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Tiere meiner Kindheit

Wie wir lebten

Nach dem Krieg in Sicherheit: So sah das verwunschene Haus meiner Großeltern aus, und so stand man vor der Haustür:

Lohe 1950

Ich bin nicht sicher, ob ich damals wusste, dass der kleine Nachbarsjunge mit mir verwandt war (die Großväter waren Brüder), aber von dem Kätzchen war ich überzeugt, es gehörte (zu) mir: ich kannte schon die Generationen vorher. Ich durfte einen neuen Wurf im Heu auf dem Stallboden ungeniert besuchen und mit dem Nachwuchs spielen. Die Mutterkatze vertraute mir vollständig. – Die Lohe blieb in der Frühzeit meine Welt: mein älterer Bruder durfte zu den Eltern nach Bielefeld ziehen, als sie dort eine entsprechende Wohnung hatten, während ich abwiegelte und sagte: „Ihr mit euerm doofen Bielefeld! Ich bleibe da, wo die Kuh ist!“ (wörtlich!) Später gab es Tränen. Im 4. Schuljahr verließ auch ich die Lohe, dieses höher als Bad Oeynhausen gelegene, „kernlose“ Dorf an der Detmolder Straße; hier gab es – wie mein Opa behauptete – die gesündeste Luft der Welt.

  Adresse: ab 1950

Große Kurfürstenstraße 7 a – mein Vater hat das geschrieben, ich las darin aber schon seit der frühen Loher Zeit. Ich hatte schnell Schreiben und Lesen gelernt.

Der Einbruch des Schreckens in die Idylle beschäftigte mich sehr. Ich hatte nach dem Krieg Angstträume, aber die (vom Vater) geregelte, 7tägige Flucht aus Greifswald war wohl nicht der Hauptgrund. Vielleicht eher die Ablösung aus der (vaterlosen) Geborgenheit, die letztlich ja durch den Krieg aufgehoben wurde. Wir hungerten. Ein Jahr völliger Trennung von der (kranken) Mutter, ein unsichtbarer Vater, das „Alleinsein“ bei den Großeltern auf der Lohe und: nicht spielen dürfen (!) mit wem ich wollte. Eine verbotene Freundin drei Häuser weiter lieh mir ein Buch, das ich heimlich las; das Versteck war dort, wo ich es ins Holz- und Möbellager mitnehmen konnte, wo niemand mich beim Lesen vermutete. Titelbild: ein Schäferhund, und zwar einer mit wolfsähnlicher schwarzer Schnauze, Titel: „Meine Herrin und ich“, – es hatte mit Macht und Ohnmacht zu tun. Die Erinnerungen sind vage, ich besorge es mir jetzt keinesfalls antiquarisch, um diese Vagheit nicht aufzulösen. Es war natürlich ein „Mädchenbuch„. Soeben habe ich das Titelbild im Internet wiedergefunden, es gehörte in meine frühe, durch Märchen geprägte Bilderwelt, ich lernte unvermerkt neben der Schullektüre die alte Schrift, viele Bilder zeigen Spuren des eifrigen Abpausens:

Gemeinsame Fahrradtour (Oeynhauser Kurpark) mit Freundin, vorne ihr kleiner Bruder, jemand nannte ihn den „Anstandswauwau“. 😇

Das Bild mit dem Reh gehört zu „Brüderchen und Schwesterchen“ (in diesem Fall war ich das Reh), an dieser Stelle muss aber unbedingt das andere Märchen vollständig folgen, das jetzt, nach 70 Jahren, eine herausragende Rolle spielen soll, so, als erlebte ich eine allzu späte, psychotherapeutische Behandlung. 😌

   

Was ich damals liebte und unentbehrlich fand, waren die Kühe (zeitweise 2 plus 1 Kalb) und den unnahbaren Großvater, der von Beruf Tischlermeister war, aber lieber Landwirt gewesen wäre. Bis heute berührt es mich überall heimatlich, wo es nach Holz oder nach Tieren riecht, im Wald, auf der Weide und im Kuhstall. Sogar neben einem Zirkus.

