Archiv der Kategorie: Literatur

Ist schön, macht aber viel Arbeit

Die Menge der Literatur

SZ 23.Dez.2020

Die Zeitung hatte ich mir aufgehoben, das Bild (Peter Cornelius 1859) erinnerte mich an die alten Heldensagen oder an die Wagner-Illustrationen des „Opera Book“, das wohl in einem der Care-Pakete nach dem Krieg enthalten war und damals mit größter Andacht betrachtet wurde. Jetzt war ich hinuntergewandert in mein Übezimmer und hatte diese Zeitungsseite zu Füßen des Regals der vergessenen oder kaum gebrauchten Büchern gelegt, z.B. zu dem vollständig – Band für Band – ab den 80er Jahren erworbenen Meyers Lexikon, daneben die irrsinnig detaillierten Bände zur Geschichte der Deutschen Literatur, die mich so entsetzlich gelangweilt haben. Wollte ich Enzyklopädist werden? Und jetzt habe ich sie plötzlich wieder am Bein und muss mich irgendwie dazu verhalten.

De Boor/Newald angeschafft 27.04.1964

Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen: der Überdruss hatte zwar auch mit der Offenlegung der Nazizeit des Protagonisten de Boor zu tun gehabt. Aber später, als der schiere Wissensstoff des Nachfolgers Hans Rupprich sehr hilfreich gewesen wäre, stand mir das fulminante Büchlein von Heinz Schlaffer im Wege: „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ (dtv München 2003). Oder kam es mir eher zu Hilfe?

Quelle Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur / dtv München 2003/2008 /  ISBN 978-3-423-34022-9

Dieses Buch ist unbedingt empfehlenswert. Bei mir hat es jetzt erst dazu geführt, dass ich auch den Rupprich-Band „Von späten Mittelalter bis zum Barock“ fast vollständig durchgeblättert habe, mich hier und da festlesend, insbesondere um festzustellen, was eigentlich an dieser Literatur überhaupt deutsch war und was lateinisch. Was es mit dem damaligen Übersetzungseifer auf sich hatte, mit den schulischen Bindungen und Ambitionen des Humanismus. Ganz besonders hat mich die Entstehung und Bedeutung des Gesangbuches interessiert, und – anschließend an meine Choral-Artikel hier und hier – die Qualität der deutschen Verse seit Luther. Zitat Seite 255: „Das evangelische Kirchenlied neben und nach Luther weist eine umfangreiche Produktion auf. Der persönliche Gehalt ist fast immer gering. Die Texte sind zumeist lehrhaft, aber trotz viel Nüchternem und Schematischem finden sich auch volkstümliche und ergreifende Lieder; dogmatische Streitigkeiten bleiben nicht ganz ausgeschaltet.“

Die Dürftigkeit z.B. des Meistergesangs.Zitat Seite 265: „Der Meistergesang war eine kunstpflegerische Nebenbeschäftigung von Handwerkern. Seine zunftbürgerliche Gebundenheit, die gesellschaftliche und ideologische Begrenztheit seiner Mitglieder, die Enge der Teilnehmerkreise hielten ihn zunehmend außerhalb des lebendigen geistigen und literarischen Lebens der Zeit.“

Erstaunlich, in welchem Maße wir z.B. die große Zeit des italienischen Sonetts verschlafen haben, während wir in lateinischen Lehrgedichten herumwerkelten.

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Tatsächlich findet man die tieferen Spuren lyrischer Anstrengung erst nach 1570, der Grenze dieses Buches. Heinz Schlaffer geht darauf ein (Seite 50f):

Erst die geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts findet, indem sie sich der mystischen Unterströmung des Mittelalters erinnert, zu ruhigeren Tönen und zu Themen, die der Poesie angemessen sind. Dieser Richtung gehören die Werke an, die noch im folgenden Jahrhundert wieder aufgegriffen wurden: die Lieder Friedrich von Spees, Paul Flemings und Paul Gerhardts, die Sinnsprüche des Angelus Silesius, die Schriften Jakob Böhmes. Die spätere Übertragung religiöser in weltliche Mpotive ist bereits bei diesen Begründern einer eigentümlich deutschen Lyrik vorbereitet.

Und während man das obige Inhaltsverzeichnis studiert, klingen die abschließenden Sätze des schmalen Buches von Heinz Schlaffer nach und sind wohl von bleibendem Wert:

In den letzten Jahrzehnten sind mehrere Literaturschichten erschienen oder noch im Erscheinen begriffen; sie sind im Durchschnitt auf zehn Bände veranschlagt. In derselben Zeit, die es brauchte, sie zu lesen, ließe sich bereits ein Gutteil der wichtigen literarischen Werke selbst lesen. Die kurze Geschichte der deutschen Literatur ist so kurz, daß dem Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzuwenden, der dieses Buch sein Dasein verdankt.

Und seit wir nicht mehr deutsche Literatur auf lateinisch lesen oder produzieren müssen, dürfen wir doch getrost fremdsprachige Literatur in guten Übersetzungen lesen. Ich schweige von der frühen Lektüre der meisten Novellen C.F. Meyers, die nunmal alle greifbar waren, und betrachte dankbar die Phalanx der Werke Tolstojs und Dostojewskys, die ich in meiner Schulzeit verschlungen habe, auch aktiv herangeschafft habe: kann das nach 50 Jahren noch als wirklich auch innerlich angeeignete Lektüre gelten?

Wie wäre es denn, statt vieles zu lesen, intensiver zu lesen und – nicht zu vergessen – zu wiederholen, was man längst gelesen hat? Man ist immer ein anderer, wie oft auch man in denselben Fluss eintaucht.

Was suchte ich denn? Das Wort „dargestellte Wirklichkeit“ trifft es; „vorweggenommene Lebenserfahrung“ wäre auch ein gutes Wort, es war kein „rein“ literarisches Interesse. Gibt es das überhaupt? Gab es denn ein „rein“ musikalisches Interesse? Ich erinnere mich, dass ich zumindest „Gustav Adolfs Page“ mit stark erotischem Anteil wahrgenommen oder aufgeladen habe.

Ansonsten würde ich behaupten, dass die Schule des Lesens – wenn ich es so anspruchsvoll bezeichnen darf – immer auch ein Schule des Lebens war. Und es ist kein Zufall, dass ich jetzt diesen Aspekt herauskehre, wenn ich rückblickend die Rolle der russischen Literatur für mich betone, dann die französische mit der Hauptfigur Marcel Proust und die deutsch-österreichische in Gestalt von Robert Musil. Und schließlich hatte ich das Buch der Bücher entdeckt (1969), in dem ich jeweils – trotz aller Begeisterung für diese Art von Sprachwissenschaft – steckenblieb und zu dem ich gleichwohl alle paar Jahre zurückzukehren hoffte: MIMESIS / Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Siehe hier oder hier oder hier oder hier.

und bevor ich mich aufs neue auf die Reise ins Innere dieses Buches begeben, lese ich einen erhellenden Beitrag zu seinem 50jährigen Jubiläum begeben: aus der Feder des Romanisten Hans-Jörg Neuschäfer (FAZ 13.9.1996): HIER Titel: Dichter des Irdischen Schule des Lesens: Erich Auerbachs „Mimesis“ wird fünfzig.

(Fortetzung folgt)

Die Banalität der Zerstörung

Nur nichts mehr von Trump

So hatte ich es mir gedacht, dies nur nicht im Blog, alles dazu ist oder wird ja schon gesagt. Wenn nur dieser Mann erst verschwunden wäre! Der Leitartikel in der Süddeutschen tat dennoch gut daran, ihn noch einmal an Shakespeares schrecklichsten Gestalten zu messen. Gerade weil es nicht einmal im weiten Reich der Phantasie etwas wirklich Vergleichbares gibt. Zu lächerlich, um es als „das Böse“ zu entlarven: Es hätte einfach kein aufklärerisches Potential. Keine Wahrheit. (s.a. hier)

USA Ein wahres Gesicht / Von Christian Zaschke / 9./10. Januar 2021 Seite 4 hier

Darin Folgendes:

Man könnte sich trotzdem noch einmal die Mühe machen, den Vergleichsmöglichkeiten nachzugehen, zumal die Schulen, die Institutionen des Lernens, weitgehend vom Lockdown betroffen sind. Ich sitze also an folgendem englischsprachigen Artikel. Nachzulesen in „The Atlantic“: hier. „The Feckless King“. (dict: nutzlos, untauglich, nichtsnutzig) genau! Aber sehen Sie nur, wie lang das schon her ist, Oktober 2020, und doch ist jede neue Stufe nur noch schlimmer geworden!

Eliot A. Cohen

Damals ging es „nur“ um Covid19, von dem Skandal um das Capitol ahnte man noch nichts. Nach wie vor ist die Anspielung auf Shakespeares Schreckensgestalten wie Macbeth, Richard II. oder Richard III. oder auf die Gestalten der altgriechischen Tragödie anregend, aber viel zu hoch gegriffen, – diese Charaktere haben mit Trump nichts zu tun. Der grassierenden Dummheit kann man nicht mit differenzierten Bildern und mythologischer Überhöhung begegnen. Was da geschehen ist, haben wir zu analysieren, ohne uns mit wohlfeilen Theorien abzugeben, die uns des eigenen Denkens entheben. Die Methoden der politischen und gesellschaftsbezogenen Aufklärung sind vorhanden und werden unentwegt auch in den großen Zeitungen (!) angewendet und entfaltet, man muss all diese Chancen nutzen und sich darin täglich üben. Was aber ist die Grundlage solcher Übung? Es ist nicht banal, es ist nur selbstverständlich: Kultur, Bildung, Musik, Kunst, Literatur, Theater, Wissenschaft – kurz: der ganze Überbau des Geistes. Sport und Spiel selbstverständlich nicht ausgeschlossen, aber das kommt von selbst, wie das Reisen und die Bewegungsfreude, alles, was den Menschen lebendiger macht. Vielleicht auch nur: teilnehmender. Ich meine: alles umfassend, was gesellschaftlich und privat gut ist.

Der Begriff von der Banalität des Bösen, den Hannah Arendt im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess 1961 prägte, hat mit Recht Kontroversen ausgelöst hat und sollte nicht unbedacht verwendet werden. Gerade deshalb habe ich ihn rekapituliert: nach der Attacke auf das empfindliche Gebilde der Demokratie. Man darf das nicht dämonisieren, denke ich. Eine erste Klärung: was bleibt davon, wenn man es heute noch einmal betrachtet, siehe zunächst in Wikipedia hier.

Zutreffend ist nur, dass die kindischen Verhaltensmuster des amerikanischen Präsidenten auch Formen des massiv Banalen in die politische Szene eingebracht hat, ohne dass sie auch nur entfernt mit der Todes-Maschinerie des Dritten Reiches verglichen werden könnten. Faschismus allerdings ist einfach organisierte Dummheit. Das Wort Wahnsinn wäre zuviel Ehre.

