Archiv der Kategorie: Philosophie

Eilige Bayreuth Notizen 2023

Parsifal Mediathek bis 23.08.2023 / auf BR bis 31.Dezember 2023

im Wohnzimmer: Doppelt verminderte Realität

Ich denke zurück an die Realität des Filmes über die Amzari-Sängerin

… an die ZEIT-Lektüre:

Auch Wagner hätte, angesichts des ungeheuerlichen Potentials von AR, VR (Virtual Reality) und KI (künstlicher Intelligenz), wohl keinen Parsifal geschrieben, der fünf Stunden lang um die Leerstelle des Weiblichen kreist und in dem Frauen nur als verdammte Verführerinnen oder notdürftig geläuterte Kräuterhexen vorkommen; kein Musikdrama, in dem es so pseudoliturgisch-kunstreligiös-buddhistisch-hinduistisch-alchemistisch wallt und wabert, dass man kaum den Plot mitkriegt: die Geschichte des Schwanentöters und Erlösers Parsifal, der durch Kundrys Kuss »welthellsichtig« wird und erkennt, dass es Amfortas, dem Gralskönig, und seinen siechen Rittern weniger an Energie gebricht oder an esoterischen Kraftquellen als an Menschlichkeit und Mitleid.

Christine Lemke-Matwey

Im Wohnzimmer (unter des Miniatur-Beethovens Aufsicht):

Am Schreibtisch mit Computer: Musik im Höreindruck viel besser („Reduced Reality“)

Wie wär’s mit Parsifal im Handy? Etwa als Bußübung.

Hier Mediathek Gesamtaufführung bis 23.08.23

BR Hier bis 31.12.23

Weiteres zur Aufführung hier zu Augmented Reality hier

Inhaltsangabe lesen: Inakzeptables von vornherein – „im Kampf gegen den abtrünnigen Ritter Klingsor, der trotz seines Verlangens nach Heiligkeit nicht fähig war, ein reines Leben zu führen und sich deshalb selbst entmannte und eine Zauberburg geschaffen hat, den heiligen Speer verloren, als er sich von der dämonischen Kundry verführen ließ.“

Zwischen den Akten 1. Pausengespräch mit Jay Scheib 2. mit Sängerin der Kundry Elina Garanca

Gralsritter: „Gemeinschaft der Kobaltminenarbeiter“ siehe Anfang 1.Pausengespräch  mit Jay Scheib

Kobaltbergbau

Stichwort: „Coltan“ Jean Ziegler

Milo Rau Ausbeutung hier

Zu Wagners Vorstellungen über „Kunstreligion“ im Zusammenhang mit „Parsifal“ siehe HIER

ZEIT-Lektüre:

Die eigentliche Hypothek der Aufführung aber liegt, man staune, in der erschwerten Zugänglichkeit der Musik. Die Sinne sind an diesem Abend schlicht überfordert. Und so schiebt sich das Auge vors Ohr. Das mag eine Frage der Übung und der Erfahrung sein. Aber geht so Immersion? Entspricht das Wagner?

Christine Lemke-Matwey

Quelle DIE ZEIT 27. Juli 2023 Seite 39: PARSIFAL / Mit Brille sieht man doppelt: In Bayreuth wird Richard Wagners letztes Werk jetzt digital erweitert – Revolution oder Budenzauber? Von Christine Lemke-Matwey

Den Wagnerverächtern ins Stammbuch – die gewaltigste Stelle des Werkes (s.o.): Mediathek ab 1:04:39 / BR ab 01:00:22

der meistzitierte Satz: „Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“.

Der größere Text-Zusammenhang und die Motiv-Tafel:

Quelle: Richard Wagners MUSIKDRAMEN Sämtliche komponierten Bühnendichtungen / durchgesehen, mit den ursprünglichen Fassungen verglichen, mit Einleitungen sowie den hauptsächlichsten Motiven und Notenbeispielen versehen, nebst einem Vorwort, einem Anhang und einer Zeittafel aus Wagners Leben herausgegeben von Edmund E.F. Kühn / Globus Verlag G.m.b.H., Berlin W 66 / 1914 / JR Berlin 7.7.1960

Man muss zum Verständnis eigentlich keine Esoterik bemühen, auch nicht in kühnem Vorgriff auf Einstein dessen Relativitätstheorie beschwören, sondern vielleicht dasselbe tun wie Wagner, der sich an die Philosophie hielt, schon seit 1854, als er auf dem Weg zum „Tristan“ Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ viermal hintereinander las. Wir lesen den hier wiedergegebenen Dramentext, auch das Kleingedruckte: wie die beiden Protagonisten zu schreiten scheinen (!), „verwandelt sich die Bühne von links nach rechts hin in unmerklicher Weise: es verschwindet der Wald; in Felsenwänden öffnet sich ein Tor, welches nun die beiden einschließt; dann wieder werden sie in aufsteigenden Gängen sichtbar, welche sie zu durchschreiten scheinen“ (!). Verwandlung auch in der Musik, Chromatik („Heilandsklage“), Modulation, Diatonik, das feierliche Schreiten, das Glockenläuten, schließlich folgt der Ritus, den man in der katholischen Kirche Wandlung nennt. Und wir suchen Ähnliches in dem faszinierenden Text, der uns die Grundbedingungen unseres Bewusstseins und unserer Begriffsbildung zu erschließen scheint (!):

Quelle Arthur Schopenhauer: Werke in zwei Bänden Bandt 1 Herausgegeben von Werner Brede

Es kann nicht schaden, damit noch lange fortzufahren. Dann Musik mit verwandelten Ohren zu hören. Oder zu warten, bis man den zerschmetterten Kobaltblock zu Parsifals Füßen erlebt hat, den grünen Tümpel, den sie durchwaten, und Wagners Ideen von Erlösung beiseitezuwischen. Bayreuther Publikum strömt heraus. Die trostlose Erde hat uns wieder!

Adorno noch einmal

Von der Terz und der Zersetzung der musikalischen Sprache

Adorno 1960 in Berlin

Quelle Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik / Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1958 (Seite 76 f)

1993 Beethoven-Buch + umgeblättert:

… „der gleiche Tatbestand nach seinen verschiedenen Aspekten. Wie aber, wenn schließlich der Ausdrucksdrang gegen die Möglichkeit des Ausdrucks selber sich kehrte?   [141]“

Quelle Theodor W. Adorno: Beethoven / Philosophie der Musik / Fragmente und Texte herausgegeben von Rolf Tiedemann / Suhrkamp Frankfurt am Main 1993

P.S. Natürlich war mir damals klar, dass man diese (hier isolierten) Äußerungen Adornos nicht grundsätzlich als gegen die Idee der „Zwölftonmusik“ gerichtet verstehen darf.

