Archiv der Kategorie: Musik

Streichquartett-Paradigma

KELEMEN in KÖLN

Kelemen Screenshot 2016-01-19 10.14.36

Nehmen wir also dieses Quartett als Paradigma. Warum? Weil das Programm so außergewöhnlich ist, dass man die ganze Musik daran lernen kann. Die Kunst des Hörens an der Kunst der Darstellung. Purcell – Polyphonie, Schafer – Klangwelten, Bartók – Emotion, Haydn – Konversation über 1 Thema.

Purcells Fantasien (1680) sind frühe Meisterwerke der Polyphonie, denen man allerdings nicht gerecht wird, wenn man sie an Bachs „Kunst der Fuge“ misst, die bisweilen in Quartettkonzerte einbezogen wird. Sie sind einerseits archaischer, 70 Jahre vor Bachs Alterswerk, andererseits die Arbeiten eines Zwanzigjährigen, der sich möglicherweise an der Madrigalkunst der Renaissance orientierte, die schon seit 1560/70 in England bekannt war. Vor allem sind die „Fantasien“ keine Fugen, wenngleich sie mit Imitation arbeiten. Wobei das Wort Imitation irreführt: es bedeutet nicht Gedankenarmut, sondern Beziehungsreichtum.

Purcell Fantasia orig Motive

Purcell 11. Fantasia No. 9 in 4 parts in A minor, Z 740 (23 June 1680) 34:27 / Höraufgabe: Was kann man in diesem kleinen Abschnitt zum motivischen Zusammenhang sagen? (Einzeichnen!)

Purcell Fantasia Anfang

Die Bezeichnung Z.740 bedeutet Zimmermann-Verzeichnis Nr. 740. Wenn man unter diesem Link nachschaut, bemerkt man (ebenso wie in der Jordi-Savall-youtube-Aufnahme), dass Nr. 744 fehlt. In MGG neu Bd.13 Sp.1057 steht: „(1683) [Z.744] unvollst.“. Ich vermute, dass Kelemen an dieser Stelle eine Überraschung platziert, ähnlich wie Artemis unmittelbar an Bach einen Piazzollo anschließt.

Die englische Musik dieser Zeit war durch Eigenschaften wie deklamierende Textvertonung, die Verwendung von Tanzmetren und von zumeist zweiteiligen Tanzformen in Vokal- und Instrumentalmusik geprägt und hatte die Vokalmusik der Renaissance mit ihren imitativen Einsätzen zum Vorbild; sie verfügte jedoch noch nicht über die Konstruktionsprinzipien der späteren barocken Fugenkomposition. Querstände und andere Arten unvorbereiteter Dissonanzen kommen häufig vor. Sie ergeben sich gelegentlich durch freie Stimmführung, meist jedoch durch Ausdrucks- oder Klangwirkungen. (Robert Thompson in MGG a.a.O. Sp. 1958)

Das oben wiedergegebene Notenbild stellt nur den 1. Teil der Fantasia dar (den im wahrsten Sinne „Grund“ legenden – in Gestalt des langen Basstones A ebenso wie im chromatischen Aufstieg zum Ton E  und in dem unglaublich langen Abstieg zum tiefsten E); es folgen drei weitere Teile, die leicht am Tempowechsel zu erkennen sind und auch andere Motive (auf ähnliche Art) verarbeiten.

Ein Satz aus Murray Schafer’s Streichquartett Nr. 3, gespielt vom Quartett SLSQ: HIER. (Bitte – nach Anklicken – nicht erschrecken! Es könnte zu laut eingestellt sein!)

Dem Streichquartett Nr. 2 von Murray Schafer dagegen geht die Warnung voraus, dass Sie eventuell gar nichts hören, wenn Sie es einschalten. Tun Sie es trotzdem und regeln Sie die Lautstärke nach Bedarf selbst. HIER.

