Archiv der Kategorie: Musik

Musik mit Implikationen

Toleranz und Intelligenz

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Sieht es wirklich so friedlich aus, wie wir es gerne hätten? Es ist offensichtlich nicht unproblematisch, links der Moslem, rechts der Christ. Aber kein Zweifel, sie spielen und hören einander zu. Es handelt sich um eine Abbildung aus den Cantigas de Santa Maria, und diese Maria genießt zwar im Islam und im Christentum gleichermaßen große Verehrung, – aber … im Judentum? Man lese über Alfonso el Sabio (1221-1284) hier und über Maria hier. Seien wir froh darüber, dass es diese Zeugnisse gibt, aber trotzdem sollte man mehrfach nachfragen, bevor man Schlüsse daraus zieht. Sollte man heute überhaupt noch von Religion reden, wenn es um Musik geht? Im Fall Johann Sebastian Bach (1685-1750) gebe ich gern zu, dass man etwas von Luther und auch vom Pietismus wissen müsste, sogar eine Anzahl von Chorälen verinnerlicht haben sollte. Aber zwischen den eben avisierten historischen Welten gibt es noch einen gewaltigen doppelten Riss, der durch die Geschichte gegangen ist, komprimiert in der Jahreszahl 1492.

Quelle Christian Geulen: Geschichte des Rassismus / C.H.Beck  München 2007 / Seite 38

Es gibt nicht viel Anlass, in einem früheren Abschnitt der Geschichte ein Goldenes Zeitalter des friedlichen kulturellen Miteinanders zu unterstellen. Vielleicht von Mensch zu Mensch, aber nicht zwischen organisierten Machtstrukturen. Auf der nächsten Seite dieses Büchleins ist vom ersten wahrhaft ‚globalisierten‘ Wirtschaftssystem der Geschichte die Rede. Gemeint ist der später so genannte „Dreiecks-Sklavenhandel zwischen Europa, Afrika und Amerika“, so zynisch das klingt. Die Folgen waren unterschiedlich, und überall in der Welt gab es Varianten solcher Begegnungen. Vernichtung oder Koexistenz waren nicht die einzigen Alternativen. Die spanischen und portugiesischen Kolonisatoren verhielten sich anders als die nordeuropäischen, mit der (nicht beabsichtigten) Folge, dass sich langfristig nur in Südamerika eine wirklich multiethnische Bevölkerung entwickelte, und so z.B. auch eine wirkliche Symbiose der Musikstile, die etwa zur Genese neuer Tanzformen führte. Volksmusik, – wenn ich das hier schon anführen darf. Und niemand dort hätte andere Ohren gebraucht.

Das hat allerdings nicht unbedingt mit dem Nahen Osten zu tun. Nichts in den verschiedenen Kulturen der Welt ist ohne weiteres 1 zu 1 übertragbar.

Konzentrieren wir uns also auf den ZEIT-Artikel, der sich weit entfernt von diesem Hintergrund in unserer Gegenwart entfaltet, – was soll es bedeuten: Mit anderen Ohren zu hören? All dies ausschalten? Andererseits die Warnung vor Vereinfachung, während sie massiv weitergetrieben wird. Der Rhythmus, essentieller Parameter der orientalischen Musik, kommt in dem Artikel gar nicht erst vor. Und vom Westen heißt es: „Der Gigant der abendländischen Musik, Johann Sebastian Bach, komponierte fast ausschließlich religiöse Musik.“ Das ist nicht wahr, ich muss es nicht aufzählen, von den Brandenburgischen Konzerten über die Goldberg-Variationen bis zur Kunst der Fuge. Da gibt es nun mal nichts, was mit den Meditationen bestimmter Sufi-Orden des Nahen Ostens vergleichbar wäre, die „über Jahrhunderte hinweg die Kaderschmieden klassischer Musik“ gewesen sein sollen. Das Wort klassische Musik ist auch nur ein Etikett, wie Volksmusik oder Kunstmusik. Wenn gesagt wird, dass ein Abend deutscher Musik mit dem Violinkonzert von Brahms und Stücken aus Ludwig Erks Deutschem Liederhort nicht denkbar sei, so steckt darin nur der wahre Kern, dass Brahms diese Sammlung nicht leiden konnte. Aber seine eigene Volksliedersammlung hätte er wohl gelten gelassen, und in jedem Radioprogramm wäre eine Liedergruppe nach seinem Violinkonzert oder vor den vierhändigen Ungarischen Tänzen denkbar.

Es grenzt an fahrlässige Pauschalisierung, aber man muss irgendetwas an Prämissen vorgeben, bevor man uns ein neues Hören empfiehlt; denn dies beginnt nun einmal nicht mit guten Vorsätzen, sondern mit (Geschmacks-)Bildung und knallharten Detailkenntnissen. Beginnen wir also mit besonders breiten Schubladen!

Meine Vereinfachung ad hoc

Die Musik wirkt anders auf die Menschen als etwa die Gebrauchsgraphik, wo ein sich wiederholendes Ornament den ganzen Raum füllen darf, ohne dass jemand sagt: die Wände langweilen mich, im Gegenteil, erst so entfaltet diese Kunst ihre belebende oder beruhigende Wirkung, auch – und gerade – als Hintergrund.

Die Musik bedarf der Zeit, macht durch ihre Präsenz fortwährend auf sich aufmerksam. Und da gibt es von vornherein eine Ökonomie der Mittel: Wenn ein Orchester dasitzt, soll es tätig sein; es wirkt deplaziert, wenn zwischendurch eine halbe Stunde lang nur kurze Liedchen mit Lautenbegleitung gesungen werden.

Wenn dagegen ein Trommler eine halbe Stunde untätig bleibt, während der Sitarspieler ein entsprechend großes Solo spielt, entspricht dies dem zugebilligten Rang der Melodie gegenüber dem Rhythmus und zugleich einem Sinn für Steigerung der Mittel, wenn nun beide Spieler zusammenwirken. (Beispiel Indische Musik.)

Und es gibt einen inhaltlichen Anspruch: die endlose Wiederholung einer leicht überschaubaren Melodie, selbst in diversen Abwandlungen, ist einem gebildeten Publikum, das adäquat beschäftigt sein will, nicht zuzumuten. (Ravels Bolero ist eine Ausnahme, zudem wiederholt er eine durchaus nicht leicht überschaubare Melodie, und die Steigerung der Mittel lässt ein in der Ferne – in 15 Minuten – winkendes Ziel erahnen.)

