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Künstliche Intelligenz – nur keine Panik!

Mehr Komik! Ein paar ungelöste Fragen

Es liegt was in der Luft, KI – und mit Vorliebe wird in der Kunst herumgestochert, als sei es die letzte Bastion der Menschlichkeit, deren Verschwinden nun bald zu beklagen sein wird. Dabei gab es doch schon die künstlich erschaffene Zehnte von Beethoven in Bonn, ein Desaster erster Güte, das nur nicht heilsam wirkte, weil es doch genug Offizielle gab, die bestätigten, dass es irgendwie nach Beethoven klang; was ja kein Wunder ist, wenn man ausreichend „echten“ Stoff reingemischt hat. Kein Wort darüber. Es wird auch nicht richtiger, wenn es vom Philosophen Precht stammt, der sich wohl in KI auskennt, aber nicht in MUSIK.

Ich weiß nicht, ob der verdienstvolle Journalist Ulrich Schnabel nun die passenden Akzente setzt, wenn es um KI in Literatur, Prosa oder Lyrik geht.

DIE ZEIT 15. Dezember 2022

Ich erlaube mir aber, einen Abschnitt daraus zu zitieren, in dem es u.a. um Gedichte von Rilke oder Celan geht, vielmehr um deren Surrogat aus dem Ideen-Räderwerk der Künstlichen Intelligenz.

Lassen Sie es auf sich wirken!

Welcher Lyrikkenner würde denn im Traum glauben, dass eine so schwache Metapher („Berge wie Riesen“) von Rilke stammen könnte, der auch noch „die Kraft der Erde“ unter seinen Füßen fühlt. Gewiss, wer den Namen Celan und das Wort schwarz hört, denkt im gleichen Moment an die „schwarze Milch“ der Todesfuge, aber schon dieses Titelwort könnte die KI nur von Celan selbst abgeluchst haben und dürfte es übrigens kein zweites Mal verwenden. (Um nochmal auf Beethoven zurückzukommen: es ist völlig unrealistisch, dass er ein neues Opus aus Elementen vorheriger Werke zusammenbaut. Sein Geist war unberechenbar, von Werk zu Werk ebenso wie innerhalb eines Werkes.)

Wer sind denn die Versuchspersonen, die nur noch raten können, ob es sich um ein Original oder ein Maschinen-Gedicht handelt? Raten statt urteilen??? Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Poet, wenn er sein Handwerk versteht, schreibt wie ein Roboter, aber unwahrscheinlich, dass diesem eine Strophe gelänge, die mit einer von Rilke austauschbar wäre.

Und etwas weiter im Text findet man die Sätze:

Eine weitere Kritik an den Sprachprogrammen lautet, dass sie häufig vorhersehbare, formelhafte Texte hervorbringen; zu echter Fantasie oder literarisch wertvollen Beiträgen sei der Algorithmus hingegen nicht in der Lage. Das stimmt. Die Sache ist nur die: Dasselbe gilt für uns Menschen. Auch der Großteil jener Texte, die wir tagtäglich produzieren, ist formelhaft und folgt vorhersehbaren Mustern – das gilt für die Hausaufgaben wir für Behördentexte, für Sprachnachrichten wie Politikerreden. Das eröffnet den Sprachprogrammen einen enormen Anwendungsbereich.

Aber wer will sich im Ernst darüber wundern, dass wir uns im täglichen Leben unzähliger Formeln und Redensarten bedienen?  Es ist schlicht unnötig, sich permanent origineller oder preziöser Ausdrucksweisen zu bedienen. Daraus wird sich kein entspanntes (und inspiriertes) Gespräch entwickeln, wie es „normale“ Menschen lieben, die z.B. nicht miteinander im Wettkampf stehen, sondern – sich unterhalten.

Auch das Philosophie Magazin vom 14. Dezember 2022 beschäftigt sich mit diesem Thema und sieht gerade in dieser Normalität ein Problem:

ChatGPT – wenn Algorithmen fabulieren

Ein neues Sprachprogramm der Firma Openai sorgt im Netz seit einigen Wochen für Aufsehen. Der Grund ist, dass es eine Fähigkeit beherrscht, die bislang Menschen vorbehalten war: Das Erzählen von Geschichten.

Und nun heißt es:

Sogar die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, die man lange als rein menschliche annahm, scheint die KI zu beherrschen. Einer jener Denker, der das Erzählen von Geschichten zum Vorrecht des Menschen erklärten, war Henri Bergson. In seinem 1932 erschienenen Werk Die beiden Quellen der Moral und der Religion erklärt der Philosoph, dass die Fähigkeit zu „fabulieren“ notwendigerweise mit der menschlichen Intelligenz verbunden und unerlässlich ist, um uns gesund und guten Mutes zu halten. Sie erfüllt in der Tat eine lebenswichtige Funktion, indem sie uns als potentes Werkzeug im Kampf gegen eine Niedergeschlagenheit zur Verfügung steht, die uns in unterschiedlicher Ausprägung jedoch schlussendlich alle betreffen wird.

(…)

Daran darf zum jetzigen Zeitpunkt mit Fug und Recht gezweifelt werden. Bergson erinnert uns nämlich auch daran, dass es nur möglich ist, den Nebenwirkungen unserer Vernunftbegabung mit Geschichten entgegenzuwirken, wenn die Geschichten von sich aus „vital“ sind. Also eine Kraft besitzen, die jenen Texten abgeht, die lediglich aus einer Vielzahl neu arrangierter, jedoch bekannter literarischer Gemeinplätze bestehen. (…)

Im Gegensatz dazu zeichnet sich das menschliche Fabulieren durch das Charakteristikum aus, mit Erwartungen zu brechen, im ersten Moment verwirrende Geschichten zu konstruieren, die sich schließlich doch zu einem Ganzen zusammenfügen.

Richtig! Niemand zweifelt aber auch, dass nette Kindergeschichten, wie ich sie einst für meine Enkelin erfand, ebenso von einem Computer stammen könnten. Die Kleine gab mir sogar zwischendurch Anweisung, wie es weitergehen sollte. Auf keinen Fall sollte der Hauptfigur etwas zustoßen. Niemals hätte sie protestiert, wenn der Inhalt allzu schematisch aufgebaut war. Die Geschichten sollten ja gewissermaßen einem heimlichen Muster folgen. Es war nicht schlimm, wenn es ausging wie am Abend zuvor. Andererseits gab es genügend Erfahrungen, dass ein Film oder eine geschriebene Geschichte, anders verläuft, als vom Kind gewünscht, ja, sogar mit Tränen endet. Lebenserfahrung, die auch dazu verleiten kann, endlich selbst den Weltlauf mitlenken zu wollen. Und wissen, was ein Scheitern bedeutet.

Heute würde Henri Bergson sich wahrscheinlich angesichts der Leistungen der KI etwas anders fassen. Aber im Prinzip lohnt es sich, vom „vitalen“ Kern auszugehen, der die Geschichte trägt. Und normalerweise beeinflusst kein Rezipient den Verlauf, die live erzählende Person allerdings ist ein Seismograph, der durchaus die Kräfte spürt, die wachgerufen werden.

*    *    *

Eine andere Idee, der nachzugehen wäre, hat mit dem Witz zu tun, bzw. unserer Fähigkeit, einen Witz zu verstehen oder gar wirkungsvoll (auf die Pointe hin) zu konstruieren. Das oft geradezu explosive Lachen über einen Witz wird ja in einem winzigen Moment ausgelöst, der einem Kurzschluss gleicht oder vielmehr dem Gegenteil: ein Kontakt schließt sich, ein Zusammenhang blitzt auf, ein Netz ist geschaltet. Auf einfachste Weise, wenn es sich um einen Wortwitz handelt, ein absichtlich herbeigeführtes Missverständnis, um eine Doppeldeutigkeit, die sich auflöst, und zwar durch die aktive Rück- oder Umdeutung. Es handelt sich nicht einfach um 2 Wörter, sondern um Bedeutungszusammenhänge, die aufgerufen werden. Eine allzulange Leitung vernichtet den Witz, nötige Erklärungen müssten „undercover“ vorausgeschickt werden. Denn der Funken der Pointe muss unmittelbar zünden. Ein Spiel mit dem Fassungsvermögen und dem aktiven Erlebnishorizont der beteiligten Menschen.

In dem Exemplar der ZEIT (15.Dezember) mit dem Schnabel-Artikel gibt es tatsächlich auf Seite 57 ein kleine Kolumne von Lars Weisbrod, wie hilflos das ChatGPT mit Humor umgeht, bei der Erfindung von Witzen etwa.

Anregend auf jeden Fall: hier. Man kann aber auch mal bei heise online vorbeischauen und den Schlussabsatz zum Ausgangspunkt nehmen:

ChatGPT stellt auch keine Nachfragen, wie der Nutzer etwas gemeint haben könnte – selbst wenn mehr Informationen seitens des Nutzers die Antwort stark verbessern würden. Die KI plappert einfach drauf los und versucht die aus Sicht der Maschine bestmögliche Antwort zu geben.

Schließlich hat der aktuelle Prototyp nur Daten bis 2021. Aktuelle Fragen kann er damit nicht beantworten.

(Ende der vorläufigen Recherche)

P.S. Einer Anregung folge ich jedenfalls: ich untersuche, inwiefern ich bei Henri Bergson fündig werde, was das Wesen des Witzes ausmacht.

Siehe auch hier im Blog u.a. : http://s128739886.online.de/lachen-worueber / http://s128739886.online.de/nicht-lachen-wollen / http://s128739886.online.de/lachen-mit-schopenhauer / http://s128739886.online.de/wieso-und-worueber-lachte-immanuel-kant / http://s128739886.online.de/comedians /

Zudem sollte ich im Fall der Lyrik überprüfen, warum die Interpretation aus kundiger Hand wesentlich ist. Allein wenn es um einen Satz geht wie diesen:  „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.“ Mörike. (Scheint es so oder scheint letztlich doch die Lampe?) Und dann, wenn man das ganze Gedicht liest: wie harmlos dürfte es denn aufgefasst werden?

Sollen wir uns aus dem gleichen Stoff von ChatGPT etwa ein tiefsinnigeres Gedicht verfertigen lassen?

Wenn man sich Sorge macht, dass die KI eines Tages das Leben (des Geistes) vollständig simulieren kann, aber wohl kaum die lebendige Situation, in der ein Mensch oder die Gruppe explosionsartig – ohne Sinn und Verstand – in Lachen ausbricht: so kann man bei Bergson anknüpfen dort, wo er darstellt, dass die  Komik immer aus der Erfahrung einer Mechanisierung resultiert. Woraus man folgern könnte, dass die KI (als eine Form der Mechanisierung) gerade auf diesem Auge blind ist.

Ich zitiere im folgenden ohne weitere Erläuterung einfach das, was mir genügend Anregung zu bieten scheint. Ohne damit eine ausreichende Zusammenfassung der Gedankengänge Bergsons geliefert zu haben.