Aber ist das Wort Zerstörung nicht zu pauschal? Nein, er kann es nur nicht verwenden, weil es selbst für ihn zu negativ klingt. Er vernichtet keinen Menschen (abgesehen von den Todesurteilen), er sagt: „Sie sind gefeuert!“ Er sagt nicht: „Ich bin das alleinige omnipotente Ich, es gibt kein größeres neben mir!“ (Shakespeare s.u.: „I and I“). Er sagt: „Make America great again!“ (America= Ich, great again= great forever). Wenn er eine Mauer baut, heißt es nicht, dass er etwas erbaut, – er exkludiert, er eliminiert die Anderen

   *     *     *

Ein guter Grund dennoch, den Shakespeare-Bereich der Bibliothek aufzusuchen, das meiste stammt von 2008 (Neuss Festival), aber begonnen hatte es für mich etwa Juli 1959 nach einer Hamlet-Aufführung in Bielefeld.

Sämtliche Werke OTUS

Zitat „The Feckless King“

Trump does elicit torrid metaphors, and in this case some of those gloating observers (in concealed or open fashion, to their particular taste) seem to have in mind something like Act V, Scene iii of Richard III, in which the villainous king, before the Battle of Bosworth Field in 1485, is visited by the ghosts of those he has murdered. One by one, they make disobliging remarks such as “Let me sit heavy on thy soul tomorrow” and “Tomorrow in the battle think on me, and fall thy edgeless sword,” and, simply, “Despair and die.” The equivalent, one supposes, would be the ghosts of John McCain, Ruth Bader Ginsburg, and John Lewis giving the president a bad night of it during a fevered sleep.

But Trump is not, and never was, Richard III, or indeed any of Shakespeare’s other great villains, such as Iago or Macbeth. He is not as smart, well spoken, or competent as they are; he has limited self-awareness, and would be incapable of the poignant soliloquies that leave us with a sneaking sympathy for Richard III, in particular.

(Eliot A. Cohen: „The Feckless King“)

Otus Verlag

Oder: Rowohlts Klassiker in Einzelausgaben (1.7.1959)

„Richard loves Richard; that is, I am I. / Is there a murder here? No; yes, I am.“

Noch einmal: Gut und Böse? ZDF-Korrespondent Elmar Theveßen erinnerte daran, was Joschka Fischer einmal nach dem 11. September 2001 seinen Mitarbeitern gesagt hat: dass diese Bilder, diese unglaublichen, die da zu sehen waren, und die, die das machen, – glaubt nicht, dass die das Böse sind. Das ist nicht das Böse, das sind Menschen, die glauben das absolut Gute zu tun, so wie im Dritten Reich Himmler und die Nazis. Er hat das damals so verglichen, und ich glaube, das ist nicht soviel anders. Man muss da natürlich vorsichtig sein, es trifft bei weitem nicht auf alle zu, die wir da gesehen haben, aber dieser feste, unerschütterliche Glaube, dass man im Recht ist, der ist der fruchtbare Boden auch für Gewalt… (Lanz-Sendung 12.01.21 ab 14:05).

Frischluftzufuhr stiften

Aus der Zeit gefallen

Was ist reale Romantik?

JMR hat mich drauf gebracht, besaß dieses Exemplar sogar doppelt, gelesen gleich im Anschluss, aber wie so oft: unter wachsendem inneren Widerstand, der sich erst nachträglich auflöste und zu wiederholtem Lesen nachts vor dem Einschlafen führte. Kein Witz. Am Tag nachprüfend, ob die Schauplätze vielleicht noch existieren. Aber gewiss! Sie existieren. Man kann gleich alles bei Google eingeben, was der Erzähler, das „ich“, beim Namen nennt – den Fluss Thaia, dort, wo „wie oft die Nadeln bei Kristallbildungen, (…) ein Gewimmel mächtiger Joche und Rücken gegeneinander“ schoß, dann Thomasgipfel, Thomasturm, St. Thoma und schließlich Wittinghausen. Und wenn nach 6 Seiten Landschaft der Transfer in die Vergangenheit geschehen soll, so mit diesen direkten Worten an den Leser:

Und nun, lieber Wanderer, wenn du dich satt gesehen hast, so gehe jetzt mit mir zwei Jahrhunderte zurück, denke weg aus dem Gemäuer die blauen Glocken, und die Maßlieben und den Löwenzahn, und die andern tausend Kräuter; streue dafür weißen Sand bis an die Vormauer, setze ein tüchtig Buchentor in den Eingang und ein  sturmgerechtes Dach auf den Turm, teile die Gemächer, und ziere sie mit all dem Hausrat und Flitter der Wohnlichkeit – dann, wenn alles ist wie in den Tagen des Glückes, blank, wie aus dem Gusse des Goldschmiedes kommend – – dann geh mit mir die mittlere Treppe hinauf in das erste Stockwerk, die Türen fliegen auf – – – Gefällt dir das holde Paar?

Es sind die Töchter Heinrichs des Wittinghausers, in dessen Wohnung du dich befindest – Wittinghausen hieß vorzeiten das Schloß, ehe es von einem in der Nähe erbauten und nun ebenfalls verfallenden Kirchlein den Namen St. Thomas erhielt.

Die Jüngere sitzt am Fenster und stickt, und obwohl es noch früh am Morgen ist, so ist sie doch schon völlig angekleidet und zwar mit einem

etc.etc. hier sollen wir uns gleichsam in ein lebendes Gemälde aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges versetzen. Und erst nach rund 115 Seiten verlassen wir die Szene und die unerhörte Zauberwelt des Waldes ringsum auf folgendem Wege:

Die Schwestern lebten fortan dort, beide unvermählt. Johanna war eine erhabne Jungfrau geworden, rein und streng, und hatte nur eine Leidenschaft, Liebe für ihre Schwester. Clarissa liebte und hegte Ronald fort und fort; [man weiß inzwischen: sie hegt ihn und ihre Liebe auf ewig in Gedanken…JR] in den goldnen Sternen sah sie seine Haare, in dem blauen Himmel sein Auge, und als einmal ein Zufall jenes feenhafte Gedicht des britischen Sängers auf ihre Burg herüberwehte, so sah sie ihn dann oft als den schönen elfigen blondgelockten Knaben auf seinem Wagen durch die Lüfte schwimmen, den Lilienstängel in der rechten Hand, ihr entgegen, der harrenden Titania. Selbst, als sie schon achtzig Jahre alt geworden, und längst ruhig und heiter war, konnte sie sich ihn nicht anders denken – selbst wenn sie ihn noch lebend träumte und einmal kommend – als daß er als schöner blondgelockter Jüngling hereintrete und sie liebevoll anblicke. Wenige Menschen besuchten die seltsame verwitterte Burg, nur ein einziger Ritter ritt zuweilen ab und zu.

Eines Tages blieb er auch aus – er war gestorben. Daß die Schwestern sehr alt geworden, wußte man bis in die neuesten Zeiten, und der Hirt zeigte die Kammer derselben, aber kein Mensch kennt ihr Grab; ist es in der verfallenen Thomaskirche, oder deckt es einer der grauen Steine in der Burg, auf denen jetzt die Ziegen klettern? – Die Burg hatte nach ihnen keine Bewohner mehr.

Westlich liegen und schweigen die unermeßlichen Wälder, lieblich wild wie ehedem. Gregor hatte das Waldhaus angezündet, und Waldsamen auf die Stelle gestreut; die Ahornen, die Buchen, die Fichten und andere, die auf der Waldwiese standen, hatten zahlreiche Nachkommenschaft und überwuchsen die ganze Stelle, so daß wieder die tiefe jungfräuliche Wildnis entstand, wie sonst, und wie sie noch heute ist.

Einen alten Mann, wie einen Schemen, sah man noch öfter durch den Wald gehen, aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging.

*    *    *

Was hatte mich an dem Stifter-Text eigentlich beim ersten Lesen so gestört? Der immer hohe Ton, diese Manie, alles Sichtbare als Wunder schlechthin betrachten zu wollen. Wie oft kommt das Wort „schön“ oder „wunderschön“ vor? gefühlt wohl tausendmal auf 20 Seiten. Dieser Wald erinnerte mich an Bilder aus dem Biologiebuch, die ich als Kind gern und lange betrachtete: da waren wie zufällig alle möglichen Kleintiere über die Wiese verstreut, Fuchs, Maus, Maulwurf, Falter und Käfer aller Arten. Wie enttäuscht war ich, wenn sich in der echten Natur nur wenig abzuspielen schien, wenn nicht gerade Frühling war und die Vögel sangen.

Und was hat sich inzwischen bei mir geändert? Ich begreife, dass es letztlich um Texte und Gedankenbilder geht, nicht um die  Suggestion eines Wanderführers, auch wenn die geschilderten Berge und Seen der realen Topographie entsprechen. Suchen wir denn nach wortloser Realität? Etwa auf diesem Wege hier? (Die Antwort könnte lauten: ja, unter anderem auch das. Aber Stifter folgt uns auf dem Fuße.)

*    *    *

„Doch nun zuerst ein bisschen Musik!“ (Die übliche Anmoderation im Radio.)

 s.a. hier

Was ist ein Lied?

Die Vorstellung von Frischluftzufuhr hat mir gefallen, und im Kontext von Musik verstehe ich unversehens darunter auch eine gewisse Respekt- oder wenigstens Furchtlosigkeit, was ja zur lebendigen Klassik-Interpretation durchaus passen würde. Christian Seiler ist wohl der bekannte Journalist der Schweizer Kulturzeitungen, geht aber wohl nicht oft in Liederabende, sonst würde er anders darüber schreiben. Man ahnt ja, was den Leuten missfällt, die nur zufällig da hineingeraten. Die gekünstelte Artikulation, die sängerische Hypermimik, Augen aufgerissen, sinnlos lächelnd und unentwegt ins Nichts grüßend. Dergleichen habe ich genug in der Hochschulzeit erlebt, wo man aus Sympathie und Mitgefühl alles lobenswert fand, zumal man selbst keine bessere Figur abgab. Aber heute gehe ich nicht einfach in Liederabende, sondern in bestimmte Konzerte mit bestimmten Sängern oder Sängerinnen. Ich muss wissen, wer da singen wird und – welches Vibrato mich da erwartet. Meist ist es mir schlicht zuviel. Um aber hier statt abschreckender Beispiele nur zwei wunderschöne Vibratos zu nennen: Magdalena Kožená und Christian Gerhaher. (Und ich würde auch Florian Boesch sofort als angenehme Überraschung einbeziehen.) – Seltsamerweise kommt Christian Seiler – damit hätte ich nicht gerechnet – sofort auf das Klavier zu sprechen, auf „lauten, etwas flächigen Klavierbombast“ und „auf eine Stimme, die sich mit der Ausreizung der eigenen Möglichkeiten dagegen zur Wehr setzt.“ Das resultiert aus der im Laufe des 19. (Lied-) Jahrhunderts zunehmenden Bedeutung des Klaviersatzes, der substantiell ist. Aber was dann? Wenn man keine Orchestervariante auffahren kann, braucht man eine eindeutig melodiebetonte Auswahl – also die bekanntesten Titel der frühen romantischen Liederepoche – sowie deren Einbettung in ein klangliches Umfeld der schönen Überraschungen. Was mit dem bunten Instrumentarium und den typischen Franui-Ideen gegeben ist. Was mir aber als erstes auffiel (zugegeben, bei der Abspielung auf einem mittelalten Koffergerät), war der Eindruck: da stimmt was nicht! Der Sänger klingt wie aus einer separaten schallgedämpften Kammer, nicht vorne an der Rampe präsent, er ist knapp hinter den andern postiert, etwas dumpf, – oder ist das „verpolt“? Vielleicht  eher absichtlich „unpoliert“, leicht ungehobelt? Auf meiner edleren Vorführanlage steht der Sänger mittendrin, der Anführer einer Bande von Gleichgesinnten. Es ist ein Vergnügen, auch wo es wehtut („Der arme Peter“, „Ich hab‘ ein glühend Messer“). Fast alles Lieder, die ich seit den 60er Jahren unendlich oft gehört habe, begeistert, meistens innerhalb von Zyklen, oder irgendwo zuhaus mit Freund(inn)en zusammen und einander einzelne Aufnahmen präsentierend. Ihnen allen möchte ich das jetzt vorführen, und man muss weiß Gott nicht mehr diskutieren, es genügt dabei zu lachen, zu träumen und zu lauschen. Nichts, was einen stört oder runterzieht, „wir sehnen uns nach Hause / Und wissen nicht wohin?“ Ja, aber es ist auch: „Alles wieder gut“ – im Mahlerschen Sinne.