Volksmusik lebt von der Wiederholung, wie auch die einfache Choreographie des Volkstanzes. Das einzelne Lied lebt von den Strophen oder Zeilen mit einem Fortgang des Textes, der Tanz zudem von der hypnotischen Wirkung der Kreisbewegungen und auch vom Wechsel der Tanzarten (Rhythmen), von der Mode, den Bräuchen und der gesellschaftlichen Notwendigkeit.

Kunstmusik lebt von dem sinnvollen Aufbau größerer Gebilde, die Zeit brauchen und den Zeitaufwand lohnen. In der (alten!)  klassischen westlichen Musik ist dies bereits in Umrissen vorgezeichnet durch bestehende, erprobte Formen wie Oratorium, Kantate, Sinfonie (Sonate), Konzert für Solo und Orchester und ähnliches, in der klassischen orientalischen durch die Aussicht auf eine große, detaillierte Darstellung eines Maqams (Dastgah, Raga), solistisch oder im Ensemble, auch innerhalb bestimmter Formen (Nouba, Qasida, Tawsih, Taqsim, Daramad).

Die Wahrnehmung solcher Gebilde erfordert Bildung: die Fähigkeit der fesselnden Darstellung (Künstler) und des kennerhaften Nachvollzuges (Publikum).

Es genügt also nicht, (vorläufig) reizvolle neue Farben zum Verwechseln ähnlich wiederzugeben (Weltmusik mit „fremdkulturellen“ Akzenten), exotistische Einzelstücke im exotischen Outfit zu bieten, aneinandergereiht nach mehr oder weniger zufälligen geschmacklichen Erwägungen.

Je mehr man weiß und kennt, desto empfindlicher wird man gegenüber falschen Tönen und geistlosen Imitaten. Auch weltanschaulich oder ethisch, im Umgang miteinander. Dies aufzuzeigen, ist wohl auch der Sinn des ZEIT-Artikels, der aber zugleich mit Illusionen spielt: als sei im Rahmen von Konzerten, die sich an Pop-Sessions orientieren, eine Differenzierung zu lernen, die sonst jahrelanger Übung bedarf.

Was nicht hilft (aber auch nicht schadet): der bloße Wille zur Toleranz, gerade gegenüber dem, was geschmacklich (in der Vermischung) misslungen scheint. Sie braucht keine Begründung. Und es ist sogar unnötig, den anderen Mitmenschen im eigenen Land, andere Ohren zu wünschen.

Die Sorge des ZEIT-Artikel-Autors mag dennoch begründet sein:

Brot backen, Yogi werden, fremde Sprachen entdecken: Das Angebot an virtuellen Bildungsmöglichkeiten während der Corona-Krise ist überwältigend. Von diesem Appetit auf Neues profitiert in Deutschland auch die nahöstliche Musik, deren Bekanntheit durch die Zuwanderung der letzten Jahre ein ansehnliches Niveau erreicht hat. Rasch haben westlich ausgebildete Geiger oder Cellisten syrische Volkslieder oder „arabische Tonleitern“ erlernt, Wohnzimmerkonzerte mit der Kurzhalslaute Oud oder der Kastenzither Kanun werden über Facebook tausendfach geteilt. Das Ganze nennt sich dann „orientalische“, „türkische“ oder „arabische“ Musik und ist fast immer volkstümlich konnotiert. Klänge „aus Tausendundeiner Nacht“ eben.

Er hält das für Marketingstrategien. Man könnte aber auch hier globale Toleranz fordern. Daher ist die Schlussfolgerung interessant, – welcher Gewinn winkt uns?

Was ist der Zweck des ZEIT-Artikels?

ZITAT:

Warum ist es wichtig, dies zu verstehen? Ein klischeefreies Hören nahöstlicher Musik kann dem europäisch geschulten Geist neue Horizonte eröffnen. Diese Musik in ihrem künstlerischen wie historischen Reichtum zu erfahren könnte ein bedeutender Schritt sein bei der Überwindung eines eurozentrischen Weltbildes, das unseren Blick auf Musik und Philosophie genauso verzerrt wie auf Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik. Die Welt mit anderen Ohren zu hören wirkt mindestens so bereichernd, wie sie mit neuen Augen zu sehen.

Also: Bereicherung? Gewiss, man soll den Begriff nicht überfrachten, gemeint ist offenbar das Erleben von geistigen Reichtümern, die man gar nicht im aggressiven Sinn erobert.

Was bringt uns diese Einsicht? Ein klischeefreies Hören nahöstlicher Musik? Was ist mit indischer, vietnamesischer, indonesischer Musik? Wieviel darf es denn sein zur „Überwindung eines eurozentrischen Weltbildes, das unseren Blick auf Musik und Philosophie genauso verzerrt wie auf Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik.“

Soviel auf einmal!? Nach dem Mozart-Effekt eine Art Makam-Effekt. Ich wäre der letzte, der sich darüber nicht freuen würde, könnte aber auch an die von Mantle Hood geforderte Bi- oder gar Multi-Musikalität erinnern. Es bleibt also schier unendlich viel zu tun. Bevor wir auf  Philosophie, Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik kommen.

Was für eine Illusion!

Die Toleranz ist nicht alles. Die Intelligenz des Menschen ist auch dazu da, grundsätzliche Differenzen zu erkennen. Deshalb bin ich gleich mit dem Rhythmus gekommen. Ich hätte auch vom Gebrauch der Harmonien anfangen können. Oder davon, dass sie im klassischen Sinn bei uns eigentlich nur noch in Pop und Volksmusik verwendet werden, und dass sie der unversöhnliche Feind der fein ausgebildeten Makam-Ohren sind…

Beides große Erfindungen der musikalischen Menschheit.

Gesicht(er) des 19. Jahrhunderts

Mein neuestes Buch ist 7 Jahre alt und …

 Leipzig 2013

… begeistert mich vollständig! (Dank an E.R.)