Bergson Seite 36f

Und nun zur Gesellschaft. Da wir in ihr und durch sie leben, können wir sie nicht anders denn als lebendes Wesen behandeln. Komisch ist folglich ein Bild, wenn es uns an eine verkleidete Gesellschaft, eine soziale Maskerade denken läßt. Ein solches Bild entsteht, sobald wir an der bewegten Oberfläche der Gesellschaft etwas Lebloses, Fixfertiges, Fabriziertes bemerken. Wieder diese Steifheit, die so gar nicht zu der dem Leben innewohnenden geschmeidigen Grazie paßt. Im formellen Teil des Gesellschaftslebens muß demnach eine latente Komik stecken, die nur auf eine Gelegenheit zum Ausdruck wartet. Man kann sagen, das Zeremoniell sei für das soziale Gefüge, was das Kleid für den individuellen Körper: Es wirkt feierlich, solange es sich mit dem ernsthaften Zweck, dem es nach überliefertem Brauch zu dienen hat, zu identifizieren scheint; es verliert seine Feierlichkeit in dem Augenblick, da unsere Phantasie es von diesem Zweck trennt. Damit eine Zeremonie komisch werde, muß sich also unsere Aufmerksamkeit nur auf das richten, was zeremoniell an ihr ist. Wir sollen nicht an ihre Materie, wie die Philosophen sagen, sondern nur an ihre Form denken. (…)

Auch hier steigert sich die Komik, je mehr sie sich ihrer Quelle nähert. Wir müssen von der abgeleiteten zur ursprünglichen Vorstellung, von der Maskerade zum Mechanismus zurückkehren. Ein solches Bild vermittelt uns schon allein die abgezirkelte Form jedes Zeremoniells. Vom Augenblick an, da wir den ernsten Sinn einer Feierlichkeit oder Zeremonie vergessen, haben wir den Eindruck, die Teilnehmer bewegen sich wie Marionetten. Ihre Beweglichkeit ist auf die Unbeweglichkeit einer Formel abgestimmt. Es ist Automatismus. Vollkommen aber ist der Automatismus eines Beamten, der wie eine Maschine funktioniert, oder die Seelenlosigkeit eines Verwaltungsreglements. das mit unerbittlichems Zwang angewendet wird und das sich für ein Naturgesetz hält. Vor einigen Jahren ging ein großer Postdampfer bei Dieppe unter. Einige Passagiere retteten sich mit letzter Not in ein Boot. Die Zollbeamten, die ihnen mutig zu Hilfe geeilt waren, fragten sie als erstes, ob sie nichts zu verzollen hätten… Ähnlich, wenn auch subtiler, wirkt auf mich der Satz eines Abgeordneten, der nach einem in der Eisenbahn begangenen Verbrechen beim Minister interpellierte: «Nachdem der Mörder sein Opfer umgebracht hatte, muß er entgegen den geltenden Vorschriften rückwärts vom Zug abgesprungen sein.»

Seite 38

(Molière) Soweit hier übrigens die komische Phantasie zu gehen scheint, die Wirklichkeit bringt es zuweilen fertig, sie zu übertreffen. Einem zeitgenössischen, äußerst streitbaren  Philosophen wurde vorgehalten, seine makellos gezogenen Schlüsse hätten die Erfahrung gegen sich, worauf er die Diskussion kurzerhand mit dem Satz beendete: «Die Erfahrung hat unrecht.» Die Idee, daß man das Leben durch Vorschriften regeln könne, ist weiter verbreitet, als man denkt. Sie ist in ihrer Art natürlich, wiewohl wir sie zuvor künstlich zerlegt und wieder zusammengesetzt haben. Sie liefert uns gewissermaßen die Quintessenz der Pedanterie, und diese ist im Grunde nichts anderes als Kunst, die klüger sein will als die Natur.

So verfeinert sich der gleiche Effekt immer mehr – vom Eindruck einer künstlichen Mechanisierung des menschlichen Körpers bis zur Vorstellung von einer Verdrängung des Natürlichen durch das Künstliche. (…)

Seite 39

Quelle Henri Bergson: Das Lachen / Ein Essay über die Bedeutung des Komischen / Im Verlag der Arche in Zürich 1972 / Aus dem Französischen übersetzt von Roswitha Plancherel-Walter

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Nachtrag

Sehr empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang der aktuelle Blogbeitrag von Arno Lücker: HIER. Und auch da kommt das Lachen nicht zu kurz. Zitat:

Seit wenigen Wochen haben viele Menschen Spaß an „ChatGPT“. Ein Chat-Roboter, der scheinbar auf alles eine Antwort hat – und mehr noch: selbst Gedichte, kleine Geschichten, Geburtstagsreden, Rätsel und so weiter verfassen kann. Damit lässt sich durchaus mal zwei Stunden Spaß haben (verbringt aber dadurch weitere zwei Stunden seines Tages vor einem Bildschirm). Dabei funktioniert das Ganze nicht nur auf Englisch, sondern auch beispielsweise (allerdings wesentlich fehleranfälliger) auf Deutsch. Man gibt einfach eine „Arbeitsanweisung“ in ein Eingabefeld – und relativ schnell erscheint ein Text; grafisch wie „getippt“ gestaltet, vermutlich, damit dieses Spielzeug ganz typisch den Anschein von (genial schneller) Menschlichkeit vermittelt.

Nicht nur im Frühling

Was aufs neue zu lesen und zu hören wäre …

Was war denn im April 1968? – „Die Amsel“

Ging es überhaupt um das Tier? Oder um einen mystischen Zustand?

http://www.janreichow.de/sdg_abgehoert_vogelstimmen_1992.htm

Die CDs sind hier im Regal immer noch greifbar, und viele andere sind dazugekommen. Aber im Radio war es wohl in einer Musikreihe die erste Vogelstimmensendung dieses Umfangs.

dies aber ist wirklich neu: 14.10.22

oder eine Hoffnung auf Erneuerung. Wie im folgenden Hörspiel, der alten Erzählung, kennengelernt im April 1968 – jetzt: HIER

Hörspiel „Die Amsel“ Von Robert Musil

Und als Ausklang – selber lesen:

https://taz.de/Was-singen-die-Amseln/!764970/ hier (Autor: Cord Riechelmann) oder Vinciane Despret:

Der Ethnologe Daniel Fabre sagte über seinen Beruf, er interessiere sich für das, was die Menschen am Schlafen hindere. Der Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro gibt eine ähnliche Definition von der Anthroplogie: Sie sei das Studium varierender Dringlichkeiten. Weiter schreibt er, »[w]enn es etwas gibt, das der Anthropologie von Rechts wegen zukommt, dann ist es nicht die Aufgabe, die Welt des anderen zu erklären, das heißt zu explizieren, sondern die, unsere Welt zu vervielfachen«. Die Verhaltensforscher, die Tiere beobachten und analysieren, wie es vor ihnen die Naturforscher getan haben, verfolgen meiner Meinung nach meist ein vergleichbares Vorhaben: Sie wollen dokumentieren und die Seinsweisen vermehren, sprich »die Weisen zu empfinden, zu fühlen, Sinn zu geben und den Dingen eine Dringlichkeit zu verleihen«. Wenn der Verhaltensforscher Marc Bekoff sagt, jedes Tier sei für sich genommen eine Art, die Welt zu erfahren, meint er nichts anderes. Natürlich können die Wissenschaftler nicht auf Erklärungen verzichten, doch das Erklären kann darin bestehen, komplexe Geschichten, wahre Abenteuererzählungen über das Leben und die hartnäckig von ihm erprobten Möglichkeiten zu ersinnen; es kann die Probleme zu erhellen versuchen, für die dieses oder jenes Tier eine Lösung gefunden hat, oder aber nach einer allgemeingültigen Patenttheorie streben. Kurzum, es gibt Erklärungen, die die Welten vervielfachen und unzählige Seinsweisen berücksichtigen, und es gibt solche, die sie bändigen und auf ein paar Grundprinzipien beschränken.

Die Amsel hatte zu singen begonnen. Etwas Dringliches beschäftigte sie, und in diesem Moment zählte nichts anderes als das, was sie um jeden Preis zu Gehör bringen wollte.

Quelle Vinciane Despret: Wie der Vogel wohnt (aus dem Französ. von Nivola Denis) Matthes & Seitz Berlin 2022 (Zitat Seite 14f)

Elisabeth von Thadden schrieb darüber (ZEIT Literatur Oktober 2022 Seite 34) :

Die Biologie ist hier nur ein Bezugspunkt unter anderem. Vinciane Desprez sucht nicht nach universellen Gesetzmäßigkeiten des Vogelverhaltens, sie möchte wissen, wie Vögel durch Menschen verstanden wurden: Warum setzt sich der Begriff des Territoriums von Vögeln erst im 17. Jahrhundert durch, im Zuge der Entstehung des Eigentum-Begriffs in England? Warum entwickelt Darwin ein Faible für des dramatische Potenzial des männlichen Vogel-Wettkampfs um ein Revier, und warum wundert ihn der Gesang kaum? Wie kommt es, dass der Soziologe Zygmunt Bauman starke Thesen zur Gesellschaftlichkeit der Vögel hatte, aber keine beobachtende Neugier für deren faktisches Verhalten? Umd warum verknüpft der Philosoph Michel Serres das Verhalten der Tiere mit dem Naturrecht, um die Vögel wie kleinbürgerliche Besitzfetischisten erscheinen zu lassen?

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Heute 16.10.22 – Gehört / gesehen: MAHLER (ziemlich kritisch) danach gefesselt von A bis Z durch: WESTART (warum ist eine solche Sendung um so viel packender als ein Mahler-Film oder ein abgefilmtes Orchester? Oder gar ein „Lied von der Erde“ mit Klaus Florian Vogt???) siehe HIER Westart 15.10.2022 29:39 Min.,erfügbar bis 15.10.2023 WDRu Besuch im Von der Heydt-Museum „Die erste der drei aktuellen Ausstellungen mit dem Titel ‚ZERO, Pop und Minimal‘ zeigt provokative Kunst der 60er und 70er Jahre. Die zweite Ausstellung ‚Fremd sind wir uns selbst‘ visualisiert anhand von Porträts aus über 100 Jahren die Spannung zwischen Außen- und Selbstwahrnehmung. Und die gerade eröffnete Ausstellung ‚Eine neue Kunst‘ stellt Fotografie und impressionistische Malerei nebeneinander – zwei Genres, die sich nah und doch erstaunlich fremd sind.“

Kennen Sie Stéphane Mandelbaum? Da wir gerade bei der Kunst sind, möchte ich eine tolle Empfehlung von Berthold Seliger festhalten, die einer wichtigen Frankfurter Ausstellung gilt. In seinem Artikel macht ein Link auch das Booklet zugänglich; darin wiederum findet man u.a. einen lesenswerter Artikel von Diedrich Diederichsen. Alldies also auf diesem Wege online:

https://www.jungewelt.de/artikel/436713.kunst-wimmelbilder-der-halbwelt.html

Memorandum zweier Filme zur Moderne

Oder: was ich aus ARTE memorieren will

Kalter Sandsturm

Ich liebe es, Heterogenes in Zusammenhang zu bringen oder einfach nebeneinander zu setzen. Das muss nicht mit langen Kommentaren verbunden sein, es geschieht im Kopf und spielt im täglichen Leben eine permanente Rolle. Man hört eine Musik, die durch Leichtigkeit bezaubert, oder auch durch feierliche Gedankenentwicklung, man genießt einen „sinnfreien“ Urlaub und liest zugleich eine Analyse der Pest und des Krieges, geschrieben vor 2450 Jahren und denkt dabei unwillkürlich an die gegenwärtigen Krisen, die ähnlich ins Leere laufen. Oder auch nicht. Man kann und soll sich nicht „adäquat“ verhalten (als ob das möglich wäre!), sondern (vielleicht) die eigenen Gedanken entwickeln oder schärfen. Der Kampf gegen eine irregeleitete Spiritualität in Indien ist uns so nah oder fern wie die fatale Rolle der Kirche in Irland, wenn man James Joyce glauben will – und ernsthaft seiner grandiosen Mystik einer neuen „Odyssee“ durch die Straßen Dublins folgt. Wenn dann von Nationalimus die Rede ist. Zugleich von der Moderne, entwickelt im fremdartig mondänen Milieu der Weltstadt Triest. Oder: in Indien ein mittelalterlicher, betrügerisch ausgenutzter Aberglauben – im Kontrast zur Idee des Rationalismus, angewandt in abgelegenen Dörfern ebenso wie in den Slums von Mumbai. Dieser Artikel entsteht also im Kopf und betrifft a) Indischen Rationalismus in der heutigen Lebenspraxis und b) Irisch-europäische Moderne nach 100 Jahren.

