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Woher kam der Jazz?

Maximilian Hendlers Forschungsreisen

Zitat:

Die befremdlichen Züge, welche die Musik der Afroamerikaner für Weiße an sich hatte und immer noch hat, führten zu einem bis heute weiterwirkenden Irrtum. Die afroamerikanische Musik kommt von den Schwarzen – die Schwarzen kommen aus Afrika -, daher kommt die afroamerikanische Musik aus Afrika. Die Jazzforscher, die alles, was nicht in der Musikästhetik der westlichen Hochkultur enthalten ist, nach Afrika verlegen wollen, ziehen ein Faktum nicht in Betracht: Der größte Teil der traditionellen afrikanischen Musik wurde zu religiösen und sozialen Anlässen gemacht, an denen Afrika extrem reich war und selbst heute noch immer ist.

Für die Afrikaner, die in die amerikanische Sklaverei gerieten, fielen diese Anlässe weg. Ihnen blieb nichts anderers übrig, als sich jener musikalischen Formen zu bedienen, die sie zunächst bei ihren weißen Besitzern und später auch beim weißen Proletariat zu hören bekamen. Ihre Rezeption dieser Musikformen bildet die Basis, aus der in den Jahrzehnten um 1900 der Jazz erwuchs.

GRAZ 2008

WIEN 2023

Was mich das angeht?

Titel, die leicht aufzufinden sind:

S.40 My Gal is a highborn Lady hier oder hier

S.41 Crappy Dan hier

S.43 All coons look alike to me hier (Arthur Collins) hier und hier

S.47 Nobody / When life seems hier

S.77 A Georgia camp meeting hier

S.89/90  Jelly Roll Morton (gesamt) hier Tiger Rag hier different tempi hier

S.94 A happy little chappie hier ?

S.106 Scott Joplin Easy winners (mit Noten) hier

S.106 Frank P. Banta hier

S.120 Original Dixieland Jazz Band 1917 Tiger Rag hier Livery Stable Blues hier

S.126 Duke Ellington 1927 (?) Bugle Call Rag hier

(Fortsetzung folgt)

Als Gegenposition sei an dieser Stelle auf das Buch von Gerhard Kubik (1999) verwiesen, der ein ausgewiesener Afrikakenner ist. Was die Argumentation, dass der Blues aus Afrika kommt, nicht von vornherein glaubwürdiger macht, – als habe sich über Generationen von Sklaven eine solche Erinnerung halten können. Zu berücksichtigen wäre die schlichte Tatsache, dass mit ihrer Ankunft in Amerika das absolute kulturelle Prägerecht der afrikanischen Sklaven die Kirchen und Sekten  übernommen hatten. Da blieb nichts übrig.

Der Name Kubik kommt bei Hendler nicht vor, weil die neueren Forschungen am überlieferten Material und die Einbeziehung der frühen Schichten europäischer Volksmusik einen ganz anderen Weg wiesen.

Und vor allen Dingen: statt den schnellen Weg nach Afrika zu nehmen, lohnt es sich in die Tiefe der Geschichte einzutauchen, und nicht nur dort, wo sie für Menschen unserer Zeit (rückwirkend) interessant ist und Musikprojektionen befeuert. Man lese daraufhin den Wikipedia-Artikel „Great Awakening“ mit Blick auf die unterprivilegierten Schichten der amerikanischen Bevölkerung.

Edwards’ Predigten waren machtvoll und zogen von etwa 1731 an ein großes Publikum an. Der aus England eingereiste methodistische Prediger George Whitefield setzte die Erweckungsbewegung fort, bereiste die britischen Kolonien und predigte in einem dramatischen und emotionalen Stil, der in dieser Zeit neu war. Neu war auch, dass Whitefield im Publikum jedermann – auch Afroamerikaner und Sklaven – akzeptierte…

Durch das Great Revival gelangten erstmals auch viele Sklaven zum christlichen Glauben. In den südlichen Kolonien erlaubten die Baptisten seit den 1770er Jahren sowohl Sklaven als auch Sklavenhaltern das Predigen. Nachdem Frauen in den Kirchen bis dahin überrepräsentiert gewesen waren, stieg auch die Anzahl der männlichen Kirchenmitglieder…