Ich hätte auch schreiben können: stimmt mich zwiespältig. Und so bin ich nicht unglücklich, wenn die Wiedergabe des Artikels im Smartphone das obige Titelblatt spaltet. Inhaltlich führt der rückseitige, vergrößerte Text in die richtige Richtung. (Bitte anklicken!)

Mit diesen drei Gestalten kommt auch alles visuell Erschreckende und Bombastische des „romantischen“ Jahrhunderts zum Vorschein, der Anfang der Moderne, der intendierte große Umschwung, der sogenannte Fortschritt, das Gesicht des 19. Jahrhunderts.

Ein kleiner Druckfehler sei vermerkt (sehe ich meist beim Aufschlagen eines Buches) Seite 16: Thomas Mann hat sicher nicht von Wagner als einem „theatroromanischen Kostümfex“ gesprochen. Sondern… ?

Der Preis für diesen Prachtband ist sozusagen nicht erwähnenswert, es ist die Hälfte oder ein Drittel des normalen Kinobesuchs, bietet jedoch großes Kopfkino und für die Länge von 10 Spielfilmen Staunen und Vergnügen. Man sollte aufmerksam die Inhaltsübersicht studieren, auch wenn sie bei mir etwas angegraut aussieht, sie steht auf schneeweißem Grund.

Aber jetzt schauen Sie HIER 

Wer hat das so schön gestaltet?  Alexandra Matzner / Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publikationen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.

Eine frühe Erinnerung aus dem Bücherschrank meines Vaters (was kannte ich von Brahms? die Klaviertrios in c-moll und C-dur mit seinem „Bielefelder Kammertrio“), die Biographie von Heinrich Reimann, das Original aus dem Jahre 1911.

Ich habe mir dank Brahms den Namen „Max Klinger“ gemerkt (ohne ihn besonders zu mögen, wie etwa Arnold Böcklin – wegen seiner „Toteninsel“), hatte keine Ahnung, dass Klinger hier sich selbst am Klavier dargestellt hat:

Und als ich in den frühen 50er Jahren mit extensiver Karl-May-Lektüre vom Wilden Westen in den ebenso Wilden Osten kam, da begann ich aus Sympathie für Kara Ben Nemsi eine Liste arabischer Sätze zusammenschreiben, in der Annahme, dass ich das einmal brauchen könnte.

(Fortsetzung folgt)

Orgeln

Netze spinnen

Ich staune selbst, wenn ich einen eigenen Blogeintrag suche und oben im Fensterchen ‚Orgel‘ eingebe: wie oft ich doch „erinnerungstechnisch“, also gedanklich und mit banger Sehnsucht, in die Zeit zurückgekehrt bin, als wir in Bielefeld neben der Pauluskirche wohnten. Da ist eigentlich nichts zurückwünschenswert, aber jede dieser CDs von heute, die manchen Zeitgenossen nur old-fashioned dünken, hat für mich mit Jugend zu tun. Das war tatsächlich mein Kulturzentrum, das ins Ende der Kindheit strahlte und seltsamerweise auch die Pubertät „umspielte“, die bei vielen Jugendlichen irrtümlich zum Bruch mit der angeblich uncoolen Klassik führt. In diesem Fall öffnete sich eine weite Welt, in der selbst mein Vater nicht ganz zuhaus war: Bach-Motetten (Kirchenchor „Der Geist hilft“), Kantaten (Trompete C-dur „Jauchzet“), Matthäus-Passion (Radio mit Klavierauszug), Weihnachtsoratorium (private Archiv-Schallplatten, Hörstunden mit einem Freund im Gemeindehaus), Orgel (ein paar Monate Unterricht, das neue Instrument in der Kirche, Einweihung durch Michael Schneider, Vater von Christian). Der Geruch auf der Empore, der hörbare Blasebalg, der Staub, die Kirchenfenster. Etwas davon hier.

Es gab viele markante Punkte, die diese frühe Färbung betrafen, einer zum Beispiel, Jahrzehnte später, brachte mir die unverhoffte Aufgabe, Texte über Max Regers Orgel-Phantasien zu schreiben. Nicht mit fliegenden Fahnen übernommen, sondern zögerlich, endlos abtauchend mit Kopfhörern, – war das wohl Anfang der 90er Jahre? Jedenfalls gab es ein Ergebnis dazu: Hier.

Nachtrag 27.07.2020 (à propos Netze spinnen…)

Eberhard Essrich, der Kantor der Pauluskirche in Bielefeld (später Lüdenscheid) begann mit „Acht kleine Präludien und Fugen“, die Noten habe ich geliebt und besitze ich noch (5 andere Orgelbände von Bach haben sich dazugesellt). Sie sind aber in Ungnade gefallen, als ich hörte (ich hätte sogar Ähnliches im Vorwort von Karl Straube lesen können), sie seien von einem Schüler komponiert (dumm von mir!). Die Pausen links außen = E.E., die Pedalbezeichnung: JR. Zum Rekapitulieren ein Link: hier. Heute, nachdem der größte Teil dieses Artikels bereits fertig vorliegt, ist mir in einem Aufsatz von Werner Breig ein Exkurs aufgefallen, der mich in eine ähnlich „ent-täuschende“ (im wörtlichen Sinn) Situation bringt. Doch das füge ich erst nach Fuge BWV 546 ein…

All das kehrte jedenfalls jetzt zurück, als ich diese Internet-Podcasts entdeckte. Mehr über die Interpretin, die uns in diese Welt einführt, im Wikipedia-Artikel Susanne Rohn. Mir gefällt die unkomplizierte Art, wie sie an ein so großes Unternehmen herangeht, sie präsentiert keine umfangreichen Analysen, sondern sagt das, was sie auch Orgelschülern im Unterricht sagen würde. Es erinnert mich an die Zeit Mitte der 50er Jahre, als mein Vater mit mir penibel die Harmonielehre von Louis-Thuille durchging, während Kantor Essrich im Zuge des Orgelunterrichts sagte: Harmonielehre kann man doch in drei Wochen lernen, und so hielt er es mit uns, um uns sobald wie möglich Bach-Choräle mit Bezifferung sauber ausarbeiten zu lassen. Eine provisorische, aber sehr effektive Musikwerkstatt. – Für die hier ausgewählten Beiträge betätigt man übrigens immer die neben das Bild gesetzte Anklickmöglichkeit, die ein externes Fenster öffnet. Ich beschränke mich vorweg auf kurze inhaltliche Hinweise. Wenn Sie den betreffenden Podcast hören und sehen wollen, also bitte jeweils auf extern: Hier klicken, bei den (Screenshot-) Bildern selbst ergibt das nur eine Vergrößerung, die natürlich auch erfreulich sein kann.