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Indien ist das Land der Spiritualität – doch es gibt Widerstand gegen gefährlichen Aberglauben. Gefahren reichen von harmlosen Trickbetrügereien bis zu schweren seelischen Misshandlungen und ruinöser Abhängigkeit. Die Rationalisten, eine Organisation von fast 10.000 Mitgliedern, fahren deshalb mit ihrem Science-Van im Dienst der Wissenschaft durch das ganze Land und klären auf. Indien – Geburtsland des Hinduismus und Buddhismus, das Land der Spiritualität. Heiler und Gurus, sogenannte Babas, Tausende im ganzen Land und einige berühmt und reich, berufen sich auf höhere Mächte. Doch es gibt Widerstand gegen den gefährlichen Aberglauben – und die Geschäftemacherei mit der Hoffnung. Die Rationalisten haben sich zusammengeschlossen, mit ihrem Science-Van fahren sie im Dienst der Wissenschaft durch das ganze Land und klären auf. Rationalist zu sein ist eine Weltanschauung, eine Haltung zum Leben. Rationalisten glauben nicht an Götter und Geister, sondern an Vernunft und Wissenschaft. Die Organisation hat fast 10.000 Mitglieder, alle arbeiten ehrenamtlich, sind aufgeklärt und arbeiten als Anwälte, Lehrer, Handwerker oder Hochschulprofessoren. Von harmlosen Trickbetrügereien bis zu schweren seelischen Misshandlungen und ruinöser Abhängigkeit reicht das Spektrum der Opfer. Frauen sind durch ihre minderwertige Position in der Familie und auch im gesellschaftlichen Leben dankbare Opfer, mangelnde Bildung ist fast immer der Grund dafür, dass die Menschen den Vorführungen oder Sitzungen der Gurus blind vertrauen. Das Roadmovie zeigt eine beeindruckende Reise mit mehreren Rationalisten, das Kamerateam ist mit ihnen in den Slums von Mumbai sowie auf dem Land unterwegs, sieht Erschreckendes und auch Positives. Reportage von Holger Riedel (D/F 2022, 32 Min)

Video auf Youtube verfügbar bis zum 16/12/2022 / ODER (danach?) https://www.fernsehserien.de/arte-360grad-reportage/folgen/599-der-science-van-on-tour-indien-kampf-den-scharlatanen-1581860 hier

Nachtrag 15. Juni 2023 DIE ZEIT Seite 29 BLINDER GLAUBE In Indien ist Okkultismus weitverbreitet – und Mittel zur Ausbeutung. Unterwegs mit einer Gruppe, die dagegen kämpft / Von Sonia Phalnikar

s.a. hierIndian Rationalist Association“

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ARTE FILM

100 Jahre Ulysses / James Joyce’ Meisterwerk

Vor 100 Jahren wurde James Joyce‘ „Ulysses“ erstmals in einer kleinen Buchhandlung in Paris veröffentlicht. Das Werk, an dem Joyce sieben Jahre lang schrieb, sollte für die Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts neue Maßstäbe setzen. Zunächst aufgrund seines Schockfaktors in Amerika und Großbritannien verboten, hat kein anderer Roman dieser Epoche eine ähnliche Tragweite.

Kein anderer Roman des 20. Jahrhunderts hat eine ähnlich imposante Tragweite: Joyce‘ „Ulysses“. Inspiriert von Homers „Odyssee“ beschreibt Joyce detailreich einen Tag von Leopold Bloom im verarmten Dublin. Seine „Odyssee der Gosse“ ist ein offener Angriff auf den göttlichen Anstand, geprägt von Chaos und Obszönität. Weltweit als Meisterwerk des Modernismus gefeiert, wurde „Ulysses“ in Amerika und Großbritannien wegen seines Schockfaktors zunächst verboten.
In Irland wird Joyce des Verrats beschuldigt, weil er mit tief verankerten Traditionen der irisch-katholischen Kirche bricht. Dabei geht aus jüngsten wissenschaftlichen Untersuchungen hervor, dass sein Krieg gegen die Kirche durch ein tiefes Verantwortungsgefühl gegenüber seinem Volk und seiner Kultur motiviert war. „Ulysses“ kann durchaus als prophetischer Text gelten, der eine bessere Zukunft nicht nur für Irland, sondern auch für Europa und die Welt vorzeichnen wollte. Joyces beispielloses Genie inspirierte seither Künstler und Künstlerinnen wie Eileen Gray, Sergej Eisenstein, Man Ray und Bob Dylan.
Nach der Vorlage des Historikers und Joyce-Experten Frank Callanan und unter Regie von Ruán Magan bringt „100 Jahre Ulysses“, uns eines der fesselndsten und brisantesten Bücher der literarischen Moderne näher. Interviews mit Schriftstellern und Wissenschaftlern wie Eimear McBride, Paul Muldoon, John McCourt und Margaret O’Callaghan sowie aufschlussreiches Archivmaterial und Werke von Jess Tobin, Brian Lalor und Holly Pereira bereichern die Dokumentation. In Kombination mit einem eindrücklichen Soundrack von Natasa Paulberg wird „100 Jahre Ulysses“ zu einer erkenntnisreichen Reise in das Herz dieses maßgeblichen und überaus aktuellen Romans.

Regie : Ruán Magan / Land : Irland / Jahr : 2022 / Herkunft : ARTE / RTE

Abrufbar bis 19.12.2022 HIER

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Wie geht’s weiter? Fang an mit Wikipedia hier / Text lesen hier beginnen / auch den folgenden Film (1967) beachten hier bzw. auf Youtube ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=h7xAM_eXuuk hier Kapitel I ? bis etwa 8:00  /  ab 11:39 Schule Kapitel „Nestor“ im Buch Seite 35 / dann Kapitel II ? (Katze) im Buch Seite 77  Kapitel „Kalypso“ / Briefe Seite 87 / ab 21:35 Kutschfahrt Buch Seite 123 „Hades“  25:50 Ankunft Friedhof Sarg 27:38 / Setzerei  Redaktion 27:58 Buch Seite 164ff  – – –  neue Leseerfahrung: Lästrygonen (hier) Buch Seite 210 und weiter in „Scylla und Charybdis“ National-Bibliothek Buch Seite 259 du musst schnell und wach lesen (zum Gedankenstrom werden) hatte ich mir gesagt, / ACHTUNG: zur Motivation Wollschläger lesen hören! hier! / aber in diesem Skakespeare-Kapitel verstehe ich gar nichts. Vielleicht mehr im nächsten: „Simplegaden“ – „Irrfelsen“, Zitat: „In 19 Episoden werden Erlebnisse unterschiedlicher Bürger von Dublin erzählt, teilweise überschneiden und durchdringen sich diese Begebenheiten wie auch die Bewusstseinsströme der Protagonisten.“ Aha! Buch Seite 305. „Das Kapitel widmet sich den anderen Bürgern Dublins und ihrem Alltag.“ – – –  SIRENEN-Kapitel Buch Seite 355. „Bloom speist mit Stephens Onkel Richie Goulding im Ormond-Hotel, während Blazes Boylan, der gerade auf dem Weg zu Molly ist, vorbeigeht. Blooms Gedanken sind von seiner Eifersucht geprägt, weshalb er seine Umwelt und auch die Reize der Bardamen Miss Douce und Miss Kennedys nur bedingt wahrnimmt. – In diesem Kapitel steht die Musik im Vorder- und Hintergrund…“

Oder ein anderer (Film-)Ansatz: „Ulysses“ (1987)

Written and adapted by Nigel Wattis / Gillian Greenwood / Leopold Bloom – David Suchet / Stephen Dedalus – John Lynch / Molly Bloom – Sorcha Cusack / James Joyce – Bryan Murray / Citizen – T.P. McKenna / Narrator – Tony Doyle / Joe Hynes – Dermot Crowley /  Frank Budgen – James Aubrey / Bella Cohen – Patricia Quinn / Mey Dedalus – Patricia Mort / Nora Joyce – Deirdra Morris / Zoe Higgins – Francesca Folan with ANTHONy BURGESS  Novelist / CLIVVE HART Professor of English, Essex University / Music ALAN BENSON / Soprano MARY HEGARTY / Produce and directed by NIGEL WATTIS

Die deutschen Untertitel sind haarsträubend.

Tiere meiner Kindheit

Wie wir lebten

Nach dem Krieg in Sicherheit: So sah das verwunschene Haus meiner Großeltern aus, und so stand man vor der Haustür:

Lohe 1950

Ich bin nicht sicher, ob ich damals wusste, dass der kleine Nachbarsjunge mit mir verwandt war (die Großväter waren Brüder), aber von dem Kätzchen war ich überzeugt, es gehörte (zu) mir: ich kannte schon die Generationen vorher. Ich durfte einen neuen Wurf im Heu auf dem Stallboden ungeniert besuchen und mit dem Nachwuchs spielen. Die Mutterkatze vertraute mir vollständig. – Die Lohe blieb in der Frühzeit meine Welt: mein älterer Bruder durfte zu den Eltern nach Bielefeld ziehen, als sie dort eine entsprechende Wohnung hatten, während ich abwiegelte und sagte: „Ihr mit euerm doofen Bielefeld! Ich bleibe da, wo die Kuh ist!“ (wörtlich!) Später gab es Tränen. Im 4. Schuljahr verließ auch ich die Lohe, dieses höher als Bad Oeynhausen gelegene, „kernlose“ Dorf an der Detmolder Straße; hier gab es – wie mein Opa behauptete – die gesündeste Luft der Welt.

  Adresse: ab 1950

Große Kurfürstenstraße 7 a – mein Vater hat das geschrieben, ich las darin aber schon seit der frühen Loher Zeit. Ich hatte schnell Schreiben und Lesen gelernt.

Der Einbruch des Schreckens in die Idylle beschäftigte mich sehr. Ich hatte nach dem Krieg Angstträume, aber die (vom Vater) geregelte, 7tägige Flucht aus Greifswald war wohl nicht der Hauptgrund. Vielleicht eher die Ablösung aus der (vaterlosen) Geborgenheit, die letztlich ja durch den Krieg aufgehoben wurde. Wir hungerten. Ein Jahr völliger Trennung von der (kranken) Mutter, ein unsichtbarer Vater, das „Alleinsein“ bei den Großeltern auf der Lohe und: nicht spielen dürfen (!) mit wem ich wollte. Eine verbotene Freundin drei Häuser weiter lieh mir ein Buch, das ich heimlich las; das Versteck war dort, wo ich es ins Holz- und Möbellager mitnehmen konnte, wo niemand mich beim Lesen vermutete. Titelbild: ein Schäferhund, und zwar einer mit wolfsähnlicher schwarzer Schnauze, Titel: „Meine Herrin und ich“, – es hatte mit Macht und Ohnmacht zu tun. Die Erinnerungen sind vage, ich besorge es mir jetzt keinesfalls antiquarisch, um diese Vagheit nicht aufzulösen. Es war natürlich ein „Mädchenbuch„. Soeben habe ich das Titelbild im Internet wiedergefunden, es gehörte in meine frühe, durch Märchen geprägte Bilderwelt, ich lernte unvermerkt neben der Schullektüre die alte Schrift, viele Bilder zeigen Spuren des eifrigen Abpausens:

Gemeinsame Fahrradtour (Oeynhauser Kurpark) mit Freundin, vorne ihr kleiner Bruder, jemand nannte ihn den „Anstandswauwau“. 😇

Das Bild mit dem Reh gehört zu „Brüderchen und Schwesterchen“ (in diesem Fall war ich das Reh), an dieser Stelle muss aber unbedingt das andere Märchen vollständig folgen, das jetzt, nach 70 Jahren, eine herausragende Rolle spielen soll, so, als erlebte ich eine allzu späte, psychotherapeutische Behandlung. 😌

   

Was ich damals liebte und unentbehrlich fand, waren die Kühe (zeitweise 2 plus 1 Kalb) und den unnahbaren Großvater, der von Beruf Tischlermeister war, aber lieber Landwirt gewesen wäre. Bis heute berührt es mich überall heimatlich, wo es nach Holz oder nach Tieren riecht, im Wald, auf der Weide und im Kuhstall. Sogar neben einem Zirkus.