Vom Salon mit Chopin

JR 6.12.1966 Solingen

Quelle Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie / Zwölf theoretische Vorlesungen / Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1962

Chromatische Tonsprache und kujawische Motivik (s.a. hier)

Tadeusz A. Zielinski Chopin Lübbe 1999

Universalität?

Museum und integrales Konzert

Ich hätte damals noch etwas ergänzen können oder müssen: aus Adornos Kritik am Persönlichkeitsideal (jetzt 24.07.23 wiedergelesen, damals in „Stichworte“ von 1969, zuvor auch im Radio gehört):

So gehört es zur eisernen Ration pädagogischer Theorien, die auf der Höhe der Zeit sein möchten, das Humboldtsche Bildungsziel des allseitig entwickelten und ausgebildeten Menschen, eben der Persönlichkeit, abzufertigen. Unvermerkt wird aus der Unmöglichkeit, es zu verwirklichen – wenn anders es je verwirklicht gewesen sein sollte -, eine Norm. Was nicht sein kann, soll auch nicht sein. Die Aversion gegen das hohle Pathos der Persönlichkeit tritt, im Zeichen eines angeblich ideologiefreien Realitätsbewußtseins, in den Dienst der Rechtfertigung universaler Anpassung, als ob diese nicht ohne Rechtfertigung bereits allerorten triumphierte. Dabei war Humboldts Persönlichkeitsbegriff keineswegs einfach der Kultus des Individuums, das wie eine Pflanze begossen werden soll, um zu blühen. So wie er noch die Kantische Idee »der Menschheit in unserer Person« festhält, hat er zumindest nicht verleugnet, was bei seinen Zeitgenossen Goethe und Hegel im Zentrum der Lehre vom Individuum steht. Ihnen allen kommt das Subjekt zu sich selbst nicht durch die narzißtisch auf es zurückgezogene Pflege seines Fürsichseins, sondern durch Entäußerung, durch Hingabe an das, was es nicht selbst ist. In Humboldts Bruchstück ›Theorie der Bildung des Menschen‹ heißt es: »Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nichtmensch, d.h. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.« Den großen und humanen Schriftsteller konnte man einzig dadurch in die Rolle des pädagogischen Prügelknaben hineinzwängen, daß man seine differenzierte Lehre vergaß.

Quelle Theodor W. Adorno: Stichworte / Kritische Modelle 2 / darin: Glosse über Persönlichkeit / Suhrkamp Frankfurt am Main 1969 / Zitat Seite 54

Damals schon früher aus der Radiosendung mit Adorno notiert:

Zumindest Negatives läßt über den Begriff eines richtigen Menschen sich sagen. Er wäre weder bloße Funktion eines Ganzen, das ihm so gründlich angetan wird, daß er dovon nicht mehr sich zu unterscheiden vermag, noch befestigte er sich in seinern puren Selbstheit; eben das ist die Gestalt schlechter Naturwüchsigkeit, die stets noch überdauert. Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlicheit, aber auch nicht unter ihr, kein bloßes Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: »Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!«

*    *     *

P.S. Und heute nach 54 Jahren ein Wermuthstropfen in Adornos Hölderlin-Zitat? der – doch so ermutigende – letzte Halbsatz lautet im Original womöglich anders: nämlich so. (nein! Aufklärung folgt)

Fazit: auch angesichts höherer Autoritäten lohnt sich die Überprüfung von Zitaten ebenfalls hoher oder höherer Autorität. Oder? Am Ende behält gar die Philologie das allerletzte Wort…

Kritischer Bericht Seite 305 – 322, hier wiedergegeben Seite 316 – 319 / und die letzte Fortsetzung von „Dichtermuth“:

Neue Links zu Hölderlins Ode „Dichtermut“  1. Fassung 2. Fassung und Wikipedia hier (darin Link zu Versmaßen). Neue Ermutigung, Hölderlin selbst im Original zu suchen und verstehen zu lernen, gefunden bei Roland Reuß in dem sehr lesenswerten Buch „Ende der Hypnose“, Zitat:

Quelle Roland Reuß: Ende der Hypnose Vom Netz zum Buch / Verlag Strœmfeld Frankfurt am Main 2012 ( hier )

Patmos bei Wikipedia hier

Nachahmung der Natur!

Aber was hat z.B. die Musik damit zu tun?

s.a. hier und hier

Wer auch nur eine vage Vorstellung hat von dem, was „Nachahmung der Natur“ bedeuten könnte oder sollte, wird auf der zweiten Seite in Blumenbergs Abhandlung stutzig, wenn er im Namen des griechischen Philosophen, der den Begriff erfunden hat, einräumt: „Dieses Einspringen der »Kunst für die Natur« geht so weit, dass Aristoteles sagen kann: wer ein Haus baut, tut nur das, was die Natur tun würde, wenn sie Häuser sozusagen »wachsen« ließe.“ In der Anmerkung ergänzt Blumenberg, dass bei Aristoteles „jene uns (zumindest hypothetische) unausweichliche Ursituation, in der noch nichts ist oder auch etwas von bestimmter Spezifität noch nicht ist,“ gar nicht vorkommt.

So wird uns durchsichtiger, wie die neue Ästhetik der Aufklärung es fertigbrachte, selbst für die Musik die Forderung von „Nachahmung der Natur“ gelten zu lassen, obwohl doch ihr Material keinem realen Phänomen nachgebildet ist und gerade die Nachahmung von natürlichen Geräuschen nicht als ästhetisch relevantes Phänomen gewertet werden soll. Unvermittelt kommt das Wort „belebt“ ins Spiel.

Charles Batteux (nach Dahlhaus „Musikästhetik“)

Zitat aus Wikipedia Batteux:

Mit seinem Werk Les beaux-arts réduits à un même principe (Die schönen Künste zurückgeführt auf ein einheitliches Prinzip, 1746) versuchte er die Naturnachahmung zu einem gemeinsamen Grundprinzip aller Künste zu machen – zumindest im Sinne der vraisemblance: Die Handlung muss wahrscheinlich, glaubwürdig sein (…)

Du Bos glaubte zu wissen (MGG Aufklärung), „daß die Künste weniger die äußerliche Gestalt der natürlichen Vorbilder nachahmen als die Wirkung, die von ihnen ausgeht.“ – „Poesie ist das Vorbild der Vokalmusik und diese ist das Vorbild der Instrumentalmusik.“