Mein Opa (mütterlicherseits) war ein eigensinniger, etwas „wilder“ Mann: das „schönste Haus auf der Lohe“ – so die Meinung seiner Frau – versah er an der hinteren Seite mit einem Kuhstall, zwei andere Seiten, auch die des Hauseingangs samt Veranda, verdeckte er durch einen mächtigen Schuppen, den er als Möbelfabrik und Holzlager nutzte. Genau bis auf die Grundstücksgrenze gebaut. Siehe oberste Bilder. An der verbliebenen Schauseite, zur Straße hin, errichtete er einen 3 m hohen Holzkasten, in dem er kostbaren Mist aus dem Kuhstall anhäufte.

Hobergs Haus im Hintergrund

In der Ferne die Porta Westfalica

Ich habe versucht, ihn für mich zu gewinnen;  es war schwer, bei ihm auf dem Arm zu „kuscheln“. Er wollte, dass ich auch eines Tages Tischler werde; wie sein Sohn, der aber aus dem Russlandkrieg nicht zurückkam. Ein Trauma. Und von den Kühen konnte ers nicht lernen. Er war noch sperriger als sie. Dies hier sind nur aktualisierte Symbolbilder aus Südtirol (Fotos 2022 Saskia R.) :

Und nun das inspirierende Buch, das ich vielleicht schon 50 Jahre eher gebraucht hätte, als es noch nicht da war: im Anschluss an Alexander Mitscherlichs „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, parallel zu Simone Beauvoir… Kein Mensch kam damals auf die Idee, dass es auch ein Buch – nicht gegen, sondern – über (und für) Männer geben sollte. Und über Mütter, die nicht loslassen können.

über Robert Bly hier (Wikipedia). Ich zitiere zur Einführung aus dem Vorwort des Buches und aus dem ersten Kapitel, das sich dem Anfang des Märchens widmet. Man beachte den Hinweis auf Mitscherlich.

Ich denke an die Taschenuhr meines abwesenden Vaters, die ich in Greifswald guten Gewissens zertrümmert hatte, an die darauf folgende Bestrafung durch meine Mutter, die mich mit „Wahrheit“ überforderte. Im Badezimmer. Und vieles andere, nicht bewältigte. Ich werde alles wieder aufrollen, warum nicht? Es ist, als wäre es ein anderer, um den es geht, – zufällig auch für mich lebensnotwendig. Und für andere Männer (und Frauen), die sich nicht mit den üblichen Genderfragen zufriedengeben.

 

Ich habe das ganze, im Juli 1973 mit Zustimmung gelesene Buch jetzt aufs neue durchgeblättert und wenig gefunden, was mir aus heutiger Sicht bemerkenswert scheint. Damals las ich auf der Basis des Marcuse-Werkes „Triebstruktur und Gesellschaft“ (1971), aber auch diese Motivierung ist verschwunden. Es ist die Kraft des Märchens, die nach wie vor wirkt und lebensnahe Deutungen provoziert. In meiner Kindheit (5-10) traten an die Stelle der Märchen und der Tiergeschichten die Heldensagen (10-15), später die Entdecker und Weltumsegler, dann (15-20) männliche Idole: Albert Schweitzer, Nietzsche, Leonardo, Dostojewski, jenseits der 20 (Studium) Proust und Musil. Wobei ich die Musik unberücksichtigt lasse (zu Albert Schweitzer gehörte Bach, gefolgt von Beethoven, Schumann, Wagner), es ging in etwa (leicht verschoben) im 5-Jahres-Rhythmus weiter, auch im wirklichen Leben: das erste Kind 1966, das zweite 1971. Noch weiter verschoben: Orient ab 1967, WDR ab 1976. Aber psychologisch war es durchaus komplizierter, so dass ich es bis heute nicht „aufgearbeitet“ habe. Es ist ja auch jede Phase – „präsent“ geblieben und meldet sich aus allen Ecken (der Bücherschränke) zu Wort. Um zu dem Buch „Eisenhans“ von Bly zurückzukommen: es gehörte eigentlich in die erste Häfte der 60er Jahre, als ich von Freud zu C.G.Jung überging, mich allmählich distanzierte, später, als ich bei Marius Schneider studierte, mich bei dessen großzügiger Mythenverwendung daran erinnert fühlte, was diesem aber überhaupt nicht gefiel. Auch der von mir verehrte Indologe Heinrich Zimmer kam bei ihm nicht vor.

