Ein Text von Berthold Seliger
veröffentlicht am 17. Juli 2020 bei TELEPOLIS (Link s.u.)
Für ein prinzipielles Kultur-Existenzgeld!
Sozial-kulturelle Utopie 2020
Der Covid-19-Virus und die Folgen der Pandemie bringen die Verletzlichkeiten in einer globalisierten Welt, die maßgeblich vom Drang nach Kapitalverwertung angetrieben wird, neu und teilweise dramatisch ins Bewusstsein. Die meisten Probleme, die jetzt diskutiert werden, haben allerdings nichts direkt mit der Corona-Krise zu tun, sondern werden in den Pandemie-Zeiten wie unter einem Brennglas gebündelt und hervorgehoben.
Auch vor Corona wurden die Schlachthofarbeiter und die Spargelstecher*innen bereits ausgebeutet oder die Pflegekräfte und andere Mitarbeiter*innen im Gesundheitssektor deutlich unterbezahlt (und es ist ein Armutszeugnis, dass im 130 Milliarden-Euro-Hilfspaket des Bundes die Pflegekräfte gar nicht erst vorkommen).
Nicht nur im Gesundheitssystem, auch im Kulturbereich, der in Teilen nach wie vor komplett stillgelegt ist und wohl am längsten von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sein wird, hat die Corona-Krise Missstände, die schon länger Bestand hatten, in aller Schärfe offengelegt: Corona lässt die prekäre Kehrseite des jahrzehntelangen neoliberal geprägt Um- und Abbaus von Institutionen und Sicherungssystemen, aber auch die Beziehung zwischen „dem Leben“ und „der Theorie“ deutlich zutage treten. Dies gilt insbesondere für die Kulturschaffenden und die Kulturarbeiter*innen.
Kurzfristig angelegte Nothilfemaßnahmen sind zwar wichtig und ausdrücklich begrüßenswert, dauerhaft sind aber im Kultursektor – ähnlich wie in Sachen Werkverträge der Fleischindustrie oder gerechter Bezahlung der Pflegekräfte – strukturelle Änderungen und Neuerungen dringend notwendig.
Vor knapp fünfzig Jahren, zu Zeiten und auf Anregung der sozialliberalen Bundesregierung, wurde in der Bundesrepublik erstmals die soziale, berufliche und wirtschaftliche Lage der Künstler*innen und Publizist*innen untersucht. Das war die Basis für weitere Überlegungen zu einer sozialen Absicherung von Kulturschaffenden, die vor vierzig Jahren schließlich zur Verabschiedung des Künstlersozialversicherungsgesetzes führten, das gegen den massiven Widerstand der Kultur- und Verwertungsindustrie erkämpft werden musste.
Damit wurde erstmals eine gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung für selbständige Künstler und Publizisten eingerichtet, wobei diese den Arbeitnehmeranteil, die Vermarkter künstlerischer und publizistischer Leistungen dagegen einen Arbeitgeberanteil übernehmen sollten, der außerdem durch einen Bundeszuschuss finanziert wurde – ein Meilenstein in der Ideengeschichte der sozialen Absicherung von Kulturschaffenden.
Die Lage ist jedoch nicht mehr dieselbe wie in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Künstlerische Berufe erfreuen sich unverändert einer hohen Attraktivität, trotz der mit der Soloselbständigkeit verbundenen finanziellen Risiken. Vor allem aber haben sich die Herstellungsbedingungen von kulturellen Leistungen in den letzten Jahrzehnten massiv verändert: Der Anteil der fest angestellten Kulturschaffenden hat sich in fast allen Bereichen deutlich verringert, während die Zahl der euphemistisch gern als „frei“ bezeichneten, also selbständig tätigen Künstler*innen seit den 1980er Jahren drastisch gestiegen ist.
1991 waren insgesamt 47.713 Kulturschaffende und Publizisten bei der Künstlersozialkasse versichert, im Jahr 2019 waren es 193.592, also mehr als vier Mal soviel. Heute sind 42.700 Versicherte im Bereich Wort, 67.075 in der Bildenden Kunst, 54.575 in der Musik und 29.242 in der Darstellenden Kunst tätig. Die Zahl der bei der Künstlersozialkasse Versicherten hat sich allerdings in den letzten Jahren kaum verändert (bereits 2013 waren 194.196 Menschen bei der KSK versichert), wohl aber in einzelnen Bereichen: Vor allem im Bereich Wort (minus 4.855 von 2013 bis 2019, also mehr als 10 Prozent), aber auch bei der Bildenden Kunst nimmt die Zahl der Versicherten ab, während sie im Bereich Musik, vor allem aber bei der Darstellenden Kunst ansteigt (plus 12,6 Prozent).
