der Jugend oder der Reife?

Ich, Ich, Ich – ich höre bis genau 6:50 – von viel Bekümmernis…

Und richte mich wieder auf,neue Kraft fühlend“ (Beethoven):

Orgel 541 a die Noten (alte Bach-Ausgabe) als pdf.

Quellen Hans-Joachim Schulze: Nachwort zur Faksimile-Ausgabe Leipzig 1996 / Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach S.Fischer Frankfurt a M 2000 (Seite 141)

Entstehungszeit: Leipzig

“Das G-Dur” – so wird BWV 541 im Sprachgebrauch der Organisten allgemein heraushebend genannt – ist eines der bekanntesten und meistgespielten Bachschen Orgelwerke überhaupt. Aus gutem Grund natürlich: der fröhliche, mitreißende Überschwang des Präludiums und der heitere Ernst der musikalisch vielschichtigen Fuge nehmen jeden Hörer sogleich für sich ein. Darüber hinaus überzeugt die geschmeidige, zugleich unnachahmlich souveräne, ungezwungene Faktur des Ganzen, die das Werk den Leipziger Jahren, der Zeit vollkommener Meisterschaft Bachs zuweist.

Die musikwissenschaftliche Quellenforschung hat für das Werk folgende Entwicklungsstadien hochwahrscheinlich gemacht: Aus der Auswertung zahlreicher Abschriften läßt sich erschließen, daß Bachs (nicht erhaltene) Erstniederschrift wohl in den allerersten Leipziger Jahren entstanden ist. Um einiges danach nahm er eine Reihe von Verbesserungen vor und fügte zeitweise zwischen Präludium und Fuge den Triosatz BWV 528/3 in e-moll ein (vgl. das zur Entstehungsgeschichte der Triosonaten BWV 525-530, sowie das zu Präludium und Fuge C-Dur BWV 545 Gesagte!). Nicht vor 1733, vielleicht auch erst in den 1740er Jahren, wie es heißt, schritt er dann mit weiteren Änderungen und Korrekturen zur Endredaktion, wobei der Triosatz keine Aufnahme mehr fand. Diese Endfassung ist uns autograph erhalten; BWV 541 ist somit eines der wenigen freien Orgelwerke Bachs, die uns in authentischer Version vorliegen.

Zitat aus: Joachim Winkler hier

Zu Bernard Winsemius siehe Wikipedia hier

typisch der späte Bach?

Auf jeden Fall: Eine musikalische Form, deren Betrachtung Kraft spendet!

Wie höre ich die Form der Fuge, wenn ich kein Notenleser bin? Zumindest die Zeilen mit den Pausen (leeres System) kann ich erkennen – ein wichtiges Zeichen: der Tonsatz, der sich auf der ersten Seite von Stimmeinsatz zu Stimmeinsatz anreicherte, bis zur Vierstimmigkeit, wird dünner, durchsichtiger, nämlich dreistimmig (Seite 2) und sogar zweistimmig (Seite 3), bis zum auffälligen Themeneinsatz im Bass, dem weitere Einsätze, auch unvollständige, in dichtem Wechsel folgen. Gipfelpunkt Fermate auf vermindertem Akkord. (Seite 4) Danach noch dichtere Folge von Themeneinsätzen, vom Bass her, Grundtonart, sich auftürmend, bis zum gehaltenen Sopran-Grundtonart, gehalten Bass-Grundton, thematischer Abschied in der Unterstimmen.

Es hat also keinen Sinn, wie etwa im Wohltemperierten Klavier „Durchführungen“ zu nummerieren und miteinander in Beziehung zu setzen.