In seinem Kommentar zu den Haydn-Quartetten des Labels TACET schreibt Thomas Seedorf:

Von den vielen Beinamen, die Quartetten Haydns von der Nachwelt gegeben wurden, ist wohl keiner so zutreffend wie jener, den das d-moll-Quartett aus Opus 76 trägt: „Quintenquartett“. Das Intervall der Quinte wird schon im Hauptthema des ersten Satzes demonstrativ zur Hauptsache erklärt, der Satz selbst ist eine Tour de force fantasievollen Komponierens mit einem Minimum an musikalischem Material. Kontrapunktische Künste, die im Eingangssatz fast unmerklich in die dramatische Entfaltung des Quintmotivs einfließen, werden von Haydn im Menuettsatz machtvoll nach außen gekehrt: Das (sic!) Hauptteil ist als strenger Kanon angelegt, der von den beiden Violinen und dem Bratsche-Violoncello-Paar in Oktaven intoniert wird – ein Stück von unheimlicher Wucht, die dem Stück den Beinamen „Hexenmenuett“ eingebracht hat.

In a letter to violinist Stefi Geyer, Bartók described the opening movement of this quartet as his „funeral dirge“ [Totenklage]. The quartet’s first four notes — two descending minor sixths played imitatively by the first and second violins — are nearly identical to the opening motif of the second, giocoso, movement of the Violin Concerto No. 1 (1908), Bartók’s musical portrait of Geyer, with whom he was unrequitedly in love. Bartók dealt with the rejection of his love in a series of autobiographical works, of which this quartet is the culmination. Kodály called this quartet a „return to life,“ and its three accelerating movements (Lento, Allegretto, and Allegro vivace) plainly trace a course from the Liebestod-like anguish of the convoluted first movement to the heady, forceful finale.

siehe Quelle des Kommentars hier

Im Grund ist es müßig, nach Umwandlungen des „Stefi-Geyer-Motivs“ zu suchen: eindeutig bezeugt für die vier ersten Töne der Violine im 1. Violinkonzert, dessen erster Satz identisch ist mit dem ersten der „Deux Portraits“ op. 5. Zweifellos erinnern auch die ersten vier Töne (1. und 2 Geige) des Streichquartetts auf Anhieb an die ersten vier Töne der Solovioline im zweiten Satz des Violinkonzertes. Es genügt wohl, von diesem psychologisch-autobiographischen Hintergrund der verschiedenen Werke des jungen Bartók zu wissen, ansonsten kann man sich getrost auf die Musik konzentrieren. Das Vierton-Motiv ergibt ein Fugato, dessen polyphones Gewebe alles andere als gelehrt wirkt – dem paarigen Einsatz der beiden Violinen folgt im 8. Takt ein ähnlicher von Bratsche und Cello; zuvor eine charakteristische Verwendung von Terzenparallelen, die für das ganze Werk konstitutiv bleibt. Man hat an die Terzen im „Tristan“ erinnert, die im Vorspiel des Dritten Aktes die Stimmung der Liebesklage und der zehrenden Sehnsucht prägen.

Tristan III

Die Seufzer-Sekunde, deren Jammer den Mittelteil des ersten Satzes im Streichquartett erfüllt, steht im großen Kontext, der von der barocken Affektenlehre bis zu Gustav Mahler reicht:

Bach Triosonate Bach: Triosonate „Musikalisches Opfer“

Mahler Klage-Sekunden + Terzen  Mahler: Lied von der Erde  „Der Abschied“

Bartók Klage-Sekunde Bartók: 1. Streichquartett 1. Satz Mittelteil

Es sind die „Tristan“-Gesten (s.o.), mit denen auch der 2. Satz des Quartetts beginnt.

Bartók Str I Satz II

Béla Bartók Streichquartett Nr. I, gespielt vom Takácz-Quartett Hier

Im Youtube-Fenster sind auch die Einzelsätze anklickbar, („Mehr anzeigen“ öffnen!) – wie folgt:
00:00 1. Lento
09:14 2. Poco a poco accelerando all’allegretto
17:23 3. Introduzione: Allegro vivace

In den 80er Jahren habe ich mir mal zwei besonders zielgerichtete Arbeitsphasen „auferlegt“, nämlich sämtliche Beethoven-Quartette live zu hören (in der Kölner Philharmonie mit dem Alban-Berg-Quartett, begleitend habe ich alle CD-Aufnahmen dieses Ensembles erworben, auch die Gesamtpartituren nebst Sekundärliteratur erarbeitet) und mich für ein Bartók-Seminar in Szombathély/Ungarn vorzubereiten. Was lag näher als auch die CDs der 6 Bartók-Quartette mit dem Alban-Berg-Quartett einzubeziehen? Der Booklet-Kommentar von Paul Griffiths zum ersten Quartett kann eine eigene Vorstellung vom Aufbau des Werkes  sehr schnell auf den rechten Weg bringen (ich werde nachträglich die zur obigen Aufnahme – die man dann am besten in einem separaten Fenster öffnet – passenden Zeitangaben einfügen). Zu Beginn spricht er über die drei Sätze, „die zunehmend schneller, energischer und entscheidungsfreudiger werden, als skizzierten sie tatsächlich das Erscheinen einer neuen Stimme.“ (Er meint die neue kreative Phase im Leben des jungen Bartók.)