Wie die amerikanische Theologin Kimberly Bracken Long 2002 dargestellt hat, führen Geisteswissenschaftler die Camp Meetings seit den 1980er Jahren auf die Tradition der Holy Fairs zurück, die im 17. und 18. Jahrhundert in Schottland verbreitet waren. Bis dahin hatte man ihre Wurzeln ausschließlich in der amerikanischen Grenzland-Erfahrung vermutet…

Die Bemühungen, christliche Lehren auf die Lösung sozialer Probleme anzuwenden, waren wichtige Vorläufer und Präzedenz-Fälle für die Social-Gospel-Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, auch wenn sie in ihrer eigenen Zeit nur sehr eingeschränkt auf bestimmte Themen wie Alkohol und Sklaverei zur Geltung kam und nicht auf die Gesamtwirtschaft bezogen wurden…

NEU (11.05.23) DIE ZEIT Seite 52 Buch-Empfehlung

Kein Zurück zu Rousseau

Eine Rekapitulation

Warum? (Lesen Sie!)

Die Schwierigkeit mit Rousseau ist die, dass er es sich zu einfach macht, aber dies mit unendlich vielen Worten. Vielleicht ist auch die Formel schuld, auf die man seine Philosophie verkürzt hat: Zurück zur Natur. Wenn man jedoch die Korrektur versucht, stattdessen zu sagen: Zurück zu Rousseau, wird man vielleicht bald gewahr, dass man mit einer pathologischen Figur zu tun hat. Zugleich mit einer Zeitenwende, die aus einem einzelnen Menschen nicht ausreichend erklärt werden kann.

Carl Dahlhaus: Musikästhetik / Köln 1967

Wie lange hat mich das kleine Buch begleitet?

s.a. „lyrisches Ich“ hier bezogen auf diese Seite 36 „intelligibles Ich“

In den 90er Jahren begegnete mir zum ersten Mal eine erfrischend kritische Sicht auf die Ästhetik des 18. Jahrhundert und insbesondere auf Rousseau. Die entsprechenden Seiten des Skriptes (mit meinen Lesespuren) lasse ich hier in Kopie folgen, die vollständige Arbeit des Freundes Maximilian Hendler kann man im Internet nachlesen: hier.

Quelle Maximilian Hendler: Musikästhetik und Grenzen im Kopf / Skript Graz o.J.

Der Philosoph Rüdiger Safranski, der sich dummerweise aufgrund seiner Stellungnahme zur Flüchtlingsfrage spätestens 2018 ins Abseits bugsierte, hat 1990 in einem erhellenden Buch beschrieben, in welche Sackgassen sich der Mensch auf der Suche nach Wahrheit begibt, und zwar paradigmatisch an drei Gestalten der Geistesgeschichte: Rousseau, Kleist und Nietzsche. Das zugrundeliegende Dilemma tritt immer in dem gleichen Vorgang zutage: im Transzendieren. Indem ich aus der natürlichen Gebundenheit herauszutreten suche ins Offene, eine notwendige, aber schmerzhafte Trennung.

Das Transzendieren treibt uns ins Weite, aber auch in die Obdachlosigkeit. Deshalb das Bemühen, diese Weite und Unabsehbarkeit dann doch wieder in etwas Heimatliches zu verwandeln: das Festhalten an den Bildern, von den mythischen Anfängen bis in das Zeitalter des Fernsehens.

Das Transzendieren träumt von einer Welt, in der wir keine Angst zu haben brauchen, wo es die große Einheit gibt, die uns umfängt und trägt. So wie wir einst im Mutterleib umfangen und getragen worden sind.

Diese Sehnsucht nach Einheit hat über zwei Jahrtausende die abendländische Metaphysik bestimmt; und es ist immer derselbe Schmerz über den Verlust der fraglosen Einheit mit dem Lebendigen, wodurch die metaphysische Frage nach der ‚wahren Welt‘ und dem ‚wahren Leben‘ wachgehalten wird.

Wachgehalten wird sie auch deshalb, weil die Menschen von jeher drei Arten des beneidenswerten Gelingens vor Augen gehabt haben.