Die kleinste Orgel

 extern: HIER

Wieder einmal: Was ist eine Fuge? (am Beispiel BWV 546)

 extern: Hier

Frage: Und warum nicht an der Bach-Orgel? Es geht weiter:

Fortsetzung (zur Bach-Fuge BWV 546 c-moll) Hier

Exkurs zur Kritik dieser Fuge

 

Quelle Werner Breig: Versuch einer Theorie der Bachschen Orgelfuge / Die Musikforschung 48, 1995 Heft 1 / Bärenreiter Verlag GmbH & Co. KG, Kassel

Ausgangspunkt für eine Kritik dieser Fuge BWV 546 war wohl an erster Stelle die Tatsache, dass das zugehörige Praeludium so gewaltig ist. Kaum vorstellbar ist, dass Bach dieses Missverhältnis nicht bemerkt haben sollte, gerade wenn man andere „Doppelgespanne“ zum Vergleich heranzieht.

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Der Spieltisch einer modernen Orgel (1908)

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Die Traktursysteme der Orgel

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Bergbesteigung: das Innere einer modernen Orgel (Organistin Susanne Rohn führt durch die Sauerorgel (1908) der Erlöserkirche Bad Homburg. Nach der Führung spielt sie von Albert Zwyssig (1808-1854) das Stück „Schweizerpsalm“ (1841) = Schweizer Nationalhymne)

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Hinweis auf den Finger Gottes in Michelangelos „Schöpfung“

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Choral-Analyse Barform (Stollen, Stollen, Abgesang), Was ist ein Tremulant? Der Rhythmus des Kontrapunktes in Takt 1, der erstaunliche Takt vor dem Schlussakkord (!!! ab 8:53). Siehe auch Wikipedia hier über die Achtzehn Choräle (mit Link zur Handschrift!)

Von Gott will ich nicht lassen, denn er lässt nicht von mir, führt mich durch alle Straßen,
da ich sonst irrte sehr.

Er reicht mir seine Hand, den Abend und den Morgen tut er mich wohl versorgen,
wo ich auch sei im Land, wo ich auch sei im Land.

(Fortsetzung folgt)

Vom Geld in der Kultur reden!

Ein Text von Berthold Seliger

veröffentlicht am 17. Juli 2020 bei TELEPOLIS (Link s.u.)

Für ein prinzipielles Kultur-Existenzgeld!

Sozial-kulturelle Utopie 2020

Der Covid-19-Virus und die Folgen der Pandemie bringen die Verletzlichkeiten in einer globalisierten Welt, die maßgeblich vom Drang nach Kapitalverwertung angetrieben wird, neu und teilweise dramatisch ins Bewusstsein. Die meisten Probleme, die jetzt diskutiert werden, haben allerdings nichts direkt mit der Corona-Krise zu tun, sondern werden in den Pandemie-Zeiten wie unter einem Brennglas gebündelt und hervorgehoben.

Auch vor Corona wurden die Schlachthofarbeiter und die Spargelstecher*innen bereits ausgebeutet oder die Pflegekräfte und andere Mitarbeiter*innen im Gesundheitssektor deutlich unterbezahlt (und es ist ein Armutszeugnis, dass im 130 Milliarden-Euro-Hilfspaket des Bundes die Pflegekräfte gar nicht erst vorkommen).

Nicht nur im Gesundheitssystem, auch im Kulturbereich, der in Teilen nach wie vor komplett stillgelegt ist und wohl am längsten von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sein wird, hat die Corona-Krise Missstände, die schon länger Bestand hatten, in aller Schärfe offengelegt: Corona lässt die prekäre Kehrseite des jahrzehntelangen neoliberal geprägt Um- und Abbaus von Institutionen und Sicherungssystemen, aber auch die Beziehung zwischen „dem Leben“ und „der Theorie“ deutlich zutage treten. Dies gilt insbesondere für die Kulturschaffenden und die Kulturarbeiter*innen.

Kurzfristig angelegte Nothilfemaßnahmen sind zwar wichtig und ausdrücklich begrüßenswert, dauerhaft sind aber im Kultursektor – ähnlich wie in Sachen Werkverträge der Fleischindustrie oder gerechter Bezahlung der Pflegekräfte – strukturelle Änderungen und Neuerungen dringend notwendig.

Vor knapp fünfzig Jahren, zu Zeiten und auf Anregung der sozialliberalen Bundesregierung, wurde in der Bundesrepublik erstmals die soziale, berufliche und wirtschaftliche Lage der Künstler*innen und Publizist*innen untersucht. Das war die Basis für weitere Überlegungen zu einer sozialen Absicherung von Kulturschaffenden, die vor vierzig Jahren schließlich zur Verabschiedung des Künstlersozialversicherungsgesetzes führten, das gegen den massiven Widerstand der Kultur- und Verwertungsindustrie erkämpft werden musste.

Damit wurde erstmals eine gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung für selbständige Künstler und Publizisten eingerichtet, wobei diese den Arbeitnehmeranteil, die Vermarkter künstlerischer und publizistischer Leistungen dagegen einen Arbeitgeberanteil übernehmen sollten, der außerdem durch einen Bundeszuschuss finanziert wurde – ein Meilenstein in der Ideengeschichte der sozialen Absicherung von Kulturschaffenden.

Die Lage ist jedoch nicht mehr dieselbe wie in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Künstlerische Berufe erfreuen sich unverändert einer hohen Attraktivität, trotz der mit der Soloselbständigkeit verbundenen finanziellen Risiken. Vor allem aber haben sich die Herstellungsbedingungen von kulturellen Leistungen in den letzten Jahrzehnten massiv verändert: Der Anteil der fest angestellten Kulturschaffenden hat sich in fast allen Bereichen deutlich verringert, während die Zahl der euphemistisch gern als „frei“ bezeichneten, also selbständig tätigen Künstler*innen seit den 1980er Jahren drastisch gestiegen ist.