Noch mehr im Angebot? (Unbedingt! Auch aus gesundheitlichen Gründen.) Ich habe aus einer Essener Ausstellung ein Bild in Erinnerung, wo jemand in der Nähe eines Kruzifixes die Krücke weggeschmissen hat, o Gott, ein Wunder, das hat mich sehr abgestoßen. Dabei war Caspar David Friedrich für uns seit frühester Zeit sozusagen unser Hausmaler, – er hing mit den Schiffen an der Wand, weil er auch ein Greifswalder war, und da wussten wir noch nichts von Symbolik. Abendrot (oder Morgenrot) ist immer gut und will fein gemalt sein. Aber ich will nicht spotten, morgen fahren wir hin und lassen es an Zuneigung nicht fehlen. Zumal sich hier eine Brücke zwischen der allerersten und der spätesten Heimat fühlen lässt. Historienbilder der Düsseldorfer Malerschule? Das Plakat der Ausstellung 1999 hängt jetzt noch in meinem Übezimmer, weil es so gute Stimmung macht.

Promenade durch Bilder einer Ausstellung

2 Carl Friedrich Lessing: Schlesische Landschaft / 4 Caspar David Friedrich / 5 C.D.F.: Segelschiff / 6-7 Andreas Achenbach: Ein Seesturm an der norwegischen Küste / 8 Johann Wilhelm Schirmer: „Parthie“ an der Düssel mit Pestwurz (Wiesenbach) / 9 C.D.F.: Das Friedhofstor / 10 ??? Eichengruppe / 12 Carl Gustav Carus: Die Kahnfahrt auf der Elbe bei Dresden / 13 C.D.F.:  ? / 14-15 Carl Friedrich Lessing: Die tausendjährige Eiche / 16 Johann Peter Hasenclever: Die Sentimentale / 17 C.D.F.: Stadt bei Sonnenaufgang /

 Bleiben Sie gesund!

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Frischluftzufuhr! Bleiben Sie bloß gesund!

(Abschließend: Wirklich aus der Zeit gefallen / Massive Erinnerung an Tripoli 1967)

Handyfotos: JR

Tiere und Todesarten

Was ich gerade wie vor 55 Jahren gelesen habe

ZITAT

Um halb vier Uhr des Morgens war es schon ganz hell, aber die Sonne war noch nicht zu sehen. Wenn man da oben am Berg an den Malgen vorbeikam, lagen die Rinder auf den Wiesen in der Nähe halb wach und halb schlafend. In mattweißen steinernen großen Formen lagen sie auf den eingezogenen Beinen, den Körper hinten etwas zur Seite hängend; sie blickten den Vorübergehenden nicht an, noch ihm nach, sondern hielten das Antlitz unbewegt dem erwarteten Licht entgegen, und ihre gleichförmig langsam mahlenden Mäuler schienen zu beten. Man durchschritt ihren Kreis wie den einer dämmrigen erhabenen Existenz, und wenn man von oben zurückblickte, sahen sie wie weiß hingestreute stumme Violinschlüssel aus, die von der Linie des Rückgrats, der Hinterbeine und des Schweifs gebildet wurden. Überhaupt gab es viel Abwechslung.

(…)

Unter einem Strauch am anderen Bachufer brannte ein Feuer, das man über das neue Ereignis vergessen hatte, während es bis dahin sehr wichtig gewesen war; als einziger Zuseher stand daneben jetzt nur noch eine junge Birke. An dieser Birke war mit einem in der Luft hängenden Bein noch das schwarze Schwein gebunden; das Feuer, die Birke und das Schwein sind jetzt allein. Dieses Schwein hatte schon geschrien, als es ein einzelner bloß am Strick führte und ihm gut zusprach, doch weiter zu kommen. Dann schrie es lauter, als es zwei andre Männer erfreut auf sich zurennen sah. Erbärmlich, als es bei den Ohren gepackt und ohne Federlesens vorwärtsgezerrt wurde. Es stemmte sich mit den vier Beinen dagegen, aber der Schmerz in den Ohren zog es in kurzen Sprüngen vorwärts. Am anderen Ende der Brücke hatte schon einer nach der Hacke gegriffen und schlug es mit der Schneide gegen die Stirn. Von diesem Augenblick an ging alles viel mehr in Ruhe. Beide Vorderbeine brachen gleichzeitig ein, und das Schweinchen schrie erst wieder, als ihm das Messer schon in der Kehle stak; das war ein gellendes, zuckendes Trompeten, aber es sank gleich zu einem Röcheln zusammen, das nur noch wie ein pathetisches Schnarchen war. Das alles bemerkte Homo zum ersten Mal in seinem Leben.

Wenn es Abend geworden war, kamen alle im kleinen Pfarrhof zusammen, wo sie ein Zimmer als Kasino gemietet hatten. (…)

Eine Stunde nach Beginn lag in dem Pfarrzimmer eine Wolke von Traurigkeit und Tanz. Das Grammophon räderte hindurch wie ein vergoldeter Blechkasten über eine weiche, von wundervollen Sternen besäte Wiese. Sie sprachen nichts mehr miteinander, sondern sie sprachen. Was hätten sie sich sagen sollen, ein Privatgelehrter, ein Unternehmer, ein ehemaliger Strafanstaltsinspektor, ein Bergingenieur, ein pensionierter Major? Sie sprachen in Zeichen – mochten das trotzdem auch Worte sein: des Unbehagens, des relativen Behagens, der Sehnsucht – , eine Tiersprache.

(…)

Da wurde es sogar still, und der Major ließ Tosca spielen und sagte, während das Grammophon zum Loslegen ausholte, melancholisch: „Ich habe einmal die Geraldine Farrar heiraten wollen.“ Dann kam ihre Stimme aus dem Trichter in das Zimmer und stieg in einen Lift, diese von den betrunkenen Männern angestaunte Frauenstimme, und schon fuhr der Lift mit ihr wie rasend in die Höhe, kam an kein Ziel, senkte sich wieder, federte in der Luft. Ihre Röcke blähten sich vor Bewegung, dieses Auf und Nieder, dieses eine Weile lang angepreßt Stilliegen an einem Ton, und wieder sich Heben und Sinken, und bei alldem dieses Verströmen, und immer doch noch von einer neuen Zuckung Gefaßtwerden, und wieder Ausströmen: war Wollust. Homo fühlte, es war nackt jene auf alle Dinge in den Städten verteilte Wollust, die sich von Totschlag, Eifersucht, Geschäften, Automobilrennen nicht mehr unterscheiden kann – ah, es war gar nicht mehr Wollust, es war Abenteuersucht -, nein, es war nicht Abenteuersucht, sondern ein aus dem Himmel niederfahrendes Messer, ein Würgeengel, Engelswahnsinn, der Krieg? Von einem der vielen langen Fliegenpapiere, die von der Decke herabhingen, war vor ihm eine Fliege heruntergefallen und lag vergiftet am Rücken, mitten in einer jener Lachen, zu denen in den kaum merklichen Falten des Wachstuchs das Licht der Petroleumlampen zusammenfloß; sie waren so vorfrühlingstraurig, als ob nach Regen ein starker Wind gefegt hätte. Die Fliege machte ein paar immer schwächer werdende Anstrengungen, um sich aufzurichten, und eine zweite Fliege, die am Tischtuch äste, lief von Zeit zu Zeit hin, um sich zu überzeugen, wie es stünde. Auch Homo sah ihr genau zu, denn die Fliegen waren hier eine große Plage. Als aber der Tod kam, faltete die Sterbende ihre sechs Beinchen ganz spitz zusammen und hielt sie so in die Höhe, dann starb sie in ihrem blassen Lichtfleck am Wachstuch wie in einem Friedhof von Stille, der nicht in Zentimetermaßen und nicht für Ohren, aber doch vorhanden war. Jemand erzählte gerade: „Das soll einer einmal wirklich ausgerechnet haben, daß das ganze Haus Rothschild nicht so viel Geld habe, um eine Fahrkarte dritter Klasse bis zum Mond zu bezahlen.“ Homo sagte leise vor sich hin: „Töten, und doch Gott spüren, und doch töten?“ und er schnellte mit dem Zeigefinger dem ihm gegenübersitzemden Major die Fliege gerade ins Gesicht, was wieder einen Zwischenfall ergab, der bis zum nächsten Abend vorhielt.

Quelle Robert Musil: Grigia / aus: Drei Frauen / rororo Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1952 (1964) Zitat Seite 19ff

Fotos: JR

Viele der Bilder und Szenen habe ich nie vergessen, – die Fliege, die am Tischtuch äste – , das Buch hatte ich damals intensiv (mit Kugelschreiber) gelesen, auch die Auswahl am Ende und das Nachwort von Adolf Frisé. Dass man Rindern ein „Antlitz“ zuspricht! Kühe „wie Violinschlüssel“ kannte ich schon aus Deschners „Kunst, Kitsch und Konvention“ (1965), die Musil-Lektüre überhaupt war für einige Jahre maßgeblich. Was ich nicht kannte: die Stimme der Sängerin Geraldine Farrar, – und was ich bis heute nicht entschlüsselt habe: „Malgen“. Anlass der Re-Lektüre: die neue Reise nach Südtirol (Völs). Musils Schauplatz war das Fersen[a]tal mit den alten venezianischen Goldbergwerken, die wieder erschlossen werden sollten. Er kannte sich dort aus, zumal er im Ersten Weltkrieg an der Dolomitenfront stationiert war. Dort will ich mich nicht auskennen. Musils wunderbare Erzählung „Die Amsel“ habe ich in den 80er Jahren ausführlich in eine WDR-Sendung einbezogen. Wie die Amsel sang, – was für eine Beschreibung! -, und wie sie sagte: „Ich bin deine Mutter.“ Oh, das passte in dieses Jahr der Abschiede.