Mein Opa (mütterlicherseits) war ein eigensinniger, etwas „wilder“ Mann: das „schönste Haus auf der Lohe“ – so die Meinung seiner Frau – versah er an der hinteren Seite mit einem Kuhstall, zwei andere Seiten, auch die des Hauseingangs samt Veranda, verdeckte er durch einen mächtigen Schuppen, den er als Möbelfabrik und Holzlager nutzte. Genau bis auf die Grundstücksgrenze gebaut. Siehe oberste Bilder. An der verbliebenen Schauseite, zur Straße hin, errichtete er einen 3 m hohen Holzkasten, in dem er kostbaren Mist aus dem Kuhstall anhäufte.

Hobergs Haus im Hintergrund

In der Ferne die Porta Westfalica

Ich habe versucht, ihn für mich zu gewinnen;  es war schwer, bei ihm auf dem Arm zu „kuscheln“. Er wollte, dass ich auch eines Tages Tischler werde; wie sein Sohn, der aber aus dem Russlandkrieg nicht zurückkam. Ein Trauma. Und von den Kühen konnte ers nicht lernen. Er war noch sperriger als sie. Dies hier sind nur aktualisierte Symbolbilder aus Südtirol (Fotos 2022 Saskia R.) :

Und nun das inspirierende Buch, das ich vielleicht schon 50 Jahre eher gebraucht hätte, als es noch nicht da war: im Anschluss an Alexander Mitscherlichs „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, parallel zu Simone Beauvoir… Kein Mensch kam damals auf die Idee, dass es auch ein Buch – nicht gegen, sondern – über (und für) Männer geben sollte. Und über Mütter, die nicht loslassen können.

über Robert Bly hier (Wikipedia). Ich zitiere zur Einführung aus dem Vorwort des Buches und aus dem ersten Kapitel, das sich dem Anfang des Märchens widmet. Man beachte den Hinweis auf Mitscherlich.

Ich denke an die Taschenuhr meines abwesenden Vaters, die ich in Greifswald guten Gewissens zertrümmert hatte, an die darauf folgende Bestrafung durch meine Mutter, die mich mit „Wahrheit“ überforderte. Im Badezimmer. Und vieles andere, nicht bewältigte. Ich werde alles wieder aufrollen, warum nicht? Es ist, als wäre es ein anderer, um den es geht, – zufällig auch für mich lebensnotwendig. Und für andere Männer (und Frauen), die sich nicht mit den üblichen Genderfragen zufriedengeben.

 

Ich habe das ganze, im Juli 1973 mit Zustimmung gelesene Buch jetzt aufs neue durchgeblättert und wenig gefunden, was mir aus heutiger Sicht bemerkenswert scheint. Damals las ich auf der Basis des Marcuse-Werkes „Triebstruktur und Gesellschaft“ (1971), aber auch diese Motivierung ist verschwunden. Es ist die Kraft des Märchens, die nach wie vor wirkt und lebensnahe Deutungen provoziert. In meiner Kindheit (5-10) traten an die Stelle der Märchen und der Tiergeschichten die Heldensagen (10-15), später die Entdecker und Weltumsegler, dann (15-20) männliche Idole: Albert Schweitzer, Nietzsche, Leonardo, Dostojewski, jenseits der 20 (Studium) Proust und Musil. Wobei ich die Musik unberücksichtigt lasse (zu Albert Schweitzer gehörte Bach, gefolgt von Beethoven, Schumann, Wagner), es ging in etwa (leicht verschoben) im 5-Jahres-Rhythmus weiter, auch im wirklichen Leben: das erste Kind 1966, das zweite 1971. Noch weiter verschoben: Orient ab 1967, WDR ab 1976. Aber psychologisch war es durchaus komplizierter, so dass ich es bis heute nicht „aufgearbeitet“ habe. Es ist ja auch jede Phase – „präsent“ geblieben und meldet sich aus allen Ecken (der Bücherschränke) zu Wort. Um zu dem Buch „Eisenhans“ von Bly zurückzukommen: es gehörte eigentlich in die erste Häfte der 60er Jahre, als ich von Freud zu C.G.Jung überging, mich allmählich distanzierte, später, als ich bei Marius Schneider studierte, mich bei dessen großzügiger Mythenverwendung daran erinnert fühlte, was diesem aber überhaupt nicht gefiel. Auch der von mir verehrte Indologe Heinrich Zimmer kam bei ihm nicht vor.

C.G.Jung Werke ab 1964

Es fehlt letztlich die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse. Man ist fasziniert von bestimmten Ideen und wünscht sich eine wissenschaftlich strenge Darlegung. Solche wortreich wiedergegebenen Theorien fand man früher in der Esoterik-Ecke großer Buchhandlungen. Ich gehe inzwischen auf Abstand, wenn ich das Wort „spirituell“ mehrfach auftauchen sehe. Da geschieht sicher manchen Inhalten Unrecht. Es ist wie bei der Interpretation von Gedichten: wenn es da nur assoziativ am Wortlaut entlang geht, lege ich den Text beiseite. Auch die Geisteswissenschaften folgen eben nicht einer spirituellen Methode, sondern einer analytischen, selbst wenn es um Rilke oder Gottfried Benn geht. Gerade dann. Man lese nur des letzteren „Probleme der Lyrik“. Und skeptisch stimmen mich gerade die von Robert Bly eingestreuten Gedichte. Keins hat eine in der Übersetzung erkennbare poetische Qualität.

Karte hier

Ich habe das Bedürfnis, aus mir unbekannten Gründen eine Kindheitserinnerung festzuhalten, die ich nicht vorschnell deuten will. Sie hängt vielleicht auch mit bestimmten Tieren meiner Kindheit zusammen. Wir nannten sie „Üützen“ (von „Eidechsen“ ?), es handelte sich um Molche und Kaulquappen, geheimnisvolle Lebewesen, die wir in zwei Teichen des nahegelegenen Tales erforschten, das allgemein „Steinkuhle“ genannt wurde. Aber diese Gewässer erschlossen wir erst später, auch im frevlerischen Unterfangen, dort mit Hilfe kleiner flacher Steine eine Badestelle für uns einzurichten. Aber das seltsame Erlebnis in Vlotho gehört zu einem Ausflug mit meinem Vater, es muss im Zusammenhang mit unserer lebenswichtigen „Flucht“ (1945) von Greifswald nach Bad Oeynhausen stehen, denn ansonsten entwickelte er dort in Westfalen wenig Neugier: es war die fremde Welt seiner Schwiegereltern. Wenn ich heute recht recherchiere, befanden wir uns auf dem Amtshausberg bei der Burg Vlotho. Mein Vater, mein älterer Bruder und ich. Ein gewundener Weg abwärts zog mich unwiderstehlich an, ich gab der Verlockung nach und beschleunigte ganz allmählich das Tempo, ich rannte die Serpentinen hinunter in Richtung Weser, sie konnte nicht weit sein, ich wollte das Wasser in der Tiefe sehen, sonst nichts. Mein Vater rief, mein Bruder schrie „komm sofort zurück“, setzte sich in Bewegung, meine Flucht zu vereiteln – ach, die Geschichte hat leider keine Pointe, vielleicht zwei Ohrfeigen, es war unangenehm, peinlich, schon der vorzeitig erzwungene Rückweg. Ich erschrak selbst, wie weit ich gelaufen war, aber warum, das konnte ich nicht erklären, zumal – das wütende Gesicht meines Vaters, der unverhohlene Ärger meines Bruders, und ich selbst hatte einfach keine Worte. Später habe ich diesen Ort oder einen anderen, gegenüber an der Porta Westfalica, mit einem Lied verbunden, das nicht zu dem ganzen Drama passte. Nur mein Opa kannte es, und auch zu ihm passte es nicht, weder in Bildersprache noch Ausdruck. Hat er es wirklich gesungen? Vielleicht ganz leise, und mehr auf den Text bedacht. „Hier hab ich so manches liebe Mal mit meiner Laute gesessen, hinunter geblicket ins tiefe Tal, und … (ich weiß nicht mehr was) … vergessen.“

Es ist Kitsch, zweifellos, aber manche Leute weinen dabei und wissen auch nicht, warum.

P.S. Erinnerung an 2007 hier

Zwei neue Bücher!

Phantom Afrika

Ich zitiere die Ankündigung, die am Ende meines Artikels vom 23.05.22 stand:

Nur noch etwas zum Vormerken: MICHEL LEIRIS: Phantom Afrika / Rezension F.A.Z lesen ! HIER dazu vorweg:

Produktbeschreibung (Durchgesehene und erweiterte Neuausgabe)

Michel Leiris wird gerade wieder neu entdeckt: als Kronzeuge kolonialer Raubkunst. Tatsächlich wird man kaum einen Autor finden, der die fragwürdigen Praktiken bei der Aneignung von Objekten durch Ethnografen in Afrika – Rettung durch Raub – so freimütig aus der Täterperspektive schildert. Die Ethnologen haben ihn nach diesen Enthüllungen zuerst als unseriösen »Literaten« verunglimpft, um Phantom Afrika (1934) später zum Vorbild für eine experimentelle Ethnografie in der ersten Person zu erklären. Aus heutiger Sicht bietet das von Surrealismus und Psychoanalyse inspirierte Tagebuch des Sekretärs der legendären, staatlich finanzierten Forschungs- und Sammlungsreise von Dakar nach Djibouti (1931-1933), der ersten und größten dieser Art, vielleicht noch grundlegendere Einsichten in die Paradoxien der Feldforschung im kolonialen Zeitalter. Denn der Surrealist mit Tropenhelm ist vor allem eins: schonungslos. Genauso wie die Methoden der Wissenschaftler seziert er seine Widersprüche und Obsessionen, dokumentiert seine exotistischen und kolonialistischen Vorstellungen. Zum Antikolonialisten wurde Leiris erst durch diese Erfahrung. So wird der Leser Zeuge, wie ein weißer europäischer Mann, der sich in Afrika auf die Suche nach Grenzerfahrungen macht, am Ende vor allem seine inneren Dämonen kennenlernt – nicht die schlechteste Voraussetzung, um die Geister und die Poesie der »Anderen« zu erforschen.

In den 1980er Jahren Kultbuch der bundesrepublikanischen Ethnoboom-Generation, war die deutsche Übersetzung von L’Afrique fantôme seit Langem vergriffen. In dieser u. a. um Leiris‘ Briefe an seine Frau erweiterten Neuausgabe wird das so singuläre wie epochale Zeugnis der Widersprüche des Kolonialismus zwischen Gier nach Besitz und Sehnsucht nach Besessenheit nun endlich wieder verfügbar.