Man reflektiert einerseits die gegebene rationale Struktur der Musik. „Zum anderen zählt die Erkenntnis, daß die Stärke und die Pflicht der Musik darin bestehe, Gefühle und Leidenschaften auf vergnüglich Weise nachzuahmen und zu erregen, zu den zentralen Einsichten der Aufklärung. Batteux weiß, daß die Affekte, die die Poesie nur grob benennen kann, unendlich zu nuancieren vermag, so fein, daß keine Sprache fähig wäre, ihr darin zu folgen.“ (MGG) Ein Problem blieb die reine Instrumentalmusik. „Es ist unverkennbar, daß die Komponisten dem Verlangen des Publikums nach vernünftigen Stützen dadurch nachzukommen versuchen, daß sie die Musik mit Überschriften und Programmen verbinden. Es ist darüberhinaus offensichtlich, daß die Forderung nach Vermenschlichung der Kunst einen starken ›semantischen Druck‹ (Gülke 1984) auf die Instrumentalmusik ausgeübt hat. Sie bemüht sich, menschliche Gefühle auszudrücken, moralische Charaktere und Menschenbilder darzustellen. Einiges spricht dafür, daß der wachsende Sinn für die Autonomie der Musik Kompositionsentscheidungen beeinflußt. Haydn (etc…)“

Quelle MGG (Sachteil, neu): Artikel Aufklärung, Autor Wilhelm Seidel

Zurück zum Häuserbau des Aristoteles! Mir fällt ein, was Nikolaus von Cues zu Ehren des Laien gesagt hat, schon um ihn gegenüber dem Kleriker abzugrenzen: zum Beispiel zur Löffelschnitzerei (Blumenberg S. 11f). „Es ist von unschätzbarer signifikativer Bedeutung, dass hier das ganze Pathos des schöpferisch-originären Menschen und der Bruch mit dem Nachahmungsprinzip beim technischen, nicht beim künstlerischen Menschen hervortreten. Diese Differenz wird hier wohl zum ersten Male positiv betont, und darin liegt wesentlich der Wert des Zeugnisses, wenn man sich gegenwärtig hält, wie fast ausschließlich sich in der Folge die Bezeugung des Schöpferischen auf bildende Künste und Poesie konzentriert: dass dort der Autor von sich selbst und seiner schaffenden Spontaneität zu sprechen beginnt, gehört seit dem Ende des Mittelalters geradezu zur Erscheinungsform der Kunst.“

Blumenberg führt als weiteres Beispiel für die Entdeckung des technischen Geistes die Brüder Wright an, die sechs Jahre vor ihrem ersten Flug ein Buch über Ornithologie in die Hand nahmen und sich fragten, „warum der Vogel eine Fähigkeit besitzen sollte, die der Mensch nicht durch maßstäbliche Nachbildung der physischen Mechanismen sich aneignen könnte“. Sie begiunnen als mit demselben Topos wie vorher Leonardo da Vinci und Lilienthal. „Der Hiatus liegt zwischen Lililienthal und Wright: die Flugmaschine ist gerade dadurch wirkliche Erfindung, dass sie sich von der alten Traumvorstellung des Vogelflugs freimacht und das Problem mit einem neuen Prinzip löst: „wie die Verwendung der Luftschraube, denn rotierende Elemente sind von reiner Technizität, also weder von imitatio noch von perfectio herzuleiten, weil der Natur rotierende Organe fremd sein müssen.“

Anders als Blumenberg würden wir Musikbesessenen beim Beispiel aus der gefiederten Lebenswelt als nächstes den Gesang der Vögel assoziieren, der auch als Vorbild für den Musiksinn der Menschen gedeutet worden ist. Womit allerdings – trotz Messiaen – der Gedankengang der Nachahmung schnell im Sande verliefe.

*    *    *

Zwischenfrage: was ist mit der Affektenlehre? Werden die Affekte nachgebildet, dargestellt, nachgeahmt, oder werden sie zum Ausdruck gebracht? Kommen sie „von innen“ oder werden sie einem fixen Reservoir entnommen? Tatsächlich hat man wohl zuerst die Bewegungsweise der musikalischen Tonfolgen (und ihre suggestive Wirkung) für wesentlich gehalten, etwa die des Schreitens, Laufens, Springens, und sie mit den Affekten des Menschen äußerlich in Zusammenhang gebracht, denen der Trauer, der Andacht, der Freude, der Raserei. Äußerlich: d.h. mechanisch darstellbar, das richtige Tempo genügte. Es bestand kein Bedarf, von dem Tonwerk auf das Innere des Interpreten zu schließen. Man konnte mit unbewegter Miene rasende Läufe vortragen. Man musste es nur können, nicht die Freude empfinden (worüber denn?), vielleicht auch hervorrufen (oder auch Ärger, z.B. in der falschen Situation). Man verwechsele nicht die Freude , die mit dem Affekt gegeben ist, mit der Freude, die in der schieren Verklanglichung liegt, und sich durchaus mit der Darbietung eines Trauermarschs einstellt. Erst die Verbindung mit einem Text konnte differenziertere Bedeutungen suggerieren.

Zitat 1717

An seinem Clavecin soll man eine gefällige Miene zur Schau tragen. Man hefte den Blick nicht starr auf einen bestimmten Gegenstand, schicke ihn aber auch nicht allzusehr ins Leere: endlich – man blicke eine Gesellschaft, so eine vorhanden ist, an, als ob man gar nicht anderweitig beschäftigt wäre. Dieser Rat ist natürlich nur für die bestimmt, die ohne Hilfe der Noten spielen.

Quelle François Couperin: L’Art de toucher le Clavecin / Herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Anna Linde / Breitkopf & Härtel, Wiesbaden (1717) 1933 (Seite 11)

Zitat 1753

§. 13. Indem der Musickus nicht anders rühren kan, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affeckten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestallt am besten zur Mit=Empfindung. Bey matten und traurigen Stellen wird er matt und traurig. Man sieht und hört es ihm an.

Quelle Carl Philipp Emanuel Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen hier und hier 1753/1762

Carl Dahlhaus ( rote Hervorhebungen JR)

Die Vorstellung, daß es das Ziel der Musik sei, Affekte darzustellen und zu bewirken, ist ein Topos, der nicht weniger tief in die Geschichte zurückreichte als die Gegenthese, daß Musik tönende Mathematik sei. Isidor von Sevilla formulierte, gestützt auf antike Traditionen, im 7. Jahrhundert: „Musica movet affectus, provocat in diversum habitum sensus“. Und zwei Jahrhunderte später kehrt der Satz, daß Musik die Affekte bewege und den Hörer in wechselnde Gemütszustände versetzte, bei Hrabanus Maurus wieder. Musik, die nicht die Leidenschaften rührt, ist toter Schall.