1991 waren insgesamt 47.713 Kulturschaffende und Publizisten bei der Künstlersozialkasse versichert, im Jahr 2019 waren es 193.592, also mehr als vier Mal soviel. Heute sind 42.700 Versicherte im Bereich Wort, 67.075 in der Bildenden Kunst, 54.575 in der Musik und 29.242 in der Darstellenden Kunst tätig. Die Zahl der bei der Künstlersozialkasse Versicherten hat sich allerdings in den letzten Jahren kaum verändert (bereits 2013 waren 194.196 Menschen bei der KSK versichert), wohl aber in einzelnen Bereichen: Vor allem im Bereich Wort (minus 4.855 von 2013 bis 2019, also mehr als 10 Prozent), aber auch bei der Bildenden Kunst nimmt die Zahl der Versicherten ab, während sie im Bereich Musik, vor allem aber bei der Darstellenden Kunst ansteigt (plus 12,6 Prozent).

Der Arbeitsmarkt Kultur ist so stark von selbständiger Tätigkeit geprägt wie nie zuvor

Wie die Autoren der gerade veröffentlichten Studie „Frauen und Männer im Kulturmarkt“1 des Deutschen Kulturrats anmerken, ist die höhere Zahl von Versicherten im Bereich Darstellende Kunst „bemerkenswert, da in dieser Sparte die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung üblich ist“.

Doch längst nicht alle Kulturschaffenden und Kulturarbeiter*innen sind in der Künstlersozialkasse versichert, die ja ohnedies nur Künstler*innen offensteht. Die bereits erwähnte Studie des Deutschen Kulturrats geht davon aus, dass im Kulturbereich 719.106 selbständig Tätige arbeiten, davon knapp die Hälfte etwas herabsetzend sogenannte „Mini-Selbständige“, deren Jahresumsatz unter 17.500 Euro liegt. Man muss also davon ausgehen, dass im kulturellen Bereich hierzulande großflächig Armut herrscht oder zumindest prekäre wirtschaftliche Verhältnisse virulent sind, ganz abgesehen von einem massiven Gender Gap.

Der Arbeitsmarkt Kultur ist heute also so stark von selbständiger Tätigkeit geprägt wie nie zuvor – und das gilt nicht nur im Bereich der Bildenden Künstler*innen, für die die selbständige Tätigkeit seit jeher die typische Form von Beschäftigung ist, sondern auch in anderen Bereichen der künstlerischen oder publizistischen Betätigung, in denen Tätigkeiten, die früher von Angestellten in festen Arbeitsverhältnissen ausgeführt wurden, heute meist von Selbständigen ausgeübt werden.

Dies ist sowohl eine Folge der hippen Narration von der „kreativen Klasse“ (Richard Florida), mit der den Menschen postfordische Tätigkeiten auf Prekariatslevel schmackhaft gemacht wurden, als auch die massiv geförderte Installation von Ich-AGs im Zuge der rot-grünen Hartz-IV-Gesetze: Jede*r eine kleine Ich-AG, alle sind Unternehmer*innen ihrer selbst und kümmern sich beherzt um Selbstvermarktung und -optimierung – eine Art outgesourctes Experimentallabor, ganz die fleißigen Kulturarbeitsbienchen mit verinnerlichtem Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben-Prinzip.

Doch gerade in Krisenzeiten zeigt sich, dass die mangelnde soziale Absicherung für viele der solo-selbständigen Künstler*innen, Musiker*innen, Schauspieler*innen und Publizist*innen ein riesiges Existenzproblem darstellt. Wenn beispielsweise den weit über 50.000 freien Musiker*innen und der deutlich sechsstelligen Zahl von sogenannten Solo-Selbständigen, Freiberuflern, Aufstockern oder Minijobbern, die Konzerte überhaupt erst möglich machen, wegen der Covid-19-Pandemie mindestens sechs, wahrscheinlicher neun und noch mehr Monate das komplette Einkommen wegbricht, hilft ihnen die Kranken- und Rentenversicherung durch die Künstlersozialkasse nicht beim wirtschaftlichen Überleben.

Es rächt sich, dass hierzulande über den Wandel der Arbeitswelt durch die Digitalisierung zwar diskutiert und geforscht wird, all dies aber keinen Einfluss auf politische Entscheidungen hat, die zu einer sozialen Sicherung der Kulturschaffenden und Kulturarbeiter*innen führen würde. Dies gilt für die Alterssicherung ebenso wie für die soziale Absicherung im Fall von Arbeitslosigkeit wie jetzt, da sie durch die Pandemie zwangsweise herbeigeführt wurde.

Anderes Verständnis von Arbeit ist erforderlich

Weiterlesen: HIER

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Berthold Seliger ist Publizist und seit über 32 Jahren Konzertagent und Tourneeveranstalter. Er hat Bücher wie „Das Geschäft mit der Musik“ (Edition Tiamat 2013, aktuell 7.Auflage), „Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle“ (Matthes & Seitz 2017, aktuell 2.Auflage) und zuletzt „Vom Imperiengeschäft. Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören“ (Edition Tiamat 2019, aktuell 3.Auflage) veröffentlicht.

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Luther als Herr und Knecht

Ein Merkzettel

Es gibt (für mich) mehrere Gründe, diesen Kommentar so zu verwahren, dass ich ihn im Internet wiederfinde (hier einstweilen über Bezahlschranke), denn zum Sammeln und Abheften reicht meine Energie nicht: erstens weil ich alles von Prantl gründlich lese, meistens zustimmend, zweitens weil ich in dem Buch von Bergner über die Bach-Präludien gestern (hier) im Anhang (über „Die geisteswissenschaftlichen Implikationen des Bachschen Formbegriffs“ Seite 144f) auf das Kapitel „Luthers Musikverständnis “ gestoßen bin, drittens weil ich bei dem Begriffspaar „Herr und Knecht“ (wie sicher auch von Prantl bezweckt) als erstes an Hegel denke, dann an einen eigenen Artikel zu diesem Thema, den ich fünftens genau vor einem Jahr geschrieben habe, ohne an Luther zu denken. Und sechstens: weil ich mich bemüßigt fand, in ein (wie bei mir häufig) über 50 Jahre altes Buch zu schauen, das ich als jederzeit wieder lesenswert in Erinnerung habe, damals aber meiner (im Gegensatz zu mir) lutherfrommen Mutter zu Weihnachten 1968 schenkte: „Luther. Sein Leben und seine Zeit“ von Richard Friedenthal / Verlag R.Piper & Co München 1967. Um dort jetzt nachzulesen, was es mit den um 1520 veröffentlichten  Schriften auf sich hatte, darunter „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, die 500 Jahre später Heribert Prantl für die SZ noch einmal reflektiert hat. Jedoch bei Friedenthal etwas nachzulesen, bedeutet unweigerlich, dass man davon nicht mehr loskommt… hoffen wir, dass der Kreis sich schließen lässt…

