Das kindliche Repertoire (und die Geschichten dazu)
Das japanische Püppchen hat mich seit 1943 nie verlassen, in seinem transparenten Behälter überdauerte es die Zeiten.
Seltsamerweise war das erste nicht-europäische Orchesterwerk, das ich etwa 1958 kennenlernte (in einer Schulfunksendung auf Tonband) und unzählige Male hörte, ein Stück japanischer Hofmusik: „Etenraku“. Es elektrisiert mich heute noch. Aber die greifbaren Internet-Versionen sind mir zu „blass“. (Siehe auch hier.)
Aber wie geriet ich neuerdings in das Erinnerungsalbum, das meine Mutter seit 1940 angelegt hat (separat von dem meines älteren Bruders)? Ich wollte wissen, wann ich in der frühen Kindheit auf Kanons gekommen bin, – vielleicht verbringe ich deshalb lebenslang fast täglich eine gewisse Zeit mit Bachs Fugen. Ende 1942 ? ist es möglich, dass man sich bis ins zweite Lebensjahr zurückerinnert? (Das Gruppenbild auf der handschriftlichen Seite 1, unten links, stammt natürlich aus einer viel späteren Zeit (Lohe 1947 oder 48). „Im September fängt er mehr und mehr an zu sprechen. Eine Periode schneller geistiger Entwicklung folgt. (…) Anfang Dezember macht er überraschende Fortschritte im Sprechen.“ Jaja, ich bilde mir ein, dass ich das selbst bemerkt habe. … Ich erinnere mich sogar, dass ich im Kinderbettchen – wenn jemand zur Kontrolle ins Zimmer trat – mich durch Zeitlupenbewegung schlafend gestellt habe, um danach wieder ungestört randalieren zu können. Ein großer Schritt für einen so kleinen Menschen.
Im Arm meiner Mutter unser kleiner Bruder, der schon bald an Meningitis sterben sollte, ich auf dem Schoß meines Onkels (des Bruders unserer Mutter), der bald darauf zurück in den Krieg musste, aus dem er nie mehr wiederkehrte.
Dezember 1943: „Zu Weihnachten haben wir aber doch einen schönen Lichterbaum und glückliche Kinderherzen. Am 2ten Feiertag gehen wir ins Theater und sehen ‚Schneeweißchen und Rosenrot‘. Danach wird zu Hause nur noch Theater gespielt; Jan aber in der Hauptsache den Kasperle.“ An diesen Besuch im Theater erinnere ich mich nicht recht, an solche Rollenspiele aber doch. Und auch an den Sommer 1943 in Bad Oeynhausen und an unser Kanonsingen dort; aber das hatte wohl schon eher begonnen, wir müssen es in Greifswald gelernt haben. Ganz deutlich ist mir der Unfall mit der Eisenstange im Januar 45, einen Monat vorher war ich also 4 Jahre alt geworden. Und die Szene habe ich (wie auch einige andere) deutlich aus der Ich-Perspektive abgespeichert: ich war bockig, weil mein Bruder und sein Kumpan mich nicht mitmachen ließen: sie hatten eine tolle Eisenstange am Gartentor ausgehebelt und versuchten, sie gemeinsam hochzustemmen, ein ganz normales Abenteuer, aber sogar für größere Kinder viel zu schwer; sie kreischten „geh da weg!“, und das war der Punkt, wo ich sie abstrafen konnte, indem ich stehen blieb und hochstarrte. Wahrscheinlich mit offenem Mund, denn darin landete zielgenau der Endhaken der Stange. Als ich heulend zuhaus bei meiner Mutter ankam, schimpfte sie, als ob ich wieder einmal nicht richtig mitgespielt hatte, bis sie bemerkte, dass mir Blut aus dem Mund lief. Jawohl, das geschah ihr ganz recht, dass sie jetzt begriff, wie weh mir das tat! Ohne zu ahnen, dass es mir sogar ganz gut schmeckte.
Alle meine Lieder (über jedes könnte ich eine Geschichte erzählen):
Es geht ein Bi- Ba- Butzemann, Hänschen klein u.a.
Das Wandern ist des Müllers Lust
Oh wie wohl ist mir am Abend (Kanon)
Aba heidschi bum beidschi (und lässt das kleins Büable alleine daheim)
Waldeslust (meine Mutter, die liebt mich nicht)
Maikäfer, flieg (dein Vater ist im Krieg, Pommernland ist abgebrannt)
Macht hoch die Tür etc. (Advent, Weihnachten)
Im Frühtau zu Berge
My bonny is over the ocean
Hoch auf dem gelben Wagen (Schulausflug Lohe 1.Klasse mit Busfahrt)
Jesu geh voran auf der Lebensbahn (Kitscherfahrung, frömmelnde Veranstaltung)
Wie wir Kinder fremde Lieder hörten (1945):
„Gar nicht weit von uns hatten die russischen Besatzer ihr Quartier aufgeschlagen, und abends hörten wir aus der Ferne ihre russischen Lieder. Bernd und Jan konnten diese Lieder sehr bald singen, nicht die Worte, aber die Melodie, ganz echt.“ 7 Reisetage von Greifswald nach Bad Oeynhausen: „Auf den Bahnhöfen breitete Artur seine Kriegsdecke (?) aus und schob ihnen ihren Rucksack als Kopfkissen unter den Kopf. Sie waren trotz aller Strapazen immer bereit, den Mitreisenden ihre Russenlieder vorzusingen.“
Warum ich jetzt alldies in Erinnerung rief:
Magdalena Kožená SONGS MY MOTHER TAUGHT ME – unbedingt reinhören hier besonders Tr. 3, „Jabúcko“, dann 1, 2 ,3 und 23 „Ich träumte, du seist gestorben“. Tr.1 mit etwas verstellter Stimme. [Ich wünschte, es wäre die Stimme meiner Mutter. Aber deren Klang habe ich vergessen, dabei weiß ich doch, dass sie in der frühen Zeit viel mit uns gesungen hat. Wir hatten keine Ahnung, dass sie es gar nicht konnte, wie sie selbst meinte. Und ausgerechnet „Waldeslust“! Sie war später immerhin im Kirchenchor der Pauluskirche Blfld.]
(Fortsetzung folgt)
Von dem Lied „Waldeslust“ gab es (für uns) nur 1 Strophe und diese in abgeänderter (verfälschter) Form: „Waldeslust, Waldeslust, oh wie einsam schlägt die Brust, meine Mutter, die liebt mich nicht, meinen Vater, den kenn ich nicht, und sterben mag ich nicht, bin noch zu jung.“ Die zynische Pointe, die sich aus der falschen Vater-Zeile ergibt, war uns nicht bewusst. Bei der Mutter-Zeile protestierte zuweilen meine Oma. Bei der Vater-Zeile dachte ich: der war es doch, der sie nicht liebte. Das Wort „lieben“ kam uns aber sowieso übertrieben vor. Und das zweimalige „Waldeslust“ am Anfang klang für uns schon etwas parodistisch, zumal unsauber oder unsicher vorgetragen, manchmal auch absichtlich.
J.S.Bach Johannes-Passion Aria „Es ist vollbracht“
Im Zusammenhang mit dem „Albinoni“-Stück wird auch gern auf Bachs Air (BWV 1068) verwiesen, wohl nur wegen des Bass-Ganges (Pizzicato, schreitend, „walking“).
Beethoven: Cellosonate op.69 A-dur,1.Satz; Übergang zur Durchführung (bis Reprise)
Bei Beethoven in ähnlicher Funktion das neue „Thema“ der Durchführung der Klaviersonate Nr.9 op.14/1 E-dur (abgeleitet aus dem zweiten Thema des Werkes).
Von Karajan zu Udo Jürgens
Commentary enthält irreführenderweise die Komponistenangabe: Samuel Barber (?), weil auch dessen berühmtes Adagio wohl auf der LP enthalten ist.
(Alternative Youtube-Wiedergabe mit biographisch auf U.J. bezogenen Fotos & Filmausschnitten https://www.youtube.com/watch?v=3kuu8xMO7k0)
In diesem Zusammenhang gern genannt: Adagio aus dem „Concierto de Aranjuez“ von Joaquin Rodrigo.
Wieder bin ich bei der Frage, ob die Sequenz vom Teufel ist. Oder ein Segen, wenn sie sich in Grenzen hält. Wie wärs mit einem Titel wie „Glanz und Elend der…“ etc.etc.
Seit kurzem liegt wieder (für frühe Morgenstunden) eine Lieblings-CD im Gerät: „Lieder, die mich meine Mutter lehrte“ mit Magdalena Kožená, ich würde gern definieren, weshalb ihre Stimme mich so ergreift, – oder ist es die Melodie eines bestimmten Liedes? Ich überlege, was mich meine Mutter gelehrt hat. Für Musik war sie absolut nicht zuständig, auch geschmacklich, deshalb vergesse ich es auch nicht: „Waldeslust“, – kitschiger geht es nicht. Der doppelte Schleifer „Lu-hu-hust“ und diese unselige Sequenz: „…meine Mutter, die liebt mich nicht, meinen Vater, den kenn‘ ich nicht, und sterben mag ich nicht, bin noch zu jung“ – das war so stark, es war Krieg, und sie dachte an ihre harte Kindheit mit dem überstrengen Vater. Heute habe ich immer wieder bei Tr. 23 angesetzt. (Reinhören? Bitte hier!) Diese Melodie erinnert mich an das „Motto“ der Frühlingssinfonie von Schumann, und an die Zeit, als ich aus der Violinsonate d-moll op.102 (1851) nur den Satz kannte, in dem eine schlichte einfache Choralmelodie, so schien es mir, in bloßen Pizzicato-Akkorden angedeutet wird… (siehe hier ab 18:14). Und ich übte in der Küche bei meiner Mutter. Das liegt wohl 70 Jahre zurück. Das Gegenteil von „Lu-hu-hust“. Handfeste Frage heute: ein Plagiat etwa, eine Anleihe von Dvořák bei Schumann?