Allerdings setzte die Affektenlehre, so sehr sie die Wirkung der Musik, die Bewegung des Gemüts hervorkehrte, eine primär gegenständliche, objektivierende Auffassung musikalischer Gefühlscharaktere implizit voraus. Die sprachliche Konvention des 19. Jahrhunderts, von „Ausdruck“ oder „Stimmung“ zu sprechen, ist, sofern von Musik vor der Mitte des 18. Jahrhunderts die Rede ist, irreführend oder mindestens mißverständlich. Die Bezeichnung „Ausdruck“ läßt an ein Subjekt denken, das hinter dem Werk steht und in der musikalischen „Empfindungssprache“ von sich selbst redet, das Wort „Stimmung“ an einen Gefühlskomplex, in den sich der Hörer versenkt, zurückgewendet auf seinen eigenen Zustand. Musikalische Gefühlscharaktere werden aber, wie Kurt Huber (Der Ausdruck musikalischer Elementarmotive, 1923) gezeigt hat, primär gegenständlich aufgefaßt. Der Eindruck des Ernsten, Trüben oder Matten wird unwillkürlich dem Tongebilde selbst als Eigenschaft zugeschrieben. Das melodische Motiv drückt zunächst, bei unbefangener Wahrnehmung, nicht Mattigkeit aus und versetzt auch nicht in eine matte Stimmung, sondern erscheint selbst als matt. Erst später, wenn überhaupt, wird der gegenständliche Gefühlseindruck als Zustand erfahren oder als Zeichen gedeutet: Sowohl der Übergang in eine Stimmung, die der Hörer als seine eigene empfindet, als auch die Vorstellung, daß der Gefühlscharakter Ausdruck einer Person, eines Subjekts hinter der Musik sei, sind sekundär. Zwar sind die verschiedenen Momente nicht scharf gesondert; sie fließen, oft unmerklich, ineinander, und es kann sich stets nur um ein Hervortreten, nicht um eine ausschließliche Herrschaft der einen oder anderen Funktion handeln. Doch ist bereits der Wechsel der Akzentuierung wesentlich genug, um Epochen in der Entwicklung der Gefühlsästhetik voneinander abzuheben.

Quelle Carl Dahlhaus: Musikästhetik / Musikverlag Hans Gerig Köln 1967 / Zitat S.29f

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Eine gründliche Lösung verspricht die Arbeit von Birgit Recki: Mimesis: Nachahmung der Natur. Kleine Apologie eines mißverstandenen Leitbegriffs

Sie kennt offenbar Blumenbergs Arbeit nicht, zitiert aber wichtige Autoren, die zum Thema gehören (z.B. Valéry mit „Eupalinos“) / doch, sie kennt  ihn genau – vgl. Anmerkg. 6 Siehe die eingehende Auseinandersetzung mit Platons Höhlengleichnis bei Hans Blumenberg: Höhlenausgänge, Ffm. 1989. / 47 In einer eingehenden problemgeschichtlichen Reflexion auf die Übergänge zwischen der Antike, dem Mittelalter und der frühen Neuzeit ist dieser Gedanke entwickelt bei Hans Blumenberg: „Nachahmung der Natur“. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, 55 – 103. / 53 In diesem Zusammenhang gilt es, das ursprüngliche Eingreifen der Technik in die alltägliche wie auch die künstlerische Ausdrucksproduktivität angemessen zu berücksichtigen. Die Aneignung der gegebenen Gestalt im identisch reproduzierten Resultat geschieht stets über die kultivierten Fähigkeiten, das Können, die Beherrschung äußerer Mittel, deren Inbegriff die Technik ist. Zum Komplex von Natur, Kunst und Technik siehe die stark an Gehlen angelehnten, deutlich gegen Heidegger gerichteten, immer noch richtungsweisenden Ausführungen bei Hans Blumenberg: Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem, in: Studium generale, Jg. 4, Heft 8, 1951, bes. 465 f.

Birgit Recki (Zitat):

Wenige Intuitionen dürften wohl dem zeitgenössischen Kunstbegriff so selbstverständlich sein wie die, daß die „Nachahmung der Natur“ zu den Ladenhütern des künstlerischen Selbstverständnisses zu zählen ist. Da sieht es vorderhand nach einer Rehabilitierung aus, wenn zuletzt Arthur C. Danto in seiner eingehenden Erörterung zum ontologischen Problem des Kunstwerks auch die Auseinandersetzung mit der Mimesis als künstlerischem Rahmenprogramm wieder in den ästhetischen Diskurs aufnimmt.1 Mit einigem Scharfsinn führt er dabei im Anschluß an Nietzsches Tragödienschrift den Hintersinn dessen vor, was man – als Epiphanie oder Repräsentation – unter Darstellung zu verstehen hat 2, und überhaupt enthält der Vergleich mit magischen Praktiken im Bereich religiösen Sinnerlebens mehr als nur einen Fingerzeig auf die Bedeutung, die dem Mimetischen zukommt. Mit dem Rekurs auf die Aristotelische Beobachtung, für unser Vergnügen an Nachahmungen sei das Wissen um deren Charakter konstitutiv 3, ist überdies bereits mehr als die halbe Wegstrecke zu der Einsicht zurückgelegt, daß wir es bei der Nachahmung immer auch mit einer Reflexionskategorie zu tun haben, das Problem der Nachahmung mithin weitaus komplexer ist, als es sich auf den ersten Blick ausnimmt. Bei alledem ist es dann verblüffend, wie wenig Danto systematisch in der Frage der Mimesis zu sagen hat. Von einem im Sinne des üblichen Vorurteils halbierten Platon übernimmt er bei aller Differenzierung mimetischer Vorgänge schließlich doch den Topos von der bloßen „Verdoppelung“ der Realität, so als ob Nachahmung darin aufginge.

weiter: hier

stets gewinnt die Natur ihre Bestimmung erst in der Konfrontation mit ihrem jeweiligen Gegenbegriff. Sowie wir aber nur einen Augenblick länger darüber nachdenken, bedeutet das Natürliche uns dabei allemal das Ursprüngliche, in letzter Instanz Unverfügbare, das in der Reflexion auf das Ganze zugleich als der Bedingungsrahmen für das spezifisch Andere gedacht werden muß. Wir haben daher gute Gründe, die Natur nicht allein als den Inbegriff der außer uns und unabhängig von unserem Eingriff vorkommenden Dinge zu begreifen, sondern vielmehr als den Inbegriff der wirkenden Kräfte, in deren Gesetzmäßigkeiten eingelassen wir auch uns selbst noch vorfinden und die wir immer auch an uns selbst erleben können.