C.G.Jung Werke ab 1964

Es fehlt letztlich die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse. Man ist fasziniert von bestimmten Ideen und wünscht sich eine wissenschaftlich strenge Darlegung. Solche wortreich wiedergegebenen Theorien fand man früher in der Esoterik-Ecke großer Buchhandlungen. Ich gehe inzwischen auf Abstand, wenn ich das Wort „spirituell“ mehrfach auftauchen sehe. Da geschieht sicher manchen Inhalten Unrecht. Es ist wie bei der Interpretation von Gedichten: wenn es da nur assoziativ am Wortlaut entlang geht, lege ich den Text beiseite. Auch die Geisteswissenschaften folgen eben nicht einer spirituellen Methode, sondern einer analytischen, selbst wenn es um Rilke oder Gottfried Benn geht. Gerade dann. Man lese nur des letzteren „Probleme der Lyrik“. Und skeptisch stimmen mich gerade die von Robert Bly eingestreuten Gedichte. Keins hat eine in der Übersetzung erkennbare poetische Qualität.

Karte hier

Ich habe das Bedürfnis, aus mir unbekannten Gründen eine Kindheitserinnerung festzuhalten, die ich nicht vorschnell deuten will. Sie hängt vielleicht auch mit bestimmten Tieren meiner Kindheit zusammen. Wir nannten sie „Üützen“ (von „Eidechsen“ ?), es handelte sich um Molche und Kaulquappen, geheimnisvolle Lebewesen, die wir in zwei Teichen des nahegelegenen Tales erforschten, das allgemein „Steinkuhle“ genannt wurde. Aber diese Gewässer erschlossen wir erst später, auch im frevlerischen Unterfangen, dort mit Hilfe kleiner flacher Steine eine Badestelle für uns einzurichten. Aber das seltsame Erlebnis in Vlotho gehört zu einem Ausflug mit meinem Vater, es muss im Zusammenhang mit unserer lebenswichtigen „Flucht“ (1945) von Greifswald nach Bad Oeynhausen stehen, denn ansonsten entwickelte er dort in Westfalen wenig Neugier: es war die fremde Welt seiner Schwiegereltern. Wenn ich heute recht recherchiere, befanden wir uns auf dem Amtshausberg bei der Burg Vlotho. Mein Vater, mein älterer Bruder und ich. Ein gewundener Weg abwärts zog mich unwiderstehlich an, ich gab der Verlockung nach und beschleunigte ganz allmählich das Tempo, ich rannte die Serpentinen hinunter in Richtung Weser, sie konnte nicht weit sein, ich wollte das Wasser in der Tiefe sehen, sonst nichts. Mein Vater rief, mein Bruder schrie „komm sofort zurück“, setzte sich in Bewegung, meine Flucht zu vereiteln – ach, die Geschichte hat leider keine Pointe, vielleicht zwei Ohrfeigen, es war unangenehm, peinlich, schon der vorzeitig erzwungene Rückweg. Ich erschrak selbst, wie weit ich gelaufen war, aber warum, das konnte ich nicht erklären, zumal – das wütende Gesicht meines Vaters, der unverhohlene Ärger meines Bruders, und ich selbst hatte einfach keine Worte. Später habe ich diesen Ort oder einen anderen, gegenüber an der Porta Westfalica, mit einem Lied verbunden, das nicht zu dem ganzen Drama passte. Nur mein Opa kannte es, und auch zu ihm passte es nicht, weder in Bildersprache noch Ausdruck. Hat er es wirklich gesungen? Vielleicht ganz leise, und mehr auf den Text bedacht. „Hier hab ich so manches liebe Mal mit meiner Laute gesessen, hinunter geblicket ins tiefe Tal, und … (ich weiß nicht mehr was) … vergessen.“

Es ist Kitsch, zweifellos, aber manche Leute weinen dabei und wissen auch nicht, warum.