Hatte ich nicht früher schon…? Nein, da ging es nicht um die konstantinische Schenkung, sondern um die dionysische Vertauschung: hier. Ich kann verstehen, dass Prantl in diesem Fall dergleichen nicht erwähnt hat, er verfährt schon kritisch genug mit seinem Luther. Zur Sicherheit schaue ich trotzdem nach, ob er eigentlich unabhängig genug ist – und nicht etwa im Evangelischen Kirchenrat sitzt, laut Wikipedia ist da nichts zu vermelden, – stopp: nur im Kölner Domradio (an dessen Schaufenstern ich früher immer vorbeikam, wenn ich zum WDR strebte) gibt es eine auf ihn bezogene theologische Meldung. Ja, das hätte ich auch gern, aber nur im Fach Bach oder wenigstens als Bergner-Laudator.

Kurz und gut, – der Argwohn bleibt: an diesem Artikel stimmt etwas nicht. Da werden Konsequenzen vermieden, Widersprüche beschwichtigt. Schon im Gebrauch des Wortes Dialektik, als habe Luther im Traum daran gedacht. Da gibt es Gott und den Teufel, unklar bleibt, ob innen oder außen. „Für Luther war Gott ein selbstverständliches Gegenüber, mit dem er sprach, rang, bisweilen an ihm verzweifelnd. Das ist heute selbst für die, die sich Christen nennen, nur noch selten so, und der Teufel ist erst recht ein Hirngespinst. Aber das heißt nicht, dass es keine Mächte gibt, denen sich der säkulare Mensch ausgeliefert fühlt. Aus den Ansprüchen Gottes sind Selbstansprüche geworden. Die Teufeleien heute haben andere Namen: Sie heißen Egoismus, Individualismus, Profitismus, Marktradikalismus, Nationalismus, Rassismus. Die Frage heute ist nicht die nach einem gnädigen Gott, sondern nach gnädigen Verhältnissen.“

Ja, wir sind selbst schuld, und wenn wir dieses allesumspannende Wir gebrauchen, stellen wir uns ruhig, das ist gängige Praxis: in unserer Ohnmacht bescheiden wir uns. Und wenn es Gott gibt, dann als ein Gegenüber. Hier müsste vom Mechanismus der Projektion die Rede sein. Eine kurze Anspielung auf die Fleischarbeiter bei Tönnies, auf die Missstände in Pflege- oder Flüchtlingsheimen und auf „Black lives matter!“ hilft wenig.

„Luthers eindringliche Unterscheidung zwischen Leib und Geist hat emanzipatorische Kraft entfaltet, sie hat die Gewissen vieler Zeitgenossen davon befreit, vor geistlichen oder weltlichen Ordnungen zu ducken. Aber Luthers Vernachlässigung der ganz materiellen äußeren Freiheit hat auch Emanzipation gehemmt. So radikal wie die aufständischen Bauern wollte er die Befreiung doch nicht.“

Er hat dank seiner „eindringliche[n] Unterscheidung“ die Möglichkeit offengehalten, leichter von einem Lager ins andere überzuwechseln, ohne dass man die Dialektik durchdringt, die bei Luther lediglich im blanken Wortgebrauch von Herr und Knecht liegt; sie folgt einem beliebten christlichen Paradox: die Ersten werden die Letzten sein (und natürlich auch umgekehrt). Oder weniger abstrakt: der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Und es klingt derart leiblich, körperlich, dass der Geist seine helle Freude dran hat.

Natürlich weiß Heribert Prantl das genau, und deshalb verstehe ich seine Luther-Dialektik nicht. Das Jahr 1492 liegt halt noch nicht lange zurück.

Kritik an Musik

Journalistenlob und -laber

Dass man bestimmte Zeitungen besonders gerne liest, bedeutet nicht, dass sie sich immer mit der eigenen Meinung decken, im Gegenteil, über einzelne Kritiker ärgere ich mich immer aufs neue. Das war im Fall der Süddeutschen ganz besonders in den 70er/80er Jahren der Fall, als sie sich durch besondere Rückständigkeit auszeichneten; berühmte Namen, die ich nicht nennen muss. Heute dagegen will deren Nachhut so weit vorne stehen, dass auch die Avantgarde erschrickt. Ich weiß nicht, ob Herr Brembeck die Inszenierung der Tosca (Aix 2019) loben würde, die vor ein paar Tagen in ARTE gesendet wurde, – es wäre ihm zuzutrauen. Ich misstraue ihm vielleicht grundlos, wenn er Daniel Harding („überwältigende Spiellust“) so dringend als Nachfolger für Mariss Jansons empfiehlt und folgerichtig in einem weiteren Konzert mit den BR-Sinfonikern den Konkurrenten Franz Welser-Möst unter dem Titel „Die Romantik der Schlaftablette“ abserviert. Aber es ist nicht Sache eines schwachen Rezensenten, kulturpolitisch so ehrgeizig wie kleinkariert zu agitieren, als habe er wirklich etwas zu melden. Es wäre nicht der Mühe wert, dieses Abwägen zwischen Harnoncourt und imaginären Liebhabern der „Karl-Böhm-Zeit“ auch nur für einen Augenblick ernstzunehmen, wenn dann nicht wieder Igor Levit auftauchte und einerseits auffällig geschont, andererseits mit sehr seltsamen Worten abqualifiziert wird: er habe sich „in den letzten Jahren zum letztgültigen Reichsverweser Beethovens hochgespielt“. Ich weiß nicht, woran mich der Ausdruck „hochgespielt“ erinnert, bei „Reichsverweser“ kommt mir allerdings die „Reichsklaviergroßmutter“ in den Sinn – oder wie nannte man sie? – und der im letzten „Reich“ ebenfalls hochgeschätzte Wilhelm Backhaus. Das hat Levit nicht verdient.