Man hat die Tiere beneidet, weil sie ganze Natur sind ohne störendes Bewußtsein. Man hat Gott bemneidet, weil er ganz Geist ist ohne störende Natur. Und man hat schließlich das Kind beneidet, dieses göttliche Tier. Man hat damit sich selbst um seine verlorene Kindheit beneidet, seine Spontaneität und Unmittelbarkeit. Unsere Erinnerung läßt uns glauben, daß wir alle die Austreibung aus dem Paradies schon einmal erlbt haben, als unsere Kindheit zu Ende ging.

Fast alle Träume des Gelingens, in denen Innen und Außen, Bewußtsein und Sein, Ich und Welt in magischer Einheit sich befinden, leben vom Bildervorrat erinnerter oder imaginierter Kindheit.

Quelle Rüdiger Safranski: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch / Über das Denkbare und das Lebbare / Carl Hanser Verlag, Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main 1993 (Seite 10f)

Rhythmus – eine fast unlösbare Aufgabe

Was soll denn daran unlösbar sein? Jeder Mensch hat Rhythmus.

Das Problem ist die Beschreibung, die Einordnung, die Verallgemeinerung. Ich kann durch zahllose Länder gereist sein, von Nord nach Süd, von West nach Ost, bergauf, bergab und querfeldein, aber sobald ich eine Karte anlegen soll, die für künftige Reisen und andere Menschen brauchbar ist, habe ich ein Problem. Ich habe keine Übersicht. Ein Atlas muss her, ein genaues Verzeichnis usw.; als Reisender bin ich heute natürlich in der glücklichen Lage, all dies in gedruckter Form vorzufinden und mir reich bebilderte Reisebeschreibungen, Skizzen, Hilfsmittel aller Art zuzulegen.

In der Musik aber gibt es wenige Ansätze zur Schaffung brauchbarer Atlanten, – der entscheidende Punkt: die Ungreifbarkeit der (nur) klingenden Areale -,  noch weniger in der Unterabteilung Rhythmus, weil jeder zu wissen oder zu fühlen glaubt, was „Rhythmus“ ist. Und doch hat kaum einer mehr als eine Handvoll Rhythmen im Sinn. Dieses Buch ist der erste „Atlas“ seiner Art, das gigantische Unternehmen eines einzelnen Forschers, der um seine Einzigartigkeit weiß:

Dem Autor wäre es möglich, seitenweise über die Insuffizienz der Musikwissenschaft in Sachen Rhythmus zu schreiben … (S.119)

Die große Frage: wird er auch Leser finden, die ihn verstehen und sein Ordnungssystem gedanklich nachvollziehen, und die es dann auch mit den Ohren umzusetzen vermögen? Vorausgesetzt ist eine unstillbare Neugier, ein Wille das zu verstehen, von dem jeder sagt: da ist nichts zu verstehen, du musst es fühlen. Den Rhythmus, den hat man im Blut! Und fertig!

Es ist aber wie mit Sprachwissenschaft. Wer schon einmal etwas über Linguistik gehört hat, z.B. von Noam Chomsky, der wird nicht sagen: Es genügt, eine Sprache (oder mehrere) zu sprechen und zu verstehen. Alles andere ist doch Erbsenzählerei. Mitnichten, – selbst der Laie vergleicht Sprachen und Ausdrucksweisen. Denk-Stile.

Zweifellos werden viele Leute dieses Buch aufschlagen, durchblättern und sagen: 2 Drittel davon sind ungenießbar, bloße Listen (Seite 121 – 357). Die anderen aber wissen, dass es die unverzichtbaren Belege für die atemberaubende Stringenz des Textteils sind. Einziger Nachteil: auch diese Stringenz klingt nicht, und es gibt nicht das kleinste Notenbeispiel, nur diese Reihen aus römischer Eins, x und Punkt. Das vielleicht unerfüllbare Desiderat der Zukunft: eine riesige Datenband, die alle aufgelisteten Musikstücke und jeden erwähnten Rhythmus per Mausklick hörbar macht, d.h. greifbar und begreifbar.