Die Ankündigung der neuen Ausgabe also, die ich mir nicht bestellt habe, weil ich jemanden kenne, der mir nahesteht und sie in Kürze besitzen wird. Warum soll ich nicht (zum Vergleich) die alte Ausgabe vorziehen, die zum Kultbuch der 80er Jahre wurde, als ich versäumt habe, am Kult teilzunehmen? Zumal sie (antiquarisch) weniger als die Hälfte der neuen kostet… und das Vorwort von Hans-Jürgen Heinrichs stammt.

Sendungen vormerken

Um mich (und andere) leichter zu erinnern

Nachdem des öfteren fahrlässig und scheinmutig gefordert wurde, der Luftraum über der Ukraine sei zu „schließen“, schien mir ein Artikel in der ZEIT hilfreich, der im gleichen Blatt von kompetenter Stelle bestätigt wurde. Betrifft auch den renommierten Historiker Schlögel (s.a. hier).

 

Quelle DIE ZEIT 17. März 2022 Seite 45 und Seite 31  Den Himmel schließen? Intellektuelle und Dichter üben sich fatalerweise in der Sprache des Krieges / Von Adam Soboczynski // Der Realist Panzer, Kampfjets, Raketen – der Militärexperte Carlo Masala erklärt in diesen Tagen den Krieg. Dabei denkt er viel größer / Von Anna-Lena Scholz

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Swetlana Geier ist die grösste Übersetzerin russischer Literatur ins Deutsche und eine charismatische Gestalt. 2008 beendete die 85-jährige ihr Lebenswerk mit der Neuübersetzung der fünf grossen Romane von Dostojewskij, die sie fünf Elefanten nannte. [Dank an JMR]

Svetlana Geier ab 42:33 „Über allen Gipfeln“

ZEIT Seite 44

Ich auch. Siehe hier im Blog.

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Bemerkenswert das Gespräch Giovanni di Lorenzo mit Desirée Nosbusch Hier

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Die folgende Sendung, die ich nur in Bruchstücken gesehen habe, könnte dazu anregen, aufs Neue das Buch von Bredekamp zu befragen.

GIGANTEN DER KUNST – MICHELANGELO Hier

Schon seine Zeitgenossen nannten ihn den „Göttlichen“. Was trieb Michelangelo an, der in seiner Zeit, der Renaissance, die Bildhauerei und Malerei in gigantische Dimensionen führte und in der Architektur neue Maßstäbe setzte? (u.a. mit Kia Vahland)

Verfügbarkeit: bis 13.03.2032

Zum Folgenden: 80er Jahre – kommen Erinnerungen?  (ich war fast täglich in Köln – was habe ich mitbekommen?) Yoga-Kurs bei Swami Dev Murti in Berlin 1960 s.a. hier, Indische Musik Uni Kuckertz seit 1967, Mahesh Maharishi von Anfang an suspekt, 1975 besondere Musik-Impulse durch Imrat Khan u.a., WDR Indien-Festival Hochschule 1985, Ravi Shankars Rolle, Distanzierung vom Bhagwan-Treiben. Die Musik blieb unangefochten.

1985 JR WDR Musikhochschule Köln

Bhagwan in Köln: Eine Stadt wird rot Hier

Von Indien trugen Bhagwans Anhänger seine Lehren nach Hause und gründeten überall in Europa Kommunen. Die größte Deutschlands entstand in Köln. In kürzester Zeit schufen die Sannyasin in der Rhein Metropole ein wahres Imperium aus angesagten Discotheken, vegetarischen Restaurants, Yoga- und Meditationszentren. Sie kauften Häuser und Geschäfte, gründeten Unternehmen und ließen sich als Ärzte und Steuerberater nieder. Damit machten sie sich in der Nachbarschaft und in der Stadt nicht nur Freunde.

Das große Versprechen endete ein paar Jahre später in einem Desaster. Die Deutschen finanzierten mit ihren beeindruckenden Umsätzen auch ein Guru-Wunderland in den USA. Dort umgab sich Bhagwan mit irrwitzigem Luxus und verlor zunehmend den Blick für die Realität. Statt der Welt zu entsagen, schmückte er sich mit teuren Uhren und sammelte Rolls-Royce.

Literaturclub Hier – Lebendiger als alles, was ich bisher kannte.

08.03.2022 Tell, Türkei und Tabubrüche: Neue Bücher von Joachim B. Schmidt, Orhan Pamuk, Bettina Flitner und Berthe Arlo

https://www.arte.tv/de/videos/091170-000-A/der-teppich-von-bayeux/ hier Wikipedia !!! HIER

An die Sonne

Wer war Rudolf Eucken?

Er erhielt 1908 den Nobelpreis für eine große philosophische Leistung. Nein: für „Literatur“. Was mich beim Lesen bestach: Seite für Seite erleuchtet und einleuchtend formuliert, wieso wird er nicht als Pflichtlektüre empfohlen, als Einführung ins Philosophieren überhaupt, was hat er falsch gemacht? Biederes, bürgerliches Denken zum falschen Zeitpunkt, im Anfang des Jahrhunderts der Katastrophen? Ich war neulich schon gefesselt, als es um „Idealismus“ ging, und jetzt stieß ich darin auf den bekannten Vierzeiler von Goethe, der inhaltlich auf Plotin zurückgeht und als Vers in Goethes „Farbenlehre“ vorkommt: „Wär nicht das Auge sonnenhaft…“ Oder? Ich gebe die Zeile bei Google ein und kann mich von einem bestimmten Ergebnis nicht trennen: Ingeborg Bachmanns Gedicht „An die Sonne“, interpretiert von Peter von Matt, aber: gesprochen von ihr selbst, und das ist es, was mich ergreift. Etwas unsicher (?), etwas zögerlich (?), niemanden ins Auge fassend, wenig oder kaum kommunikativ deklamierend. HIER.

Ich kann mich davon nicht lösen, es muss noch mal von vorn beginnen. „Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein…“ – kenne ich das nicht von Walter Jens? lange bevor er ins Dunkel abtauchte. (Ja! siehe hier, er zitiert Ingeborg Bachmann!) Und dann lese ich die Peter-von-Matt-Interpretation, über die systematisch wechselnde Verszahl der Strophen, lese auch „wegen dem Mond“ – ist das mundartlich? – höre noch einmal, gewöhne mich an den österreichischen Sound und bleibe an der Schlusszeile hängen:  „Sondern deinetwegen und bald endlos und wie um nichts sonst / Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen.“

Es dauert eine Weile, ehe ich zu Rudolf Eucken zurückkehre, dessen Werk ich in Buxtehude aus einer Telefonzelle mit Büchern zum Nulltarif mitgehen ließ. Ingeborg Bachmann? Daran hätte ich nicht gedacht, an alte Zeiten schon. (Ich erinnere mich an einen Film, in dem es um ihren Vater ging, am Ende liefen Tränen, viel Musik aus „Verklärte Nacht“, Haneke! endlich wiedergefunden, wenigstens den Titel hier.)

Springen wir nur mitten hinein, in dieses Werk, wie könnten es versuchsweise dort beim Wort nehmen, wo es die WAHRHEIT zum Thema nimmt, Plato und kurz Goethe (Plotin) streift, um dann zur Stoa weiterzugehen; da ist kein Satz, den nicht jeder versteht:

Der Mensch unterscheidet sich (= einen eigenen Gedankenkreis) von der Welt der Dinge.

So entsteht eine Kluft und damit: das Problem der Überbrückung. Das griechische Altertum… Beseelung der Weltumgebung. Wesensverwandtschaft des Geistes mit dem All. Unerträgliche Vermengung von Bild und Sache. Plato…

Das Selbständigwerden der wissenschaftlichen Forschung bei Aristoteles. Neu: die Stoa. (Siehe auch bis Marc Aurel: „Dabei dürften die Grundlagen der dort formulierten Überzeugungen bereits frühzeitig gegolten haben, denn sie fußten auf einer bald 500-jährigen, fortlebenden Tradition stoischen Philosophierens.“ Wikipedia)

Plotin und das Christentum (Theologe Eucken – „Katze aus dem Sack“?) So etwa war der Verlauf der üblichen Geschichtsdeutung bis in meine Schulzeit. Ich erinnere mich an meinen triftigen Einwand in Religion: Hinweis auf Marc Aurel. (Wozu noch Christentum…) Aber bei Eucken nicht zu vergessen: die Wende mit KANT (ab Seite 182 – nach Aufklärung, Spinoza).

(Fortsetzung folgt)

Flaubert

Zum Abrufen

https://www.arte.tv/de/videos/100271-000-A/der-fall-emma-bovary/

HIER bis 14.3.22

Pressetext:

Der Fall Emma Bovary

„Madame Bovary“ ist der Debütroman von Gustave Flaubert und sorgt bei seinem Erscheinen 1856 für einen Sturm der Entrüstung. Die kritische Zensur macht dem Autor den Prozess. Der Anklage zufolge verherrliche der Roman den Ehebruch. Die Verteidigung argumentiert, dass er den Schrecken der Sünde darstelle. Eine Ikone der Literaturgeschichte wird geboren: Emma Bovary.

Das Leben von Madame Bovary ist bis zum letzten Atemzug ein Skandal: Mit ihren Seitensprüngen, ihren Schulden, ihrer Liebeslust und ihrem Selbstmord widerspricht sie allen Stereotypen der (Ehe-)Frauen ihrer Zeit. Gustave Flauberts erster Roman beschert ihm sogleich einen Prozess wegen Unsittlichkeit vor dem Pariser Kriminalgericht.
Der Staatsanwalt Ernest Pinard argumentiert, dass der Roman durch die Darstellung des unmoralischen Lebens einer Frau zur Sünde anstifte und eine Gefahr für Leserinnen darstelle. Vor Gericht liest er die skandalösesten Ausschnitte vor und untersucht sie minuziös auf die Absichten des Autors. In den außerehelichen Eskapaden sieht er eine Verherrlichung des Ehebruchs. In Emma Bovarys Versuchen der Rückkehr zur Religion, in der das Heilige mit dem Fleischlichen einhergeht, erkennt er eine blasphemische Dimension. Neben Flaubert sitzt auch Madame Bovary auf der Anklagebank.
Flauberts Anwalt führt die intensive, fünf Jahre währende Arbeit des Schriftstellers ins Feld. In Croisset, am Ufer der Seine, bei seiner Mutter und fernab von der übrigen Welt, von seinen Geliebten und allen Frauen, die ihn inspiriert hatten, hatte sich Gustave Flaubert mit Leib und Seele seinem Werk gewidmet, war nur selten zufrieden, oft von Angstzuständen gepeinigt.
Zum Missfallen von Pinard gewinnen der Schriftsteller und seine Heldin den Prozess. „Madame Bovary“ ist mehr als 900 Mal übersetzt worden und zählt zu den meistgelesenen Romanen der Welt, der Filmschaffende rund um den Globus immer wieder inspiriert hat. Mit vielen Filmausschnitten und Zitaten erzählt die Dokumentation die Geschichte des Falls Bovary. Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Verleger und Verlegerinnen sowie Regisseure und Regisseurinnen beschäftigen sich mit dem Schicksal jener leidenschaftlichen Heldin, deren Leben zwischen Auflehnung gegen gesellschaftliche Konventionen und Eskapismus so leichtfertig wie tragisch verläuft.

Regie : Audrey Gordon

Der Film https://www.arte.tv/de/videos/029911-000-A/madame-bovary/

HIER  bis 5.10.21

Madame Bovary (Film)

Pressetext (ARTE):

Frankreich um 1850: Die unglücklich verheiratete Emma Bovary stürzt sich aus Langeweile in Liebesabenteuer und zerbricht an der provinziellen Enge ihres Lebens. – Mit „Madame Bovary“ hat der französische Filmregisseur Claude Chabrol 1991 den gleichnamigen Roman (1856) von Gustave Flaubert verfilmt.