Mag sein, dass der Rezensent sich wirklich die überwältigende Wirkung eines hingehauenen Akzents und die erotische Wirkung eines lasziv gespielten Laufs irgendwie zusammenreimt, ein esoterisch verklärendes Moment dagegen von pathetisch auf Außenwirkung zielenden Passagen weniger eingelöst findet, obwohl der Pianist „sich in Langsames durchaus hineingrübeln“ kann, –  mir scheint, da hört jemand gar nicht zu, sondern greift gedankenarm in den Wortwirkungswürfelkasten.

Er weiß um die überwältigende Wirkung eines überraschend hingehauenen Akzents genauso wie um die erotische Wirkung eines lasziv gespielten Laufs. Er kann sich in Langsames beeindruckend hineingrübeln. Immer wieder aber kommt in sein Beethoven-Spiel aber auch ein esoterisch verklärendes Moment. Dann behauptet er nicht nur in pathetisch auf Außenwirkung zielenden Passagen einen Tiefsinn, der pianistisch nicht eingelöst wird.

Ja, wie denn dann? Misslingen ihm die auf Tiefsinn getrimmten Passagen pianistisch oder gedanklich? Es hat einfach keine Logik, ebensowenig wie das doppelte „aber“ im vorhergehenden Satz des Kritikers. Es ist schlampig formuliert und labert nur wolkig daher, vorgebend, ein dreifaches „nie“ ziele nun glaubwürdiger auf Ungesagtes, Existenzielles…

Welser-Möst ist Levit zudem kein adäquater Partner. Nie fordert der Dirigent den Pianisten heraus, nie ist er ihm Widerpart, nie lockt er ihn ins Ungesagte, ins Existenzielle. Und so versandet dies Konzert im Braven.

Und überhaupt:

Welser-Möst fehlt eine zündende Idee. Er lässt die Musik laufen, er bringt sie nie zum Strahlen, er elektrisiert in keinem Moment, er unterfordert seine Musiker konsequent.

Das ist etwa auf dem Niveau der vornehmen Dame, die ihren Begleiter im Konzert eines berühmten Dirigenten fragt: „Sagen Sie mir bitte, wenn er zu faszinieren beginnt!?“

Quelle Süddeutsche Zeitung 11./12. Juli 2020 Seite 19 Die Romantik der Schlaftablette Franz Welser-Möst unterfordert BR Sinfoniker / Von Reinhard J. Brembeck

Beethovens Kant-Notiz

„das Moralische Gesetz in unß . . .“

„u. der gestirnte Himmel über unß“

Rückblick im Blog hier / Beethovens Original sehe ich heute zum ersten Mal:

Die Anführungsstriche habe ich etwas abgewandelt. Es ging mir ohnehin um etwas anderes, was steht denn dort noch? „Kant!!!“, gewiss. Und dann? der Name Littrow, des weiteren: Direktor der Sternwarte.

Ich habe das Faksimile und die Entzifferung im neuen Beethoven-Buch von Hans-Joachim Hinrichsen auf Seite 271 gefunden. Gerade dort wird einem klar, dass man nicht von einer kontinuierlichen Kant-Lektüre bei Beethoven ausgehen kann. Natürlich nicht. Er empfing Kants Geist durch Schillers Hände.

Kant lag bei denkenden Menschen der Zeit „in der Luft“. Wurde auch grob missverstanden, wie im Fall Kleist.

(Fortsetzung folgt)

Nachtrag 5. April 2022 Kritische Besprechung des Hinrichsen-Buches in „Musik & Ästhetik“, Autor: Guido Kreis, sehr lesenswert!

Für die Dörfer, mit Beethoven, trotz Corona

Wandelkonzert in Keyenberg

Eine Schwarzdrossel singt betörend, aber wenig ist zu spüren vom Erwachen froher Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande, manchmal bleiben nur Fetzen von der Musik hinter dem Wind, der über die Mikrofone fährt, und doch gibt es eine unbeirrbare Kraft, die das Ganze (fast) synchron weitertreibt. Auf den gelben Schildern liest man die Namen der im Kohlentagebau untergegangenen Dörfer und derer, die noch auf der Liste stehen, maskierte Zuhörer wandern in kleinen Gruppen über Feldwege, beobachten ein Fagott wie ein seltenes Insekt, auf den Wiesen sitzen einzelne Streicher, deren Begleitfiguren für kurze Zeit wie Hauptmotive hervortreten, alles steht im Zeichen einer Vorläufigkeit, einer Brüchigkeit, die auch hinter Scheunentüren bei einem Symposion über die Zukunft der Kultur verhandelt werden könnte. Und niemand von den Repräsentanten städtischer Musikkultur, die sich hier zusammengefunden haben, fühlt sich erhaben und erhoben über die rurale Landschaft, den Duft des Dorfes, den sorglos blauen Himmel, es ist alles anders als das Idealbild, das Beethoven in seiner „Pastorale“ entworfen hat, man muss sie mühsam zusammenfügen, ein fragiles Räderwerk der Gedanken. Es wird mühsam vor dem Zerfall bewahrt, und sollten wir es eines Tages wieder im Konzertsaal erleben, wird man unweigerlich an diese Realisierung auf dem Lande zurückdenken, als sich seltsame Synapsen bildeten und manch einen das Hören neu entdecken ließ.