Es gibt sogar motivische Verbindungen, die diese Pointe unterstreichen, denn der fallende Halbtonschritt im Mittelteil des ersten Satzes wird sukzessiv erweitert, bis er zunächst das Hauptthema des Allegretto und dann das  Allegro vivace bildet. Gleichwohl besteht der Großteil des ersten Satzes aus imitierender Polyphonie, die von einem – seinerseits aus paarweise absteigenden Sexten (F-As, C-E) entwickelten – Violinduett ausgeht. Die beiden Sextebn ergeben zusammen die Moll-Version eines Motivs, das Bartók in dem für Stefi Geyer kompponierten Konzert mit der Widmungsträgerin assoziiert hatte; der ganze Satz, den er al einen Begräbnisgesang beschrieb, könnte verstanden werden im Lichte ihrer persönlichen Beziehung zueinander – obwohl er auch Bartóks Abschied von der Spätromantik kennzeichnet. Der zweite Satz ist noch verworren [im engl. Orig.: „still confused“], was vor allem an der Ganztonleiter zu bemerken ist, die ganz offen als Skala (11:30 und 16:08) präsentiert wird; obwohl er ihrer kaum wird gewahr gewesen sein, benutzt Bartók wie Schönberg, Berg, Webern und Strawinsky zur selben Zeit Ostinati (15:30), um eine Musik zu stabilisieren, in der der Sinn der Tonalität aufgeweicht wurde.

Noch auffälliger treten die Ostinato-Bildungen im Finale in Erscheinung, das – wie das Allegretto – eine Art Sonatensatz darstellt, mit dem Vorwort einer Introduktion aus akkordischen Ausrufen, die die Rezitative des Violoncellos und der ersten Violine voneinander trennen (17:23 bis 18:57). Zudem wird der Satz von einem Variationselement so intensiv belebt, daß er zeitweilig auf Parodie hinausläuft. Weite Teile der „Durchführung“ sind beispielsweise ein Fugato (19:43), dessen abruptes Hauptthema in ein verspieltes grazioso-Subjekt (23:01)  umgekrempelt wird; und vor (!) dieser Passage hat das Thema eine andere Maske aufgesetzt – gleichsam die Melodie zu einer banalen, quasi opernartigen Begleitung in gis-moll (22:40). Das ist typischer Bartók – wie auch die Umformung des vorwärtsjagenden zweiten Themas in eine leidenschaftliche Adagio-Klage (20:53, 26:25)  oder die hurtige Verdrängung dieses Gedankens durch seine Inversion (21:42, 27:04). Ebenso charakteristisch aber wie die gewaltigen Variationen sind die rhythmischen Energien dieser Musik: Synkopierung des Zweiertaktes, der als Metrum vorherrscht. Nicht zum letzten Mal ist Bartók in einem Volkstanz-Scherzo am deutlichsten er selbst.

Autor: Paul Griffiths (Übersetzung EMI Electrola GmbH)

Ich schreibe nicht ohne Skrupel: Hat man etwas von diesem Text, wenn man nicht zugleich die Partitur studiert und die Musik hört? Eine Freundin schrieb soeben: Deine Vorbereitung auf Montag ist sehr erhellend, wenngleich ich das Lesen im Vorhinein oft nicht mit dem Life-Hörerlebnis  so gut zusammenbringe. Sie hat recht! Ohne Hören und hörendes Identifizieren des Gelesenen hat das alles keinen Zweck. Aber genau das ist doch das Ziel. Also: ich bin noch lange nicht fertig… (Zwischenfrage: Ist die ganze Aktion nicht übertrieben? Ein Konzert ist ein Konzert, – kein Studiengang. Falsch, falsch, falsch. Jeder Musiker, der ein Stück übt, weiß warum. Nämlich: weil es dabei immer schöner wird. Vorbereitet zuzuhören ist so ähnlich wie bewusster leben. Leben! Wissen Sie, wie lange Bartók an diesem Stück wie um sein Leben gearbeitet und „gelitten“ hat? Und wir wollen es 30 Minuten lang primavista über uns ergehen lassen, ins Programm schauen und sagen: Und was kommt nun? Ah, Haydn, – schön!)