„Abendlieder“ op.3 & op.31 (1876)
Dvořáks Lied entstand rund 25 Jahre später als Schumanns Sonate, und auch zufällige Überschneidungen sind bei einem so schlichten Duktus nicht unwahrscheinlich, zudem: Wendungen aus dem Abendlied schlechthin: „Der Mond ist aufgegangen“ bzw. „Nun ruhen alle Wälder“.
Zitat aus dem (auch für Laien sehr empfehlenswerten) Lehr- und Lernbuch „Abenteuer Musik“ von Clemens Kühn:
Bei allem Respekt: ich kenne seine Informantin („Musikliebhaberin“) nicht, aber ich wette, dass sie beim Grieg-Hören nicht diese Melodie am Anfang der „Moldau“ erinnert, sondern die später in demselben Werk auftauchende Version in Dur. Ohne diese Annäherung wäre eine Assoziation von der „kreiselnden Melodie“ zur geradlinig aufsteigenden plus Halbtonschritt (bei Grieg Ganzton!) kaum denkbar.
Mehr zu diesem „Melodietyp“, ja, vielleicht sogar mehr als genug, in diesem Blog an anderer Stelle: hier.
Und jetzt noch das Urbild aller aufsteigenden Sequenzen … … … …
Nein, im Ernst, das ist nur ein Blatt meiner täglichen Fingerübungen am Klavier von Andrej Stojanow. Aber erkennen Sie denn nicht auch das Gerüst der schönsten und berühmtesten Sequenz der neueren Musikgeschichte, ich meine in der zweiten Zeile, beginnend mit dem dritten Sechzehntel c“‘? Schimmert es nicht deutlich durch? Oder heraus? „Nessun dorma“, die Arie des Prinzen Kalaf aus Puccinis „Turandot“. Ich höre es innerlich fortwährend, es ist ein Ohrwurm sondergleichen, und ich kann nur staunen, wie er immer aufs Neue aufsteigt, um immer aufs Neue in einem Strahlen aufzugehen, dessen Fortgang rätselhaft bleibt. Schlafen Sie nicht, ich muss das doch wohl nicht verlinken. Sonst kommen Sie mir noch auf die Schliche.
* * *
Anregung: betr. Ohrwürmer nachzuhören WDR 3 hier von Michael Arntz (bis Mai 2023) z.B ab 00:11:03 „Mind Wandering“ (unzufrieden – die Gedanken kreisen lassen).
Wenn ich bedenke, dass die Bach-Sonaten und -Partiten mit Leonidas Kavakos (wie so vieles anderes) bei Sony Entertainment herausgekommen sind, überlege ich, womit die „große Klassik“ eine solche Rubrizierung verdient hat. Ich weiß: Hofmusik, Tanzboden und was man da alles beschwören kann. Geschenkt.
Ich habe etwas übertrieben: das Label heißt Sony Classical, immerhin, und ist nur unter dem großen Dach von Sony Music Entertainment im weiten Sinne beheimatet, wie das Leben insgesamt ja nichts anderes ist als Unterhaltung, sagen wir, im allerweitesten Sinne.
Wenn ich mich nun selbst selbst tief in der Nacht entertaine und das Fernsehen eingeschaltet habe, lande ich nicht ungern bei Inas Nacht und bin bereit, sowohl Ina Müller als auch Peter Heinrich Brix zur Kultur zu zählen, hoch oder tief, ich weiß es nicht. Speziell musikalisch sind sie durchaus, und besonders der Gast ist dazu noch für diese Sendung ein Idealfall an Witz und Verschmitztheit. Ich lache mindestens ebensoviel wie der mitwirkende Shantychor, der die entsprechenden Gags mit der Unisono-Strophe „What shall we do“ bedenkt, die wie der Tusch in der Büttenrede fungiert. Dankbar für diese Lach-Anlässe notiere ich quasi als Volkes Stimme, was die beiden Protagonisten einander und mir über Klassik mitteilen.
Inas Nacht mit Peter Heinrich Brix und Anja Kohl NDR 19.02.22, 00:30 Uhr, HIER ab 15:09
Müller: Lieber zum Heavy Metal oder zum Open-Air-Festival gehen?
Brix: Da geh ich mal zum Heavy Metal. Weil, ich muss zugeben, die Hochkultur ist für mich auch in weiten Teilen … nicht erschlossen. (Lachen im Hintergrund) Bildungsmangel! (Nee nee!) Aber manch einer, der (Händeklatschbewegung) da sitzt (klatscht + vielsagendes Lächeln).
Müller: … das ist einfach nicht Bildungsmangel, sondern es ist, finde ich, einfach Geschmacksache. Ich saß neulich in einem Liederzyklus-Abend und dachte, ich glaube der Liederzyklus wird mich nicht schaffen! (Lachen) also – das ist dann die Elbphilharmonie, die kennt man dann irgendwann und steht da einer mit dem Flügel und singt Musik, die du nicht kennst … Frühlingszyklen, ich weiß nicht was, alles hört sich „geht-so“ an, und es dauert zwei Stunden…
Jaja, ich sach ja,
… das kannst du heute nicht mehr machen!
Ja, aber es gibt auch Leute, die das — die damit durchaus was anfangen können, die da mehr drüber wissen, die das noch erreicht, wie soll ich das erzählen, äh, ich glaub, dass — du hast keinen Zugang!
Kuckst du dir denn mal so ne Mozart-Oper an (er hebt das frischgefüllte Bierglas) in der Hamburger —
Nee! (beide prosten sich zu)
Lachen, Einwurf Shantychor „What shall we do with the drunken sailor“, bis etwa 16:32
Was mag es gewesen sein, was Ina Müller in die Elbphilharmonie getrieben hat? Vielleicht die Veranstaltung zum Internationalen Welt-Mädchen-Tag hier ? Oder gab es „Die schöne Müllerin“? Da könnte sie geschmackvollerweise eine Karte geschenkt bekommen haben.
Bei der Imagination der Szene in der Elbphilharmonie jedenfalls, ob großer oder kleiner Saal oder irgendwo noch viel kleiner, fiel mir ein Satz aus Thomas Manns Novelle „Tristan“ ein. Da wird in einer Gesellschaft Musik am Klavier dargeboten, Nocturnes von Chopin, es ist die klassische Salon-Situation, und dann endlich: Tristan, vermutlich Vorspiel und Liebestod.
Unterdessen hatte bei Rätin Spatz die Langeweile jenen Grad erreicht, wo sie des Menschen Antlitz entstellt, ihm die Augen aus dem Kopfe treibt und ihm einen leichenhaften und furchteinflößenden Ausdruck verleiht. Außerdem wirkte diese Art von Musik auf ihre Magennerven, sie versetzte diesen dyspeptischen Organismus in Angstzustände und machte, daß die Rätin einen Krampfanfall befürchtete.
Nein, der Liebestod erfolgt erst viel viel später, Hörnerklang, offenbar der ganze zweite Akt bis zu Brangänes Habet-Acht-Gesang. Ach Ina, wer das kennte! Es ist Geschmackssache, aber wer will schon so lange bei der Rätin Spatz sitzen…
Es hilft nichts, ich muss mehr von der Geschichte preisgeben, die ich mir damals, am 22. November 1963 für die Ewigkeit vorgemerkt habe, wohl auf einer Bahnreise, denn ich habe, vielleicht für den Fall, dass ich den voluminösen Band irgendwo liegen lasse, vorn die vollständige (studentische) Heimadresse eingetragen: 5 Köln-Niehl / Feldgärtenstrt. 154 bei Heinen.
Quelle Thomas Mann: Sämtliche Erzählungen S.Fischer Verlag Frankfurt am Main 1963
Der folgende Link nur für den Fall, dass ich vergesse, wie die Klassik heute als Erfolgsunternehmen zugerichtet wird:
BERLIN Opus Klassik: Hier https://www.zdf.de/kultur/opus-klassik/opus-klassik-2022-100.html hier
1. Kann sie meine Fehler mit dem Mantel der Tugend bedecken?
Soll ich sie lobpreisen, wenn sie sich als grausam erweist?
Sind dies helle Feuer dort, die sich in Rauch auflösen?
Muß ich die Blätter lobpreisen, wo ich keine Früchte finde?
Nein, nein: Wo statt Körper Schatten sind,
wirst du vielleicht geschmäht, wenn dein Blick getrübt ist.
Kalte Liebe ist wie in Sand geschriebene Worte,
oder Blasen, die auf dem Wasser schwimmen.
Willst du dich weiter so schmähen lassen,
wissend, daß sie dich niemals gerecht behandeln wird?
Wenn du ihren Willen nicht überwinden kannst,
wird deine Liebe ewig so fruchtlos bleiben.
2. War ich so unedel, daß ich nicht emporstreben könnte
zu jenen hohen Freuden, die sie mir vorenthält?
So hoch wie sie sind, so hoch ist mein Verlangen:
verweigert sie mir diese, was gilt denn dann noch?
Gibt sie dem nach, was die Vernunft gebietet:
Der Wille der Vernunft ist, daß Liebe gerecht sei.
Liebste, mache mich glücklich und gewähre mir das noch,
oder beende das Warten, wenn ich denn sterben muß.