Aber inzwischen ist das als Natur und als natürlich Denkbare in seiner Komplexion so differenziert entfaltet, daß wir uns auch in diese falsche Alternative nicht länger drängen lassen müssen. Wir können eben heute über die Natur anders nachdenken als das Mittelalter; insofern ist das Neue an der Moderne in dieser Frage in letzter Instanz womöglich gar nicht darin zu sehen, daß man sich im Namen des genuinen Menschenwerkes endgültig von der nötigenden Verbindlichkeit der Natur abkehren kann – sondern eher darin, daß die abstrakte Entgegensetzung des menschlichen Beitrages und der Natur selbst noch in der Einsicht von einer weitaus tieferen und zugleich bei weitem geschmeidigeren Verbindung aufgehoben wird.

am Ende:

All dies sind bereits Beispiele für mimetische Vorgänge, auch wenn sie sich in elementareren Bereichen der physiologischen und psycho-physischen Reaktion abspielen als die Prozesse der künstlerischen Produktion und der ästhetischen Rezeption. Doch wenn man zudem bedenkt, wie leicht ein beschwingter Schritt in Tanz 55, eine ausdauernde Klage in Litanei oder Gesang, ein drastisches Nachäffen in Pantomime übergeht – wenn man sich etwa die mimische Reaktion Charlie Chaplins auf den Schrecken vorstellt, der Adorno befiel, als er bei der Begrüßung eines Kriegsversehrten unerwartet eine Prothese statt einer anderen menschlichen Hand in der seinen hielt 56: Dann hat man Beispiele für jenen fließenden Übergang von Kunst und Leben, wie er Dewey in seinem metaphysischen Naturalismus vorgeschwebt hat. 57

Was ist und was bedeutet das, was sich da abspielt? Etwas nachahmen zu können, und sei es tatsächlich nur im Sinne einer Imitation: Muß man nicht davon ausgehen, daß hier in jedem Falle eine lustvolle Erfahrung gemacht wird? Eine Erfahrung, die sich wohl treffend mit der Formel ausdrücken ließe, welche bei Kant allein den schönen Dingen reserviert ist: Sie „zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe“. 58 In der Fähigkeit, das – und sei es am eigenen Leib – als unabhängig von uns selbst Erlebte durch mimetischen Nachvollzug welchen Grades auch immer auf uns zu beziehen, wird eine Entsprechung, ein grundlegendes Passen unserer selbst in den als das andere unserer selbst vorgefundenen Zusammenhang erlebt – eine Entsprechung, die wir wohl gar nicht anders denn als befriedigend erleben können.

In jedem dieser Fälle handelt es sich bereits um eine Steigerung des Eindrucks durch die Betonung des Ausdrucks.

(noch nicht endgültig, Lektüre intensivieren)

Blumenberg über Technik

Dem Buch ist eine CD beigefügt, die Blumenbergs einzigen Vortrag enthält, der als Tonaufnahme überliefert ist:

Es dürfte allerdings kein Geheimnis sein, dass diese Aufnahme inzwischen auch bei YouTube abzurufen ist: HIER

S. a. im Blog hier „Idiota de mente“ (der Laie), auch hier und hier Vom Kosmos / Nominalismus

Anknüpfungspunkte im Technik-Buch gegeben wiederum durch Nikolaus von Cues (über den Laien) Seite 16 f und Seite 66 ff

Grundgedanke (im Zusammenhang mit“Meer und Mensch“ Franz Josef Wetz):

Quelle Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg / zur Einführung / Verlag Junius Hamburg 2004 / ISBN 3-88506-389-1

Seite 96 Verweis auf die wichtigsten Quellen: Arnold Gehlen und Ernst Cassirer.

Wikipedia zu Hans Blumenberg hier. Hinweis darin: „In seinem späten Werk Matthäuspassion (1993) geht Blumenberg der Frage nach, welche Bedeutung christliche Aussagen noch für einen Leser haben können, der – wie Blumenberg selbst – kein Christ mehr ist, aber aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht auf das Christentum zurückblickt.“ (Zeitangabe stimmt nicht, recte: 1988. In meinen Händen seit 1989, öffentlich reaktiviert 1993 anlässlich der Besprechung der „Matthäuspassion“ unter Ton Koopman im WDR).

Das folgende Gespräch ist interessant, auch zur ersten Distanzgewinnung (z.B. Foucault). Und was er nicht gelesen hat.

Breite Gegenwart

Chemo und Lesestoff, Klinik, 8.Stockwerk

 

Ausblick von 8.15 – 12.50 Uhr Gumbrecht Lektüre bis hier:

Allmähliche Begeisterung, vielleicht durch Themenwendung zum Sport, mit Bezug auf die alten Griechen. Er spricht von Pindars Oden Seite 81 (s.a. hier im Blog). Stichwort Wiederverzauberung. Er zitiert Pablo Morales Seite 78f. Wer war JR Lemon? Mein Vorsatz, die Beispiele zur Ekstase („Fokussierung“) raussuchen. Später also mehr. Siehe auch Perlentaucher hier.

Im folgenden YouTube 100 m bei 12:16 Evelyn Ashford Zwischenlauf als Siegerin, danach slow (4. Bahn beobachten), 15:08 (Lane 6), 20:33 (545) Evelyn Ashford vor dem Start (Lane 6) 2.Silber

Gumbrecht meinte aber den Staffellauf, wo sie als letzte die Staffel übernahm und siegte. https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische_Sommerspiele_1988/Leichtathletik_%E2%80%93_4_%C3%97_100_m_(Frauen)#Finale

Die Tatsache, dass ich am nächsten Morgen um 8.30 h auf Seite 116, im vorletzten Kapitel angekommen bin und ungern unterbreche, sagt etwas über die (subjektiv empfundene) Brisanz des Buches, das 143 Seiten umfasst.

Mein Arbeitsplatz (oben) nach dem Kaffee (unten) 28.06.23

Und dann lese ich die seltsam entlarvenden Sätze zu Lasten des Blog-Schreibens auf Seite 127 (und nach dem Umblättern):

Hat man denn je eine wahrhaft gute Debatte in elektronischer Form erlebt, eine Debatte, in der wechselseitiger argumentativer Widerstand in wechselseitige Inspiratiom umgeschlagen wäre und damit neue Ideen hervorgebracht hätte? Während es schwierig ist zu klären, warum elektronische Diskussionen bestenfalls geistige Mittelmäßigkeit produzieren, sind wir uns doch alle dieser Tatsache bewußt – fast schon zwangsläufig. Selbst auf der Website meines besten Freundes kann ich nur allein sei, und was ich dort vielleicht als Hauch von Nähe empfinde, geht nie über die Nähe eines Touristen oder eines Voyeurs hinaus. Gibt es etwas Armseligeres als die unzähligen Blogs, die mit einem unfaßbaren Narzißmus geschrieben werden – und auf ewig ungelesen bleiben, und zwar aus guten Gründen? Im Internet ist die Gefahr, sich eine Erkältung zu holen, aufgewogen von dem Verlust der Möglichkeit, je zu Tränen gerührt zu werden.