Doch zurück zu Musils Kriegserfahrung, die sich auch in der „Amsel“-Erzählung niedergeschlagen hat (Stichwort Fliegerpfeil). Man weiß kaum etwas über diese Zeit des Wahnsinns in dieser herrlichen Landschaft. In der Vorhalle derPfarrkirche Völs gibt es eine seltsame Ehrung der Kriegstoten:

von Ignaz Stolz (1921) – man lese auch die Lebensläufe seiner Brüder und den Wikipedia-Artikel über den Gebirgskrieg 1915-1918 hier. Man ist kuriert.

Das Foto des rororo-Covers darf so dunkel bleiben wie meine Erinnerung an die eigene frühe Zeit. Mir fehlte zum Beispiel noch jede Orienterfahrung… Und das Tor zur Gegenwart. An meinem gemaserten Holztisch, dort oben links neben dem Balkon, hinter dem kleinen Fenster.

Die Ästhetik des Hässlichen

Bei der Lektüre erinnert

Man vergisst das nie, wie treffend Robert Gernhardt den Reim ausgebaut hat, der sich seit seiner Entdeckung kaum noch vom Wort „hässlich“ lösen will.

Dich will ich loben: Häßliches,
du hast so was Verläßliches.
Das Schöne schwindet, scheidet, flieht –
fast tut es weh, wenn man es sieht.
Wer Schönes anschaut, spürt die Zeit,
und Zeit meint stets: Bald ist‘s soweit.
Das Schöne gibt uns Grund zur Trauer.
Das Häßliche erfreut durch Dauer.

Vielleicht hat ihn das Gedicht von August von Platen in ambivalente Stimmung versetzt: es will einen traurig-schön stimmen, und verströmt doch einen Hauch des Misslungenen. Und da verspricht die Komik Heilung. Jeder kennt den Anfang, und dann lässt die Wirkung nach; das beginnt schon in der ersten Strophe mit dem übertriebenen Reimwort „beben“, dann aufgrund linkischer Zeilen wie „zu genügen solchem Triebe“ oder „den Tod aus jeder Blume riechen“, vor allem aber wegen des reimbedingten Ersatzwortes „versiechen“ für „versiegen“.

Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!

Es beginnt schon mit der unnötigen Hervorhebung, dass ich etwas mit Augen angeschaut haben soll, obwohl ich zugebe, dass ich eine schöne Sache auch imaginieren könnte, ohne sie real vor Augen zu haben, so dass erst die Realität des Anblicks eine solch todesnahe Erschütterung auslösen würde. Durchaus plausibel. Aber ich muss mich zwingen, der wirklich greifbaren Herausforderung nachzugehen, die mir bei der Lektüre der Schrift „Nachahmung der Natur“ von Hans Blumenberg kam. Ich wollte einen passenden Gedanken aus der französischen Literatur dingfest machen, der sich kürzlich bei dem Wort „poète maudit“ einstellte (siehe hier gegen Ende beim Rapper Fler). Doch zunächst Hans Blumenberg:

Das 19. Jahrhundert hat die Faktizitätscharaktere der Natur entscheidend verschärft. Was als Natur vor uns steht, ist das Resultat ungerichteter mechanischer Prozesse, der Kondensation wirbelnder Urmaterie, des Wechselspiels zufällig streuender Mutationen mit dem brutalen Faktum des Kampfes ums Dasein. Dieses Resultat mag alles sein – nur ästhetischer Gegenstand wird es nicht sein können. Wie könnte der Zufall die überraschende Evidenz des Schönen hervorbringen? So lässt sich das bis dahin Undenkbare verstehen, dass die Natur hässlich wird, wie es FRANZ MARC berichtet: „Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir in jedem Jahr mehr hässliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst plötzlich die Hässlichkeit der Natur, ihre Unreinheit  voll zum Bewusstsein kam.“ Den ontologischen Hintergrund genauer angesprochen hat der französische Maler RAOUL DUFY, als er auf den Vorwurf, er mache zu kurzen Prozess mit der Natur, erwiderte: „Die Natur, mein Herr, ist eine Hypothese […].“ Im ästhetischen Naturerlebnis drängt sich nun bereits der Vorbehalt der unendlich vielen möglichen Welten auf, denn wir können seit Descartes naturwissenschaftlich nicht mehr mit Gewissheit sagen, welche dieser Möglichkeiten in der Natur verwirklicht ist, sondern nur, mit welcher dieser Möglichkeiten wir funktional zurechtkommen. Diese Natur hat nichts mehr gemein mit dem Naturbegriff der Antike, auf den sich die Mimesis-Idee bezieht: das selbst nicht herstellbare Urbild alles Herstellbaren. Dagegen ist Herstellbarkeit aller Phänomene die universelle Antizipation der experimentellen Naturforschung, und Hypothesen sind Entwürfe von Anweisungen für die Herstellung von Phänomenen. Die Natur ist folgerichtig zum Inbegriff möglicher Produkte der Technik geworden. Der Rest an exemplarischer Verbindlichkeit ist damit aus der Natur ausgetrieben. Für den Techniker konnte die Natur mehr und mehr zum bloßen Substrat werden, dessen gegebene Konstitution der Verwirklichung konstruktiver Zwecke eher im Wege steht als sie fördert. Nur durch die Reduzierung der Natur auf ihren nackten Material- und Energiewert wird eine Sphäre reiner Konstruktion und Synthese möglich. So ergibt sich der auf den ersten Blick paradoxe Sachverhalt, dass in einem Zeitalter höchster Geltung der Wissenschaft von der Natur zugleich deren Gegenstand in seinem Seinsrang für den Menschen nivelliert worden ist.

Quelle Hans Blumenberg: Nachahmung der Natur / Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen / Reclam Stuttgart 2020 / Seite 50f [im Original sind die Quellen der Zitate angegeben]

Geschrieben hat Blumenberg diese „Studie“ im Jahre 1957, ein paar Jahre später hätte sie gut in meinen Literatur-Kanon gepasst, aber verstanden hätte ich sie wohl nicht. Den rde-Band „Struktur der modernen Lyrik“ habe ich vor 1960 durchgearbeitet, später vermischt mit Eindrücken aus dem ZEN-Buddhismus à la Alan Watts (1961). Hier sind ein paar Seiten der Erinnerung:

 .    .    .    .    . .    .    .    .    .

Quelle Hugo Friedrich: Die Struktur der Modernen Lyrik / Von Baudelaire bis zur Gegenwart / rde Rowohlt Hamburg 1956

Seltsamerweise gab es im Bücherschrank meiner Eltern ein einziges dazu passendes schmales Buch, das vielleicht als Geschenk gedient hat, aber von wem an wen? Vielleicht von meiner Mutter an den nüchternen Altsprachler Artur, seine besitzanzeigende Unterschrift, aber vielleicht war ich der erste, der es gelesen hat, mit entsprechenden Unterstreichungen.

Charles Baudelaire: Kleine Gedichte in Prosa / Neu übertragen und mit einem Nachwort versehen von Dieter Bassermann / Hermann Hübener Verlag Berlin und Buxtehude 1947

 „Gewoge des Träumens“

 Den Burg, Texel, vor zwei Wochen (Foto ER)

Ansonsten zwei frühe Geschenke (wohl von H. M., der schon in Paris studierte): 19.11.1959 Arthur Rimbaud „Poésies“ Paris 1958 / 6.12.1959 Paul Verlaine „Poèmes Saturniens“ & „Premiers Vers“ Paris 1958. Im Rimbaud ein zwischen zwei leere Seiten eingeklebter, kryptischer  Brief, den ich seit damals nicht mehr gesehen habe. Schwer zu entziffern, weil derart verblichen. Aber warum so verborgen? Eine seltsame archäologische Tätigkeit, die auf mich wartet, heute, nach fast 61 Jahren. Psychoanalytischer, oder jedenfalls autobiographischer Stoff eines wenig älteren Freundes. – – – Nein, ich bin froh, dass es sein Brief ist und nicht mein vorausgegangener, den ich wiederlesen sollte. Der klänge mir – wie auch in anderen Fällen schon – mit großer Wahrscheinlichkeit erschreckend naiv. Thema Gottfried Benn, Hugo Friedrich, Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé …

 

Seite 2 und Seite 3. Auf Seite 1 beginnt er mit Benn, nicht ahnend, dass ich aufgrund seiner Anregungen längst die Statischen Gedichte aus dem Arche-Verlag erstanden habe.

 

Der Schrift nach zu urteilen stammen die hineingeschriebenen Ansätze einer Interpretation aus späteren Jahren:

Es war eine Zeit unter psychischem Hochdruck (mein Vater starb am 31.8.1959, auch ein emotionales „Engagement“ war flagrant), die Gedichte von Georg Trakl und insbesondere Gottfried Benn waren ein gedanklicher Anker. Siehe auch den Blogartikel „Radio Dezember 1959“ hier. Es ging ja auch – nebenbei – auf mein Abitur zu. Ich nahm die Sportprüfung ernst, lange Waldläufe, ebenso heftige geigerische Übephasen, auch Klavier bei Kunze in Detmold, alles mit Blick auf die Aufnahmeprüfung in Berlin.

   

Die Seite 1 von 6. Und mein damaliges Lieblingsgedicht von Paul Verlaine. So herzzerreißend klagt man über den Verlust der Jugend, wenn sie noch nicht ganz verloren ist.

Seltsam, ich hatte diesen Blogbeitrag mit ganz anderer Intention begonnen… die Erinnerungen haben mich überrannt.

Gesicht(er) des 19. Jahrhunderts

Mein neuestes Buch ist 7 Jahre alt und …

 Leipzig 2013

… begeistert mich vollständig! (Dank an E.R.)

Ich hätte auch schreiben können: stimmt mich zwiespältig. Und so bin ich nicht unglücklich, wenn die Wiedergabe des Artikels im Smartphone das obige Titelblatt spaltet. Inhaltlich führt der rückseitige, vergrößerte Text in die richtige Richtung. (Bitte anklicken!)

Mit diesen drei Gestalten kommt auch alles visuell Erschreckende und Bombastische des „romantischen“ Jahrhunderts zum Vorschein, der Anfang der Moderne, der intendierte große Umschwung, der sogenannte Fortschritt, das Gesicht des 19. Jahrhunderts.

Ein kleiner Druckfehler sei vermerkt (sehe ich meist beim Aufschlagen eines Buches) Seite 16: Thomas Mann hat sicher nicht von Wagner als einem „theatroromanischen Kostümfex“ gesprochen. Sondern… ?