Besser ist’s, tausend Tode zu sterben,
als so gequält weiter leben zu müssen:
Liebste, erinnere dich aber daran, ich war’s
der dir zuliebe zufrieden gestorben ist.
1. Can she excuse my wrongs with virtue’s cloak?
shall I call her good when she proves unkind?
Are those clear fires which vanish into smoke?
must I praise the leaves where no fruit I find?
No, no: where shadows do for bodies stand,
thou may’st be abused if thy sight be dim.
Cold love is like to words written on sand,
or to bubbles which on the water swim.
Wilt thou be thus abused still,
seeing that she will right thee never?
if thou canst not overcome her will,
thy love will be thus fruitless ever.
2. Was I so base, that I might not aspire
Unto those high joys which she holds from me?
As they are high, so high is my desire:
If she this deny what can granted be?
If she will yield to that which reason is,
It is reasons will that love should be just.
Dear make me happy still by granting this,
Or cut off delays if that I die must.
Better a thousand times to die,
then for to live thus still tormented:
Dear but remember it was I
Who for thy sake did die contented.
Aus der frühen Zeit des Sängers:
ZITAT
Dies ist die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörbare Melancholie alles Lebens.
Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grund, der allerdings auch Grund der Erkenntnis sein muß.
Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)
George Steiner [Vorspruch zu seinem Buch]: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe / Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 / ISBN 3-518-41841-6
Nachwort
Ich kann mir Steiners Gründe nicht durchweg zu eigen machen, obwohl Schelling mich ebenso anrührt: vielleicht der „Schleier der Schwermut“ mehr als die „anklebende Traurigkeit“. Aber die ganze Natur? Der einfache Grund, dies so zu sehen, ist wohl die projizierte Vergänglichkeit, – ein Wort, nah am falschen Sentiment, leichthin gesagt und wohlklingend. Kennt die Ästhetik der Klassiker nicht auch das Erhabene, das Tremendum, den Sternenhimmel, die griechische Schönheit? Da klebt nichts …
Und doch geht mir der achte Grund nicht aus dem Kopf:
ZITAT
Wir werden nie erfahren, welch tief verborgene Unaufmerksamkeit, Abwesenheit, Abneigung oder alternative Vorstellung den manifesten erotischen Text dekonstruieren. Noch die einander nächststeheneden, aufrichtigsten Menschen bleiben Fremde füreinander, mehr oder minder voreingenommen, mehr oder minder unerklärt. Der Akt der Liebe ist auch der eines Akteurs. Diese Doppeldeutigkeit ist dem Wort mitgegeben.
Denken ist am lesbarsten, am wenigsten verhüllt in Ausbrüchen entfesselter, geballter Energie, wie etwa im Falle von Furcht oder Haß. Diese Triebkräfte können, insbesondere im Augenblick des Geschehens, kaum vorgetäuscht werden, mögen auch Virtuosen des Doppelspiels oder der Selbstkontrolle die Verschleierung bis zur Meisterschaft beherrschen.
Tiere, mit denen wir Umgang haben, zeigen uns, daß wir in Momenten der Furcht einen spezifischen Geruch absondern. Vielleicht hat auch Haß einen Geruch. Da Haß die gesamte Palette mentaler und instinkthafter Kräfte mobilisiert, könnte er sehr wohl die vitalste, geladenste Geisteshaltung sein. Er ist stärker, kohäsiver als Liebe (wie Blake intuitiv erkannte). Oft ist er der Wahrheit näher als jede andere Offenbarung des Selbst. Die andere Klasse gedanklicher Erfahrung, bei der es zum Zerreißen des Schleiers kommt, ist die spontanen Lachens. In dem Augenblick, da wir den Witz verstehen oder einen Blick auf die komische Seite erhaschen, liegt unser Wesen bloß. Kurzzeitig gibt es keine ›Hintergedanken‹. Doch diese Öffnung hin auf die Welt und die anderen ist nicht von Dauer; unabsichtliche Beweggründe kennzeichnen sie.
In dieser Hinsicht wird das Lächeln fast zur Antithese des Lachens. Das Lächeln von Schurken hat Shakespeare sehr beschäftigt.
Im großen und ganzen bleibt der Skandal bestehen. Kein letztes Licht, keine einfühlende Liebe legt das Labyrinth der Innerlichkeit eines anderen frei. (Bilden echte Zwillinge, mit ihrer Privatsprache, wirklich eine Ausnahme?) Letztlich kann Denken uns zu Fremden füreinander machen. Die intensivste Liebe – schwächer vielleicht als Haß – ist eine nie abgeschlossene Unterhaltung Einsamer.
Ein achter Grund für Betrübnis.
Quelle George Steiner: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe / Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 / ISBN 3-518-41841-6 (Zitat Seite 61f)
Dass ich dieses Konzert vom 12. September 2020 hier wiedergeben darf und dies sehr gern tue, versteht man leicht, wenn ich eine gewisse innere Verwandtschaft verbunden mit einer Wahlverwandtschaft andeute, die ich auch früher schon im Blog bezeugt habe. Zum Beispiel hier bei der „Begegnung auf dem Pragsattel“, wo z.B. schon einmal Werke von Stefan Keller zu Gehör gebracht wurden. Zudem kann man a.a.O. (als Link) auch die „Schaukel“ abrufen, deren Interpretation man etwa mit der hier gegebenen vergleichen kann. Was mich besonders fasziniert, ist die Stimme der Sängerin, die ich im Rahmen Neuer Musik schätzen gelernt habe, wo die extremsten Techniken mit spielerischer Leichtigkeit gehandhabt werden (Neue Vokalsolisten Stuttgart). Darüberhinaus aber getragen und aufgefangen durch ein naturgegebenes, einzigartiges Timbre, das vollkommen gerade in der „traditionellen“ Musik aufblüht. Genau so geht es mir auch mit dem Klang eines kostbaren Flügels, wenn der Pianist ihm – wie hier – den ganzen verborgenen Reichtum zu entlocken vermag. (Während ich selbst eben nur auch „Klavier spiele“.)
Was Othmar Schoeck angeht, erinnere ich mich an die eindrucksvolle Aufführung seiner Oper „Penthesilea“ in Bonn, hier dokumentiert, wo ich zudem ein paar CDs zur Vorbereitung auf den Schoeck-Sound aktiviert hatte.
Gern hätte ich im heutigen Zusammenhang auch die Texte von Unica Zürn wiedergegeben, warte aber noch auf die Freigabe durch die Rechte-Inhaber.
Werke von Stefan Keller und Othmar Schoeck (ZITAT aus dem Internet-Programm)
Der Komponist Stefan Keller (*1974) lebte und arbeitete einen Monat lang in Brunnen. Er vertonte ein Anagramm von Unica Zürn (1916-1970) für Singstimme und Klavier.
Nun wird das damals komponierte Lied mit zwei neuen Liedern zu einem Zyklus ergänzt, der im Rahmen dieses Konzerts uraufgeführt wird.
Website HIER→ siehe dort auch unter Service, sowie dann unter Medien (z.B. „Medienecho“ und darin 6.9.20 Gespräch mit Stefan Keller + Link neomx3)
Mitwirkende:
Truike van der Poel (Gesang)
J. Marc Reichow (Klavier)
Rafael Rütti (Klavier)
Mateusz Szczepkowski (Violine)
David Schnee (Viola)
Bemerkungen (in statu nascendi):
Soweit ich es erkennen kann, gab es fürs Publikum nichts Schriftliches, zum Beispiel zu den Liedern nach Texten von Unica Zürn, inhaltlich tappte man also ziemlich im Dunkeln. Und es ist schwierig genug, einen zusammenhängenden Text durch bloßes Hören zu entziffern, vielleicht geht es auch eher um ein fragmentiertes Erfassen der kleineren Satzeinheiten. Im ersten und dritten Lied wurde mir auch die zusätzliche Rolle des Pianisten erst beim Mitlesen des Textes allmählich klar: er fügt die Laute ein, die von der Sängerin ausgelassen werden. Beispiel: die hier durch Fettdruck gekennzeichneten Buchstaben oder Laute kommen aus dem Mund des klavierspielenden Begleiters: „Ich, der einsamste mischt seine Ader mit Aschen.“ Faszinierend ist die Gestaltung der weit ausgreifenden Kurz-Melismen, Gesten, Glissandi, sirenenhaften Schleifer der Singstimme. Das Erlebnis der pianistischen Tontrauben, das Versprühen von Farbpartikeln, Sordino- und Zupfwirkungen vermischt mit der Charakteristik stimmlicher Klangentwicklung, der verfremdeten, sorgfältig ausgekosteten Artikulation einzelner Worte und Silben, die wie in Zeitlupe eine Bedeutung entfalten. Man kann versuchen, es innerlich mitzuformen, nachklingen zu lassen.
Thema des Gesprächs zu Anfang: Körperlichkeit in der Musik / anschließend: zum Tabla-Spiel des Komponisten, der auch Oboe studiert hat. erster Abschnitt 7:33
Am frühen Montagmorgen nach meinem Geburtstag, einem angeblich recht hohen, – der Tag danach war zugleich der Geburtstag meines Vaters (1901-1959) -, las ich zum Trost in der Sonderausgabe der ZEIT einen schönen Leitartikel von Giovanni di Lorenzo: Kann Vergangenheit trösten? Daraus die folgenden Zeilen, die mich an unsere Truhe, ein Erbstück aus dem Besitz der Schwester meines Vaters (Tante Ruth), denken ließ:
Als Kind hatte ich im Haus meiner Großeltern und in der Wohnung meiner Eltern oft Angst, wenn ich allein war. An beiden Orten standen antike Möbel. Einmal nahm ich aus meinem Kinderarztkoffer das Stethoskop heraus, dockte mich an eine uralte Truhe an und stellte mir vor, sie würde mir aus ihrem Leben erzählen, aus allem, was sie über Jahrhunderte beobachtet und erlebt hatte. Ich weiß nicht mehr genau, was sie mir damals verraten hat, aber die Angst war wie weggeblasen.