P.S. Erinnerung an 2007 hier

Tiere und Todesarten

Was ich gerade wie vor 55 Jahren gelesen habe

ZITAT

Um halb vier Uhr des Morgens war es schon ganz hell, aber die Sonne war noch nicht zu sehen. Wenn man da oben am Berg an den Malgen vorbeikam, lagen die Rinder auf den Wiesen in der Nähe halb wach und halb schlafend. In mattweißen steinernen großen Formen lagen sie auf den eingezogenen Beinen, den Körper hinten etwas zur Seite hängend; sie blickten den Vorübergehenden nicht an, noch ihm nach, sondern hielten das Antlitz unbewegt dem erwarteten Licht entgegen, und ihre gleichförmig langsam mahlenden Mäuler schienen zu beten. Man durchschritt ihren Kreis wie den einer dämmrigen erhabenen Existenz, und wenn man von oben zurückblickte, sahen sie wie weiß hingestreute stumme Violinschlüssel aus, die von der Linie des Rückgrats, der Hinterbeine und des Schweifs gebildet wurden. Überhaupt gab es viel Abwechslung.

(…)

Unter einem Strauch am anderen Bachufer brannte ein Feuer, das man über das neue Ereignis vergessen hatte, während es bis dahin sehr wichtig gewesen war; als einziger Zuseher stand daneben jetzt nur noch eine junge Birke. An dieser Birke war mit einem in der Luft hängenden Bein noch das schwarze Schwein gebunden; das Feuer, die Birke und das Schwein sind jetzt allein. Dieses Schwein hatte schon geschrien, als es ein einzelner bloß am Strick führte und ihm gut zusprach, doch weiter zu kommen. Dann schrie es lauter, als es zwei andre Männer erfreut auf sich zurennen sah. Erbärmlich, als es bei den Ohren gepackt und ohne Federlesens vorwärtsgezerrt wurde. Es stemmte sich mit den vier Beinen dagegen, aber der Schmerz in den Ohren zog es in kurzen Sprüngen vorwärts. Am anderen Ende der Brücke hatte schon einer nach der Hacke gegriffen und schlug es mit der Schneide gegen die Stirn. Von diesem Augenblick an ging alles viel mehr in Ruhe. Beide Vorderbeine brachen gleichzeitig ein, und das Schweinchen schrie erst wieder, als ihm das Messer schon in der Kehle stak; das war ein gellendes, zuckendes Trompeten, aber es sank gleich zu einem Röcheln zusammen, das nur noch wie ein pathetisches Schnarchen war. Das alles bemerkte Homo zum ersten Mal in seinem Leben.

Wenn es Abend geworden war, kamen alle im kleinen Pfarrhof zusammen, wo sie ein Zimmer als Kasino gemietet hatten. (…)

Eine Stunde nach Beginn lag in dem Pfarrzimmer eine Wolke von Traurigkeit und Tanz. Das Grammophon räderte hindurch wie ein vergoldeter Blechkasten über eine weiche, von wundervollen Sternen besäte Wiese. Sie sprachen nichts mehr miteinander, sondern sie sprachen. Was hätten sie sich sagen sollen, ein Privatgelehrter, ein Unternehmer, ein ehemaliger Strafanstaltsinspektor, ein Bergingenieur, ein pensionierter Major? Sie sprachen in Zeichen – mochten das trotzdem auch Worte sein: des Unbehagens, des relativen Behagens, der Sehnsucht – , eine Tiersprache.

(…)