Zitat (Pressetext)

Am 1. Juni 2020 um 13 Uhr veranstaltet das Bündnis „Alle Dörfer bleiben“ im bedrohten Dorf Keyenberg eines der ersten großen Klassikkonzerte nach den Lockerungen der Corona-Maßnahmen. Mehr als 50 Musizierende spielen auf einem denkmalgeschützten Hof in einem Wandelkonzert aus Beethovens 5. und 6. Symphonie („Pastorale“). Die Musiker*innen stehen auf dem Gelände des Hofes verteilt und spielen die Werke synchron. Die Besucher können den Klangpfad entlang spazieren und so die Musik Beethovens ganz neu entdecken. Die Besucherzahl ist auf 100 Menschen begrenzt und alle Tickets sind vergeben. Erlebe das Livekonzert als virtueller Besucher. Wandle mit, gleite entlang der Musiker und erlebe den Klangteppich in Stereoton. Das beste Seh- und Hörerlebnis hast du vor einem Rechner mit Kopfhörern auf. Unter http://alle-doerfer-bleiben.de gibt es regelmäßige Berichte zu den Ereignissen in den bedrohten Dörfern. Livestream Produktion: http://fb.com/goove.de

Am Dienstag nach Pfingsten lese ich in meiner Tageszeitung von der Aktion der Orchestermitglieder, und zwar auf der Seite HIER UND HEUTE. Auf der Seite KULTUR dagegen von Igor Levits Klavier-Marathon. Müßig zu fragen, wo Beethoven sich selbst lieber gesehen hätte. Vielleicht auf der Seite POLITIK, wo über Sensationen aus Frankreich berichtet wurde, nicht neben den Kleingärten, aber hier und heute findet durch Corona eben eine neue Durchmischung aller Niveaus und Sphären statt. Und es darf hervorgehoben werden, dass die „revolutionäre“ Veranstaltung in Keyenberg nicht mit der „Pastorale“ begann, sondern mit der „Fünften“, deren hammerschlagendes Kopfthema, das jeder Depp beim Namen Beethoven anstimmt, sogar um einen halben Kopf verkürzt startete. Denn das Schicksal fackelt nicht lange.

    Solinger Tageblatt

Weshalb mir die Aktion in Keyenberg so gut gefällt: man erlebt viele einzelne Menschen, ja, die Aufsplittung einer Gesellschaft, die zeigt, dass diese sich nicht zerlegen lässt, nicht durch Corona und nicht durch RWE, sondern zu Gemeinschaftsaktionen fähig bleibt, hinter denen menschliche Individuen stehen. Nichts anderes hat Beethoven gewollt. Deshalb kann mich ein stellvertretend für alle inszenierter Einzel-Marathon nicht begeistern, auch nicht ein ehrgeiziger Tenor, der in hörbarer Selbstüberschätzung aus dem Weltendrama der Bachschen Johannes-Passion ein gedehntes Kammerstück schneidert, oder ein Streichquartett, das bereit ist, ein Jazzfestival mit Beethovens Heiligem Dankgesang zu garnieren, als gelte es, in all der aufgeblasenen Symphonic mal eben dem Untergang der Klassik ein gnädiges Ohr zu leihen.

3. Juni 2020

Mir ist bewusst, dass ich fortwährend assoziiere, was mit diesem Keyenberg-Event („Event“?) zusammenhängt, und zwar mehr die coronabedingte Seite reflektiere, als die primäre, den Einsatz des Musiker-Kollektivs für die Dörfer und gegen die Garzweiler-Brutalität. Denn dieses Empörungspotential ist bereits hochentwickelt (unsere Enkel haben sich von Anfang an – auch am Ort – mit den Baumbesetzern solidarisiert).

Ich will an dieser Stelle alles notieren, was mir in den Sinn kommt, ohne zu intendieren, Bruchstücke einer angemessenen (oder überflüssigen) Theorie zu sammeln. Nicht angemessen zum Beispiel: dass es eine ideale Voraussetzung wäre, die Pastorale auswendig zu kennen und überall im Gelände („Ende Gelände“!) ergänzen zu können, wie die in der Nähe gehörten Musiker*Innen mit den aus der Ferne vernommenen zusammengehören und hörend Wandlern ständig vervollständigt werden. Das wahre Kontinuum, Beethovens Sinfonie! Die große Musik, die nicht erst durch das neue Buch von Hinrichsen (zusammen mit anderen F-dur-Werken wie dem Streichquartett op. 132) eine Sonderstellung einnimmt, sondern (für mich) schon seit 1997, als ich zufällig das – ideenreiche, aber etwas unordentliche –  Buch von Schmenner las und die Pastorale (im Zuge ihrer repetitiven Momente) in einer WDR-Sendung kombinierte mit afrikanischen Improvisationen, die (zufällig?) auf demselben Grundton F basierten.

   

Und heute im Tageblatt der Beitrag über künstlichen Applaus, der sich auch in Moers auffällig in den Vordergrund spielte. Bei früheren Festivals mit Publikum aufgenommen und hier an den entsprechenden Stellen von der Technik eingespielt, aber nicht als Fake, sondern bewusst auch in der Moderation thematisiert, also mit einem melancholischen Beiklang versehen.

 03 Juni 2020 Seite 7

Marco Krefting, Jutta Toelle, Herbert Schwaab.

Ein entscheidender Punkt der Moderne, der plötzlich auf Corona bezogen wird, ist die durch das technische Medium erzeugte Illusion der Nähe, und damit könnte ja auch ernsthaft gespielt werden, visuell und auch akustisch: ich könnte als Beobachter beim Streichquartett sozusagen von Griffbrett zu Griffbrett springen, könnte größere Abschnitte oder ganze Sätze aus der Sicht der zweiten Geigerin erleben, unter Hervorhebung auch dieser Stimme, d.h. die Technik versucht nicht sich selbst zu verleugnen, sondern zu reflektieren, zu subjektivieren. So hat es vielleicht Jan Vogler nicht gemeint, aber genau diese Interview-Reihe der NMZ  sollte man sammeln und auf zukunftsfähige Ideen abklopfen.

↑ Oben zum Lesen, unten ↓ zum Hören anklicken:

https://www.nmz.de/media/video/corona-talk-mit-jan-vogler HIER

Nachtrag zu Keyenberg 

Frankfurter Rundschau nachzulesen hier !

Rückbesinnung

Lesen als lebensnotwendiges Mittel

Vorläufige Merkzettel

Das „Gewühl“

Die Wiederentdeckung des Anfangs

 neues Buch über Beethoven

Beethoven unbeschreiblich?

 neues Buch von E. Coccia „Sinnenleben“

Baum Gehirn Musik

 ISBN 978-446-26572-1

(Das Wort „schillernd“ im Umschlagtext finde ich ganz unangebracht. „Glänzend“ wäre angemessener.)