Irrtum oder Betrug? (Zu den Grundlagen der Gotik)
Ich zitiere aus dem historischen Standardwerk „Die gotische Kathedrale“ von Otto von Simpson (Anmerkungen weggelassen, Links hinzugefügt):
Wir erinnern uns: die Abtei von St. Denis verdankte ihre Bedeutung ursprünglich der Tatsache, daß sie die Reliquien des Heiligen und Märtyrers barg, der Frankreich im dritten Jahrhundert zum Christentum bekehrt hatte und daher als Schutzpatron des Königshauses und Reiches galt. Diesen heiligen Dionysius nun hielt man für identisch mit einem Theologen der Ostkirche, der einer der großen Mystiker der christlichen Überlieferung ist. Diesen zweiten Dionysius, den Pseudo-Areopagiten, haben wir bereits kennengelernt: sein Werk war die Hauptquelle der im zweiten Kapitel besprochenen mittelalterlichen Lichtmetaphysik. Über seine Person wissen wir fast nichts. Er war vermutlich Syrer und lebte im späten fünften Jahrhundert. Merkwürdig, wenigstens für unser Empfinden, daß sich mit seinen tiefen mystischen Einsichten ein Hang zur Mystifikation verbindet. So will er den Leser durch mancherlei Anspielungen und Hinweise glauben machen, daß er Zeuge der Sonnenfinsternis beim Tode Christi gewesen sei, das Ende der Jungfrau Maria selbst miterlebt und den Evangelisten Johannes gekannt habe, kurz, daß er kein geringerer als jener vornehme Athener Dionysius gewesen sei, der nach der Apostelgeschichte 17, 34, „Paulus anhing und gläubig wurde“. Alle diese falschen Behauptungen fanden im Mittelalter Glauben, und es scheint unmöglich, den Verfasser von dem Verdacht freizusprechen, er habe mit Absicht jene Verwirrung geschaffen, die lange nach seinem Tode die erstaunlichsten Folgen haben sollte. Die Schriften des Dionysius galten bald als in apostolischer Zeit verfaßt. Sie wurden mit der Andacht gelesen, die man den verehrungswürdigsten Darstellungen des christlichen Glaubens vorbehielt, nur ein weniges schien sie von den inspirierten Schriften der Bibel selbst zu trennen. „Unter den Kirchenschriftstellern“, schreibt Johannes Saracenus in seiner dem Nachfolger Sugers, Odo von St. Denis gewidmeten Übersetzung des Areopagiten, „gilt Dionysius als der erste nach den Aposteln“.
Ein Irrtum zog den zweiten nach sich. Mag der große Syrer auch den ersten verschuldet haben, so gewiß nicht den zweiten. Zwischen 757 und 767 nämlich übersandte Papst Paul I. Pippin dem Kurzen die Handschrift des corpus Areopagiticum. Es ist durchaus möglich, daß der Papst selbst an die Identität des Verfassers mit dem Apostel von Frankreich geglaubt hat. Kaiser Ludwig der Fromme beauftragte den Abt Hilduin von St. Denis, alles Material über „unseren besonderen Schutzheiligen“ zu sammeln, das er in den griechischen Schriftstellern und anderswo zu finden vermöchte. Hilduin unterzog sich dieser Aufgabe mit Begeisterung. Er verfaßte eine Biographie, in welcher der durch Paulus Bekehrte, der Apostel von Frankreich und der Verfasser des corpus Areopagiticum als ein und dieselbe Person geschildert wurden.
Nicht, daß die Schriften des Dionysius solch falscher Beglaubigung bedurft hätten, um Beachtung zu finden. In großartiger Synthese von neoplatonischen und christlichen Anschauungen wird hier eine mystische Schau mit hinreißender Beredsamkeit vorgetragen. Aber so sehr das Mittelalter den Philosophen Plato auch bewunderte, und soviel ihm die christliche Theologie tatsächlich verdankt, die christlichen Theologen haben sich seinem Werk doch nur mit Zurückhaltung genähert. Das gleiche Schicksal hätte dem Pseudo-Areopagiten blühen können. Aber als Schüler des heiligen Paulus wurde er ohne Bedenken in die theologische Tradition des Mittelalters aufgenommen, und als angeblicher Apostel Frankreichs gewann er mit seinem Werk die Herrschaft über die gesamte geistige Kultur dieses Landes. Im zwölften Jahrhundert nahm die Heiligenverehrung im öffentlichen Leben eine so überragende Stellung ein, daß sie sogar die Richtung der Politik, zum mindesten ihren Stil, beeinflußte. Die besondere Verehrung, die man dem Apostel Frankreichs nicht nur als Märtyrer, sondern gerade auch wegen seiner angeblichen philosophischen Werke entgegenbrachte, ist verständlich. Damals erlebte die Scholastik ihre erste Blüte. Ein Zeitalter, das, so fest es auch im Glauben verwurzelt war, schon im Bann der philosophischen Spekulation stand, verlangte nach einem Schutzpatron, der sowohl ein großer Heiliger wie ein bedeutender Denker war. Jedenfalls hat die Verehrung des Heiligen im zwölften und noch im dreizehnten Jahrhundert auch auf die Entwicklung des französischen Denkens einen außerordentlichen Einfluß ausgeübt.
Quelle Otto von Simson: Die gotische Kathedrale / Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung / (1956) deutsche überarbeitete Ausgabe: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1968 und 1972 / ISBN 3-534-04306-5 (Zitat Seite 147 ff)
Mit aller Vorsicht kann man eine solche Aufklärung über die drei Identitäten des Dionysius schon in Stadlers Heiligen-Lexikon (1858-1882) lesen, siehe hier über das Lexikon und hier über Dionysius, wobei wohl nicht nur der Satz vom „Feldgeschrei der Franzosen“ dem Stil der damaligen Zeit geschuldet ist. (JR)