Die ernste Geschichte der Figura

Im Mittelpunkt: Flaubert

FIGURA: Seit Tagen verfolgt mich aufs Neue dieser Begriff, ich überlege, lese hier, lese dort, auch im eigenen Blog, aber wenn ich es nicht auf meine der Gegenwart angepasste Art notiere und repetiere, wird alles, was ich daraus gelernt habe, wieder verschwinden. In alle Winde zerstreut. Wie schon früher einmal. Hätte ich etwa unter dem Namen Stendhal (Kap. XVIII) nachgeschaut? Also los. Zunächst: Nichts als dies Stückchen Text. Mögliche Überschrift: „Die einsame Frau“. Und sucht man Aufklärung über den beiläufig erwähnten französischen Ort „Tostes“, so findet man hier etwas, – aber nötig ist das nicht.

Am Nachmittag erschien zuweilen vor den Fenstern des Eßzimmers ein sonnengebräunter Männerkopf mit einem schwarzen Schnurrbarte und einem trägen Lächeln um den Mund, in dem die Zähne leuchteten. Alsbald begann eine Walzermelodie aus einem Leierkasten, auf dessen Deckel ein kleiner Ballsaal aufgebaut war mit daumenhohen Figuren darin: Frauen in roten Kopftüchern, Tiroler in Lodenjacken, Affen in schwarzen Röcken, Herren in Kniehosen; alle tanzten sie zwischen den Sofas und Lehnstühlen und Tischen, wobei sie sich in Spiegelstücken vervielfältigten, die mit Goldpapier aneinandergereiht waren. Der Leierkastenmann drehte die Kurbel und spähte dabei nach rechts und links nach allen Fenstern. Hin und wieder spie er einen langen Strahl tabakbraunen Speichels gegen die Prellsteine oder stieß mit dem Knie seinen Kasten in die Höhe, dessen Gurt ihm die Schultern drückte. In einem fort, bald schwermütig und schleppend, bald flott und lustig, dudelte die Musik hinter dem roten Taftbezug, der unter einer schnörkelhaft ausgestanzten Messingleiste an den Leierkasten angenagelt war. Es waren Melodien, die gerade Mode waren und die man überall hörte, in den Theatern, Salons und Tanzsälen, Klänge aus der fernen Welt, die auf diese Weise die einsame Frau erreichten. Diese Klänge im Dreivierteltakt wollten dann nicht wieder aus ihrem Kopfe weichen. Wie die Bajadere über den Blumen ihres Teppichs, tanzten ihre Gedanken im Rhythmus dieser Melodien und wiegten sich von Traum zu Traum und von Trübsal zu Trübsal. Wenn der Mann die milden Gaben in seiner Mütze gesammelt hatte, umhüllte er seinen Kasten mit einem blauwollnen Uberzug, nahm ihn auf den Rücken und verließ das Dorf schweren Schrittes. Emma schaute ihm lange nach.

Am unerträglichsten waren ihr die Mahlzeiten im Eßzimmer unten im Erdgeschoß. Der Ofen rauchte, die Türe knarrte, die Wände waren feucht und der Fußboden kalt. Die ganze Bitternis ihres Daseins schien ihr da auf ihrem Teller zu liegen, und aus dem Dampf des ausgekochten Rindfleisches wehte ihr gleichsam der Brodem ihres ihr so widerwärtig gewordenen Lebens entgegen. Karl aß und aß, während sie ein paar Nüsse knackte oder, auf die Ellenbogen gestützt, sich damit vergnügte, mit der Messerspitze allerlei Linien in das Wachstuch zu kritzeln.

In der Wirtschaft ließ sie jetzt alles gehen, wie es ging. Ihre Schwiegermutter, die einen Teil der Fastenzeit zu Besuch nach Tostes kam, war ob dieses Wandels arg verdutzt. Emma, die erst in ihrem Äußeren so akkurat und adrett gewesen war, lief nunmehr tagelang in ihrem Morgenkleide umher, trug graue baumwollne Strümpfe und fing an zu knausern und zu geizen. Sie meinte, man müsse sich einschränken, da sie nicht reich seien, fügte aber hinzu, sie sei höchst zufrieden und überaus glücklich, und in Tostes gefalle es ihr über alle Maßen. Mit solch wunderlichen Reden beschwichtigte sie die alte Frau Bovary. Im übrigen zeigte sie sich für die guten Lehren der Schwiegermutter nicht empfänglicher denn früher. Als diese gelegentlich die Bemerkung machte, die Herrschaft sei für die Gottesfurcht der Dienstboten verantwortlich, ward Emmas Antwort von einem so zornigen Blick und einem so eiskalten Lächeln begleitet, daß die gute Frau ihr nicht wieder zu nahe kam.