Hendler Cover Hendler Cover rück

Hendler Cover rück Text www.allitera.de ISBN978-3-86906-770-4 Leseprobe incl. Vorwort

Aus absolut selbstbezogenen Gründen löse ich aus dem Vorwort (das vom WDR-Redakteur Bernd Hoffmann stammt) einen bestimmten Abschnitt heraus, womit auch betont sei, dass ich in Sachen dieser Buchempfehlung äußerst befangen bin:

Hendler Vorwort Hoffmann

Die Abteilung Volksmusik, von der hier die Rede ist, ging auf eine Vorform der 50er/60er Jahre zurück, die erst seit 1970 begann, konsequent über das „Areal“ der bearbeiteten deutschen Volks- und Chormusik hinauszuschauen. Mitte der 90er Jahre wurde sie konsequenterweise in Redaktion Musikkulturen umbenannt, als die sie heute noch existiert. Das vorliegende Buch wurde mir am 5. August überreicht, als ich bei meinem Mitarbeiter und Nachfolger (seit 2006) Dr. Werner Fuhr den wahrscheinlich letzten WDR-Beitrag meines Lebens produziert hatte (Sendetermin 13. Oktober 2015 Soundworld WDR 3 Thema Afghanistan 1974, Autor Bernhard Hanneken). Was danach aus unserem – so kann man wohl sagen – Lebenswerk wird, werden wir – aus dem angeblichen Ruhestand, in dem wir uns dann beide befinden – wohl noch eine Weile interessiert beobachten.

Ich werde mir einen eigenen Zugang zu diesem Buch schaffen, indem ich es mit Themen verbinde, die mich ohnehin wieder beschäftigen. Die afghanischen Rhythmen haben mich damals gehindert, meine Notationen fortzusetzen, die ich recht eifrig betrieben hatte. Ich war mir nicht sicher und vermisse auch jetzt die Behandlung eines wiederkehrenden Problems, das vielleicht gar keins ist: die „verzogenen“ Rhythmen, deren Charakteristikum darin liegt, den Elementarpuls an einer bestimmten Stelle zu dehnen oder zu stauchen. Musterbeispiel: der „bulgarische Rhythmus“ bei Bartók (Mikrokosmos IV): jeder Klavierlehrer hält seine Schüler an, die 7 Achtel alle gleich zu spielen 1 2 1 2 1 2 3 / 1 2 1 2 1 2 3 etc. und nicht etwa die letzte 123-Gruppe als Triole. Bartók selbst aber spielte sie tatsächlich minimal „zusammengefasst“! So hat er es bei den Volksmusikern gelernt!

Maximilian Hendler hat einige Stücke unserer Afghanistan-CD rhythmisch präzise bezeichnet; ich werde sie daraufhin untersuchen, eventuell unter Zuhilfenahme meiner geliebten Notenschrift. (Ich liebe sie trotz irreführender Suggestionen – die man einkalkulieren kann -, allein wegen ihrer heuristischen Funktion. Die ethnographischen Einwände sind mir bekannt.)

Hier also der Blick in Hendlers Liste; die Stücke, die mir vertraut sind, habe ich durch einen blauen Pfeil gekennzeichnet.

Hendler Afghanistan (bitte anklicken)

Es handelt sich um die Tracks 1, 2, [5],6, [7], 10, 11,17 der CD, die hier abgebildet ist. Tr. 5 „Farkhari-Lied“ steht auf der vorhergehenden Seite, Tr. 7 „Meine Geliebte geht im Garten“ folgt auf der nächsten Seite der Hendler-Liste.

9. August 2015

Es hat mich nicht losgelassen: der gestrige Tag begann mit afghanischen Reminiszenzen (Fotos sichten) und endete mit einem überlangen Fest unter Freunden und Nachbarn in der Wipperaue, wobei ich viel an Afghanistan gedacht habe. Aber erst heute kam ich auf die Idee, in alten Aktenordnern zu suchen (habe ich nicht damals Transkriptionen angefertigt? sozusagen als Vorübung für die Afghanistan-Reise 1974, also wahrscheinlich ab Ende 1973, die Blätter sind undatiert). Den stärksten Eindruck hatten im Vorfeld zwei Lyrichord-Schallplatten gemacht. Idee: hat Max Hendler sie auch untersucht? Natürlich! man schaue auf die Liste oben rechts unter Afghanistan-Tadschiken: 0722-B/6 „Ghichak and Zerbaghali“ – und am Ende der Zeile steht die Rhythmus-Formel!!! Formzahl 7 !!! Und genau dieses Stück habe ich damals notiert und habe es noch nicht als das „Farkhari-Lied“ erkannt, das mir in Mazar-e-Sherif so oft begegnen sollte: Ghichak bzw. Ghitchak (spr. Rittschack) ist das Streichinstrument, Zerbaghali (spr. Serbaraali) die Trommel. Der Ghitchakspieler ist es, der auch singt. Das große Notenblatt musste ich hier im Scan mittig teilen, man lese also in jeder Zeile vom linken Halbblatt aufs rechte. Achtung: in der Mitte ist eine winzige Verdopplung zurückgeblieben.

