Das kindliche Repertoire (und die Geschichten dazu)
Das japanische Püppchen hat mich seit 1943 nie verlassen, in seinem transparenten Behälter überdauerte es die Zeiten.
Seltsamerweise war das erste nicht-europäische Orchesterwerk, das ich etwa 1958 kennenlernte (in einer Schulfunksendung auf Tonband) und unzählige Male hörte, ein Stück japanischer Hofmusik: „Etenraku“. Es elektrisiert mich heute noch. Aber die greifbaren Internet-Versionen sind mir zu „blass“. (Siehe auch hier.)
Aber wie geriet ich neuerdings in das Erinnerungsalbum, das meine Mutter seit 1940 angelegt hat (separat von dem meines älteren Bruders)? Ich wollte wissen, wann ich in der frühen Kindheit auf Kanons gekommen bin, – vielleicht verbringe ich deshalb lebenslang fast täglich eine gewisse Zeit mit Bachs Fugen. Ende 1942 ? ist es möglich, dass man sich bis ins zweite Lebensjahr zurückerinnert? (Das Gruppenbild auf der handschriftlichen Seite 1, unten links, stammt natürlich aus einer viel späteren Zeit (Lohe 1947 oder 48). „Im September fängt er mehr und mehr an zu sprechen. Eine Periode schneller geistiger Entwicklung folgt. (…) Anfang Dezember macht er überraschende Fortschritte im Sprechen.“ Jaja, ich bilde mir ein, dass ich das selbst bemerkt habe. … Ich erinnere mich sogar, dass ich im Kinderbettchen – wenn jemand zur Kontrolle ins Zimmer trat – mich durch Zeitlupenbewegung schlafend gestellt habe, um danach wieder ungestört randalieren zu können. Ein großer Schritt für einen so kleinen Menschen.
Im Arm meiner Mutter unser kleiner Bruder, der schon bald an Meningitis sterben sollte, ich auf dem Schoß meines Onkels (des Bruders unserer Mutter), der bald darauf zurück in den Krieg musste, aus dem er nie mehr wiederkehrte.
Dezember 1943: „Zu Weihnachten haben wir aber doch einen schönen Lichterbaum und glückliche Kinderherzen. Am 2ten Feiertag gehen wir ins Theater und sehen ‚Schneeweißchen und Rosenrot‘. Danach wird zu Hause nur noch Theater gespielt; Jan aber in der Hauptsache den Kasperle.“ An diesen Besuch im Theater erinnere ich mich nicht recht, an solche Rollenspiele aber doch. Und auch an den Sommer 1943 in Bad Oeynhausen und an unser Kanonsingen dort; aber das hatte wohl schon eher begonnen, wir müssen es in Greifswald gelernt haben. Ganz deutlich ist mir der Unfall mit der Eisenstange im Januar 45, einen Monat vorher war ich also 4 Jahre alt geworden. Und die Szene habe ich (wie auch einige andere) deutlich aus der Ich-Perspektive abgespeichert: ich war bockig, weil mein Bruder und sein Kumpan mich nicht mitmachen ließen: sie hatten eine tolle Eisenstange am Gartentor ausgehebelt und versuchten, sie gemeinsam hochzustemmen, ein ganz normales Abenteuer, aber sogar für größere Kinder viel zu schwer; sie kreischten „geh da weg!“, und das war der Punkt, wo ich sie abstrafen konnte, indem ich stehen blieb und hochstarrte. Wahrscheinlich mit offenem Mund, denn darin landete zielgenau der Endhaken der Stange. Als ich heulend zuhaus bei meiner Mutter ankam, schimpfte sie, als ob ich wieder einmal nicht richtig mitgespielt hatte, bis sie bemerkte, dass mir Blut aus dem Mund lief. Jawohl, das geschah ihr ganz recht, dass sie jetzt begriff, wie weh mir das tat! Ohne zu ahnen, dass es mir sogar ganz gut schmeckte.
Alle meine Lieder (über jedes könnte ich eine Geschichte erzählen):
Es geht ein Bi- Ba- Butzemann, Hänschen klein u.a.
Das Wandern ist des Müllers Lust
Oh wie wohl ist mir am Abend (Kanon)
Aba heidschi bum beidschi (und lässt das kleins Büable alleine daheim)
Waldeslust (meine Mutter, die liebt mich nicht)
Maikäfer, flieg (dein Vater ist im Krieg, Pommernland ist abgebrannt)
Macht hoch die Tür etc. (Advent, Weihnachten)
Im Frühtau zu Berge
My bonny is over the ocean
Hoch auf dem gelben Wagen (Schulausflug Lohe 1.Klasse mit Busfahrt)
Jesu geh voran auf der Lebensbahn (Kitscherfahrung, frömmelnde Veranstaltung)
Wie wir Kinder fremde Lieder hörten (1945):
„Gar nicht weit von uns hatten die russischen Besatzer ihr Quartier aufgeschlagen, und abends hörten wir aus der Ferne ihre russischen Lieder. Bernd und Jan konnten diese Lieder sehr bald singen, nicht die Worte, aber die Melodie, ganz echt.“ 7 Reisetage von Greifswald nach Bad Oeynhausen: „Auf den Bahnhöfen breitete Artur seine Kriegsdecke (?) aus und schob ihnen ihren Rucksack als Kopfkissen unter den Kopf. Sie waren trotz aller Strapazen immer bereit, den Mitreisenden ihre Russenlieder vorzusingen.“
Warum ich jetzt alldies in Erinnerung rief:
Magdalena Kožená SONGS MY MOTHER TAUGHT ME – unbedingt reinhören hier besonders Tr. 3, „Jabúcko“, dann 1, 2 ,3 und 23 „Ich träumte, du seist gestorben“. Tr.1 mit etwas verstellter Stimme. [Ich wünschte, es wäre die Stimme meiner Mutter. Aber deren Klang habe ich vergessen, dabei weiß ich doch, dass sie in der frühen Zeit viel mit uns gesungen hat. Wir hatten keine Ahnung, dass sie es gar nicht konnte, wie sie selbst meinte. Und ausgerechnet „Waldeslust“! Sie war später immerhin im Kirchenchor der Pauluskirche Blfld.]
(Fortsetzung folgt)
Von dem Lied „Waldeslust“ gab es (für uns) nur 1 Strophe und diese in abgeänderter (verfälschter) Form: „Waldeslust, Waldeslust, oh wie einsam schlägt die Brust, meine Mutter, die liebt mich nicht, meinen Vater, den kenn ich nicht, und sterben mag ich nicht, bin noch zu jung.“ Die zynische Pointe, die sich aus der falschen Vater-Zeile ergibt, war uns nicht bewusst. Bei der Mutter-Zeile protestierte zuweilen meine Oma. Bei der Vater-Zeile dachte ich: der war es doch, der sie nicht liebte. Das Wort „lieben“ kam uns aber sowieso übertrieben vor. Und das zweimalige „Waldeslust“ am Anfang klang für uns schon etwas parodistisch, zumal unsauber oder unsicher vorgetragen, manchmal auch absichtlich.