Quelle DIE ZEIT 7. Dezember 2020: 2020 Was für ein Jahr! Der große literarische Jahresrückblick der ZEIT. Titelseite rechts: Kann Vergangenheit trösten? (Von Giovanni die Lorenzo, 2020) Titelseite links: Ein neuer Weltgeist entsteht (Von Alexandre Dumas, um 1860)
Ich bewege mich in Richtung Keller. Von wegen Angst, ja oder nein?
Ist sie zu erkennen? Bitte anklicken, etwas rustikal, das Teil! Aber mit einer merkwürdigen Aura.
Vielleicht beherbergte die Truhe die Aussteuer einer Vorfahrin, die 1813 heiratete. Genau 100 Jahre später wurde mein Mutter auf der Lohe bei Bad Oeynhausen geboren. Und zufällig auch die besagte Tante. In Roggow oder schon in Belgard a.d.Persante? Man wird alte Choräle gesungen haben. Zur gleichen Zeit wurde in Wien Beethovens siebte Sinfonie uraufgeführt.
Es war auch Zufall, dass ich mir „Das Treffen in Telgte“ wieder vornahm. Noch einmal fast 200 Jahre zurück, Deutschland war verwüstet worden. Ich hatte aber lediglich nachlesen wollen, wie man sich die alten Singer-Songwriter zur Zeit Grimmelshausens vorstellen könnte. Zudem erinnerte ich mich, dass der Geiger Werner Ehrhardt mich einmal darauf aufmerksam gemacht hat, mit welcher Hochachtung man in der Grass-Erzählung dem Komponisten Heinrich Schütz begegnete. Und ich fand u.a. dies:
[Ein Text über das Choralsingen]
Heinrich Schütz‘ Vorwurf, es fehle der deutschen Poeterey an Atem, vollgestopft mit Wortmüll sei sie, keine Musik könne sich in ihrem Gedränge mit sanfter oder erregter Geste entfalten: Diese schlechte Zensur, der als Fußnote unterstellt war, es habe wohl der Krieg das Gärtlein der Dichtkunst verdorren lassen, blieb als These haften, denn, von Dach aufgerufen, redete Gerhardt nur allgemein hin. Es habe der Gast einzig seine hohe Kunst im Auge. Bei so kühnem Überblick werde ihm das schlichte Wort entgangen sein. Das wollte zuerst Gott dienen, bevor es sich der Kunst beuge. Weshalb der wahre Glaube nach Liedern verlange, die als Wehr gegen jegliche Anfechtung stünden. Solche Lieder seien dem einfachen Gemüte gewidmet, so daß die Kirchengemeinde sie ohne Mühe singen könne. Und zwar vielstrophig, damit der singende Christ von Strophe zu Strophe seiner Schwäche entkomme, Glaubensstärke gewinne und ihm Trost zuteil werde in schlimmer Zeit. Das zu tun, dem armen Sünder zu ihm gemäßen Gesang zu verhelfen, habe Schütz verschmäht. Selbst der Beckersche Psalter sei, wie er vielenorts hören müsse, den Kirchengemeinden zu vertrackt. Da baue er, Gerhardt, besser auf seinen Freund Johann Crüger, der sich als Kantor aufs strophische Lied verstehe. Dem rage nicht die Kunst vor allem. Dem seien nicht der Fürsten glänzende Hofkapellen teuer, sondern des gewöhnlichen Mannes Nöte wichtig. Dem wolle es mit anderen, wenn auch nicht weitberühmten Komponisten nie zu gering sein, der täglich bedürftigen Christgemeinde zu dienen und strophigen Liedern Noten zu setzen. Er nenne: des so früh zu Gott gegangenen Fleming ›In allen meinen Taten…‹ oder des ehrbaren Johann Rist ›O Ewigkeit, du Donnerwort‹ oder unseres freundlichen Simon Dach ›O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen…‹ oder des grad noch geschmähten, nun wahrlich wortmächtigen Gryphius ›Die Herrlichkeit der Erden muß Rauch und Aschen werden…‹, oder auch seine, des ganz dem Herrn ergebenen Gerhardt Strophen: ›Wach auf, mein hertz, und singe…‹ oder was er jüngst geschrieben ›O Welt, sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben…‹ oder ›Nun danket all und bringet Ehr…‹ oder was er hierorts, in seiner Kammer geschrieben, weil doch der Friede bald komme und dann von den Kirchengemeinden gelobpreiset sein wolle: »Gott lob, nun ist erschollen das edle Fried- und Freudenwort, daß nunmehr ruhen sollen die Spieß und Schwerter und ihr Mord…«
Dieses sechsstrophige Lied, in dessen vierter Strophe – »… ihr vormals schönen Felder, mit frischer Saat bestreut, jetzt aber lauter Wälder und dürre, wüste Heid…« – des Vaterlandes Zustand zu einfachen Wörtern gefunden hatte, trug Gerhardt auf sächsische Weise in ganzer Länge vor. Die Versammlung war ihm dankbar. Rist grüßte ergeben. Schon wieder in Tränen: der junge Scheffler. Gryphius stand auf, ging auf Gerhardt zu und umarmte ihn mit großer Gebärde. Danach wollte sich Nachdenklichkeit breitmachen. Schütz saß wie unter eine Glasglocke gestellt. Albert voll innerer Not. Dach schneuzte sich laut, mehrmals.
Da sagte Logau in die abermals ausbrechende Stille: Er wolle nur bemerken, daß das fromme Kirchenlied, wie es von vielen, die anwesend seien, fleißig für den Gemeindegebrauch hergestellt werde, eine Sache sei, die zum literarischen Streit nicht tauge; eine andere Sache jedoch nenne er des Herrn Schütz hohe Kunst, die sich um das alltägliche Strophenlied nicht kümmern könne, weil sie auf vielstufigem Podest dem beliebigen Gebrauch entrückt stehe, doch gleichwohl, wenn zwar über die Gemeinde hinweg, einzig dem Lobe Gottes erschalle. Außerdem wolle, was Herr Schütz kritisch zum atemlosen Sprachgebrauch der deutschen Poeten angemerkt habe, gründlich bedacht sein. Er jedenfalls danke für die Lektion.
Quelle Günther Grass: Das Treffen in Telgte dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 1994 (Seite 89f)
Wiki: Auch Heinrich Schütz veröffentlichte 1628 92 Tonsätze, denn er hatte in den Gedichten Trost gefunden, nachdem seine Frau verstorben war. / Mehr darüber in MGG (neu) Personenteil Art. Schütz Sp.398
ZITAT
Der Leipziger Theologieprofessor C.Becker hatte mit seinem deutschen Reimpsalter (1602) das Ziel verfolgt, der weitverbreiteten Versverdeutschung des Hugenottenpsalters durch A.Lobwasser (1573) einen lutherischen Liedpsalter entgegenzustellen. Die Versmaße seiner Dichtungen hatte er so gewählt, daß sie sich auf bekannte Melodien des lutherischen Kirchenliedrepertoires des 16. Jahrhunders singen ließen. Schütz hielt dieses Verfahren für unangemessen und verwendete traditionelle Melodien nur dort, wo schon Becker auf bereits vorhandene Psalmnlieder zurückgegriffen hatte. Die Beckerschen Dichtungen vertonte er zunächst in Auswahl für seine »HaußMusic« und die Morgen- und Abendandachten der Kapellknaben, ohne auf eine selbständige Komposition und eine Publikation abzuzielen. Den Ausschlag für die Vollendung des Werkes gab der frühe Tod von Schütz‘ Frau Magdalene am 6. September 1625, in dessen Folge er sich für längere Zeit zu größeren Kompositionen unfähig fühlte und aus der Vertonung des Becker-Psalters in seiner »Betrübnüß […] Trost schöpffen« konnte. Die Texte sind laut Titel »Nach gemeiner Contrapuncts art« (also im Note-gegen-Note-Satz] vertont. Dennoch sind sie nicht eigentlich als Kantionalsätze anzusprechen, da sie keine Harmonisierungen präexistenter Melodien darstellen, sondern von vornherein als vierstimmige Sätze konzipiert sind. In ihrer oftmals individuellen und expressiven Gestaltung stellen sie einen Typus sui generis dar.
Quelle MGG (neu) Personenteil Band 15 / Bärenreiter Kassel 2006 / Sp. 398 Heinrich Schütz (Autor: Werner Breig)
Meine Suche hatte ursprünglich einem anderen Faktum gegolten: wie es eigentlich dazu gekommen ist, die einfachen Melodien für den Gemeindegesang zu erschaffen. Genau die, die mich in den Bachschen Kantaten und Passionen so früh ergriffen haben. Auch vom Turm der Pauluskirche in Bielefeld, auf den unser Kinderzimmer in den frühen 50er Jahren ausgerichtet war, wurde eine Choralmelodie jeden Samstagnachmittag (?) von einem einzelnen Trompeter in alle 4 Richtungen geblasen. Wochenende!
Diese Suche hatte ich vor vielen Jahren schon einmal durchgeführt und war im alten MGG fündig geworden. Die damals rot unterstrichenen Abschnitte möchte ich noch scannen, Stichwort Gemeindegesang, Autor Walter Blankenburg, mir seit 1982 bekannt durch das dtv-Büchlein über das Weihnachts-Oratorium.