Lyrichord Afghan Trankr links  Lyrichord Afghan Trankr rechts

Immerhin, – das vermag die verpönte Notenschrift: ich habe das Lied auf Anhieb wiedererkannt.Und wer Noten lesen kann, wird es auch einigermaßen nachvollziehen können, wenn er die neuere Network-CD-Aufnahme Tr. 6 „Farkhari-Lied“  dagegenhält (bei Hendler unter Afghanistan-Badakhshan aufgelistet, weil die Sänger aus Badakhshan stammen). Die heutige Rhythmus-Problematik war mir damals durchaus nicht fremd, wie die selbstkritische Bemerkung zeigt, die ich hier noch zur besseren Lesbarkeit vergrößere:

Lyrichord Kommentar JR

Und zu guter Letzt folgt die Quellenangabe von der Rückseite des Notenblattes:

Lyrichord Quellenangabe

Ich glaube, allein Maximilian Hendler kann ermessen, welchen Anteil der vor Jahrzehnten beiseite gelegten Arbeit er mir nun mittels seines neuen Buches erneut auflädt, zudem mit der latenten Forderung, sie in einen neuen, weltweiten Zusammenhang zu stellen. Warum? Weil er sein Buch nun einmal als „Atlas der additiven Rhythmik“ bezeichnet hat, und da steht man ungern da mit einem Einzelrhythmus in der Hand und sagt: jaja, [2+2+3], den hätte ich schon mal, den kann mir keiner mehr wegdiskutieren.

Und man glaube nicht, dass es übersichtlicher wird, wenn wir nun auch die Melodie mit in die Betrachtung einbeziehen. Oder doch – zunächst schon:

Die bisherige Darstellung impliziert, dass sich der Beginn der Melodie mit der 1 einer Elementarzahl deckt. Diese Regel gilt allerdings nicht für alle Subareale der additiven Rhythmik in gleichem Ausmaß. Vor allem hinsichtlich der balkanischen und orientalischen Musik kann endlos darüber gestritten werden, ob das, was die Europäer eine „Melodie“ -eine horizontale, nachsingbare musikalische Einheit – nennen, eine melische Realisierung rhythmischer Formeln oder eine rhythmische Realisierung eines Maqams (= einer modalen Struktur) ist. De facto verhält es sich jedenfalls so, dass in dieser Großregion Modus und Rhythmus zusammentreten müssen, um eine als „Melodie“ zu empfindende Einheit zu ergeben. Ausnahmen von dieser Regel sind sehr selten.

Dieser Tatbestand ändert sich, wenn Afrika südlich der Sahara und Lateinamerika ins Auge gefasst werden.

Quelle Maximilian Hendler a.a.O. Seite 25 („Anmerkung 3: Wo ist die 1 ?“)

Man kann also nicht mehr umhin, weit mehr ins Auge zu fassen als das, was einem zuvor eher „zufällig“ begegnete. Jedenfalls nicht mehr, wenn man einmal mit diesem Atlas in der Hand durch die imaginäre Welt der rhythmischen Ordnungen gereist ist.