Für Emma Bovary wird eine Einladung auf einen rauschenden Ball zum schönsten Moment ihres Lebens. Doch am nächsten Morgen holt sie der Alltag wieder ein. Charles weiß die Sehnsucht seiner jungen Frau nicht zu deuten: Hat sie nicht alles, um glücklich zu sein? Vielleicht fehlt ihr das Stadtleben mit seinen Abwechslungen und Zerstreuungen. Das Paar zieht schließlich nach Yonville, einem Vorort von Rouen, wo in der Tat mehr Geschäftigkeit herrscht und wo Emma neue Menschen kennenlernt, so den stets dozierenden Apotheker Homais und den jungen Léon Dupuis, der Musik und Gedichte liebt. Auch Emma schwärmt dafür, vor allem aber fühlt sie sich in Léons Gesellschaft wohl. Doch Léon reist nach Rouen, um dort seine Notarausbildung abzuschließen. Nun fühlt sich Emma noch einsamer. Auch die Geburt ihrer Tochter gibt ihr keinen neuen Lebensinhalt; sie kümmert sich kaum um das Kind. Der treu ergebene Charles geht ihr auf die Nerven, auch von Pfarrer Bournisien fühlt sie sich unverstanden. Auf der Bauernmesse lernt sie den leichtlebigen Gutsherrn Rodolphe Boulanger kennen und lässt sich von ihm verführen. Die junge Frau träumt von einem neuen Lebensglück – mit Rodolphe. Doch der denkt nicht im Entferntesten daran, sondern verlässt sie. Emma tröstet sich mit verschwenderischen Einkäufen über den Verlust hinweg und lässt sich vom Stoffhändler Lheureux teure Ballkleider fertigen. Bei einem Theaterbesuch in Rouen trifft sie zufällig Léon und wird seine Geliebte. Doch inzwischen ist sie hoch verschuldet und Lheureux droht, ihre Habe und das Haus des völlig arglosen Charles Bovary zu pfänden. In ihrer Not fleht Emma Rodolphe und Léon um Hilfe an, doch vergeblich. Völlig verzweifelt beschafft sie sich bei Apotheker Homais Arsen.

Regie : Claude Chabrol / Drehbuch : Claude Chabrol / Musik : Matthieu Chabrol / Wiki

  • Isabelle Huppert (Emma Bovary) / Jean-François Balmer (Charles Bovary)

FAUST

Damals

Ich denke oft an das Haus zurück, das meine Eltern mit uns Mitte der 50er Jahre hoch über Bielefeld bezogen, d.h. man überblickte die halbe Stadt und hatte vom Garten aus nur 50 Schritte bis zur Promenade, einem breiten, asphaltierten Kammweg, der bis zur Sparrenburg führte. Ich befand mich, ohne es benennen zu können, in der Pubertät, meine Mutter sprach von „Flegeljahren“, die angeblich ausblieben, dabei war ich zumindest gedanklich auf Höhenflüge eingestimmt, die Nachtigall sang gleich hinterm Gartenzaun und aus der Ferne kamen entsprechende Antworten. Der Eingangsbereich unseres Holzhauses war ein gemauerter Keller mit Heizungsraum, wo ich oft neben dem Kohlenverschlag Geige übte, außerdem gab es ein Klo, einen Abstellraum mit Putzgerät, eine Treppe nach oben und einen großen Keller, in dem ein Apfelregal stand, das den Duft der gehorteten Früchte verbreitete, ein großer alter Esstisch, meist mit Werkzeugen bedeckt, außerdem eine Schubkarre und verschiedene Fahrräder. Und eines Tages entdeckten die Freunde meines älteren Bruders diesen Raum als idealen Ort für Zusammenkünfte, besonders wenn man oben im Garten gefeiert hatte, vielleicht noch den Abschied hinauszögerte, ein paar Getränke aus dem oberen Wohnbereich beschaffte. Und genau dort unten entstand von einem bestimmten Abend an ein unglaubliches Zentrum, das eine neue Welt zu eröffnen schien. Vielleicht real nur zwei, drei Sommerwochen lang. Einer von den Freunden hatte ein riesiges Tonbandgerät mitgebracht, Grundig, kaum zu glauben, dass der schlaksige Junge es  von der Straßenbahnhaltestelle aus den Berg herauf geschleppt hatte. Auch Mikrophone dabei, so konnte man sich selbst beim Feiern aufnehmen und sogleich wieder abhören. Sie improvisierten kleine Szenen, es gab viel Gelächter. Und eines Tages hatte dieser Freund namens Lönnendonker etwas vorbereitet, nämlich einige Langspielplatten überspielt, Musik, sie hatten eine Band gegründet, „The Skyliners“, und erste Versuche festgehalten. Aber da gab es auch eine Aufnahme, die mehrere Spulen füllte und merkwürdigerweise uns alle in den Bann zog, vielleicht bei den Älteren dank einer nachhelfenden Schullektüre. Aber ohne die hysterische Fieslingsstimme des Mephistopheles wäre der magnetisierende Effekt wohl nicht eingetreten: es war Goethes Faust in der Gründgens-Inszenierung. Vielleicht 1957? (Der Film kam erst 1960 heraus. Es muss diese Aufnahme gewesen sein: 3 LP Box-Set mit 36-seitigem Begleitbuch (mit Texten). Die Gründgens-Inszenierung des Düsseldorfer Schauspielhauses aus dem Jahre 1957. Mit Paul Hartmann (Faust), Gustaf Gründgens (Mephisto), Käthe Gold (Margarete), Elisabeth Flickenschildt (Marthe Schwerdtlein), Ullrich Haupt und anderen. Ich glaube, das Gerät verblieb wegen seines Gewichtes einige Tage dort bei uns im Keller, und auch ich durfte es offenbar bedienen, hörte stundenlang, konnte immer längere Passagen auswendig, die andern ebenso, und die etwas spröde Musik von Mark Lothar befremdete uns zuerst, ergriff uns schließlich genau so wie das strenge Pathos der Schauspieler. Selbst der Prolog im Himmel, den wir immer übersprungen hatten, begeisterte uns, weil die Stimme des Bösen so furchtlos und zynisch mit dem Herrn des Weltalls rechtete und räsonnierte. Unvergesslich die Szene mit den rettenden Chören: „Was sucht ihr mächtig und gelind, ihr Himmelstöne mich im Staube, klingt dort umher, wo schwache Menschen sind, die Botschaft hör ich wohl, allein: mir fehlt der Glaube!“ Das war der  packende Monolog für mich, den Nietzsche-Leser, unbeschreiblich all dies, und wenn ich durch die Wälder lief, um mich sportlich stark zu machen, waren es diese recht physisch verstandenen Übermensch-Ideen, die mich umtrieben.

Szene III

Szene II

Szene I

Was konnte man damals wissen über die Entstehung des Textes? Eine vollständige Werkausgabe hatte sich schon meine Mutter besorgt („zeitlos“ wie manche Möbel, vielleicht ähnlich motiviert wie – nach dem ersten Gehalt – das Bild der Sixtinischen Madonna, das dann lebenslang über ihrem Bett hing): 20bändig herausgegeben von Theodor Friedrich 1922, Eintragungen aus ihrer Schulzeit (Abitur 1931), Unterstreichungen von meinem Bruder und mir. Im Anhang des dritten Bandes („Faust“) die folgende Chronik:

Und die Lesespuren im Text, die meiner Mutter (beflissen) und rechts – zum Gefühl – die meines Bruders (provokativ), auf der nächsten Seite die allerletzte Unterstreichung im ganzen Faust-Band: „Auch, wenn er da ist, könnt‘ ich nimmer beten“. Von wem wohl?

Andererseits muss ich mich daran erinnern, dass damals alles literaturwissenschaftliche Zubehör nicht interessant war am „Faust“. In der Gymnasial-Oberstufe gab es bei uns eine Theater-AG, der ich nicht angehörte; wir Altsprachler brachten allerdings die „Antigone“ des Sophokles auf die Bühne, mit dem Sprechchor, der die Aktionen kommentierte, archaisch, beeindruckend – die anderen dagegen spielten „Doktor Faustus“ von Marlowe, aus meiner Sicht enttäuschend abweichend von meinem schon anders gepolten Faust-Bild. Wie aber war es gepolt? In meiner Vorstellung spielte der Wissensdrang der Titel-Person eine große Rolle, die Loslösung vom leeren Ideal, von den Worthülsen des Guten, Schönen, Wahren, auch die Magie und die geheimnisvolle Phiole (über Jahre bis hin zu Gottfried Benns Verherrlichung des „Provozierten Lebens“). Aber entscheidend war seltsamerweise die Sexualität, die mir in Goethes Drama wilder und abgründiger erschien als irgendwo in der engen heimischen Außenwelt, die sich darüber vollständig ausschwieg, oder in den rüden Anspielungen aufgeklärterer Mitschüler. Im Drama gingen mir die gehässigen Bemerkungen über das „gefallene“ Gretchen nach, die unverstandenen Worte ihres Bruders „dass alle brave Bürgersleut / Wie von einer angesteckten Leichen / Von dir, du Metze, seitwärts weichen“, es war die von mir kaum begriffene moralische Bewertung im Verlauf der ganzen Verführungsgeschichte, die intensivsten Identifikationen mit dem Mädchen, mit dem leider nicht nur glorreich wirkenden Manne, dem störenden Teufel, der aber zwingend dazugehörte, ja, der alles aus nächster Nähe mitbetrieb. Die scheinheilige Rolle der Marthe. Gretchen, im Kerker, die sich nicht retten ließ, dem Wahnsinn verfallen. Lauter ungelöste Konflikte auch in mir, der ich alles immer wieder in der Phantasie auf eigene Wünsche und Vorstellungen hin extrapolierte, augmentierte, reduzierte, beschönigte. Der Zwang, im wirklichen Leben all diese inneren Bewegungen auf Null zu dimmen, Tarnkappenverhalten einzuüben. Außer in der Musik (Schumann, Puccini, „Tristan“). Merkwürdigerweise habe ich ab 1956 Einstein „Mein Weltbild“, Julian Huxley „Entfaltung des Lebens“ und Freud „Abriss der Psychoanalyse“ gelesen, ohne mich je um Widersprüche zu kümmern. Aufklärung um jeden Preis. Im Nachhinein – so dachte ich später – hätte ich eine Therapie gebraucht. (Nebenbei: meine Mutter auch, Goethe auch!)

Ich habe gelesen (aber wo?): wer Faust I auf die Bühne bringt und nicht die Szene 1 des Faust II dranhängt, hat den Sinn der Aufführung verfehlt…

Später (Faust zweiter Teil)

Im zweiten Teil bin ich immer steckengeblieben. Es war mir unmöglich, einen „klassischen“ Goethe anzubeten, ich war nicht selbst imstande, ihn wirklich  „umzudenken“. Die Rede vom „Wahren, Guten, Schönen“ – oder was so ähnlich klang – war mir zuwider. Auch ein Gedicht, das scheinbar so ähnlich anfing wie die Sinnsprüche meiner Oma, mochte ich nicht weiterlesen: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“. Ich las Gedichte, ohne zu wissen warum. Aber dann war mir der Faust II in der Gründgens-Aufnahme auch wieder zu phantastisch und im Realismus zu hanebüchen, zu materialistisch. Ich habe ihn vollständig verfehlt! Hätte ich doch wenigstens in meiner neueren Goethe-Ausgabe der 60er Jahre mal das Nachwort gelesen: von Goethes Skrupeln und von Schillers Bedeutung für die Weiterentwicklung des Faust-Dramas  um 1800. So arbeitet ja wohl kein „Klassiker“?  (Ja doch! gerade! „bis ans Ende“!)