Da wurde es sogar still, und der Major ließ Tosca spielen und sagte, während das Grammophon zum Loslegen ausholte, melancholisch: „Ich habe einmal die Geraldine Farrar heiraten wollen.“ Dann kam ihre Stimme aus dem Trichter in das Zimmer und stieg in einen Lift, diese von den betrunkenen Männern angestaunte Frauenstimme, und schon fuhr der Lift mit ihr wie rasend in die Höhe, kam an kein Ziel, senkte sich wieder, federte in der Luft. Ihre Röcke blähten sich vor Bewegung, dieses Auf und Nieder, dieses eine Weile lang angepreßt Stilliegen an einem Ton, und wieder sich Heben und Sinken, und bei alldem dieses Verströmen, und immer doch noch von einer neuen Zuckung Gefaßtwerden, und wieder Ausströmen: war Wollust. Homo fühlte, es war nackt jene auf alle Dinge in den Städten verteilte Wollust, die sich von Totschlag, Eifersucht, Geschäften, Automobilrennen nicht mehr unterscheiden kann – ah, es war gar nicht mehr Wollust, es war Abenteuersucht -, nein, es war nicht Abenteuersucht, sondern ein aus dem Himmel niederfahrendes Messer, ein Würgeengel, Engelswahnsinn, der Krieg? Von einem der vielen langen Fliegenpapiere, die von der Decke herabhingen, war vor ihm eine Fliege heruntergefallen und lag vergiftet am Rücken, mitten in einer jener Lachen, zu denen in den kaum merklichen Falten des Wachstuchs das Licht der Petroleumlampen zusammenfloß; sie waren so vorfrühlingstraurig, als ob nach Regen ein starker Wind gefegt hätte. Die Fliege machte ein paar immer schwächer werdende Anstrengungen, um sich aufzurichten, und eine zweite Fliege, die am Tischtuch äste, lief von Zeit zu Zeit hin, um sich zu überzeugen, wie es stünde. Auch Homo sah ihr genau zu, denn die Fliegen waren hier eine große Plage. Als aber der Tod kam, faltete die Sterbende ihre sechs Beinchen ganz spitz zusammen und hielt sie so in die Höhe, dann starb sie in ihrem blassen Lichtfleck am Wachstuch wie in einem Friedhof von Stille, der nicht in Zentimetermaßen und nicht für Ohren, aber doch vorhanden war. Jemand erzählte gerade: „Das soll einer einmal wirklich ausgerechnet haben, daß das ganze Haus Rothschild nicht so viel Geld habe, um eine Fahrkarte dritter Klasse bis zum Mond zu bezahlen.“ Homo sagte leise vor sich hin: „Töten, und doch Gott spüren, und doch töten?“ und er schnellte mit dem Zeigefinger dem ihm gegenübersitzemden Major die Fliege gerade ins Gesicht, was wieder einen Zwischenfall ergab, der bis zum nächsten Abend vorhielt.

Quelle Robert Musil: Grigia / aus: Drei Frauen / rororo Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1952 (1964) Zitat Seite 19ff

Fotos: JR

Viele der Bilder und Szenen habe ich nie vergessen, – die Fliege, die am Tischtuch äste – , das Buch hatte ich damals intensiv (mit Kugelschreiber) gelesen, auch die Auswahl am Ende und das Nachwort von Adolf Frisé. Dass man Rindern ein „Antlitz“ zuspricht! Kühe „wie Violinschlüssel“ kannte ich schon aus Deschners „Kunst, Kitsch und Konvention“ (1965), die Musil-Lektüre überhaupt war für einige Jahre maßgeblich. Was ich nicht kannte: die Stimme der Sängerin Geraldine Farrar, – und was ich bis heute nicht entschlüsselt habe: „Malgen“. Anlass der Re-Lektüre: die neue Reise nach Südtirol (Völs). Musils Schauplatz war das Fersen[a]tal mit den alten venezianischen Goldbergwerken, die wieder erschlossen werden sollten. Er kannte sich dort aus, zumal er im Ersten Weltkrieg an der Dolomitenfront stationiert war. Dort will ich mich nicht auskennen. Musils wunderbare Erzählung „Die Amsel“ habe ich in den 80er Jahren ausführlich in eine WDR-Sendung einbezogen. Wie die Amsel sang, – was für eine Beschreibung! -, und wie sie sagte: „Ich bin deine Mutter.“ Oh, das passte in dieses Jahr der Abschiede.

Doch zurück zu Musils Kriegserfahrung, die sich auch in der „Amsel“-Erzählung niedergeschlagen hat (Stichwort Fliegerpfeil). Man weiß kaum etwas über diese Zeit des Wahnsinns in dieser herrlichen Landschaft. In der Vorhalle derPfarrkirche Völs gibt es eine seltsame Ehrung der Kriegstoten:

von Ignaz Stolz (1921) – man lese auch die Lebensläufe seiner Brüder und den Wikipedia-Artikel über den Gebirgskrieg 1915-1918 hier. Man ist kuriert.

Das Foto des rororo-Covers darf so dunkel bleiben wie meine Erinnerung an die eigene frühe Zeit. Mir fehlte zum Beispiel noch jede Orienterfahrung… Und das Tor zur Gegenwart. An meinem gemaserten Holztisch, dort oben links neben dem Balkon, hinter dem kleinen Fenster.