Zum Abschied (für heute) folge hier die Formel, die Hendler dem „Farkhari-Lied“ zuteilt:

Hendler Farkhari-Formel

(Von wegen Abschied: da geht mir ein Licht auf, und wieder sitze ich hier mit einem Riesenproblem. Ist es möglich, dass ein und dasselbe Lied in rhythmischer Hinsicht einmal mit dieser Formel und einmal mit jener zu charakterisieren ist?* — Aber darüber diskutiere ich ausschließlich mit Max, der beide Klangquellen kennt – und noch einige Zehntausend mehr…)

Hendler Liste Detail

* Vielleicht kann ich selbst die Frage beantworten: die präzise Formel ergibt sich nicht aus dem Lied, der Melodie, sondern aus der Begleitung, deren Rhythmus – je nach Begleiter – unterschiedlich gegliedert sein kann. Fest steht in diesem Fall eben nur die Formzahl 7.

Amazing Grace

Verspätete Neu-Entdeckung

Jetzt endlich habe ich das Original wiedergehört: die Aufnahme, deren Transkription ich im MGG etwas verständnislos bewundert habe. Jeder kennt die Melodie, hat sie schon vor sich hin gesummt. Aber es dürfte eigentlich keine Menschen mehr geben, die ihr Leben verbringen, ohne je Amazing Grace mit Aretha Franklin gehört zu haben! Wir haben doch heute die Chance, unsere Neigung auf die Spitze zu treiben: Hören Sie das Lied in allen Versionen, die Sie finden können, inclusive Scottish Warpipes, hören sie die Beispiele in den Wikipedia-Artikeln hier oder hier. Erinnern Sie sich an all dies, legen Sie sich den Text bereit, und dann hören Sie Aretha Franklin in der Originalaufnahme von 1972. In ganzer Länge: 10’44“.  HIER.

Wenn Sie Notenlesen können, hören Sie ein zweites Mal, und beobachten Sie sehenden Auges, was Sie da hören. Der hier zitierte Teil der Transkription (aus dem MGG-Beitrag „Sacred Singing“ von Bernd Hoffmann, Näheres darüber am Ende dieses Blog-Artikels) beginnt, wenn die Musik bei 4:10 anlangt.

Amazing Grace ganz

Wenn Sie zu den Leuten gehören, die eine Aufgabe brauchen, um aufzuwachen und ganz lebendig zu werden: realisieren Sie nicht nur die Energie, Behendigkeit und Schattierungsfähigkeit dieser Stimme, sondern behalten Sie zugleich – auf einer „Metaebene“ – die einfache Ausgangsmelodie im Sinn, erwarten Sie die Strukturtöne dieser Koloraturen. Bleiben Sie ein Kind, das sich an der Hand der Mutter nicht fürchtet…

Die Stichworte für diese Art Gesang habe ich schon im vorigen Beitrag repetiert: Sacred Singing, Chanted Sermons, Kantillationstechnik etc. (MGG-Artikel). Auch der Name Putschögl, der mir wiederbegegnete, als ich heute morgen um 5.30 h erwachte und mit traumwandlerischer Sicherheit ein Buch aus dem Regal des Arbeitszimmers zog und darin blätterte, bis ich im Kapitel „Spirituals und Gospels“ auf das Stichwort „Great Awakening“ stieß, von mir vor Jahren rot markiert. Maximilian Hendlers Buch zur „Vorgeschichte des Jazz“ (Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz/Austria 2008 ISBN 978-3-201-01900-2). Das Buch wird tagelang aufgeschlagen bleiben, während ich längst zur indischen Geigerin Kala Ramnath zurückgekehrt bin, ich werde Zitate nachliefern und Gefahr laufen, von eigenen Assoziationen davongetragen zu werden, beginnend beim Vorwort  von Bernd Hoffmann (Seite 11 – zu beachten die Formel „starke ethnologische Orientierung“), endend auf der letzten Seite, die damals meinen Widerspruch weckte und nun auch wachhalten soll.

Hendler Jazz Vorwort  (bitte anklicken!)

Hendler Jazz letzte Seite

So ist ein positiv fortwirkender Stachel erhalten geblieben, der oben in dem Wort „Werktreue“ angedeutet ist, im folgenden Begleitbrief durch den fein ironischen Ton um den Namen Schubert spürbar und in einer Buchbesprechung für den SWR natürlich ausgespart wird. Für all diese Anregungen bin ich einen persönlichen Dank schuldig, einen späten. Besser heute am frühen Rosenmontag als nie.

Hendler Jazz Brief 2008