Zu allererst: die Geschichte des Themas verfolgen, dann die Zutaten (Motivik) zu registrieren: zum Beispiel folgt nach dem ersten Durchgang (Seite 1) – mit dem Thema in Alt, Tenor, Bass und Sopran – ein Zwischenspiel mit der Vorahnung (Tonrepetition) und (Seite 2) dem versteckten Neubeginn des Themas im Alt (wie am Anfang), Verdünnung des Satzes zur Dreistimmigkeit mit Vorahnung  und (1 Oktave tiefer) Thema im Tenor (durch Terzparallelen im Sopran verstärkt), danach echte Schlusskadenz im Bass und Zwischenspiel (Laufwerk),  ausgedünnt in Dreistimmigkeit (und Zweistimmigkeit), bis (Seite 3) Neuansatz des Themas im Bass (D-dur mit Laufwerk), dann Thema im Sopran, echte Kadenz A-moll (Seite 4). Abspaltung  Thementeil + Engführung bis Thema im Bass, mündet in Fermaten-Stopp. Danach Affirmation als Themendurchgang Alt, Sopran, Tenor (Orgelpunkt dazu im Sopran und kurz danach auch im Bass), feierliche Schlusstakt-Auflösung.

Hören Sie es? Jetzt wird es also ernst, – Form komprimiert auf kürzeste Hinweise: Wahrnehmen und Erkennen, was passiert, da draußen an der Orgel – und in unserm Gemüt. Wer den Kraftzuwachs erwartet, – erhält ihn auch… Das ist Fügung durch FUGE. Jugendfuge.

Kurzfassung (mit Zeitangaben, bezogen auf die obige Aufnahme mit Bernard Winsemius):

Beginn 3:20 – Durchgang Ende 4:10 – versteckter Neubeginn 4:35 – echte Schlusskadenz 5:14 –  Zwischenspiel bis 5:55 = Neuansatz Thema im Bass – in Sopran A-moll bis 6:26 – Engführung Teilthema bis Thema im Bass 6:34 und zur Fermate 6:55 – Themendurchgang Affirmation bis Ende 7:40

P.S.

Was hätte Bach wohl gesagt zu meinen wenig professionellen Höranweisungen in Sachen „Fuge“? Ein hochprofessioneller Zeitgenosse hat sich daran erinnert, als er einmal über die Fuge schlechthin nachdachte (farbige Hervorhebung von mir):

Bedenken Sie einmal, wie vielmal man den Hauptsatz in einer Fuge hören muß. Wenn man ihn nun noch dazu in eben denselben Tonarten, es sey gleich höher oder tiefer, ohne was anders dazwischen, immer in einem weg hören muß, ist es alsdenn möglich, den Ekel zu verbeißen? Wahrlich, so dachte der größte Fugenmacher unserer Zeiten, der alte Bach, nicht. Sehen Sie seine Fugen an. Wie viel künstliche Versetzungen des Hauptsatzes in andere Tonarten, wie viel vortreflich abgepassete Zwischengedanken finden Sie da nicht! Ich habe ihn selbst einmal, als ich bey meinem Aufenthalte in Leipzig mich über gewisse Materien, welche die Fuge betrafen, mit ihm besprach, die Arbeiten eines alten mühsamen Contrapunktisten für trocken und hölzern, und gewisse Fugen eines neuern nicht weniger großen Contrapunktisten, in der Gestalt nämlich, in welcher sie aufs Clavier appliziret sind, für pedantisch erklären hören, weil jener immer bei seinem Hauptsatze, ohne einige Veränderung bleibt; dieser aber, wenigstens in den Fugen, wovon die Rede war, nicht Feuer genug gezeiget hatte, das Thema durch Zwischenspiele aufs neue zu beleben.

Quelle F.W.Marpurg, Kritische Briefe über die Tonkunst -Berlin, 9.2.1760 III/701

P.P.S 1.6.23

Noch bin ich im Zweifel, ob ich das Wort „Feuer“ inhaltlich so eng (oder so weit?) fassen darf, da schlage ich die neue ZEIT auf, lese (nach dem Artikel über Fledermäuse – gestern Nacht hatte ich sie am Himmel über dem Garten gesichtet!) mit wachsendem Interesse den Artikel des Lebensphilosophen Wilhelm Schmid, den ich einst beim Kongress in Dresden kennengelernt habe und jetzt meist mit Vorsicht umgehe, und er macht hier aufmerksam auf das Wort „Feuer“ in einer Bach-Kantate (Pfingst-Kantate, eine andere als die, die ich kennengelernt habe).

O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe,
Entzünde die Herzen und weihe sie ein.
Lass himmlische Flammen durchdringen und wallen,
Wir wünschen, o Höchster, dein Tempel zu sein,
Ach, lass dir die Seelen im Glauben gefallen.