Muss es nicht heißen: „Im Internet ist die Vermeidung der Gefahr…“ ?

Und: habe ich im Internet nicht schon einige großartige Gespräche erlebt, mit guter Wirkung auch solche, die vorher in der realen Öffentlichkeit stattgefunden haben? Oder ich habe wenigstens als Voyeur versucht, Wesentliches in einem Blog-Artikel nachträglich „abgreifbar“ zu machen. Vielleicht nur für mich. Und selbst zu Tränen wurde ich schon gerührt (z.B. durch ein von Ingeborg Bachmann gesprochenes Gedicht).

Immer schneller

Noch ein Beschleunigungsphänomen

Sped-Up-Songs – Tempo statt Temptation

Auf TikTok tanzen immer mehr Menschen zu sogenannten „Sped-Up-Versions“ von Songs. Dabei offenbart sich an diesen schneller abgespielten Liedern nicht weniger als eine neue Logik des Körpers. Ein Impuls von Florian Werner.

Artikel auffindbar im Philosophie Magazin HIER

Nicht vergessen: es geht ums Tanzen!

Ein Beispiel Lady Gaga mit Bloody Mary – das Original

Lady Gaga’s Bloody Mary als TikTok Remix :

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Wie war es noch in der Alten Musik?

Früher (1966)

Später (1986)

Und heute, am 22. Juni, gab es doch am Morgen ein neues Phänomen, außer ZEIT-Lektüre? Ja, strömender Regen, eine Erlösung nach wochenlanger Hitze. Und es gab den ZEIT-Artikel von Navid Kermani über seine musikalische Entdeckung, die zum folgenden Youtube-Beispiel führte: Ist Non-Stop-Instrumental die Alternative zu Sped-up-Songs? Eine Musik, die nicht stört, gerade auf langen Autofahrten, keine Aufmerksamkeit heischend? Sie passt zu allem. Zu Wasser wie Wüste…

Es dauert vier, fünf Minuten, bis ich es bemerke, am Anfang klingt diese Musik nur unbestimmt vertraut. Amharic Classics heißt die Musik auf dem USB-Stick, der im Autoradio steckt, das Display zeigt es an, Amharic Classics, während wir durch Amhara im Norden Äthiopiens fahren, wo nach zwei Jahren Krige gegen die Nachbarn in Tigray der Frieden eingezogen ist, Amharic Classics, und den ganzen Tag denke ich schon, wie gut die weitschweifige, gleich einem Teppich ausgebreitete und zugleich in Details verliebte Musik zu den kargen, wei auseinanderliegenden Bergen passt. Denn an den Hängen, in den Tälern und entlang der Straßen findet sich soviel Lebendiges eingesprenkelt ins Braun, dass sich das Auge immer wieder in neuen Einzelheiten verliert, genau wie in der Musik.

Es dauert vier, fünf Minuten, bis ich die Platte von Mulatu Astatke wiedererkenne, die ich zu Hause in Köln so oft auflege. The Story of Ethio Jazz 1965-1975.  Ja, Jazz, selbstverständlich Jazz. Inder Melodik habe ich den afrikanischen Einschlag immer schon gehört, das machte den Klanf fremd und reizvoll, aber der Rhythmus, die Notendauer, die Sonstruktur, die Abfolge vo Komposition und Imrovisation – das war moderne, weltläufige Musik, die in einem westlich Plattenladen selbstverständlich neben Charlie Parker und Miles Davis steht. Es ist die Landschaft, die sie verändert, es ist der USB-Stick, auf dem Mulatu Astatke zum Amharic Classic wird.

HIER

Quelle des Textes: Navid Kermani

„Die Reue des Prometheus“

Habeck und Sloterdijk im Gespräch (WDR 5)

in WDR 5 anklickbar HIER

Pressetext

Bei der Philcologne 2023 treffen Meisterdenker Peter Sloterdijk und Robert Habeck, Minister für Wirtschaft und Klimaschutz und studierter Philosoph, aufeinander. Beide sprechen über unseren Umgang mit fossilen Ressourcen. Ein Thema, dem Sloterdijk sein neues Buch gewidmet hat: „Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung“. Denn als Prometheus dem Mythos zufolge einst den Menschen das Feuer brachte, änderte sich alles. Seitdem können wir Menschen Nahrung garen, Werkzeuge härten und in großem Stil fossile Brennstoffe verheizen.

Bisher als Heilsbringer verehrt, ist sich Sloterdijk heute nicht mehr so sicher, ob Prometheus den Menschen damit einen Gefallen getan hat. Robert Habeck setzt sich seit langem mit den Problemen der fossilen Energieträger auseinander und versucht, politische Lösungen zu finden. Im Gespräch mit Moderator Armen Avanessian suchen sie nach konstruktiven Ideen und fragen sich, ob Prometheus sein Geschenk heute wohl bereuen würde.

Redaktion: Tobias Habig

Ab 00:51:50 über Weltkulturerbe 00:52:52 Sloterdijk hinführend zu „Weltbodenschatzerbe“, pathogene Kurzschlüsse zu Territorien / Habeck: Klimaschutzabkommen Ausstieg aus Öl oder Gas „Enteignung steht im Raum“ Slot.s Stichwort „Räderwerk“ Drogencharakter der Waren

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Sloterdijks Website HIER

Maja Göpel Wiki hier

Es ist dem Andenken Bruno Latours gewidmet.

Des weiteren: Sloterdijks Buch, vorgelesen auf CD hier

Künstliche Intelligenz – entspannen Sie sich

Neuer Artikel von Ulrich Schnabel

Während ich alles bereit lege, um zu zitieren, sehe ich, dass ich es mit demselben Autor schon einmal so gehalten habe, noch nicht so lange her. (Siehe Link zum Wort Neuer in Untertitel). Seine Zuverlässigkeit ist mir lange bekannt, das Buch ist mir seit 11. Dezember 2008 ein vertrautes Nachschlagewerk. Nachschauwerk.

Wieder wird das Lachen zum Thema anlässlich der KI, sie kann es nicht, und ist da meiner Katze ähnlich (das ist lange her)…

oder lächelt sie doch?

ZITAT

Hört man sich dazu in den Geisteswissenschaften um, trifft man auf zwei Positionen: routinierten Widerspruch einerseits – und neugieriges Staunen andererseits.

Die erste Position vertritt etwa der Bonner Philosoph Markus Gabriel. Er sagt, die KI sei »künstlich, aber nicht intelligent«. Was aussehe wie echtes Denken, sei in Wahrheit nur eine geschickte Simulation, die uns einen Denkprozess vorgaukelt. »Wir projizieren unsere Intelligenz in die Systeme«, sagt Gabriel, es gebe nur »eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen unserer Intelligenz undf diesen Projektionen in der Form von Modellen«. Am Ende sei es immer noch der Mensch, der über ihren Einsatz und ihre Ziele bestimme.