Der Preis für diesen Prachtband ist sozusagen nicht erwähnenswert, es ist die Hälfte oder ein Drittel des normalen Kinobesuchs, bietet jedoch großes Kopfkino und für die Länge von 10 Spielfilmen Staunen und Vergnügen. Man sollte aufmerksam die Inhaltsübersicht studieren, auch wenn sie bei mir etwas angegraut aussieht, sie steht auf schneeweißem Grund.

Aber jetzt schauen Sie HIER 

Wer hat das so schön gestaltet?  Alexandra Matzner / Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publikationen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.

Eine frühe Erinnerung aus dem Bücherschrank meines Vaters (was kannte ich von Brahms? die Klaviertrios in c-moll und C-dur mit seinem „Bielefelder Kammertrio“), die Biographie von Heinrich Reimann, das Original aus dem Jahre 1911.

Ich habe mir dank Brahms den Namen „Max Klinger“ gemerkt (ohne ihn besonders zu mögen, wie etwa Arnold Böcklin – wegen seiner „Toteninsel“), hatte keine Ahnung, dass Klinger hier sich selbst am Klavier dargestellt hat:

Und als ich in den frühen 50er Jahren mit extensiver Karl-May-Lektüre vom Wilden Westen in den ebenso Wilden Osten kam, da begann ich aus Sympathie für Kara Ben Nemsi eine Liste arabischer Sätze zusammenschreiben, in der Annahme, dass ich das einmal brauchen könnte.

(Fortsetzung folgt)

Luther als Herr und Knecht

Ein Merkzettel

Es gibt (für mich) mehrere Gründe, diesen Kommentar so zu verwahren, dass ich ihn im Internet wiederfinde (hier einstweilen über Bezahlschranke), denn zum Sammeln und Abheften reicht meine Energie nicht: erstens weil ich alles von Prantl gründlich lese, meistens zustimmend, zweitens weil ich in dem Buch von Bergner über die Bach-Präludien gestern (hier) im Anhang (über „Die geisteswissenschaftlichen Implikationen des Bachschen Formbegriffs“ Seite 144f) auf das Kapitel „Luthers Musikverständnis “ gestoßen bin, drittens weil ich bei dem Begriffspaar „Herr und Knecht“ (wie sicher auch von Prantl bezweckt) als erstes an Hegel denke, dann an einen eigenen Artikel zu diesem Thema, den ich fünftens genau vor einem Jahr geschrieben habe, ohne an Luther zu denken. Und sechstens: weil ich mich bemüßigt fand, in ein (wie bei mir häufig) über 50 Jahre altes Buch zu schauen, das ich als jederzeit wieder lesenswert in Erinnerung habe, damals aber meiner (im Gegensatz zu mir) lutherfrommen Mutter zu Weihnachten 1968 schenkte: „Luther. Sein Leben und seine Zeit“ von Richard Friedenthal / Verlag R.Piper & Co München 1967. Um dort jetzt nachzulesen, was es mit den um 1520 veröffentlichten  Schriften auf sich hatte, darunter „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, die 500 Jahre später Heribert Prantl für die SZ noch einmal reflektiert hat. Jedoch bei Friedenthal etwas nachzulesen, bedeutet unweigerlich, dass man davon nicht mehr loskommt… hoffen wir, dass der Kreis sich schließen lässt…

Hatte ich nicht früher schon…? Nein, da ging es nicht um die konstantinische Schenkung, sondern um die dionysische Vertauschung: hier. Ich kann verstehen, dass Prantl in diesem Fall dergleichen nicht erwähnt hat, er verfährt schon kritisch genug mit seinem Luther. Zur Sicherheit schaue ich trotzdem nach, ob er eigentlich unabhängig genug ist – und nicht etwa im Evangelischen Kirchenrat sitzt, laut Wikipedia ist da nichts zu vermelden, – stopp: nur im Kölner Domradio (an dessen Schaufenstern ich früher immer vorbeikam, wenn ich zum WDR strebte) gibt es eine auf ihn bezogene theologische Meldung. Ja, das hätte ich auch gern, aber nur im Fach Bach oder wenigstens als Bergner-Laudator.

Kurz und gut, – der Argwohn bleibt: an diesem Artikel stimmt etwas nicht. Da werden Konsequenzen vermieden, Widersprüche beschwichtigt. Schon im Gebrauch des Wortes Dialektik, als habe Luther im Traum daran gedacht. Da gibt es Gott und den Teufel, unklar bleibt, ob innen oder außen. „Für Luther war Gott ein selbstverständliches Gegenüber, mit dem er sprach, rang, bisweilen an ihm verzweifelnd. Das ist heute selbst für die, die sich Christen nennen, nur noch selten so, und der Teufel ist erst recht ein Hirngespinst. Aber das heißt nicht, dass es keine Mächte gibt, denen sich der säkulare Mensch ausgeliefert fühlt. Aus den Ansprüchen Gottes sind Selbstansprüche geworden. Die Teufeleien heute haben andere Namen: Sie heißen Egoismus, Individualismus, Profitismus, Marktradikalismus, Nationalismus, Rassismus. Die Frage heute ist nicht die nach einem gnädigen Gott, sondern nach gnädigen Verhältnissen.“

Ja, wir sind selbst schuld, und wenn wir dieses allesumspannende Wir gebrauchen, stellen wir uns ruhig, das ist gängige Praxis: in unserer Ohnmacht bescheiden wir uns. Und wenn es Gott gibt, dann als ein Gegenüber. Hier müsste vom Mechanismus der Projektion die Rede sein. Eine kurze Anspielung auf die Fleischarbeiter bei Tönnies, auf die Missstände in Pflege- oder Flüchtlingsheimen und auf „Black lives matter!“ hilft wenig.

„Luthers eindringliche Unterscheidung zwischen Leib und Geist hat emanzipatorische Kraft entfaltet, sie hat die Gewissen vieler Zeitgenossen davon befreit, vor geistlichen oder weltlichen Ordnungen zu ducken. Aber Luthers Vernachlässigung der ganz materiellen äußeren Freiheit hat auch Emanzipation gehemmt. So radikal wie die aufständischen Bauern wollte er die Befreiung doch nicht.“

Er hat dank seiner „eindringliche[n] Unterscheidung“ die Möglichkeit offengehalten, leichter von einem Lager ins andere überzuwechseln, ohne dass man die Dialektik durchdringt, die bei Luther lediglich im blanken Wortgebrauch von Herr und Knecht liegt; sie folgt einem beliebten christlichen Paradox: die Ersten werden die Letzten sein (und natürlich auch umgekehrt). Oder weniger abstrakt: der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Und es klingt derart leiblich, körperlich, dass der Geist seine helle Freude dran hat.

Natürlich weiß Heribert Prantl das genau, und deshalb verstehe ich seine Luther-Dialektik nicht. Das Jahr 1492 liegt halt noch nicht lange zurück.

Wer braucht ein „lyrisches Ich“?

Ich zum Beispiel!

Es hat ja gewiss einen Grund, wenn ich immer wieder darauf zurückkomme. Am ehesten noch, wenn ich bestimmte Lieder höre. Beeindruckende Sängerinnen oder Sänger. Aber auch Sprecherinnen oder Sprecher. Oder entsprechende Texte oder Verse nur lese. Selbst wenn ich sie nicht innerlich höre. Also einfach das Druckbild vor mir habe und es mehrfach mit den Augen abtaste. (Geht das überhaupt, ohne dass ich es mir akustisch „vorstelle“?)

Zur Orientierung vorweg (auch Thema „Subjektivierung“) hier und hier.

Ich muss jedes Mal von vorn anfangen. Aber jetzt habe ich endlich den neuen (einzig richtigen) Ansatz, den ich mir eigentlich schon im Dezember 1963 hätte einprägen können. Aber damals galt das Buch (das im Germanistik-Studium dringend empfohlen wurde) als sehr schwierig, wer weiß, ob ich in jener Zeit schon bis Seite 177 vorgedrungen bin, wo sich immerhin rote Unterstreichungen finden. Jedenfalls hat es nicht „gefunkt“. Es hatte keinen „Leidensdruck“ gegeben. Der kommt erst im Alter, angesichts der Tatsache, dass man immer noch die gleichen Probleme ungelöst findet. Damals hatte ich die Hauptwerke von Emil Staiger und Wolfgang Kayser längst studiert, die nun bereits fragwürdig wurden, aber dies hier war ein anderes Kaliber:

 

Quelle Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung / Ernst Klett Verlag Stuttgart 1957

Also, die Arbeit beginnt, jetzt kann ich es nicht mehr dabei bewenden lassen… das Inhaltsverzeichnis zeigt bereits, wohin die Reise gehen muss: „Die lyrische oder existentielle Gattung“. Ohne dass man der Bezeichnung „existentiell“ vielleicht ansieht, dass es ein Schlüsselwort ist, das – anders als der Begriff „lyrisches Ich“ – sofort eine klärende Wirkung hat. Also brauche ich es …. vielleicht doch nicht mehr: das im Titel genannte Ich?

Es ist wohl kaum zu vermeiden, den Hamburger-Text Wort für Wort nachzuvollziehen, auch die Prosastücke und Verszeilen, die den Ausgangspunkt bilden (Seite 147f Punkte 1. bis 5.), im Sinn zu halten; trotzdem versuche ich hier von den Sätzen auszugehen, die ich mir rot unterstrichen habe und zu betrachten, ob sie sich als Memorierstoff eignen, der die Details nach sich zieht, oder am Ende eine vollkommene Auflösung schafft, indem ich die entscheidenden Textseiten einscanne. Es gilt den Schritt zu tun, der dazu führt, den ganzen Gedankengang von jedem Schein der grauen Theorie zu befreien.

Die lyrische Form [das Gedicht] ist der Ausdruck für den Willen des Aussagesubjekts, seine Aussage nicht als eine Aussage zu verstehen, die auf einen Wirklichkeitszusammenhang gerichtet ist, sei dieser ein historischer, theoretischer oder praktischer.

Doch ist es mit dieser Behauptung nicht getan. Es bedarf einer genaueren Betrachtung dessen, was wir die systematische Genesis des lyrischen Ich nennen können. Zu diesem Zweck gehen wir wieder auf unser Ausgangsbeispiel der Wirklichkeitsaussage, den Brief Rilkes zurück, die Beschreibung des verschneiten Schloßplatzes mit der Freitreppe, die zu keinem Gebäude mehr heraufführt. Diese Briefstelle ist reich an lyrischen Valeurs. (…)

Es geht kein Weg daran vorbei: wir brauchen diese 5 Wirklichkeitsaussagen, auf die sich Käte Hamburger immer wieder bezieht. 1. aus dem besagten Rilke-Brief:

 .     .     .     . (Seite 147f.)