[Zur frühen Praxis des Choralsingens MGG (alt) „Gemeindegesang“]
Am besten zeigen wohl die kaum noch homophon zu nennenden, figurierten Eccardschen Sätze [1597] , daß ihr Zweck keinesfalls die harmonische Stützung des Gemeindegesangs, sondern ein Nebeneinanderwirken von Chor und Gemeinde sein sollte. Durch die Kantionalien erfährt man nun erstmals etwas Gewisseres über das Zeitmaß des Gemeindegesangs im Reformations-Jahrhundert. Während Osiander allgemein forderte, daß „die Schüler sich in der Mensur oder Takt nach der Gemein allerdings richten und in keiner Noten schneller oder langsamer singen, denn eine christliche Gemeine sebigen Orts zu singen pflegt, damit der Choral und figurata musicafein beinander bleiben nund beide einen lieblichen Concentum geben“, lautet es in Eccards Vorwort: „Endlich vnd zum Beschluß / wil ich einen jeglichen Cantorem hiemit obiter gantz freundlich erinnert haben / das er im singen der Kirchen Lieder / sich einen feinen langsamen Tacts befleissigen vnd gebrauchen wolle / da durch wird er zu wege bringen / das der gemeine Man die gewöhnliche Melodiam desto eigentlicher hören / vnd mit seiner Cantorey vmb so viel leichter vnd besser wird fortkommen können.“
Daraus ist zu entnehmen, daß die Gemeinde langsamer als die Chöre zu singen pflegten. wenn für diese der integer valor des menschlichen Pulsschlags maßgebend war, so wird im allgemeinen für den Gemeindegesang ein etwas ruhigeres Zeitmaß angenommen werden müssen. –
Das Generalbass-Zeitalter brachte im 17. Jahrhundert infolge des barocken Bedürfnisses nach der Darstellung von Affekten allmählich das Verlangen von Harmonisierungen der Gemeindeliedweisen mit sich. In dieser Zeit begegnen die Anfänge des durch die Orgel begleiteten Gemeindegesangs. […] Freilich lassen solche Gesangbücher nicht schon auf Gemeindegesang-Begleitung durch die Orgel in ihren Entstehungsorten schließen, denn sie waren ja mindestens ebensosehr für die Hausandacht wie für den öffentlichen Gottesdienst bestimmt. Es zeigt sich hier nur das jetzt allgemein werdende Bestreben zur gesangbuchmäßigen Behandlung des Kirchenliedgesangs, die u.a. eben auch zur Orgelbegleitung geführt hat. Daß der natürliche Anknüpfungspunkt für den Begleitsatz der Kantionalsatz war, obwohl dieser, wie gesagt, einen anderen Zweck verfolgte, versteht sich von selbst. Die Orgel ist als Begleitinstrument für den Gemeindegesang diesem im Laufe der Geschichte nun freilich wenig förderlich gewesen; das wurde früh erkannt. So hat sie fraglos einen besonderen Anteil an einer allgemeinen Verlangsamung des Gemeindegesangs, die noch im Laufe des 17. Jahrhunderts wiederum um des affekthaften Ausdrucks beim Singen willen einsetzte und sich vom integer valor immer weiter entfernte. Nicht eigentlich durch die Orgelbegleitung hervorgerufen, aber mit ihr im Bunde ging die Tendenz zur totalen Isorhythmisierung des Gemeindegesangs von etwa nach der Jahrhundert-Mitte ab, eine der folgenschwersten Wandlungen während seiner Geschichte, nachdem im frühen 17. Jahrhundert unter dem Einfluß weltlicher Geselligkeitslieder, vor allem der Kanzonette und des Balletto, noch einmal besonders ausgeprägte rhythmische Melodietypen durch Männer wie J.H.Schein, M.Vulpius, M.Franck, J.Crüger, J.Ebeling u.a. in den Gemeindegesang gekommen waren. In der Folgezeit herrschte aber nun nicht nur in den Neuschöpfungen die Isorhythmik vor, es sei denn, daß vom weltlichen Solo-Arienstil der Krieger, Ahle usw. diesem besonders eigene rhythmische Schlußwendungen oder daktylischer Dreiertakt übernommen wurden, sondern man nahm nun auch die rhythmische Planierung aller älteren Kirchenweisen vor und versah zudem vielfach die Weisen mit dehnenden Zwischennoten. In dieser Zeit, der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, sind wahrscheinlich auch die Fermatensetzungen zwischen den einzelnen Melodiezeilen aufgekommen, was im Zeitalter von Kanzonette und Balletto höchstens vereinzelt schon vorstellbar ist. Es gibt einen untrüglichen Beweis dafür, daß gegen Ende des 17. Jahrhunderts allenthalben Zeileneinschnitte beachtet wurden, nämlich die um diese Zeit aufgekommenen Zeilenzwischenspiele (sog. Passagen) der Orgel, die für ca. anderthalb Jahrhunderte dem Gemeindegesang sein Gepräge geben sollten. Daß nach heutiger Vorstellung dieser dadurch nicht gefördert, sondern wesentlich gehemmt wurde, bedarf keiner besonderen Begründung.
Quelle MGG (alt) Band 4 Artikel „Gemeindegesang, B. Evangelisch“ / Autor: Walter Blankenburg / Bärenreiter Verlag Kassel und Basel 1955 /
Erinnern Sie sich, was mich neuerdings wieder auf den Choral-Trip gebracht hat? Nein, müssen Sie nicht, vielleicht sind Sie neu hier!!! Es war diese einzigartige Weihnachts-CD, die man – wie ich finde – zu jeder Jahreszeit hören kann; sie ist ja auch im Sommer entstanden, wie man erfährt. Und sie trifft einen Nerv unserer Zeit, – nicht nur meiner Lebenszeit. Und bei mir nicht nur, weil mein Sohn im Hintergrund bei der Redaktion dieser CD beteiligt ist, und nicht nur, weil ein Freund hinter der ganzen Produktion steht, Walter Nußbaum mit seiner Schola Heidelberg. Es kommt vieles zusammen, kein Wunder, dass die erste Auflage der CD nach zwei Wochen ausverkauft war, – ich muss nicht die Werbetrommel rühren. Ich sehe auch das Titelbild sehr gern und die weiße Fermate, die im Hintergrund schwebt, wie der Heilige Geist, denke ich, – auch wenn ich ihn mir lieber bei Hegel als in der Bibel vorstelle. Aber auch die Texte, die ich höre, rühren mich an, sowohl die gesungenen als auch die von Bodo Primus gesprochenen des Philosophen Enno Rudolph. Für mich die Krönung der Corona-Zeit. Um noch einmal Giovanni di Lorenzo zu zitieren: „… die Angst war wie weggeblasen…“.
Oder im externen Fenster hier. Oder auch über jpc, wenn es um das physische Original geht.
Ich habe eben den Philosophen (und Theologen) Enno Rudolph erwähnt; vielleicht glauben Sie, dass hier durch die Hintertür doch wieder ein „harmloser Brauch“ beschworen werden soll, der gedanklich nichts kostet. Mitnichten. Die Zeit ist anders. Das spürt man auch, wenn derselbe Autor ein Riesenwerk behandelt, das die gesamte philosophische Vergangenheit des Abendlandes auf 1000 Seiten vorüberziehen lässt. Und darin gebe es kein einziges überflüssiges Wort, meint unser Autor. Mehr davon: Hier. (Enno Rudolph über Jürgen Habermas)
Hier fehlt noch ein besonderer Choral. Ich weiß zwar schon welcher, aber ich muss ihn noch etwas schöner abschreiben – für Klavierspieler – und eine Aufnahme des Orchesterstücks suchen. Ich vermute, dass der Komponist bei dem Entwurf eines seiner letzten Werke 1943 an die verlorene Heimat gedacht hat, vor allem an seine Mutter. Während mir plötzlich ein anderes Kind (mit Oma) in den Sinn kam, – in der Zeit vor rund 20 Jahren. Zugleich denke ich an den kleinen Bartók mit seiner Trommel, und die Mutter, die ihn ermutigte. Sehe das seltsam erwachsene Kind auf dem Bild von Hieronymus Bosch. Wir sind von Vergangenheit eingehüllt. Und wo bleibt der gesuchte Choral?
JMR hat mich drauf gebracht, besaß dieses Exemplar sogar doppelt, gelesen gleich im Anschluss, aber wie so oft: unter wachsendem inneren Widerstand, der sich erst nachträglich auflöste und zu wiederholtem Lesen nachts vor dem Einschlafen führte. Kein Witz. Am Tag nachprüfend, ob die Schauplätze vielleicht noch existieren. Aber gewiss! Sie existieren. Man kann gleich alles bei Google eingeben, was der Erzähler, das „ich“, beim Namen nennt – den Fluss Thaia, dort, wo „wie oft die Nadeln bei Kristallbildungen, (…) ein Gewimmel mächtiger Joche und Rücken gegeneinander“ schoß, dann Thomasgipfel, Thomasturm, St. Thoma und schließlich Wittinghausen. Und wenn nach 6 Seiten Landschaft der Transfer in die Vergangenheit geschehen soll, so mit diesen direkten Worten an den Leser:
Und nun, lieber Wanderer, wenn du dich satt gesehen hast, so gehe jetzt mit mir zwei Jahrhunderte zurück, denke weg aus dem Gemäuer die blauen Glocken, und die Maßlieben und den Löwenzahn, und die andern tausend Kräuter; streue dafür weißen Sand bis an die Vormauer, setze ein tüchtig Buchentor in den Eingang und ein sturmgerechtes Dach auf den Turm, teile die Gemächer, und ziere sie mit all dem Hausrat und Flitter der Wohnlichkeit – dann, wenn alles ist wie in den Tagen des Glückes, blank, wie aus dem Gusse des Goldschmiedes kommend – – dann geh mit mir die mittlere Treppe hinauf in das erste Stockwerk, die Türen fliegen auf – – – Gefällt dir das holde Paar?