(…)

Ähnlich pragmatisch argumentiert der Philosoph Ralf Becker, wenn man ihn nach dem Begriff des Verstehens befragt. »Verstehen«, sagt Becker, sei ein Können, das sich in Handlungen ausdrückt. »Ob ich ein philosophisches Argument verstanden habe, zeigt sich daran, ob ich es rekonstruieren und auf Nachfragen antworten kann. Ob ich einen Witz verstanden habe, zeigt sich daran, ob ich seine Pointe erklären kann.«

Doch was, wenn ChatGPT eine Pointe richtig erklärt? »Versteht« die KI dann den Witz? Nein, meint Becker. Einzelne Erfolge genügen nicht als Probe aufs Exempel. Oft mache das Programm ja noch grobe Fehler. Das gelte für Witze wie für Mathe-Aufgaben. Und wenn man es um Romananalysen bitte, halluziniere das Programm zum Teil Figuren, die im Text gar nicht vorkommen. Am deutschen Abi, das haben Tests vor einigen Wochen gezeigt, scheiterte CHatGPT deswegen noch.

Doch selbst wenn die KI irgendwann das Abitur bestände, wäre Becker nicht überzeugt. Hinzu käme nämlich noch ein anderer Aspekt: Verstehen sei kein isolierter kognitiver Akt, sondern »stets verkörpert, in eine Situation und in eine Praxis eingebettet – etwa in Form von Nach- und Rückfragen, Wiederholunge, Übungen«.  Letztlich sei das Verstehen als »Lebensform« zu begreifen. Dafür brauche es einen Körper, der eine eigene Geschichte habe, der eigene Ziele und Absichten verfolge, der uns mit der Welt verbindet. (…)

Quelle ZEIT 17. Mai 2023 Seite 31 Unsere neue Denkaufgabe Die künstliche Intelligenz wird immer klüger, schneller und kundiger. Der Mensch aber fragt sich: Versteht sie überhaupt, was sie da rechnet? Und was heißt das eigentlich – die Welt verstehen? Von Ulrich Schnabel

Was fehlt mir noch? Ein Witz vielleicht?

Auf dem Spielplatz im Botanischen Garten bei hellem Sonnenschein: die Kinder spielen selbstvergessen im Sand, bis sich ziemlich schnell eine Wolke vor die Sonne schiebt und für Verdunklung der Szene sorgt. Ein Knabe schreckt hoch und schreit empört: „Licht an!“

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NEU UND LESENSWERT: Ein Artikel in der FAZ (1.6.23) von Dietmar Dath: hier

ZITAT Anfang des Artikels

Wenn ich vor etwas Angst habe, das ich nicht sehen, hören, schmecken, riechen oder berühren kann, zum Beispiel vor Strahlung, Viren oder einer Pleite wegen digitaler Transformation, dann muss ich, weil mir Sinnesdaten fehlen, eben abstrahieren und nachdenken. Der Anlass der Angst gerät so vor das berühmte „geistige Auge“. Genau genommen gibt’s pro Verstand sogar zwei dieser geistigen Augen. Denn wie der Gesichtssinn, so schaut auch die Vernunft nicht nur in die Höhe („steile These“) und in die Breite („Ausführlichkeit“), sondern obendrein in die Tiefe („Korrelation“, „Kausalität“). Das linke geistige Auge schließt aus Bekanntem auf Unbekanntes per Wahrscheinlichkeitserwägung.

Dank an Berthold Seliger!

Französische Lektüre

Keine Notsituation, aber höchste Zeit (zum Lesen)

Aussicht aus dem Klinikum. Viel heller liegt das schmale grüne Buch vor mir, und etwas über 40 Jahre entfernt. Damals las ich: „Überwachen und Strafen“ sowie „Sexualität und Wahrheit 1“ von Michel Foucault. JMR wusste das, er war erst 16. Und dieses, warum las ichs nicht? Kaum, – vielleicht zu theoretisch für mich. Heute werde ich es bis zum Ende mit gleicher Aufmerksamkeit lesen (dank Erinnerung an Kant). Ich werde die Sätze abschreiben, die ich richtig gut fand, die auf dem rückseitigen Cover nicht). Das zweite Werk „Schriften zur Literatur“ ist heute nur Beifang – an derselben Stelle im Regal, wo das andere sich versteckt hatte, sträflich missachtet, unglaublicher Fehler, gerade wo es mir seit damals hätte helfen können, Flaubert näherzukommen! Siehe unten den Link zum Artikel „Die ernste Geschichte der Figura“….

1970/1976

Wie Flaubert arbeitete …. / aus dem letzen Kapitel des Buches Schriften zur Literatur von Michel Foucault: Un »fantastique de bibliothèque« / Nachwort zu Gustave Flauberts Die Versuchung des heiligen AntoniusSchriften  zur Literatur / Übersetzung: Karin von Hofer / Ullstein Materialien 1979 ISBN 3-548-35011-9

Die ernste Geschichte der Figura

Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses

Zitate

S.32 Es könnte sein, daß der Gedanke des begründenden Subjekts es erlaubt, die Realität des Diskurses zu übergehen. Das begründende Subjekt hat ja die Aufgabe, die leeren Formen der Sprache mit seinen Absichten unmittelbat zu beleben; indem es die träge Masse der leeren Dinge durchdringt, ergreift es in der Anschauung den Sinn, der darin verwahrt ist; es begründet auch über die Zeit hinweg Bedeutungshorizonte, welche die Geschichte dann nur noch mehr entfalten muß und in denen die Sätze, die Wissenschaften, die Deduktionen ihr Fundament finden. In seinem Bezug zum Sinn verfügt das begründende Subjekt über Zeichen, Male, Spuren, Buchstaben. Aber es muß zu seiner Offenbarung nicht den Weg über die besondere Instanz des Diskurses nehmen.

Diesem Thema steht der Gedanke der ursprünglichen Erfahrung gegenüber, der ein analoge Rolle spielt. Er setzt voraus, daß in der rohen Erfahrung, noch vor ihrer Fassung in einem cogito, vorgängige, gewissermaßen schon gesagte Bedeutungen die Welt durchdrungen haben, sie um uns herum angeordnet und von vornherein einem ursprünglichen Wiedererkennen geöffnet haben. Eine erste Komplizenschaft mit der Welt begründet uns so die Möglichkeit, von ihr und in ihr zu sprechen, sie zu bezeichnen und zu benennen, sie zu beurteilen und schließlich in der Form der Wahrheit zu erkennen. Was kann der Diskurs dann legitimerweise anderes sein als ein behutsames Lesen? Die Dinge murmeln bereits einen Sinn, den unsere Sprache nur noch zu heben braucht; und diese Sprache sprach uns ja immer schon von einem Sein, dessen Gerüst sie gleichsam ist.