Aber eins ist sicher: die Welt ist weit und wird durch Globalisierung nicht enger, sondern durchlässiger. Und alles ist zugleich da und ergibt mehr Wechselwirkungen als je zuvor.

Haydn Quinten-Quartett („Haydn“ bitte anklicken)

Nach dem Konzert

Jetzt müsste ich alles neu schreiben, aus einer anderen Sicht. Letztlich hat das Streichquartett von Schafer die Beleuchtung des Ganzen verändert (nicht nur im wörtlichen Sinne: indem es aus völliger Dunkelheit auftauchte). Die Purcell-Fantasia in a-moll, deren Anfangsteil ich mir für Klavier umgeschrieben hatte, fehlte ganz, ansonsten gab es eine neue Reihenfolge, – nach Purcell Bartók, Pause, Schafer, Haydn. Um es kurz zu machen: Es war, als würde das Quartett-Spiel hier neu erfunden. Nur ein einziges Mal habe ich eine solche Stille in der Philharmonie erlebt, wie jetzt in der Aufführung des Schafer-Quartetts: in einem Nô-Spiel am 28.10.2005.

Um ein Ende zu finden, lasse ich nur das aktuelle Bild des Quartetts in veränderter Besetzung folgen (die Beschriftung unter dem Foto ist irreführend; ganz links: Gábor Homoki. Wer auf dem Foto am Anfang dieses Beitrags Oskar Vargas sein soll, bleibt ein Rätsel; ich erwähne das nur, weil im Internet-Auftritt auch die Ermahnung zu lesen ist, die Biographie absolut unverändert wiederzugeben):

Kelemen Screenshot 2016-01-26 10.43.50 KELEMEN Quartet

v.l.n.r.: Gábor Homoki – Katalin Kokas – László Fenyö – Barnabás Kelemen

Bedauerlich: man findet keine Konzerttermine für 2016. Ich würde auch weitere Reisen unternehmen, um dieses Quartett noch einmal zu erleben. (Unbedingt live!)

Wiener Klassik vormerken?

Sonntagabend kann man die Fortsetzung der ARTE-Serie „Epochen der Musikgeschichte“ im Fernsehen einschalten oder im Netz abrufen: HIER.

Der Pressetext zur Sendung „Wiener Klassik“ lautet:

Die Zeit der Wiener Klassik ist die Zeit der Revolution, der Befreiung, der Aufklärung. Europa ordnet sich in blutigen Kriegen neu und die Musik Haydns, Mozarts und Beethovens entwickelt sich zu zeitloser symmetrischer Eleganz, beseelt vom Drang nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Haydn entwickelt die Sinfonie als zentrale Gattung der Musik, in Wien wird das Wunderkind Mozart zum Liebling der Musikszene und Ludwig van Beethoven fasst den Freiheitsdrang der Epoche in bisher unerhörte Töne. Mit seiner gewaltigen 9. Sinfonie beschließt er eine Ära der hochfliegenden Hoffnungen, die bald von der Restauration verschluckt sind.
Die venezolanische Pianistin Gabriela Montero führt durch die Epoche der Klassik, und zeigt an kurzen Beispielen, wie die Komponisten gearbeitet haben, warum sie ihre Musik genauso geschrieben haben und wie der Charakter des Komponisten sich in seiner Musik widerspiegelt.

Der Text stimmt mich skeptisch: Gabriela Montero zeigt uns, wie die Komponisten gearbeitet haben? Sie hat den kreativen Prozess Mozarts und Beethovens in der Tasche? Man kann einen Vorgeschmack dazu abrufen, s. folgenden Scan, oberste Reihe Mitte: „Gabriela Montero Studiosession / Wiener Klassik“, erreichbar über den Klick HIER  (runterscrollen).