Es sind die Töchter Heinrichs des Wittinghausers, in dessen Wohnung du dich befindest – Wittinghausen hieß vorzeiten das Schloß, ehe es von einem in der Nähe erbauten und nun ebenfalls verfallenden Kirchlein den Namen St. Thomas erhielt.
Die Jüngere sitzt am Fenster und stickt, und obwohl es noch früh am Morgen ist, so ist sie doch schon völlig angekleidet und zwar mit einem
etc.etc. hier sollen wir uns gleichsam in ein lebendes Gemälde aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges versetzen. Und erst nach rund 115 Seiten verlassen wir die Szene und die unerhörte Zauberwelt des Waldes ringsum auf folgendem Wege:
Die Schwestern lebten fortan dort, beide unvermählt. Johanna war eine erhabne Jungfrau geworden, rein und streng, und hatte nur eine Leidenschaft, Liebe für ihre Schwester. Clarissa liebte und hegte Ronald fort und fort; [man weiß inzwischen: sie hegt ihn und ihre Liebe auf ewig in Gedanken…JR] in den goldnen Sternen sah sie seine Haare, in dem blauen Himmel sein Auge, und als einmal ein Zufall jenes feenhafte Gedicht des britischen Sängers auf ihre Burg herüberwehte, so sah sie ihn dann oft als den schönen elfigen blondgelockten Knaben auf seinem Wagen durch die Lüfte schwimmen, den Lilienstängel in der rechten Hand, ihr entgegen, der harrenden Titania. Selbst, als sie schon achtzig Jahre alt geworden, und längst ruhig und heiter war, konnte sie sich ihn nicht anders denken – selbst wenn sie ihn noch lebend träumte und einmal kommend – als daß er als schöner blondgelockter Jüngling hereintrete und sie liebevoll anblicke. Wenige Menschen besuchten die seltsame verwitterte Burg, nur ein einziger Ritter ritt zuweilen ab und zu.
Eines Tages blieb er auch aus – er war gestorben. Daß die Schwestern sehr alt geworden, wußte man bis in die neuesten Zeiten, und der Hirt zeigte die Kammer derselben, aber kein Mensch kennt ihr Grab; ist es in der verfallenen Thomaskirche, oder deckt es einer der grauen Steine in der Burg, auf denen jetzt die Ziegen klettern? – Die Burg hatte nach ihnen keine Bewohner mehr.
Westlich liegen und schweigen die unermeßlichen Wälder, lieblich wild wie ehedem. Gregor hatte das Waldhaus angezündet, und Waldsamen auf die Stelle gestreut; die Ahornen, die Buchen, die Fichten und andere, die auf der Waldwiese standen, hatten zahlreiche Nachkommenschaft und überwuchsen die ganze Stelle, so daß wieder die tiefe jungfräuliche Wildnis entstand, wie sonst, und wie sie noch heute ist.
Einen alten Mann, wie einen Schemen, sah man noch öfter durch den Wald gehen, aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging.
* * *
Was hatte mich an dem Stifter-Text eigentlich beim ersten Lesen so gestört? Der immer hohe Ton, diese Manie, alles Sichtbare als Wunder schlechthin betrachten zu wollen. Wie oft kommt das Wort „schön“ oder „wunderschön“ vor? gefühlt wohl tausendmal auf 20 Seiten. Dieser Wald erinnerte mich an Bilder aus dem Biologiebuch, die ich als Kind gern und lange betrachtete: da waren wie zufällig alle möglichen Kleintiere über die Wiese verstreut, Fuchs, Maus, Maulwurf, Falter und Käfer aller Arten. Wie enttäuscht war ich, wenn sich in der echten Natur nur wenig abzuspielen schien, wenn nicht gerade Frühling war und die Vögel sangen.
Und was hat sich inzwischen bei mir geändert? Ich begreife, dass es letztlich um Texte und Gedankenbilder geht, nicht um die Suggestion eines Wanderführers, auch wenn die geschilderten Berge und Seen der realen Topographie entsprechen. Suchen wir denn nach wortloser Realität? Etwa auf diesem Wege hier? (Die Antwort könnte lauten: ja, unter anderem auch das. Aber Stifter folgt uns auf dem Fuße.)
* * *
„Doch nun zuerst ein bisschen Musik!“ (Die übliche Anmoderation im Radio.)
Die Vorstellung von Frischluftzufuhr hat mir gefallen, und im Kontext von Musik verstehe ich unversehens darunter auch eine gewisse Respekt- oder wenigstens Furchtlosigkeit, was ja zur lebendigen Klassik-Interpretation durchaus passen würde. Christian Seiler ist wohl der bekannte Journalist der Schweizer Kulturzeitungen, geht aber wohl nicht oft in Liederabende, sonst würde er anders darüber schreiben. Man ahnt ja, was den Leuten missfällt, die nur zufällig da hineingeraten. Die gekünstelte Artikulation, die sängerische Hypermimik, Augen aufgerissen, sinnlos lächelnd und unentwegt ins Nichts grüßend. Dergleichen habe ich genug in der Hochschulzeit erlebt, wo man aus Sympathie und Mitgefühl alles lobenswert fand, zumal man selbst keine bessere Figur abgab. Aber heute gehe ich nicht einfach in Liederabende, sondern in bestimmte Konzerte mit bestimmten Sängern oder Sängerinnen. Ich muss wissen, wer da singen wird und – welches Vibrato mich da erwartet. Meist ist es mir schlicht zuviel. Um aber hier statt abschreckender Beispiele nur zwei wunderschöne Vibratos zu nennen: Magdalena Kožená und Christian Gerhaher. (Und ich würde auch Florian Boesch sofort als angenehme Überraschung einbeziehen.) – Seltsamerweise kommt Christian Seiler – damit hätte ich nicht gerechnet – sofort auf das Klavier zu sprechen, auf „lauten, etwas flächigen Klavierbombast“ und „auf eine Stimme, die sich mit der Ausreizung der eigenen Möglichkeiten dagegen zur Wehr setzt.“ Das resultiert aus der im Laufe des 19. (Lied-) Jahrhunderts zunehmenden Bedeutung des Klaviersatzes, der substantiell ist. Aber was dann? Wenn man keine Orchestervariante auffahren kann, braucht man eine eindeutig melodiebetonte Auswahl – also die bekanntesten Titel der frühen romantischen Liederepoche – sowie deren Einbettung in ein klangliches Umfeld der schönen Überraschungen. Was mit dem bunten Instrumentarium und den typischen Franui-Ideen gegeben ist. Was mir aber als erstes auffiel (zugegeben, bei der Abspielung auf einem mittelalten Koffergerät), war der Eindruck: da stimmt was nicht! Der Sänger klingt wie aus einer separaten schallgedämpften Kammer, nicht vorne an der Rampe präsent, er ist knapp hinter den andern postiert, etwas dumpf, – oder ist das „verpolt“? Vielleicht eher absichtlich „unpoliert“, leicht ungehobelt? Auf meiner edleren Vorführanlage steht der Sänger mittendrin, der Anführer einer Bande von Gleichgesinnten. Es ist ein Vergnügen, auch wo es wehtut („Der arme Peter“, „Ich hab‘ ein glühend Messer“). Fast alles Lieder, die ich seit den 60er Jahren unendlich oft gehört habe, begeistert, meistens innerhalb von Zyklen, oder irgendwo zuhaus mit Freund(inn)en zusammen und einander einzelne Aufnahmen präsentierend. Ihnen allen möchte ich das jetzt vorführen, und man muss weiß Gott nicht mehr diskutieren, es genügt dabei zu lachen, zu träumen und zu lauschen. Nichts, was einen stört oder runterzieht, „wir sehnen uns nach Hause / Und wissen nicht wohin?“ Ja, aber es ist auch: „Alles wieder gut“ – im Mahlerschen Sinne.
Noch mehr im Angebot? (Unbedingt! Auch aus gesundheitlichen Gründen.) Ich habe aus einer Essener Ausstellung ein Bild in Erinnerung, wo jemand in der Nähe eines Kruzifixes die Krücke weggeschmissen hat, o Gott, ein Wunder, das hat mich sehr abgestoßen. Dabei war Caspar David Friedrich für uns seit frühester Zeit sozusagen unser Hausmaler, – er hing mit den Schiffen an der Wand, weil er auch ein Greifswalder war, und da wussten wir noch nichts von Symbolik. Abendrot (oder Morgenrot) ist immer gut und will fein gemalt sein. Aber ich will nicht spotten, morgen fahren wir hin und lassen es an Zuneigung nicht fehlen. Zumal sich hier eine Brücke zwischen der allerersten und der spätesten Heimat fühlen lässt. Historienbilder der Düsseldorfer Malerschule? Das Plakat der Ausstellung 1999 hängt jetzt noch in meinem Übezimmer, weil es so gute Stimmung macht.