Der Arbeitsmarkt Kultur ist so stark von selbständiger Tätigkeit geprägt wie nie zuvor
Wie die Autoren der gerade veröffentlichten Studie „Frauen und Männer im Kulturmarkt“1 des Deutschen Kulturrats anmerken, ist die höhere Zahl von Versicherten im Bereich Darstellende Kunst „bemerkenswert, da in dieser Sparte die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung üblich ist“.
Doch längst nicht alle Kulturschaffenden und Kulturarbeiter*innen sind in der Künstlersozialkasse versichert, die ja ohnedies nur Künstler*innen offensteht. Die bereits erwähnte Studie des Deutschen Kulturrats geht davon aus, dass im Kulturbereich 719.106 selbständig Tätige arbeiten, davon knapp die Hälfte etwas herabsetzend sogenannte „Mini-Selbständige“, deren Jahresumsatz unter 17.500 Euro liegt. Man muss also davon ausgehen, dass im kulturellen Bereich hierzulande großflächig Armut herrscht oder zumindest prekäre wirtschaftliche Verhältnisse virulent sind, ganz abgesehen von einem massiven Gender Gap.
Der Arbeitsmarkt Kultur ist heute also so stark von selbständiger Tätigkeit geprägt wie nie zuvor – und das gilt nicht nur im Bereich der Bildenden Künstler*innen, für die die selbständige Tätigkeit seit jeher die typische Form von Beschäftigung ist, sondern auch in anderen Bereichen der künstlerischen oder publizistischen Betätigung, in denen Tätigkeiten, die früher von Angestellten in festen Arbeitsverhältnissen ausgeführt wurden, heute meist von Selbständigen ausgeübt werden.
Dies ist sowohl eine Folge der hippen Narration von der „kreativen Klasse“ (Richard Florida), mit der den Menschen postfordische Tätigkeiten auf Prekariatslevel schmackhaft gemacht wurden, als auch die massiv geförderte Installation von Ich-AGs im Zuge der rot-grünen Hartz-IV-Gesetze: Jede*r eine kleine Ich-AG, alle sind Unternehmer*innen ihrer selbst und kümmern sich beherzt um Selbstvermarktung und -optimierung – eine Art outgesourctes Experimentallabor, ganz die fleißigen Kulturarbeitsbienchen mit verinnerlichtem Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben-Prinzip.
Doch gerade in Krisenzeiten zeigt sich, dass die mangelnde soziale Absicherung für viele der solo-selbständigen Künstler*innen, Musiker*innen, Schauspieler*innen und Publizist*innen ein riesiges Existenzproblem darstellt. Wenn beispielsweise den weit über 50.000 freien Musiker*innen und der deutlich sechsstelligen Zahl von sogenannten Solo-Selbständigen, Freiberuflern, Aufstockern oder Minijobbern, die Konzerte überhaupt erst möglich machen, wegen der Covid-19-Pandemie mindestens sechs, wahrscheinlicher neun und noch mehr Monate das komplette Einkommen wegbricht, hilft ihnen die Kranken- und Rentenversicherung durch die Künstlersozialkasse nicht beim wirtschaftlichen Überleben.
Es rächt sich, dass hierzulande über den Wandel der Arbeitswelt durch die Digitalisierung zwar diskutiert und geforscht wird, all dies aber keinen Einfluss auf politische Entscheidungen hat, die zu einer sozialen Sicherung der Kulturschaffenden und Kulturarbeiter*innen führen würde. Dies gilt für die Alterssicherung ebenso wie für die soziale Absicherung im Fall von Arbeitslosigkeit wie jetzt, da sie durch die Pandemie zwangsweise herbeigeführt wurde.
Anderes Verständnis von Arbeit ist erforderlich
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Berthold Seliger ist Publizist und seit über 32 Jahren Konzertagent und Tourneeveranstalter. Er hat Bücher wie „Das Geschäft mit der Musik“ (Edition Tiamat 2013, aktuell 7.Auflage), „Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle“ (Matthes & Seitz 2017, aktuell 2.Auflage) und zuletzt „Vom Imperiengeschäft. Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören“ (Edition Tiamat 2019, aktuell 3.Auflage) veröffentlicht.
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