Die Übersetzung – so steht es am Ende dieser Ausgabe im Projekt Gutenberg – stammt von Arthur Schurig. Ich lasse es dabei bewenden. „Frau Bovary“ (sic!) von Gustave Flaubert.

Und hier der Sekundär-Text, der mich immer wieder in Bewegung setzt, man schaue noch einmal auf den Mittelteil der oben wiedergegebenen deutschen Übersetzung: er entspricht dem französischen Zitat, das jetzt in der fünften Zeile zu lesen ist: Am unerträglichsten waren ihr die Mahlzeiten im Eßzimmer unten im Erdgeschoß… 

Quelle Erich Auerbach: MIMESIS Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur / Vierte Auflage Francke Verlag Bern und München 1946 (4.1967)

Dies Werk besaß ich seit April 1969, ohne es in allen Kapiteln durchzuarbeiten, aber wohl ahnend, welche Bedeutung es haben könnte. Angesichts der vielen Anregungen von außen, versäumte ich die Welt in wesentlichen Zügen. Schon 1962 hatte ich – dank Hugo Friedrichs „Struktur der modernen Lyrik“ – Flauberts „Trois Contes“ bzw. „Drei Erzählungen“ gelesen, mich aber dummerweise über die zweite („Saint Julien L’Hospitalier“) so geärgert, dass ich ihren Wert nicht erkennen konnte. Die dritte aber las ich nur noch, weil ich sie auf „Salome“ bezog, die Strauss-Oper, die ich bis zur Besinnungslosigkeit hörte (LP Gesamtaufnahme mit Nilsson & Solti bei einem Bielefelder Freund). Ich hätte mir die abschreckende, übertriebene Heiligengeschichte als einen magischen Film vorstellen müssen, etwa wie Jean Cocteaus „Orphée“, den ich in Berlin -zigmal gesehen hatte (auch die Fortsetzung).

Damals hat mich „Jesus Christus“ geschockt, – der Freigeist Flaubert vorm Kreuz eingeknickt? – heute habe ich mich sofort an Wikipedia gehalten, um den Wahrheitsgehalt des letzten Satzes zu eruieren, der mir damals aus der Luft gegriffen schien. (Ich hätte auch das lehrreiche Nachwort von Walter Boehlich wirklich lesen sollen, so wäre ich klüger geworden. Es ist nie zu spät:)

Der zweisprachige Flaubert-Band war damals als Nr. 44  in der Reihe Die Fischer-Bibliothek der hundert Bücher erschienen, heute nur noch antiquarisch aufzufinden. Grund genug für mich, 2017 die neue deutsche Ausgabe im Hanser-Verlag zu erwerben, neue Übersetzung von Elisabeth Edl, die auch ein lesenswertes Nachwort beiträgt; wunderbar der Anhang mit den Briefen des Autors aus der Entstehungszeit der Drei Geschichten sowie (Vorsicht!) aus seiner Reise in den Orient.

Den Covertext zu lesen, ist nicht ersprießlicher als eine Schein-Kritik zweier Berliner Aufführungen der „Neunten“ (Barenboim, Jurowski). Wir haben Thielemann erlebt (Semper-Oper) und uns geprüft. Zur Gänze. Der Kritiker aber ließ durchschimmern, man könne sich vorstellen, wie Beethovens Sinfonie nach dem langsamen Satz abbräche, gleich der „Unvollendeten“ von Schubert. Mein Gott, warum denn nicht, wenn einem zu lang wird. Auch von dem gendergerechten Prolog sprach er, „Schwestern, überm Sternenzelt“? Und er fände es besser ohne… Wie recht er hat. Salome, die tanzt, bis sie Johannes‘ des Täufers Kopf bekommt – fünf Jahre nach ihrer gefeierten Neuübersetzung der Madame Bovary / usw. usw. – ja, gerade höchstes Lob kann verletzen. Ich bin kein Maßstab, ich habe 60 Jahre gebraucht, ehe ich es neu lesen kann.

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Doch zurück zum Auerbach-Titel: handelt es sich bei den Flaubert-Texten um „dargestellte Wirklichkeit“ ? Es ist doch bloße Fiktion? Eine dumme Frage, die man aber doch für sich selbst einmal klären muss. Auch fiktive Wirklichkeit wird nicht anders dargestellt als reale Wirklichkeit. Mit denselben Mitteln, wie denn sonst?!

(Fortsetzung folgt)