ZITAT Seite 166 f

Unsere am Rilkebrief und [hier nicht wiedergegebenen] Rimbaudgedicht (….) vorgenommenen ‚Interpolationen‘ aber dienten uns hier nicht zu stilkritisch-interpretatorischen Zwecken, sondern nur als Hilfskonstruktionen für die Erkenntnis des Prozesses, in dem sich ein historisches oder praktisches Ich in ein lyrisches verwandeln kann. Dieser Prozeß beginnt damit, daß der Objektpol als Ziel der Beschreibung, Erkenntnis oder des ‚handelnden‘ Einwirkens fallen gelassen wird, und das bedeutet, daß die Aussage keine Funktion mehr in einem Wirklichkeitszusammenhang haben will. Sie zieht sich aus diesem zurück, d.h. sie behandelt das Objekt nicht mehr als ein solches, sie trennt es nicht von dem Erlebnis des Aussagesubjektes, so wie es jede sachgerichtete Aussage ihrer Intention nach tut, sondern sie behandelt es umgekehrt bloß als Objekt des Erlebnisses, sie verwandelt damit das Objekt zu einem bloßen Bestandteil des Erlebnisfeldes des Aussagesubjekts. Indem die Aussage oder das Aussagesubjekt so verfährt, gibt es seinen Willen kund, in einem anderen Bereich sich geltend zu machen und gehört, ‚verstanden‘ zu werden als dem eines Wirklichkeitszusammenhanges. Das Aussagesubjekt konstituiert sich als lyrisches Ich und damit den Bereich der lyrischen Dichtung. Denn nun bedient es sich der Sprache nicht mehr als Mitteilungsinstrument irgend eines Sinnes, sondern als Ausdrucksinstrument, und der Reichtum der lyrischen Formwelt entsteht. Zwischen dem lyrischen Ich und dem historischen bzw. theoretischen oder praktischen aber läuft, nur dem Blicke der Logik erkennbar, die Grenze, die wir als Kontext bezeichneten, der den Willen eines Aussageobjektes kundgibt, ein ölyrisches Ich zu sein. Der Rilkebrief und das [von mir – wie gesagt – nicht zitierte] Prosagedicht Rimbauds liegen dicht beieinander im Aussagesystem, aber eben zwischen ihnen läuft die Kontextgrenze, die den ersten als Wirklichkeitsbericht eines historischen Ich, den letzteren trotz der stilistischen Prosaform als lyrische Aussage kenntlich macht.

Es zeigt sich nun hier auch der Grund, aus dem wir als Demonstrationsbeispiel einer echten Wirklichkeitsaussage ein Dokument wie den Rilkebrief und nicht eine ganz objektiv, rein sachlich ausgerichtete Darstellung, einen Zeitungsbericht, einen Passus aus einem historischen Lehrbuch ausgewählt haben. Wir brauchen ein Dokument, das trotz seines Wirklichkeitscharakters schon lyrische Valeurs enthält, oder umgekehrt: trotz seiner lyrischen Valeurs ein Wirklichkeitsbericht ist.

Ich muss etwas einfügen, für den Fall, dass jemand diesen Text für trocken und schwierig hält, – es bedarf der Geduld. Meine Begeisterung ist grenzenlos, allerdings vielleicht auch, weil ich das Ganze gelesen habe und es nun bei den herausgegriffenen Sätzen mitdenke. Und jetzt schon ahne, dass es drei vier Seiten weiter oben auf der Seite 174 um das Eichendorff-Gedicht „Mondnacht“ gehen wird, das Gedicht aller Gedichte, das Lied der Lieder, hören Sie weiter, hören Sie – und bedenken Sie, wo und wann  sich die Theorie aufs wunderbarste bestätigen wird, wenn es auf „die existentielle Erlebnisquelle“ geht, „auf die es allein ankommt“:

Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die Stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus.

Falls die Musik noch zu hören ist, warten Sie und schalten Sie danach erst den externen Link ab. Man hört dieses Lied nicht nebenbei.

 Spiegel 13.4.1992

 Süddeutsche 11./12.4.1992

ZITAT Seite 168

Hier ist der Ort, den Begriff des Existentiellen als den prägnant bestimmenden Terminus für die Beschaffenheit der lyrischen Dichtung einzuführen und zu begründen, so wie der Begriff des Fiktionalen oder Mimetischen die Beschaffenheit der epischen und dramatischen Dichtung strukturell charakterisiert. M. Bense hat diesen Begriff als einen „literaturmetaphysischen“ für die Charakterisierung solcher Prosa eingeführt, die er die „pascalsche“ nennt, und seine Unterscheidung von logischer und existentieller Prosa berührt sich nahe mit unserem Versuche der Anordnung der Aussagen zwischen dem Objekt- und Subjektpol auf der Aussageskala. Doch wird in Benses Theorie der Unterschied der Haltung oder Bewußtseinstellung nicht aufgenommen, der die Aussagen der Dichtung (als Lyrik) dennoch von denen der Wirklichkeitsaussage entscheidend trennt. Wenn schon Novalis, sowohl die Bensesche wie jedoch auch unsere Theorie bestätigend sagte: „Die höchste eigentlichste Prosa ist das lyrische Gedicht“, so ist freilich auch hier die Lyrik in das Aussagesystem, die „Prosa des wissenschaftlichen Denkens“ eingeordnet. Aber es ist ebenso wie bei Bense noch nicht der Unterschied kenntlich gemacht, der dennoch die lyrische Aussage von einer noch so existentiellen nicht-lyrischen trennt, wie es trotz aller stilpersönlichen Enthüllung der Subjektivität, des „Daseins“ (Heidegger), der „ontologischen Seinsthematik“ (Bense) des Autors auch die Pascalsche Prosa, oder auch diejenige Hegels, Nietzsches, Heideggers ist. Auch diese und andere Philosophen meinen ihre philosophische Lehre und Deutung der Welt und des Menschen doch nicht als Ausdruck ihrer besonderen ‚Existenz‘. Sondern sie sind prinzipiell nicht anders wie [sic!] die Sachwissenschaftler objektgerichtet, theoretisch, und dies, wie nochmals hier betont sei, obwohl die Philosophie eine dicht am Subjektpol der Aussageskala angesiedelte Disziplin ist. Aber die Genze zwischen ihr und der auf der Aussageskala ihr benachbarten Lyrik geht dort, wo die Richtung der Aussage erkennbar wird: Aussage über Objektives, d.i. vom Subjekt als verschieden gemeintes, oder Aussage von Existenz, dem ‚Dasein‘ des Subjekts zu sein. Der moderne Begriff der Existenz ersetzt recht glücklich den des Subjekts und des Subjektiven in diesen Zusammenhängen. Er erweitert die rein logisch-erkenntnistheoretische Angabe sozusagen zu dem Kraftfeld, das sich um den Subjektpol der (formulierten oder unformulierten) Aussage bilden kann, und während der Begriff des Subjekts einen logisch polaren Gegensatz in dem des Objekts hat, gibt es für den Begriff der Existenz keinen Gegenbegriff auf der Objektseite. Er bezeichnet nicht nur die Subjektivität, die stets, durch die polar-korrelative Beziehung zur Objektivität, mit dem Bedeutungselement des Relativen behaftet ist, auch wo der begriff nicht in rein logischem Sinne verwandt wird. Sondern der Begriff der Existenz bzw. des Existentiellen bezeichnet in hohem Maße das Kraftfeld, das von dem Ichsein der ‚Person‘ ausgeht, die besonderen Bedingungen des personal-menschlichen Seins im Unterschiede zum dinglich-außermenschlichen; wie wir denn auch schon in der Umgangsrede den Begriff der Existenz nur auf das menschliche Leben, nicht auf Tiere und Dinge anwenden. Die Grenze also zwischen der Lyrik und dem übrigen Aussagesystem läuft dort, wo die Aussagen sich gewissermaßen von ihrem Objektpol ab- und dem Subjektpol zuwenden.

Im selben Zuge aber, wo dies ausgesprochen wird, melden sich schon Bedenken an, und es erweist sich als notwendig, diese vorläufige Bestimmung der Phänomenologie der lyrischen Aussage in zweierlei Hinsicht zu rektifizieren oder doch genauer zu konturieren. – Die Behauptung, daß die lyrischen Aussagen sich zum Subjektpol hinwenden, könnte dahin mißverstanden werden, daß es sich in aller Lyrik um Aussage über das jeweilige lyrische Ich an sich selbst handele, alle Lyrik im speziellen Sinne ‚Ich-Lyrik‘ sein, ja auch nur die Form der ersten grammatischen Person haben müsse. Ein Hinweis auf die Fülle der Gegenbeispiele genügt, und gerade sie, die ‚ich-freien‘, d.h. sich in der Form objektiver Behauptungssätze aufbauenden lyrischen Gedichte bieten sich der phänomenologischen Analyse der lyrischen Aussage als besonders aufschlußreiches, ja im Grunde als einzig brauchbares Beweismaterial an, weil sie logisch und grammatisch das Wesen der Aussage (des Urteils) in reiner Form darstellen.

Damit ist aber bereits der zweite Punkt angedeutet, der in Hinsicht auf die als existentiell bezeichnete lyrische Aussageform weiterer Erhellung bedarf. Wenn es richtig ist – und sich weiter unten sogleich noch deutlicher zeigen wird -, daß die Aussagen des lyrischen Gedichts sich vom Objektpol gleichsam ab- und dem Subjektpol zuwenden, bedeutet dies, daß in der Aussage kein Objektpol mehr in die Erscheinung träte?

An dieser Stelle möchte ich meine Abschrift unterbrechen, um die originalen Druckseiten mit dem eingefügten Gedicht von Hans Carossa zu zeigen.

Zugleich benutze ich die Gelegenheit, den Link zu einer Dissertation einzufügen, die sich  Käte Hamburgers Theorie der Dichtungsgattungen widmet, Untertitel: Die theoretischen Grundlagen der „Logik der Dichtung“. Von Marija Zulja Vasić Daki HIER. Und noch etwas (ungeprüft) für den Merkzettel: hier.

Ich wiederhole, was ich besonders bemerkenswert finde: „Die Blume stellt sich nur deshalb in dieser Objektivität ihres besonderen Blumenlebens dar, weil es vom Aussagesubjekt als ein solches Leben erfahren und ausdrücklich gemacht wurde, ein Prozeß, der sich in diesem Gedicht als spezifisch lyrischer ganz in den Schlußversen enthüllt, obwohl auch in ihnen keine Ich-Aussage in erster Person erscheint.“

Käte Hamburger wendet sich anschließend zwei Lehrgedichten zu, die – das ist wichtig – eines gemeinsam haben: dass sie „uns bei aller Objektgerichtetheit der Aussage ein wenn auch zartes und sozusagen zurückhaltendes existentielles Element“ verraten:

die Begeisterung der Erkenntnis, und mit ihr verbunden der Drang, das Erkannte auch mitzuteilen, zu lehren. Denn beide Gedichte erhalten ihre spezifische Form als Lehrgedicht durch die Einbeziehung des zu Belehrenden: den Schüler Pausanias des Empedokles, die Geliebte (Christiane) Goethes. Aber dadurch verbindet sich nun nicht etwa die theoretische Aussage mit einem praktischen Zweck; diese Gedichte sind nicht deshalb ‚Lehrgedichte‘, weil in ihnen Schüler angeredet werden. Sondern wir erleben hier unter der noch milden Herrschaft der lyrischen Form das eigentümliche fast paradoxe Phänomen, daß gerade diese Anredeform der Lehre der reinen Objektgerichtetheit ein personal-existentielles Moment hinzufügt. Und wir spüren unmittelbar, daß diese pädagogische Fiktion in der ‚Prosa des wissenschaftlichen Denkens‘, also im reinen prosaischen Sachbericht keinen gemäßen Platz hätte. [Seite 172 f]

(Fortsetzung folgt)

Versuch, einen langen Satz neu zu lesen

Die Zeit der Proust-Lektüre

In diesem Satz lebt die durch die Kunst, durch eine ungeheure synthetische Kraft und durch höchstes Sprachbewußtsein gebändigte und erlöste Monstruosität des Daseins.