ARTE Klassik Screenshot 2016-01-17 00.15.02

Mein Fall ist das nicht, – ich fürchte, Improvisationen dieser Art führen uns geradeswegs an Haydn, Mozart und Beethoven v o r b e i . Die Prima-Vista-Elaborate machen uns unfähig, die Essenz wirklich großer Werke aufzuschließen. Alles klingt fortan nach Monteros Kinderspiel. Aber man kann es auch direkt an sich selbst erproben, – etwa mit Beethovens Violinkonzert (2. Reihe, Mitte) oder Haydns Sinfonie mit dem Paukenschlag unter Andris Nelsons (2. Reihe, rechts).

Es sind auch absolut abturnende Beispiele unter diesen Clipsen. Die – Beethoven unangemessene – Albernheit mit den Fingerspielen, auch die „Wiener Klassik als Graphic Novel“: mit Haydn hat das nichts zu tun, und auch Berühmtheiten reden Unsinn (womit ich nicht Leif Ove Andsness meine). Aber warum wird – im Blick auf ein „neues“ Publikum, nicht mal erklärt, warum Sängerinnen oder Sänger (selbst die in der Alten Musik erfahrenen) immer noch unerträglich druckvoll vibrieren, jedenfalls wenn sie Oper singen. Manch ein „Laienhörer“ würde Entlastung finden… Nie in meinem Klassik-Erleben seit den 50er Jahren habe ich diesen Gesang gut gefunden (bis Fischer-Dieskau und vor allem Fritz Wunderlich kamen), – was für eine Erlösung war es damals, anstelle der italienischen Vibratomaschinen endlich Maria Stader mit Puccini zu erleben. Oder (viel später) Frederica von Stade als Cherubino. Es ist vielleicht die Nähe zur „unschuldigen“ Knabenstimme? Aber hören Sie doch heute nur Julia Lezhneva mit einer der schönsten Melodien, die überhaupt je erfunden wurden. (Hier). So klingt es, wenn jemand fast gar nichts macht…

Nachwort post factum: Abbitte, – die Sendung ist viel besser als die vorher zugänglichen Clipse. (Am meisten irreführend: die Comic-Szene mit Haydn als einem seltsamen Kauz an der Abakus-Rechenmaschine.) – Eindrucksvoll immerhin: Gabriela Montero. Aber ihre Formeln für Haydn, Mozart und insbesondere Beethoven sind viel zu einfach. Und immer nur die „Schlachtrösser“ vorführend. – Das Bemühen, keine kondensierten Statements aus dem Off zu präsentieren, sondern möglichst alle Inhalte durch live extemporierte O-Töne zu liefern, hat auch viel Leerlauf und Aneinanderreihung von Halbwahrheiten zur Folge. Andererseits tolle Bilder, Lebendigkeit vor allem durch Opernausschnitte und Szenen aus Spielfilmen, guten oder schlechten, schwer zu sagen. Positiv: dass ein Eindruck enormer Vielfalt zurückbleibt, andererseits: was für eine Sendefläche – 90 Minuten!!!

Darin so Überflüssiges wie das Geschwätz über das Produkt Mozart (in Milliarden ausgedrückt und mit Bill Gates u.a. verglichen). Was bleibt, wenn man den Einzelpunkten auf den Grund geht? Wozu regt sich da jemand über Äußerlichkeiten auf, als sei er „innerlicher“ als der Rummel, den er selbst mit repräsentiert, und erweckt z.B. den Eindruck, als sei das Produkt-Etikett „Amadeus“ völlig aus der Luft gegriffen und eine bloße Kitschkonvention? Das Ruder nach 200 Jahren herumwerfen und „Amadé“ sagen oder „Theophil“? Mag sein, dass der Name Amadeus, den Mozart selbst – wenn auch selten – verwendete, favorisiert wurde, weil man den Klang des Namens Mozart so seriös wie nur möglich inszenieren wollte. Vor allem in der bald – 1798 bis 1806 – explosionsartig verbreiteten Ausgabe: Oeuvres Complèttes de Wolfgang Amadeus Mozart bei Breitkopf & Härtel. Musste man das nicht allgemein für authentisch halten? In allen Heiratsdokumenten Mozarts steht übrigens statt Amadeus der Name Adam, und man weiß wieder nicht, ob es vielleicht ein Scherz war.