Aus dem Nachwort von Hanns W. Eppelheimer (1962). Daran ist aber nun auch wieder nicht viel Verlockendes. Frischer Wind kam erst auf durch Friedenthals Biographie (1963). Heute würde ich jedem raten, mit dem Buch von Rüdiger Safranski (2013) zu beginnen, unvergleichlich differenziert, auch wenn man es nur nach Stichworten aufschlägt; man muss nicht von A-Z lesen, – obwohl man bald dahin tendieren wird. Und das Dümmste wäre, vorsätzlich darauf zu verzichten, als erübrige sich die von Safranski geleistete  Aufklärungsarbeit seit 2015. Man beginne mit der Figur des Mephistopheles! (Sobald man sich inhaltlich kursorisch vorbereitet hat, z.B. anhand von Wikipedia hier.) Ab Seite 606 etwa:

„Was den Teufel betrifft, so war in Goethes Weltbild für ihn eigentlich kein Platz. Er statuiere keine selbständige Macht des Bösen, pflegte er zu sagen, und als Kant das ‚radikal Böse‘ in seine Philosophie einführte, erklärte Goethe, nun habe der weise Mann aus Königsberg seinen Philosophenmantel beschlabbert. Für Goethe gab es keinen Teufel.“ Seite 607: „Mephisto bewahrt den Menschen vor Erschlaffung und hält ihn rege. Das Prinzip Mephisto gehört also zum Menschen. Und insofern gehört Mephisto auch zu Faust. Faust und Mephisto, treten zwar als eigenständige Figuren auf, bilden aber letztlich zusammen eine Person, so wie Goethe auch von sich selbst sagte, er sei ein Kollektivsingular und bestehe aus mehreren Personen gleichen Namens. [„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, etc.“] Die prekäre Einheit der Person hindert indes nicht, ihre einzelnen Pole gesondert ins Auge zu fassen, um zu verfolgen, was sie beitragen zur Steigerung des Ganzen.

Faust II Gründgens-Hörfassung (alle Szenen heutzutage abrufbar ab hier):

Der Text von Melchinger hat mich aufgeweckt und ermuntert, den „Faust“ nicht aus den Augen zu lassen…

Heute

In solcher Deutung war Faust nicht mehr ein vom Dichter verherrlichtes Idol oder womöglich der Dichter selbst, der sich in seinem Helden als Prototyp des Menschen gezeichnet wissen wollte. Das war in weit entfernter Zeit einmal so gewesen, als der „Urfaust“ entworfen worden war, in der Epoche von „Wanderers Sturmlied“ und „Prometheus“. Inzwischen hatte der Dichter Distanz zwischen sich und seinen Helden gelegt. Fausts Streben wurde von ihm ausdrücklich als „widerwärtig“ bezeichnet. (Aus dem vorhergehenden Text von Siegfried Melchinger 1959)

Und während ich das folgende Buch studiere, schweife ich immer wieder ab in die anregenden Goethe-Biographien von Safranski oder noch einmal: Friedenthal, weiche nicht aus (wie früher), wenn die Fakten seines Lebens gerade den Weg in die Moderne vorzeichnen (nach der Französischen Revolution, dem Kolonialismus, dem Industrialismus, des Totalitarismus), also nicht nur Italien oder „das Land der Griechen mit der Seele suchend“… Ich hebe die entsprechenden Passagen hervor:

Goethe läßt sich auf den alchemistischen Traum des Menschenmachens ein in einem historischen Augenblick, da in den Naturwissenschaften seiner Zeit die erstmals gelungene Harnstoffsynthese, also die Bildung einer organischen Substanz aus anorganischen Stoffen, Anlaß zu kühnen Spekulationen gab über die Möglichkeit, auch kompliziertere Organismen und am Ende vielleicht sogar menschliches Leben künstlich herstellen zu können. Deshalb bezieht sich Goethe in der 1828 geschriebenen Homunkulus-Episode nicht nur auf paracelsische Alchemie, sondern eben auch auf diese zeitgenössischen Versuche. Wagner erklärt: Was man an der Natur geheimnisvolles pries, / Das wagen wir verständig zu probieren, / Und was sie sonst organisieren ließ, / Das lassen wir kristallisieren. [S.614] Auch wenn Homunkulus ein Fabrikat Wagners ist, so gehört er doch in die Sphäre des Zusammenspiels von faustischer Metaphysik und mephistophelischer Physik. Ein anderes Beispiel ist die Erfindung des Papiergeldes, auch so eine moderne Idee, die Faust und Mephisto bei ihrer Weltbemächtigung aushecken. [S.614f] Goethe, der zeitweilig auch für die Finanzen des Herzogtums zuständig war, hatte sich anregen lassen von der finanztechnischen Revolution, welche die Band von England in Gang setzte, als sie dazu überging, die Menschen des umlaufenden Geldes nicht mehr allein auf Gold und bereits getätigte Wertschöpfungen zu gründen, sondern auf die Erwartung künftiger realer Wertschöpfung, wozu die vermehrte Zirkulation beitragen sollte. [S.616] … die innere Werkstatt der Einbildungskraft…. Die Machtergreifung des Eingebildeten kann sogar politisch geschehen, dann sprechen wir von der Herrschaft der Ideologien. Es kann aber auch vorpolitisch und alltäglich geschehen – auch hier läßt Goethe seinen Faust einiges voraussehen, was heute im Zeitalter der Medien Gestalt angenommen hat, wo jeder einen erheblichen Teil seiner Lebenszeit nicht mehr in der ›ersten‹ Wirklichkeit, sondern im Imaginären und in einer mit Imagination durchsetzten Wirklichkeit verbringt. Die Welt ist fast nur noch das, was einem vorgestellt wird. [S.617]

Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens / Carl Hanser Verlag München 2013

Michael Jaeger: Goethes „Faust“ / Das Drama der Moderne / ISBN 978 3 406 76429 5 / oben Titelbild: Will Quadflieg u Gustaf Gründgens in Faust Schauspielhaus Hamburg©1960, mauritius images / unten: Inhaltsübersicht

Die beiden letzten Szenen erleben: GRABLEGUNG hier BERGSCHLUCHTEN hier

Wichtiger Lese-Hinweis: den guten Wikipedia-Artikel zu Faust II nicht nur überfliegen, sondern inhaltlich Satz für Satz begreifen, mindestens – sagen wir – 1 Stunde lang verinnerlichen, inklusive aller Links – etwa zu mythologisch befrachteten Namen. (Es geht z.B. nicht ohne die Antike!) Leichter als heute war der Zugang nie in unserm ganzen Leben. Aber das Internet ist kein Ruhekissen. Schwierigste Voraussetzung in diesem Fall: keine Kundenmentalität, keine vorgefasste Meinung, was ein Goethe zu liefern hat.

Ein Beispiel der typischen Schwierigkeiten: Faust Zweiter Teil „Weitläufiger Saal“

Worum gehts? Man muss die szenischen Anweisungen genau lesen, z.B. Weitläufiger Saal  mit Nebengemächern, verziert und aufgeputzt zur Mummenschanz. Direkt vorher heißt es (der Kaiser spricht): So sei die Zeit in Fröhlichkeit vertan! / Und ganz erwünscht kommt Aschermittwoch an, Indessen feiern wir, auf jeden Fall, / Nur lustiger das wilde Karneval. (Trompeten. Exeunt.) MEPHISTOPHELES. Wie sich Verdienst und Glück verketten, / Das fällt den Toren niemals ein; / Wenn sie den Stein der Weisen hätten, / Der Weise mangelte dem Stein. (Dann, im weitläufigen Saal, beginnt der HEROLD:)

Denkt nicht, ihr seid in deutschen Grenzen / Von Teufels-, Narren- und Totentänzen! Ein heitres Fest erwartet euch. / Der Herr auf seinen Römerzügen, / Hat, sich zu Nutz, euch zum Vergnügen, / Die hohen Alpen überstiegen, Gewonnen sich ein heitres Reich.

(Er wurde dort gekrönt, hat sich die Krone geholt, und da:) Hat er uns auch die Kappe mitgebracht.  Nun sind wir alle neugeboren. Die Narrenkappe!  Es bleibt doch endlich nach wie vor / mit ihren hunderttausend Possen / Die Welt ein einzig-großer Tor.

Die Welt der Narren also wird uns im Folgenden präsentiert, in sorgsam ausgewählten Gestalten und Symbolen.

Nach 75 Seiten beginnt die neue Szene LUSTGARTEN mit folgenden, an den Kaiser gerichteten Worten FAUSTs: Verzeihst du, Herr, das Flammengaukelspiel? Und der KAISER zum Aufstehn winkend (denn F. & M. haben gekniet), sagt: Ich wünsche mir dergleichen Scherze viel. – (und er repetiert:) Auf einmal sah ich mich in glühnder Sphäre: Es schien mir fast, als ob ich Pluto wäre. (und er beschreibt, was er gesehen hat, – auch für uns, damit wir es einordnen.)

Michael Jäger schreibt im Seitenblick auf dieses Kanevalsgeschehen: – „während zur  selben Zeit die gesamte Gesellschaft dem allgemeinen Ablenkungstrubel des Mummenschanz erlegen war.“

Die gesamte Gesellschaft also (mit Herold = Ansager) im Karneval, nämlich: GÄRTNERINNEN – OLIVENZWEIG MIT FRÜCHTEN – ÄHRENKRANZ – PHANTASIEKRANZ – ROSENKNOSPEN – MUTTER (und Tochter) – HOLZHAUER – PULCINELLE – PARASITEN – TRUNKNER – SATIRIKER – DIE GRAZIEN AGLAIA, HEGEMONE, EUPHROSYNE – DIE PARZEN ATRIPOS, KLOTHO, LACHESIS – DIE FURIEN  ALEKTO, MEGÄRA, TISIPHONE – FURCHT – HOFFNUNG – KLUGHEIT – ZOILO-THERSITESKNABE WAGENLENKER (Begleiter des Plutus) – WEIBERGEKLATSCH – DER ABGEMAGERTE – HAUPTWEIB – WEIBER IN MASSE – PLUTUS – SATYR – GNOMEN – DEPUTATION DER GNOMEN AN DEN GROSSEN PAN

In dem oben gegebenen LINK der Gründgens-Aufnahme findet man alldies auf ein Minimum gekürzt: Sie erinnern sich? (alle Szenen heutzutage abrufbar ab hier), darin –

  auf Filmteil 12:36 anklicken

„Denn wir sind Allegorien“

Tipp: Man gehe dem Link zu „Knabe Wagenlenker“ weiter nach und lese die Diplomarbeit von Susanne Fuchs (Wien 2009). Da hat man den Schlüssel zur ganzen „Mummenschanz“-Szene…

*     *     *

Weiteres ZITAT aus Michael Jaeger „Goethes Faust“:

In der den zweiten Akt abschließenden Szene Felsbuchten des Aegäischen Meers ereignet sich dann im Gewande der antiken Mythologie die Lebensentstehung als die «Vermählung» des Homunkulus «mit dem Ozean», dargestellt als dessen Vereinigung mit der göttlichen Nymphe Galatee. Auf den Wellen kommt diese Meerestochter venusgleich als «lieblichste Herrin» (8378) auf einer großen, von Delphinen gezogenen Muschel angefahren. Es umkreisen Galatees Wassergefährt die Doriden und Nereiden, auf Delphinen, Seepferdchen und Meereskentauren reitend. Die Sirenen blicken auf die Ägäis und kündigen die unmittelbar bevorstehende «Muschelfahrt» Galatees an: „Leicht bewegt, in mäßiger Eile …[etc]“