Erich Köhler

Oben:  André Dussolier liest Marcel Proust

Der Anfang im Original:

Im deutschen Text „Combray“ (s.u. unter Quellen) aufzufinden Seite 7 bis 9 (endet mit „…ich vergaß das Geschöpf meiner Träume.“)

Wie kam ich eigentlich jetzt wieder auf Marcel Proust? Es war die oft wiederkehrende Erinnerung an seine eindringliche Beschreibung der Kirchtürme, eben auch während des Artikels HIER.

In Erich Köhlers „Proust“ findet man folgendes Schema eines Proust-Satzes Seite 60

 dasselbe, auseinandergenommen:

Das Buch mit diesen Analysen erwarb ich 1963, den entsprechenden Band Proust in französischer Sprache besaß ich schon, um den deutschen Band „Combray“ zweisprachig zu erarbeiten. Vielleicht habe ich nicht einmal bemerkt, dass der Autor, der dessen Nachwort geschrieben hat, Erich Köhler, derselbe war, der dieses schmale Bändchen mit dem „Satzbaum“ veröffentlicht hat, den ich nur mühsam entzifferte: das war viel zu klein gedruckt. Hier habe ich es für mich erstmals scan- und drucktechnisch ins Lesbare übertragen.

Es geht ums Einschlafen in den verschiedenen Räumen aus der Kindheit des Autors, als welcher Marcel Proust auftritt. (Ich sage es so kompliziert, weil nun mal Buch-Autor und Ich-Erzähler nicht für identisch genommen werden sollen.)

Zunächst der französische Originaltext (da mein erstes Exemplar verschwunden ist, folgt ein Blick in das eilig antiquarisch nachgekaufte in der Ausgabe GF-Flammarion 1987):

Köhler hat den Satz zunächst folgendermaßen übersichtlich gemacht (hier nur der Anfang, dann die deutsche Version vollständig, aber ohne Sperrdruck):

ZITAT

(Diese verworren durcheinanderwirbelnden Erinnerungsbilder hielten jeweils nur ein paar Sekunden an; oft gelang es mir in meiner kurzen Unsicherheit über den Ort, an dem ich mich befand, so wenig, die verschiedenen Momente des Ablaufs [ … aus denen sie bestanden, voneinander zu unterscheiden wie die sich ablösenden Stellungen eines laufenden Pferdes, die das Kinetoskop uns zeigt].

Aber ich hatte bald das eine, bald das andere der Zimmer, die ich in meinem Leben bewohnt hatte, wiedererkannt, und nach und nach rief ich mir alle in den langen Träumereien, die dem Erwachen folgten, in die Erinnerung zurück:

(I) winterliche Zimmer

(1) in denen man,

– sobald man sich hingelegt hat,

– den Kopf in eine Art Nest geschmiegt,

– das man sich aus den verschiedenartigsten Objekten herstellt:

– einer Ecke des Kopfkissens,

– der Wölbung der Bettdecke,

– einem Schalende,

– dem Bettrand,

– einer Nummer der ‚Débats roses‘ ,

– die man nach Art der Vogeltechnik zusammenklebt, indem man sich längere Zeit dagegenlegt;

(2) wo

– bei Eiseskälte

– das Vergnügen, das man empfindet, darin besteht, daß man sich von der Außenwelt getrennt fühlt (wie die Seeschwalbe, die als Nest eine Grube in der Erdwärme hat)

(3) und wo man,

– da das Kaminfeuer die ganze Nacht hindurch unterhalten wird,

– in einem großen Mantel

– aus warmer, rauchig duftender Luft schläft,

– durch den der Schein frisch aufflammender Scheite huscht,

– in einer Art von ungreifbarem Alkoven,

– einer warmen Enklave innerhalb des Raumes,

– einer heißen Zone mit veränderlichen thermischen Konturen,

– durch die von Zeit zu Zeit ein Luftzug weht, der uns das Gesicht kühlt

– und der aus den Ecken kommt

– oder aus den Gegenden am Fenster

– oder aus denen, die am weitesten von der Feuerstätte abliegen

– und schon abgekühlt sind ;

(II) oder sommerliche Gemächer,

(1) in denen

– man sich gern eins fühlt mit der lauen Nacht,

(2) wo

– das Mondlicht

– durch die halb geöffneten Läden dringt, –

– und auf dem Fußboden vor dem Bett eine Zauberleiter malt,

(3) wo

– man im Freien schläft wie die Meise, die sich im Hauch des Windes auf der Spitze eines Strahles wiegt –

(II,1) manchmal auch

– das Louis-XVI-Zimmer,

– das etwas so Heiteres hatte, daß ich mich darin selbst am ersten Abend nicht allzu unglücklich fühlte,

– und in dem die zierlichen Säulen,

– die so leicht die Decke trugen,

– sich anmutig teilten,

– um die Stelle für das Bett zu bezeichnen und freizugeben;

(II,2) manchmal

– auch jenes

– kleine

– und sehr hohe,

– das sich, nach oben verjüngt, durch zwei Stockwerke zog

– und zum Teil mit Mahagoni verkleidet war,

(1) in dem ich  mich

– von der ersten Sekunde an

– durch den mir unbekannten Vetiverduft gleichsam seelisch vergiftet fühlte,

– überzeugt von der Feindseligkeit

– der violetten Vorhänge

– und der anmaßenden Gleichgültigkeit

– der Pendüle,

– die ganz laut vor sich hin schwätzte, als sei ich gar nicht da;

(2)  wo

– ein fremder, unerbittlicher, viereckiger Standspiegel

– schräggestellt eine der Zimmerecken

– verdeckte und damit in der angenehmen Vollständigkeit meines gewohnten Gesichtsfeldes einen Platz für sich in Anspruch nahm, der nicht vorgesehen war;

(3) wo

– mein Vorstellungsvermögen,

– nachdem es Stunden hindurch versucht hatte,

– sich zu verrenken

– und in die Höhe zu recken, um genau die Form des Zimmers anzunehmen

– und schließlich die gigantische Wölbung bis oben hin auszufüllen,

– harte Nächte durchgemacht hatte,

– während ich in meinem Bett ausgestreckt lag

– mit nach oben gewandtem Blick,

– ängstlich gespanntem Ohr,

– beleidigter Nase

– und klopfendem Herzen :

bis endlich

– die Gewohnheit

– die Farbe der Vorhänge verändert,

– die Uhr zum Schweigen gebracht,

– den schrägen, grausamen Spiegel Mitleid gelehrt,

– den Vetivenduft zwar nicht völlig verjagt, aber doch überdeckt

– und die offenbare Höhe der Zimmerdecke beträchtlich vermindert hatte.

Ja, die Gewohnheit!

[Sie ist eine geschickte, wenn auch langsame Umzugskünstlerin, die zunächst einmal unseren Geist wochenlang in einem Provisorium schmachten läßt; aber man ist doch froh über ihr Vorhandensein, denn ohne sie und aus eigener Kraft wäre man außerstande, ein Heim bewohnbar zu machen.]

NB ich habe im vorletzten Abschnitt – ab „harte Nächte durchgemacht hatte“ kleine Veränderungen vorgenommen, verursacht durch die andere Satzfolge der deutschen Übersetzung, aber auch durch ein Versehen im Text Erich Köhlers, der den Satz „le cœur battant“ doppelt wiedergibt. (JR)

Quellen

PROUST: COMBRAY / (Ausgabe Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 1: In Swanns Welt. Übersetzt von Eva Rechel-Mertens.  Frankfurt am Main und Zürich 1953) hier: mit einem Nachwort von Erich Köhler. Fischer Bücherei Frankfurt am Main u. Hamburg 1962 Seite 10f

Erich Köhler: Marcel Proust / Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1958

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Inzwischen gibt es eine Neuauflage des zuletzt genannten Buches, das ich an dieser Stelle abbilden werde, sobald es eintrifft. Es ist auf dem Wege zu mir!

Was in meiner Abschrift natürlich fehlt, ist die detaillierte Beschreibung der graphisch gestalteten Text-Analyse, wie sich „die bis zur Unerträglichkeit gestaute Spannung in der wohltuenden habitude löst, die alle Gegenstände verwandelt und ihre Feindseligkeit entgiftet. Was hier nun in wirksamer Klimax in einem einzigen Erlebnisvorgang verdichtet ist und der zusammenfassenden Erinnerung als plötzlicher Umschlag erscheint, sind in Wahrheit viele jeweils in der Zeit verlaufende Prozesse der Angewöhnung. Das Widerspiel von erinnertem Ich und die äußere Verlaufszeit überblickendem erinnerndem Ich ist in der einzelnen Periode selbst gegenwärtig und konstituiert ihre komplexe Einheit. 

Unser Satz ist auf Eindrücken und Bildern aufgebaut, deren Bedeutungsfeld sich durch Querverbindungen zwischen den Satzgliedern zu einem differenzierten Zusammenhang schließt, den die Reihung der nuancierten Motive in ständiger Intensivierung bis zum quälenden Höhepunkt und zur erlösenden Verwandlung der Umwelt durch die habitude steigern. Unsere beiden typographisch verschiedenen Wiedergaben der ganzen Periode verdeutlichen durch Sperrdruck bzw. Anführung der wichtigsten Wörter diese Verflechtung der semantischen und der syntaktischen Struktur.“  

Soweit das Originalzitat aus dem Text von Erich Köhler. Ich habe das in meiner Wiedergabe vielleicht nicht so deutlich zum Ausdruck bringen können und verweise auf die neue Ausgabe des Buches, die ich demnächst vergleichend  betrachten werde. Mir scheint jedenfalls, dass mir durch diese geduldigere Erarbeitung des Stoffes Einblicke möglich geworden sind, die mir damals (1963) vollkommen verschlossen waren, trotz des hervorragenden Materials. Und erst heute weiß ich das Nachwort zur Fischer-Ausgabe von „COMBRAY“ wirklich hochzuschätzen, nachdem sich die Fragen der Erinnerung in meinem eigenen Leben täglich stellen, und bei der Proust-Lektüre sozusagen einen weiteren, doppelten Boden schaffen und es mir verwehren, den Vorgang von außen, als literarisches Phänomen zu betrachten; was ich auch damals sicher nicht getan habe, im Gegenteil, ich habe es als Anleitung zu einem kontemplativen Leben gelesen. Aber das geschah auf einer ganz anderen Ebene als heute. Es ist dringlicher geworden, weil die Lebenszeit für eine große Proust-Lektüre heute nicht mehr bleibt, andererseits die Ästhetik der Bücher von Susanne K. Langer und Christian Grüny eine neue Energie freisetzen, die auch einem erweiterten Verständnis der Zeit-Philosophie Henri Bergsons zugute kommt, sie also nicht einfach gleichsetzt mit der, die sich aus der Proust-Lektüre ergibt.