S.35 Es herrscht zweifellos in unserer Gesellschaft – und wahrscheinlich auch in allen anderen, wenn auch dort anders profiliert und skandiert – eine tiefe Logophobie, eine stumme Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses.

Vgl. im Blog: Kant-Artikel über das „Gewühl“ hier.

S.36 Ein Prinzip der Spezifizität. Der Diskurs ist nicht in ein Spiel von vorgängigen Bedeutungen aufzulösen. Wir müssen uns nicht einbilden, daß uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplitze unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welcher uns die Welt geneigt macht. Man muß den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen. In dieser Praxis finden die Ereignisse des Diskurses das Prinzip ihrer Regelhaftigkeit.

S.37 (…) zwei Bemerkungen (…) Geschichtsschreibung. Man behauptet häufig von der heutigen Historie, daß sie die einstigen Privilegien des einzelnen Ereignisses aufgehoben und die Strukturen der langen Dauer zur Erscheinung gebracht habe. Gewiß. Doch ich bin nicht sicher, daß die Arbeit der Historiker genau in diese Richtung geht. Oder vielmehr, ich glaube nicht, daß zwischen dem Ausfindigmachen des Ereignisses und der Analyse der langen Dauer ein Gegensatz besteht. Gerade indem man sich sich auch den geringsten Ereignissen zugewendet hat, indem man die Erhellungskraft der historischen Analyse bis in die Marktberichte hinein, in die notariellen Urkunden, in die Pfarrregister, in die Hafenarchive vorangetrieben hat, die Jahr für Jahr, Woche für Woche verfolgt werden, hat man jenseits der Schlachten, der Dekrete, der Dynastien oder der Versammlungen massive Phänomene von jahrhundertelanger Tragweite in den Blick bekommen.

Die letzten 5 Seiten des Diskurses gehören Hegel und – Jean Hyppolyte .

S.50 Nicht nur ich schulde Jean Hyppolyte Dank: denn er hat für uns und vor uns den Weg durchlaufen, auf dem man sich von Hegel entfernt und Distanz nimmt, auf dem man aber auch wieder zu ihm zurückgeführt wird, aber anders und so, daß man ihn von neuem verlassen muß.

Zunächst hatte sich Jean Hyppolyte bemüht, dem großen und etwas gespenstischen Schatten Hegels, der seit dem 19. Jahrhundert herumgeisterte und mit dem man sich im Dunkeln herumschlug, eine Gegenwart zu geben. Er tat dies durch eine Übersetzung der Phänomenologie des Geistes. Daß Hegel in diesem französischen Text gegenwärtig ist, beweisen jene Deutschen, die ihn gelegentlich konsultiert haben, um seine »deutsche Version« besser zu verstehen.

Quelle Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses / Inauguralvorlesung am Collège de France – 2.Dezember 1970 / Anthropologie – Herausgegeben von Wolf Lepenies und Henning Ritter / übersetzt von Walter Seitter / Carl Hanser Verlag München 1974 / Ullstein Buch Nr. 3367 Verlag Ullstein Frankfurt/M. – Berlin – Wien 1977

Immer noch aktuell: Bullshit

Zu tiefes Denken

Aus einem sehr lesenswerten Heft:

darin (Seite 70): Die Kunst des Wichtigtuns / von Steve Ayan / Psychologen erforschen, wer für bedeutsam klingende, aber hohle Phrasen empfänglich ist. Ihre verblüffende Erkenntns: Intelligente Menschen fallen auf den verbalen Pomp seltener herein, produzieren ihn aber um so geschickter.

Die Ur-Lektüre (2006) von Harry G. Frankfurt:

Aber Vorsicht: diese Schrift ist methodisch-philosophischer als man vielleicht erwartet, und sie endet entsprechend:

Als bewußte Wesen existieren wir nur in der Reaktion auf andere Dinge und können uns daher unmöglich selbst erkennen, ohne diese anderen Dinge zu erkennen. Außerdem stützt nichts in der Theorie und erst recht nichts in unserer Erfahrung die abstruse These, ein Mensch vermöge am ehesten noch die Wahrheit über sich selbst erkennen. Die Tatsachen und Aussagen über uns selbst sind keineswegs besonders solide und resistent gegen eine Auflösung durch skeptisches Denken. In Wirklichkiet sind wir Menschen schwer zu packende Wesen. Unsere Natur ist notorisch instabiler und weniger eingewurzelt als die Natur anderer Dinge. Und angesichts dieser Tatsache ist Aufrichtigkeit selbst Bullshit.

Quelle Harry G. Frankfurt: Bullshit / Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff / Suhrkamp Frankfurt a.M. 2006 / Seite 72/73

Zu warnen ist überhaupt vor Schnellschüssen, deshalb der kluge Satz gegen Ende des oben zitierten Artikels: „Fehlt einem etwa das begriffliche Repertoire, um Martin Heidegger oder Theodor W. Adorno gedanklich zu folgen, dürfte man so manche ihrer Sätze überkandidelt finden. Zu sehr entziehen sie sich unserer üblichen Sprech- und Denkweise.“

Wäre es nicht ratsam, zum Beispiel bei Adorno selbst nachzulesen, wie er mit Heidegger verfährt?

Man studiere ein Beispiel: es ging zunächst um die Bauernfrage, letztlich um die immer noch ungelöste der Bezuschussung, dann um die unfreiwillige soziale Situation, nämlich abseits der Gesellschaft zu wirtschaften und – von Heideggers Seite die Glorifizierung ihrer Einsamkeit, die er streng geschieden haben will vom Phänomen des Alleinseins. Während Adorno darauf besteht, dass selbst das einzelne Wort nicht allein steht, sondern seine Bedeutung aus dem Zusammenhang mit anderen Wörtern bezieht. Heute hilft ein kurzer Blick ins Lexikon Wikipedia hier ; zudem wird man Adornos Satzbau auch nicht mehr durchweg mit der gedanklichen Notwendigkeit begründen wollen, sondern mit einer Tendenz zum Preziösen.

ZITAT

Eine Philosophie, die aufs Vermögen zu lauschen soviel sich zugute tut, macht sich taub gegen die Worte, während der Nachdruck den Glauben erweckt, sie, Deckbild der Willkür, schmiege den Worten sich an. Heideggers Urlaute äffen wie die meisten. Kaum allerdings vermöchte ein feineres sprachliches Organ als das seine besser zu leisten, was ihm mißlingt.

Quelle Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit / Zur deutschen Ideologie / Suhrkamp Frankfurt a.M. 1964 / Seit 50 f