Promenade durch Bilder einer Ausstellung
2 Carl Friedrich Lessing: Schlesische Landschaft / 4 Caspar David Friedrich / 5 C.D.F.: Segelschiff / 6-7 Andreas Achenbach: Ein Seesturm an der norwegischen Küste / 8 Johann Wilhelm Schirmer: „Parthie“ an der Düssel mit Pestwurz (Wiesenbach) / 9 C.D.F.: Das Friedhofstor / 10 ??? Eichengruppe / 12 Carl Gustav Carus: Die Kahnfahrt auf der Elbe bei Dresden / 13 C.D.F.: ? / 14-15 Carl Friedrich Lessing: Die tausendjährige Eiche / 16 Johann Peter Hasenclever: Die Sentimentale / 17 C.D.F.: Stadt bei Sonnenaufgang /
Bleiben Sie gesund!
. . . . .
Frischluftzufuhr! Bleiben Sie bloß gesund!
(Abschließend: Wirklich aus der Zeit gefallen / Massive Erinnerung an Tripoli 1967)
Um halb vier Uhr des Morgens war es schon ganz hell, aber die Sonne war noch nicht zu sehen. Wenn man da oben am Berg an den Malgen vorbeikam, lagen die Rinder auf den Wiesen in der Nähe halb wach und halb schlafend. In mattweißen steinernen großen Formen lagen sie auf den eingezogenen Beinen, den Körper hinten etwas zur Seite hängend; sie blickten den Vorübergehenden nicht an, noch ihm nach, sondern hielten das Antlitz unbewegt dem erwarteten Licht entgegen, und ihre gleichförmig langsam mahlenden Mäuler schienen zu beten. Man durchschritt ihren Kreis wie den einer dämmrigen erhabenen Existenz, und wenn man von oben zurückblickte, sahen sie wie weiß hingestreute stumme Violinschlüssel aus, die von der Linie des Rückgrats, der Hinterbeine und des Schweifs gebildet wurden. Überhaupt gab es viel Abwechslung.
(…)
Unter einem Strauch am anderen Bachufer brannte ein Feuer, das man über das neue Ereignis vergessen hatte, während es bis dahin sehr wichtig gewesen war; als einziger Zuseher stand daneben jetzt nur noch eine junge Birke. An dieser Birke war mit einem in der Luft hängenden Bein noch das schwarze Schwein gebunden; das Feuer, die Birke und das Schwein sind jetzt allein. Dieses Schwein hatte schon geschrien, als es ein einzelner bloß am Strick führte und ihm gut zusprach, doch weiter zu kommen. Dann schrie es lauter, als es zwei andre Männer erfreut auf sich zurennen sah. Erbärmlich, als es bei den Ohren gepackt und ohne Federlesens vorwärtsgezerrt wurde. Es stemmte sich mit den vier Beinen dagegen, aber der Schmerz in den Ohren zog es in kurzen Sprüngen vorwärts. Am anderen Ende der Brücke hatte schon einer nach der Hacke gegriffen und schlug es mit der Schneide gegen die Stirn. Von diesem Augenblick an ging alles viel mehr in Ruhe. Beide Vorderbeine brachen gleichzeitig ein, und das Schweinchen schrie erst wieder, als ihm das Messer schon in der Kehle stak; das war ein gellendes, zuckendes Trompeten, aber es sank gleich zu einem Röcheln zusammen, das nur noch wie ein pathetisches Schnarchen war. Das alles bemerkte Homo zum ersten Mal in seinem Leben.
Wenn es Abend geworden war, kamen alle im kleinen Pfarrhof zusammen, wo sie ein Zimmer als Kasino gemietet hatten. (…)
Eine Stunde nach Beginn lag in dem Pfarrzimmer eine Wolke von Traurigkeit und Tanz. Das Grammophon räderte hindurch wie ein vergoldeter Blechkasten über eine weiche, von wundervollen Sternen besäte Wiese. Sie sprachen nichts mehr miteinander, sondern sie sprachen. Was hätten sie sich sagen sollen, ein Privatgelehrter, ein Unternehmer, ein ehemaliger Strafanstaltsinspektor, ein Bergingenieur, ein pensionierter Major? Sie sprachen in Zeichen – mochten das trotzdem auch Worte sein: des Unbehagens, des relativen Behagens, der Sehnsucht – , eine Tiersprache.
(…)
Da wurde es sogar still, und der Major ließ Tosca spielen und sagte, während das Grammophon zum Loslegen ausholte, melancholisch: „Ich habe einmal die Geraldine Farrar heiraten wollen.“ Dann kam ihre Stimme aus dem Trichter in das Zimmer und stieg in einen Lift, diese von den betrunkenen Männern angestaunte Frauenstimme, und schon fuhr der Lift mit ihr wie rasend in die Höhe, kam an kein Ziel, senkte sich wieder, federte in der Luft. Ihre Röcke blähten sich vor Bewegung, dieses Auf und Nieder, dieses eine Weile lang angepreßt Stilliegen an einem Ton, und wieder sich Heben und Sinken, und bei alldem dieses Verströmen, und immer doch noch von einer neuen Zuckung Gefaßtwerden, und wieder Ausströmen: war Wollust. Homo fühlte, es war nackt jene auf alle Dinge in den Städten verteilte Wollust, die sich von Totschlag, Eifersucht, Geschäften, Automobilrennen nicht mehr unterscheiden kann – ah, es war gar nicht mehr Wollust, es war Abenteuersucht -, nein, es war nicht Abenteuersucht, sondern ein aus dem Himmel niederfahrendes Messer, ein Würgeengel, Engelswahnsinn, der Krieg? Von einem der vielen langen Fliegenpapiere, die von der Decke herabhingen, war vor ihm eine Fliege heruntergefallen und lag vergiftet am Rücken, mitten in einer jener Lachen, zu denen in den kaum merklichen Falten des Wachstuchs das Licht der Petroleumlampen zusammenfloß; sie waren so vorfrühlingstraurig, als ob nach Regen ein starker Wind gefegt hätte. Die Fliege machte ein paar immer schwächer werdende Anstrengungen, um sich aufzurichten, und eine zweite Fliege, die am Tischtuch äste, lief von Zeit zu Zeit hin, um sich zu überzeugen, wie es stünde. Auch Homo sah ihr genau zu, denn die Fliegen waren hier eine große Plage. Als aber der Tod kam, faltete die Sterbende ihre sechs Beinchen ganz spitz zusammen und hielt sie so in die Höhe, dann starb sie in ihrem blassen Lichtfleck am Wachstuch wie in einem Friedhof von Stille, der nicht in Zentimetermaßen und nicht für Ohren, aber doch vorhanden war. Jemand erzählte gerade: „Das soll einer einmal wirklich ausgerechnet haben, daß das ganze Haus Rothschild nicht so viel Geld habe, um eine Fahrkarte dritter Klasse bis zum Mond zu bezahlen.“ Homo sagte leise vor sich hin: „Töten, und doch Gott spüren, und doch töten?“ und er schnellte mit dem Zeigefinger dem ihm gegenübersitzemden Major die Fliege gerade ins Gesicht, was wieder einen Zwischenfall ergab, der bis zum nächsten Abend vorhielt.
Quelle Robert Musil: Grigia / aus: Drei Frauen / rororo Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1952 (1964) Zitat Seite 19ff
Fotos: JR
Viele der Bilder und Szenen habe ich nie vergessen, – die Fliege, die am Tischtuch äste – , das Buch hatte ich damals intensiv (mit Kugelschreiber) gelesen, auch die Auswahl am Ende und das Nachwort von Adolf Frisé. Dass man Rindern ein „Antlitz“ zuspricht! Kühe „wie Violinschlüssel“ kannte ich schon aus Deschners „Kunst, Kitsch und Konvention“ (1965), die Musil-Lektüre überhaupt war für einige Jahre maßgeblich. Was ich nicht kannte: die Stimme der Sängerin Geraldine Farrar, – und was ich bis heute nicht entschlüsselt habe: „Malgen“. Anlass der Re-Lektüre: die neue Reise nach Südtirol (Völs). Musils Schauplatz war das Fersen[a]tal mit den alten venezianischen Goldbergwerken, die wieder erschlossen werden sollten. Er kannte sich dort aus, zumal er im Ersten Weltkrieg an der Dolomitenfront stationiert war. Dort will ich mich nicht auskennen. Musils wunderbare Erzählung „Die Amsel“ habe ich in den 80er Jahren ausführlich in eine WDR-Sendung einbezogen. Wie die Amsel sang, – was für eine Beschreibung! -, und wie sie sagte: „Ich bin deine Mutter.“ Oh, das passte in dieses Jahr der Abschiede.
Doch zurück zu Musils Kriegserfahrung, die sich auch in der „Amsel“-Erzählung niedergeschlagen hat (Stichwort Fliegerpfeil). Man weiß kaum etwas über diese Zeit des Wahnsinns in dieser herrlichen Landschaft. In der Vorhalle derPfarrkirche Völs gibt es eine seltsame Ehrung der Kriegstoten:
von Ignaz Stolz (1921) – man lese auch die Lebensläufe seiner Brüder und den Wikipedia-Artikel über den Gebirgskrieg 1915-1918 hier. Man ist kuriert.
Das Foto des rororo-Covers darf so dunkel bleiben wie meine Erinnerung an die eigene frühe Zeit. Mir fehlte zum Beispiel noch jede Orienterfahrung… Und das Tor zur Gegenwart. An meinem gemaserten Holztisch, dort oben links neben dem Balkon, hinter dem kleinen Fenster.