Kontemplation

Tier – Mensch – Landschaft

Ein Kind schrieb ins Gästebuch des Kolumba-Museums Köln (wohl nach Betrachtung eines Kuh-Portraits):

Die Kuh kaut sich ihre Gedanken schön.

Der Philosoph Byung-Chul Han sagt: „Im kontemplativen Zustand tritt man gleichsam aus sich heraus und versenkt sich in die Dinge.“ Er zitiert Merleau-Ponty, der Cézannes kontemplative Betrachtung der Landschaft als eine Entäußerung oder Entinnerlichung beschreibt:

Zunächst versucht er sich Klarheit über die geologischen Schichten zu verschaffen. Dann bewegte er sich noch mehr von der Stelle und schaute nur noch, bis ihm die Augen, wie Madame Cézanne sagte, aus dem Kopf heraustraten. (…) Die Landschaft, sagte er, denkt sich in mir, ich bin ihr Bewusstsein.

Quelle Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft – Matthes & Seitz Berlin 2010 (Seite 30f) und: Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist – Philosophische Betrachtungen Hamburg 1984 (Seite 16)

Friedrich Nietzsche:

Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Tiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Tier. Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so daß der Mensch sich darob verwunderte.

Er wunderte sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen: mag er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit. Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks. Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort – und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schoß. Dann sagt der Mensch »ich erinnere mich« und beneidet das Tier, welches sofort vergißt und jeden Augenblick wirklich sterben, in Nebel und Nacht zurücksinken und auf immer verlöschen sieht. So lebt das Tierunhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne daß ein wunderlicher Bruch übrigbleibt, es weiß sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das, was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich. Der Mensch hingegen stemmt sich gegen die große und immer größere Last des Vergangenen: diese drückt ihn nieder oder beugt ihn seitwärts, diese beschwert seinen Gang als eine unsichtbare und dunkle Bürde, welche er zum Scheine einmal verleugnen kann, und welche er im Umgange mit seinesgleichen gar zu gern verleugnet: um ihren Neid zu wecken. Deshalb ergreift es ihn, als ob er eines verlorenen Paradieses gedächte, die weidende Herde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch nichts Vergangenes zu verleugnen hat und zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt. Und doch muß ihm sein Spiel gestört werden: nur zu zeitig wird es aus der Vergessenheit heraufgerufen. Dann lernt es das Wort »es war« zu verstehen, jenes Losungswort, mit dem Kampf, Leiden und Überdruß an den Menschen herankommen, ihn zu erinnern, was sein Dasein im Grunde ist – ein nie zu vollendendes Imperfektum. Bringt endlich der Tod das ersehnte Vergessen, so unterschlägt er doch zugleich dabei die Gegenwart und das Dasein und drückt damit das Siegel auf jene Erkenntnis – daß Dasein nur ein ununterbrochenes Gewesensein ist, ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen.

Wenn ein Glück, wenn ein Haschen nach neuem Glück in irgendeinem Sinne das ist, was den Lebenden im Leben festhält und zum Leben fortdrängt, so hat vielleicht kein Philosoph mehr Recht als der Zyniker: denn das Glück des Tieres, als des vollendeten Zynikers, ist der lebendige Beweis für das Recht des Zynismus. Das kleinste Glück, wenn es nur ununterbrochen da ist und glücklich macht, ist ohne Vergleich mehr Glück als das größte, das nur als Episode, gleichsam als Laune, als toller Einfall, zwischen lauter Unlust, Begierde und Entbehrung kommt. Bei dem kleinsten aber und bei dem größten Glücke ist es immer eins, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessenkönnen oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer: er wird nie etwas tun, was andre glücklich macht. Denkt euch das äußerste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besäße, der verurteilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinanderfließen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen, den Finger zu heben. Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholtem Wiederkäuen leben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.

Quelle Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Anfang Kapitel 1.

Das unruhige Tier (1:49)

Der unruhige Mensch (2:25)

Neue Information 24.12. 2014 Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.12.2014)

Kommunikation bei Kühen „Muh“ ist nicht gleich „Muh“ Keine stumme Kreatur – und dumm schon gar nicht: Forscher belegen mit spezieller Technik, dass Kühe und ihre Kälber sich differenziert mit unterschiedlichen Lauten verständigen. Von Christina Hucklenbroich. (s.a. hier)