Die „un-willentliche Erinnerung“ („mémoire involontaire“), von der „willentlichen Erinnerung“ („mémoire volontaire“) scharf zu unterscheiden, vollbringt das „Wunder einer Analogie“, das in der Identität zweier verschiedener Ichs und ihrer Empfindungen eine Wahrheit erschließt, die sonst für immer verborgen bliebe. Gerade die Zufälligkeit dieser Entdeckung ist die „Garantie ihrer Authentizität“. Die Kunst der Erinnerung folgt somit dem „Diktat“ des – anders nicht zu erkennenden – Wesens der Wirklichkeit selbst. Sie hat, den Empfindungen folgend und deren Sinn „dechiffrierend“, in den Metaphern von Sprach- und Kompositionsstil die „einzige“ Beziehung zwischen zwei in Zeit und Raum getrennten Momenten der Erscheinungswelt „aufzudecken“ und zu „übersetzen“. Jene einzige Beziehung entschlüsselt ihre Wahrheit, das Sichtbarmachen dieser Wahrheit fällt mit dem Kunstschönen zusammen. Und so, wie allein die „un-willentliche Erinnerung“ die Vermittlung zu einem vergangenen Ich und seiner Erlebniswelt herstellt, so vermag allein die Kunst die Kommunikation zwischen den abgründig getrennten Welten der einzelnen Menschen zu bewirken. „Nur durch die Kunst“ – so heißt es in der ‚Wiedergefundenen Zeit‘ – „können wir aus uns selbst heraustreten und erfahren, was ein anderer von diesem Universum sieht, das nicht das gleiche ist wie das unsere und dessen Landschaften uns ebenso unbekannt bleiben würden wie diejenigen, die es auf dem Mond geben mag. Anstatt nur eine einzige – unsere – Welt zu schauen, sehen wir sie dank der Kunst sich vervielfältigen und haben so viele Welten zur Verfügung als es echte Künstler gibt.“ 

Quelle Nachwort von Erich Köhler zu COMBRAY (Marcel Proust) s.o.

ZITAT (Erich Köhler) 

Gerade dieses Mißtrauen jeder Wahrnehmung gegenüber läßt die alle Nuancen einbeziehende Metapher zum einzig möglichen stilistischen Erkenntnisinstrument werden. Die Nuancenfülle, in welcher gleichsam alle Unterschiede in den Übergängen verschwinden, das Disparate zum Moment des Ganzen wird, sucht die Einheit hinter den Dingen aufzudecken. In immer neuem Ansatz, in der äußersten Präzision einer stets unter die Oberfläche dringenden Beschreibung will diese Sprache zum Wesen der Dinge vordringen. An unserem obigen Beispiel wird deutlich, wie Empfindung, Erinnerung und gesetzlichkeit der fließenden Zeit (in Gestalt der habitude) zueinander in Beziehung gesetzt werden, um die „Essenz“ der evozierten Vorgänge zu erschließen. Die Metapher, die – […] – das Unterscheidende zwischen den Dingen aufhebt, fügt eine zerrissene Welt wieder zusammen unter Hereinnahme der Zerrissenheit in die Einheit eines Satzes. „Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen den Empfindungen und den Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben … jene einzige Beziehung, welche der Schriftsteller wieder auffinden und deren zwei verschiedene Enden er für immer in einem Satz verknüpfen muß … Die Wahrheit beginnt erst in dem Augenblick, da der Schríftsteller zwei verschiedene Gegenstände nimmt, ihre Beziehung herstellt und diese Gegenstände in die notwendigen Ringe eines schönen Stils einschließt.“ Die bei Proust einen großen Reichtum der Synästhesien einbeziehende Metapher fördert die „zwei Dingen gemeinsame Essenz“ zutage und „entzieht sie der Kontingenz der Zeit“. 

Erich Köhler „Marcel Proust“ (s.o.) Seite 62

Ausklang:

Nicht vergessen, dieser Endlos-Satz, künstlich unterteilt, ist in Wahrheit ein gleichmäßig dahinfließendes Continuum. Ich fühle mich stark an den musikalischen Satzbau Max Regers erinnert, die Duos entstanden vielleicht zur gleichen Zeit (um 1913). Jedenfalls fließen in meiner Vorstellung diese beiden Sphären (Musik und Dichtung) ineinander.

Und wenn ich mich überhaupt so oft erinnere, muss ich nicht dem Gerücht Glauben schenken, dass es eine pure Alterserscheinung ist (wie wenn mein Großvater in den 50er Jahren aus dem Frankreich-Feldzug erzählte, um 1916, die einzige Zeit, die er für viele Monate außerhalb seines Dorfes verbrachte, zugleich die einzige Zeit, in der er wirklich jung und offen für alles war). Es ist für jeden Menschen die Möglichkeit, sich „der Kontingenz der Zeit“ zu entziehen. Und wenn es mir mit Marcel Proust leichter wird, so durch den Zufall, dass die Musik – die so stark im Unterbewussten verankert ist – den gleichen Brückenschlag über die gleiche Zeitspanne hinweg nahelegt: das Datum der Vortragsstunde mit den Reger-Duos 26.07.1962 und das Datum im Buch COMBRAY, dem „Eine Liebe von Swann“ folgte, das ich als meine eigene las, zugleich mit vielen anderen Büchern, die sich – ausgehend von „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ – vorwiegend mit Japan befassten. Das Wort von der „Monstruösität des Daseins“, auf mich bezogen, hätte ich nicht übertrieben gefunden, wenn ich es denn aufmerksam gelesen hätte.

Ich erinnere mich an eine Situation im Kölner Hauptbahnhof, als Dietmar Mantel und ich bis zur Zugabfahrt eine halbe Stunde Zeit  totzuschlagen hatten und wie so oft in der Buchhandlung Ludwig landeten (die dort am Hauptausgang in Richtung Dom seit den 70er Jahren nicht mehr existierte) die Treppe ins Untergeschoss hinunterstiegen, wo sich die Taschenbücher befanden. Er bemerkte, dass ich mich sofort in die Ecke begab, wo die „exotische“ Literatur zu finden war, und er regte sich – für meine Begriffe – ganz unangemessen auf, indem er böse zischte: „Brauchst Du denn immer was Chinesisches?!“ Ich hätte ihm erwidern können, dass mich seine Dauerthemen „Menuhin“ und „Heifetz“ erst recht nervten. Aber an sich blieb unser Umgangston etwas förmlich, bis es über geigentechnische Dissenzen zum Bruch kam (für immer).

Nachtrag 31. Dezember 2019

Der schönste Jahresausklang kam mit der Post:

   

Als nützliche Ergänzung lesen: hier

Heute im Radio

WDR 3 Annie Ernaux hier

Um dies ja nicht zu vergessen, die Radiosendung, die mich heute so beeindruckt hat, ein solcher Text: aber nicht zuletzt, weil die Sprecherin den Ton so gut getroffen hat. Ich warte darauf, Neues zu hören (ab Montag) und auch alles Gewesene noch einmal zu erleben (mit mehr Wissen): vom 6. bis 13. April.

Der Platz gelesen von Dörte Lyssewski

Was die Autorin im Interview (s.u.) sagt, ist nicht spektakulär, oft zögerlich, nicht „zeitgemäß“; eine große Erzählerin erwartet man nicht, wenn man sie nur so erlebt hat. Sie spricht „allgemein“, aber sie schreibt ja sehr konkret, parataktisch, sie benennt jedes Detail, ohne irgendetwas psychologisch zu begründen, und jedes einzelne Ding, jeder Teil einer Tätigkeit steht da und ist interessant. Distanziert und zugleich empathisch. Sie erwähnt Proust! Der Pressetext im Netz hätte mich nicht veranlasst, die Sendung einzuschalten; wie gesagt: ausschlaggebend war der Duktus und die Stimme der Erzählerin. Aber auch der Suhrkamp-Text ist adäquat und hätte Wirkung getan:

(…) Das Leben des Vaters ist auch die Geschichte vom gesellschaftlichen Aufstieg der Eltern und der gleichzeitigen Angst, wieder in die Unterschicht abzurutschen, von der Gefahr, nicht zu bestehen. Dass seine Tochter eine höhere Schule besucht, macht ihn stolz, trotzdem entfernen sich beide voneinander.

Und so ist die Erzählung der Tochter auch die eines Verrats: An ihren Eltern, einfachen Menschen, und dem Milieu, in dem sie aufgewachsen ist – gespalten zwischen Zuneigung und Scham, zwischen Zugehörigkeit  und Entfremdung.

Ein Motiv für mich: ich denke an meinen Vater (*1901) und seine Generation, aber noch mehr an meinen Großvater mütterlicherseits, vom Milieu her. Und nun beginne ich den Text zu lesen, um zu sehen, wie das geht. (Ich möchte auch so schreiben und so auf die Verstorbenen blicken können, ohne ihnen unrecht zu tun.)

Gute Sätze (über ein anderes Buch von Annie Ernaux) habe ich bei Jürgen Habermas gefunden, ein Wort sei rot hervorgehoben:

„Die Jahre“ von Annie Ernaux habe ich gerade gelesen, die ethnologische Beschreibung ihrer gewissermaßen depersonalisierten Lebensgeschichte im Spiegel der französischen Zeit- und Gesellschaftsgeschichte; davon bin ich ganz hingerissen.

Ich merke mir auch sein Logbuch vor, wunderbar, was er über die Vielzahl seiner Bücher schreibt (ich kenne solche Leute!).

Und dann HIER her zum realen Lesen! Auch zum Bestellen, ich bevorzuge allerdings den Buchhändler, es dauert keinen Tag länger!

A propos Radio: natürlich war ich dem Sender dankbar für diese zufällige Begegnung mit allen Folgen, zugleich aber wiederum abgestoßen durch werbetechnische Ansagen im Umfeld, Marke Eigenlob (über die „Hörspielmacher“). Schriftlich so wie üblich: ich hätte diese Lesung nie eingeschaltet. Es ist zum Schämen! Ich vermute, dass „Der Hörer“ gendermäßig nur deshalb durchgeht, weil nachher „bei der Hausarbeit“ geschrieben steht. Kein Wort bitte über das „ganz hingeben“! Das funktioniert gut an dieser Stelle, oh welch ein Feingefühl. Nur dieser flauschige Anmachton insgesamt, der ist völlig daneben. Kann unmöglich von der Redaktion stammen.