Ich wähle Mozart, weil keine Musik leichter zu verstehen ist, man hört hin und weg. Sie ist so leicht, dass man dem eigenen Vergnügen nicht traut. Um bei mir selbst anzufangen: ich misstraue von vornherein den flotten Dreiklangsthemen und behänden Skalen, wogenden Tonleiterausschnitten und Arpeggien, aber auch allen Melodien, die das Frage-Antwort-Spiel anstimmen, das Öffnen und Schließen. Von der Tonika zur Dominante und von der Dominante zur Tonika. Da es aber in Wirklichkeit ganz anders geht, – das Andere etabliert wird, die Erneuerung der Töne -, stimmt bis hierher kein Wort, und Mozart hören bedeutet für mich: Alarmstufe 1. Nichts ist so wie es scheint. Und wenn ich sage: ich war verzaubert, so hat es dafür einige Zeit gebraucht, viele Einzelstücke, die ich geübt habe, vor allem zu hören geübt habe, bis sie mir fremd wurden, Wirkungen, die ich nicht verstanden habe. Auf Anhieb – ja, waren sie alle nur schön.
(Achtung beim Beginn der Musiken: möglicherweise startet es mit Werbung!)
Obiges Video im externen Fenster HIER (Geoffrey Parsons, Klavier)
Zweimal Barbara Bonney. Zwischenfrage: waren die Aufnahmen identisch?
Warum die Concertante für Bläser KV 297b hier folgt, – obwohl sie vielleicht gar nicht von Mozart stammt? Wegen des in jedem Fall schönen Seitenthemas, zu hören ab 1:27. Mir fiel auf, dass es sonst kaum ein (echtes) Mozart-Thema gibt, in dem fünfmal derselbe Ton hintereinander kommt, wie eben in diesem Lied, wo es vom Text her erklärbar wäre: die schlichte Aufzählung der Eigenschaften, fortwirkend im absteigenden Dreiklang samt kleinen Denkpausen, die „blauen, hellen, offenen Augen“: der Blick der Liebe und die Lust, ihn zu erwidern, das sind die zwei Hälften des Themas. Und es ist einfach. „Natur“.
Es lohnt sich, im Concertante-Thema zu beobachten, wie die Tonwiederholung dazu führt, das Verharren etwas dringlicher zu begründen und auszubauen, indem eine Zwischenmodulation eingebaut wird. Also – ab 1:27 !
Ich gehe eigentlich der Frage nach, warum mich dieses Lied besonders bezaubert, obwohl ich es – auf dem Papier – niemals für bedeutend gehalten hätte, – es lebt wie kaum ein anderes von der Interpretation und vielleicht auch noch von dem, was man sich dabei denkt (ja, und sei es im leicht anzüglichen Sinne). Bemerkenswert, dass man sich kaum daran stört, wenn das Lied von einer Frau gesungen wird; vielleicht hat man es auch gerade deswegen goutiert, weil man die Sängerin sogar rollenmäßig distanzierter wahrnehmen kann: sie singt den aus der Sicht eines Mannes geschriebenen Text, lediglich als „lyrisches Ich“.
Ausgerechnet dieses Lied hat den Sprach-Entertainer Roger Willemsen zu Gedanken über Mozart angeregt. Das Buch „Musik!: Über ein Lebensgefühl“ wurde nach seinem Tode zusammengestellt (S. Fischer, 2018):
Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber dies ist ein Gedicht vom Beischlaf – und zwar vom reinen Anschauen – über das Halten, Küssen, Busendrücken bis in die Post-Coitum-Traurigkeit – „ermattet, aber selig“. Aber jetzt hören Sie was Mozart daraus macht. Seine Frühlingsgefühle sind behände, kommen so leicht daher wie der Text, aber dessen zweite Ebene ist nicht mitkomponiert, anders gesagt: Mozart hatte offenbar keine Ahnung, was er da komponiert und hat eher die Natur im Blick als die Triebentfaltung.
Etwas Neckisches trägt sein Lied, es braucht viel Atem, auch Vibrato in der Stimme. Zwar gelingt ihm die Vermählung des Dramatischen mit dem Lyrischen auf engem Raum, aber die Textvorlage ist ihm so wichtig nicht, er komponiert munter über sie hinweg und sucht den eigenen Ausdruck der Musik. So gibt es keine textgebundene wirkliche Variation zwischen der ersten und der letzte – post coitum – Strophe. Hören Sie, was ihm zu den Wörtern „umschattet“ und „düster“ einfällt – Flutlicht. Wie er das „neben dir“ sinnlos wiederholt, wie die ganze letzte Strophe eben nicht das „omne animal post coitum triste“ enthält, sondern eine leichtherzige A-tempo-Stimmung, die über das Lied hinaushetzt, und auch die letzte Seligkeit ist nicht ermattet, sondern Fanfare. Was hätte Hugo Wolf, was hätte Schubert aus dieser Vorlage usw. usf.
Hat er recht? Natürlich nicht, er zeigt eine geschmäcklerische Feinsinnigkeit am unpassenden Objekt. Weiß er etwa, wie man das hätte komponieren sollen, – möglichst mit einem schwermütigeren Ausklang, „den eigenen Ausdruck der Musik“ brauchen wir hier nicht, die Lage ist zu ernst. Wie? und das hat Mozart nicht begriffen? Immerhin hat er auf 9 weitere Strophen von Jacobis Original verzichtet. Und in den hier verbliebenen 4 Strophen soll er noch über Wesentliches hinwegkomponiert haben? Enthält denn das wiederholte „neben dir“ nach dem „selig“ zu wenig Aussage? Lasst uns doch bitte vom Liebestod ein andermal reden…
Wikipedia (leider nur in englisch) ist wieder einmal lesenswert:
Zum Text
Jacobi’s poem consists of 13 four-line stanzas with an A–B–A–B rhyme scheme. Mozart, who found it in the Göttinger Musenalmanach from 1785, used only the first four. The stanzas not used tell how the lovers‘ happiness was cut short by betrayal and death. The „death“ in the third stanza refers to the height of passion after which the lovers release their embrace – la petite mort. From the ancient Greek novelDaphnis and Chloe, Chloe is the name of a shepherdess often used in poetic pastoral settings.
Anm.: Ungeklärt, ob es im Original (Mozart oder Jacobi?) „zitternd dich in meinen Arm“ heißt oder „… in meinem Arm“.
Zur Musik (die hier erwähnten Takte sind im obigen Notentext rot markiert)
The form of the composition is not strophic, but a rondo (A–B–A–C–A′) with a coda. The vocal line is independent from the keyboard accompaniment. Upward leaps in the melody in bars 8, 9, 13 indicate the lovers‘ delight, piano staccato in bars 21 and 23 depicts heartbeats, there are shivers (piano bars 24, 25, voice melisma 35, 36), breathlessness (mid-word rests in bars 41, 43), and fatigue (longer rests in bars 49 and 50, leading to a general pause in bar 51). The coda invokes operatic style in bars 65 to 70, and bars 62 to 65 employ sudden dynamic changes from the Mannheim school. The piano reuses its prelude below the voice in bar 67 and extends it to form a postlude. The first three verses are covered in 39 bars, while the fourth alone takes 30.
Wenn man einen solchen Artikel anfängt und in vielen kleinen Schritten fortführt, erwartet der Leser, die Leserin gewiss ein Ranking: zwei Sängerinnen, deren Leistung gegeneinander abgewogen wird, für diese, gegen jene, und draußen, in der Gesellschaft, wo man selbst in einem Ranking steht, wird daraus ein radikales Urteil, das differenziertere Meinungen unter den Tisch fegt. Man muss das nicht mitmachen, aber bei mir ist es nicht anders, ich könnte mich allerdings schon bei Willemsen länger aufhalten: er entschuldigt sich („bitte nehmen Sie es mir nicht übel“), denn er will das Wort „Beischlaf“ benutzen, und das ist ja nicht falsch; aber der Autor ist darum nicht ehrlicher als der Dichter Jacobi im 18. Jahrhundert. In Krimis sagt man unverblümt „er vögelt meine Frau“; vom „Fremdgehen“ zu sprechen, wird als zu schwach empfunden. Was ich gestern geschrieben habe über eine rollenmäßig distanzierte Sängerin und eine etwas anzügliche Ausdrucksweise, kann man als unzeitgemäß kritisieren. (Ich lese immerhin das 2019 nachgelieferte philosophische Enthüllungsbuch „Die nackte Wahrheit“ von Hans Blumenberg, und es steht in einer langen Reihe seit 1969 Ludwig Marcuses „obszön / Geschichte einer Entrüstung“.) Und heute morgen fiel mir auf, dass ich, über das eine Mozart-Lied sprechend, immer alle andern mitdenke, weil ich nicht zehnmal dieses eine höre, sondern gleich danach die ganze Serie und mir dabei sage: Mozarts Gestaltenreichtum ist es, den ich liebe, und wenn ich seine Lieder rühme, beginne ich vielleicht mit „Sei du mein Trost“ , weil es so ungewöhnlich anfängt und auf „Das Veilchen“ folgt…
Sei du mein Trost
KV 391 (Wien, 1781/82)
Johann Timotheus Hermes (1738-1821)
Sei du mein Trost, verschwieg’ne Traurigkeit!
Ich flieh‘ zu dir mit so viel Wunden,
Nie klag‘ ich Glücklichen mein Leid:
So schweigt ein Kranker bei Gesunden.
O Einsamkeit! Wie sanft erquickst du mich,
Wenn meine Kräfte früh ermatten!
Mit heißer Sehnsucht such‘ ich dich:
So sucht ein Wand’rer, matt, den Schatten.
O daß dein Reiz, geliebte Einsamkeit,
Mir oft das Bild des Grabes brächte!
So lockt des Abends Dunkelheit
Zur tiefen Ruhe schöner Nächte.