Raffael (Wikimedia hier)

Oben: eine für mich höchst motivierende Schlüsselstelle (betr. 1987), jetzt zur Klassischen Walpurgisnacht. Der entsprechende  Text hier in der Gesamtausgabe meiner Mutter:

Über meine soeben bezeichnete „Schlüsselstelle“ hinausgehend, wird mir ab Seite 108 in Jaegers Werk völlig klar, dass der „Schock“, den ich für mich auf 1987 datiert habe, genau dem entspricht, den Goethe selbst in seiner Zeit erlebte und mit dem er sich vor und nach 1830 auseinandersetzte. Kapitel Système Industriel: Fausts Plan und der Saint-Simonismus. Siehe dazu hier und hier (Saint-Simon). Entsprechend Jaeger, Seite 109:

Mit dem allergrößten Unbehagen las Goethe jene Pariser Manifeste, in denen eine technisch-industrieller Umbau von Natur und Gesellschaft angekündigt wurde. Dabei trat ihm die komplette Unzeitgenäßheit seines eigenen Wissenschaftsprinzips der Naturkontemplation vor Augen, wurde doch das neue Universalsystem von Saint-Simon gleichsam als Anwendung von Newtons physikalischem Weltbild auf die Gesellschaft konzipiert. Saint-Simon selbst gewann unter seinen Anhängern die Statur eines neuen »Newton der Geschichte«. Die Verzweiflung Goethes angesichts solcher vermeintlich naturwissenschaftlicher Sozial-, Wirtschafts- und Weltpläne, durch eine an Newtons Physik angelehnte »Physico-politique« die »Genesis zu überbieten« und das »irdische Paradies« herzustellen, muss grenzenlos gewesen sein […].

Und Rüdiger Safranski zum gleichen Thema :

Als Goethe an diesen Szenen des Untergangs des Großunternehmers Faust schrieb, war er seinerseits fasziniert von technischen Großprojekten und andererseits abgestoßen von der Saint-Simonistischen Industriereligion, worin das Individuum dem Kollektiv und die Schönheit dem Nutzen geopfert wird. Was die moderne Technik betrifft, so besorgte er sich ein Modell der ersten Eisenbahn und präsentierte sie wie einen Kultgegenstand. Mit Eckermann sprach er über den Bau des Panamakanals, über die Möglichleit eines kanals bei Suez und über die Verbindung von Rhein und Donau. Diese drei großen Dinge möchte ich erleben, sagte er, und es wäre wohl der Mühe wert, ihnen zu Liebe es noch fünfzig Jahre auszuhalten. Das waren für ihn Projekte, in denen er den Gipfel menschlichen Erfindungsgeistes und unternehmerisxcher Tüchtigkeit erblickte. Insofern diese Visionen auch bei den Saint-Simonisten im Schwange waren, begrüßte er das und gestand zu, daß an der Spitze dieser Sekte offenbar sehr gescheite Leute stünden.

Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens Carl Hanser Verlag München 2013 (Seite 621)

Hier die letzten Seiten der Arbeit von Michael Jaeger: Goethes »FAUST« Das Drama der Moderne / C.H.Beck München 2021

Das hier zuletzt beschriebene „wahre Wunderwerk der Faustphilologie“ ist tatsächlich als Online-Ausgabe aufzufinden und steht zum geduldigen Studium bereit:

HIER

Ich habe sozusagen ausgesorgt bis an mein Lebensende.

*    *    *

Gründgens Faust II 3.Akt, Szene 2.2 hier  ab 16:25 Helena „…der leere Platz / Beruft den Herrn und sichert mir den meinen.“ FAUST „Erst knieend laß die treue Widmung dir / Gefallen, hohe Frau!“…

Zum Verständnis dieses Anfangs: es geht um den Ton der Rede, die „Sprechart unsrer Völker“, – die Griechin Helena kennt den Reim noch nicht. Zitat aus dem Kommentar (Schöne S.612): „Eine altpersische Legende erzählte von der Entstehung der ersten Endreime beim Liebesdialog des Sassanidenherrschers Behramgur und seiner Sklavin Dilaram (…). Hier wird dieser Vorgang in Szene gesetzt – als bilde in Fausts und Helenas Wechselrede und dem Einklang ihrer Reime geradezu der hochzeitliche Akt sich ab.“ Siehe hier Stichwort „Behramgur“. Der Chor danach stimmt „den Hymenaeus an: das antike Vermählungslied, das gesungen wird, wenn die Liebenden einander zugeführt worden sind.“ (A.Schöne) Hinter der vermummten Gestalt (Phorkyas), die bei 4:10 auftritt, verbirgt sich niemand anders als Mephisto. – Man sollte sich nicht beschämt fühlen: Fausts lange Rede an die Heerführer, die Benennung ihrer Länder und dann die verbale Vorbereitung auf das Land Arkadien, all das ist ohne Text und ohne Kommentar nicht zu verstehen, – ist aber schön zu hören und zu ahnen.

Zu Peter Steins Aufführung

Die Aufführung FAUST II Szene für Szene ab hier

10. Juni – neue Phase: der Faust-Kommentar von Albrecht Schöne ist unterwegs …

Der Blick zurück – so leicht wie heute war der Zugang zum Faust II seit der (noch unvollständigen) Gesamtausgabe von 1828 noch nie. Meine (wirklich vollständige) Ausgabe von 1962 zum Größenvergleich (links).

Das alte 20bändige Original hat mir vor vier (?) Jahren die freundliche Nachbarin (*20. Juli 1943) geschenkt, die das Werk von ihrem Vater geerbt hatte. Sie ist am 14. Mai dieses Jahres gestorben; ich werde an sie denken, so oft ich einen dieser Bände in die Hände nehme.

    zu guter Letzt dtv 1962 Seite 177 f

Fortsetzung folgt wirklich. Wird hier erst auf Seite 351 enden. Und die Interpretation der letzten, unerklärlichsten Verse werde ich bei Albrecht Schöne finden. „Ereignis“ = „Eräugniß“. Für immer „unzulänglich“.

In diesem Moment klingelt es, die Post ist da!!! 14. Juni 10.11 h :

Deutscher Klassiker Verlag 2017 (Antiquariat Lenzen Düsseldorf, 2 Bände neuwertig, 24.- €, d.h. wie geschenkt… nachschlagen:)

Und gleich die Probe aufs Exempel: beim Mitlesen der obigen Szene Faust II, 3.Akt, Szene 2.2. irritierte mich (abgesehen vom Inhalt, hören Sie ab 6:05 „Mit angehaltnem stillen Wüten…“) eine Abweichung im Text, – ein Fehler von Bruno Ganz oder in meinem dtv-Text? „Stahl“ oder „Strahl“ in Strophe 2 ?

Frage gelöst:

Ist es eine Kleinigkeit? Durchaus nicht! Und das Problem, weshalb sich Faust hier wie ein Oberbefehlshaber aufführt, ist auch alsbald gelöst…

Zum Abgewöhnen

Eine Besprechung hier und noch eine (Spiegel) hier

Zur abschließenden Orientierung

Das Faust-Projekt (Wikipedia)

Das Unbehagen an der Klassik

Am Beispiel Adalbert Stifters (nur ein Versuch, ein „Platzhalter“)

Es wirkt nach, seit der jüngsten Lektüre zweier Werke („Der Hochwald“ 1841 und „Brigitta“ 1843), zwiespältig trotz eines gewissen Vergnügens und freundlichen Zuspruchs von außen.

Siehe hier.

Eine Fortsetzung war erst möglich, als ich mich auch in meinem Widerstreben besser verstanden fühlte. Ich denke nicht nur an mich, sondern – sagen wir – an die Aufgabe, ich müsste dergleichen an meine Enkel vermitteln (reales Beispiel „Kleider machen Leute“).

Zur Vergegenwärtigung dessen, was mir – neben allerhand ruhevollen Naturschilderungen – als allzu selbstgenügsame oder sogar „papierene“ Ausdrucksweise aufgefallen war, lese man die unten im Text wiedergegebenen Beispiele. Es ist ja ganz anders als bei Kleist (natürlich), dessen stilistische Widerborstigkeit mich schon früh positiv gereizt hat. Sobald man eine bewusst stilisierende Absicht erkennt (statt Unvermögen), wird man ästhetisch wachsam. Hier ist ein Buch, das ich bis jetzt gemieden hatte, zumal der seit Schulzeiten vertraute Name Benno von Wiese nur noch die Assoziation „Nazi“ weckte. Victor Lange ist unverdächtig, ein differenzierter Sprach-Beobachter .

ZITATE (Victor Lange)

Quelle Victor Lange: Stifter – Der Nachsommer / in: Der Deutsche Roman, herausg. von Benno von Wiese / Vom Realismus bis zur Gegenwart / Bd.II / August Bagel Verlag Düsseldorf 1963 / Seite 34 bis 75

Es ging mir vor Jahren nicht wesentlich anders mit Goethe („Wahlverwandtschaften“) oder bei den vergeblichen Versuchen mit Jean Paul („Siebenkäs“). Beschämend, weil ich es zu Schumanns Ehren angestrebt hatte. Dagegen war mir E.T.A. Hoffmann in Berlin (vielleicht nur durch universitären Druck: Proseminar bei ???) früh zugänglich geworden. Ich hatte sogar eine ganz erfolgreiche Arbeit über die Erzählanfänge in den „Serapionsbrüdern“ geschrieben. Erfreuliche Wiederkehr der Eindrücke, als ich über das erste Klaviertrio von Brahms nachdachte („der junge Kreisler“).

Jetzt kam mir in Erinnerung, irgendwo über den Kanzleistil als eine deutsche Schule der Schreibkunst gelesen zu haben. War es bei Heinz Schlaffer? Also ist schnellstens eine „Nachlese“ in seinem genialen Büchlein fällig: über „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ (dtv 2003/2008). Wer sonst hat solche Ideen gewagt?!

P.S. Mit Bezug auf meine Nazi-Bemerkung zu Benno von Wiese fühle ich mich veranlasst – insbesondere nach weiterer Lektüre dieses Werkes zum Deutschen Roman – daraus die erste Seite über Döblins „Berlin Alexanderplatz“ wiederzugeben, – Albrecht Schöne, dessen Buch „Barock-Symposion 1974“ in meinem Bücherregal der Wiederentdeckung harrt, zunächst jedoch nur dieses (Quelle s.o. Benno von Wiese a.a.O.):

Um noch einmal auf die Rehabilitation Adalbert Stifters gegenüber einem „modernen“ Urteil zurückzukommen. Sehr lesenswert ist nach wie vor Walther Killy:

Bei Proust I – wo?

Man müßte verhärtet sein, wollte man die Reinheit der Absicht nicht bemerken und von der Vergeblichkeit nicht ergriffen werden, mit der in deutscher Sprache, im 19. Jahrhundert und in einer alternden Kultur eine Art von erzieherischem ›Robinson‹ versucht wird. Allein wie dieser auf seiner Insel, leben die Menschen des ›Nachsommer‹ in einer anderen Welt und Zeit, überzeugt, daß alles ihnen zum Besten dienen und einen Sinn erweisen werde. Wäre Stifter nicht ein großer Erzähler gewesen, so hätte des Programmatische seines Werkes Leben und Wirklichkeit zum Erliegen gebracht. Es blieb dies seinen Nachfolgern minderen Ranges überlassen, die, vom „Bildungroman“ fasziniert, letzte Frage stellen zu müssen glaubten, wo der große Roman Welt aufstellt. Stifter war ein Dichter und …

Walther Killy „Utopische Gegenwart“ 1967