Und wenn heute irgendwo die Figur des Don Giovanni als Harlekin inszeniert wird, sollte doch festgehalten sein, dass diese Idee (wenn auch auf Mozart persönlich bezogen) von dem Musikwissenschaftler Martin Geck (2005) stammt.

Die Fernsehsendung ist per Internet abrufbar bis 27. April 2016 um 22h59

Bachs höchst fragwürdiger Ton

Noch einmal mein altes Thema (vielleicht ein Spleen)

Ich habe mich vor drei Jahren etwas aufgeregt und diese Aufregung auch im Blog dokumentiert, – der dann leider bei einem Update samt einigen hundert anderen Eintragungen im Orkus verschwunden ist. Hier noch einmal: Auslöser war die Tatsache, dass Isabelle Faust in ihrer wunderbaren Einspielung der Sonaten und Partiten für Violine solo gleich zu Beginn einen Ton anders spielt, anders als er seit Generationen in den Editionen der Werke steht und seit Generationen von allen Geigern gespielt wird. Dieses „seit Generationen“ soll nicht im geringsten als Argument dienen; die festeste Tradition könnte bekanntlich auf reinster Schlamperei beruhen. Im Bachschen Autograph, das in einzigartiger Klarheit überliefert und auch veröffentlicht ist, kann man allerdings heute leicht nachschauen, was er wirklich geschrieben hat, und doch steht in den meisten gedruckten Ausgaben bereits – ohne weitere Erklärung – die Korrektur: in der digitalen Wiedergabe, die man HIER findet, ist das nicht anders: – drücken Sie bei 0:46 die Stop-Taste und vergleichen Sie den dreistimmigen Akkord in Bachs handschriftlicher Version (oben) mit der modernen Übertragung (unten). Der Unterschied besteht (unten) in der Hinzufügung des Vorzeichens b vor dem untersten Ton des dreistimmigen Akkordes. Ist diese Hinzufügung berechtigt – oder nicht? (Die Aufnahme, die man hört, stammt von Nathan Milstein aus dem Jahr 1975, unanfechtbar in ihrer Zeit, aber an dieser Stelle ist sie für mich nur Mittel zum Zweck.)

Man höre nun Isabelle Faust mit demselben Satz und halte inne bei genau 0:27 : sie spielt als tiefsten Ton des Akkordes ein e‘, kein es‘; sie spielt also den Ton, den Bach, wie es scheint, gemeint und notiert hat. Für mich war klar: das kann nicht richtig sein; wenn als nächster Ton in der Mittelstimme (nach dem d“) ein es“ folgt, ergibt dies zu dem unten nachklingenden e‘ einen hässlichen Querstand, den ich zwar mit etwas Mühe als expressiv deuten kann, aber letztlich nicht überzeugend. Warum diese punktuell herauszischende Expressivität, wenn es am Ende doch auch „unten“ zu einem es‘ führen soll???

Ich studiere gern die Handschrift J.S. Bachs und auch die getreue Abschrift seiner Frau Anna Magdalena, hier und hier, weiß der peniblen Arbeit des Bach-Digital-Quellen-Archivs großen Dank, sehe wachen Geistes, dass links neben dem besagten Ton genügend Platz ist, ein klärendes Vorzeichen hineinzusetzen, – gähnende Leere. Etwa … weil es selbstverständlich ist, welcher Ton hier zu spielen ist?

Die jungen Leute von heute entscheiden sich anders als die großen Geiger von ehedem, aber auch anders als höchst respektable Vertreter des „historisch informierten“ Lagers, zu denen ich auch Christian Tetzlaff zähle, an erster Stelle aber die großartige Rachel Podgers und immer noch Sigiswald Kuijken (1983) und im gleichen Jahr den jungen Thomas Zehetmair, der – wie es damals hieß – mit Nikolaus Harnoncourt zusammengearbeitet hatte. (Nachtrag am 8.9.16: Zehetmair spielt den fraglichen Ton es‘ immer noch; ich habe ihn gestern in der Stiftskirche in Stuttgart gehört, UND – Gottseidank – nicht nur diesen Ton, sondern die Sonate I und die Partiten III und II. Siehe auch hier.)

Und nun höre man Evgenij Sviridov hier oder Jonian Ilias Kadesha hier, beide spielen den Ton e‘, als seien sie historisch ganz besonders gut informiert. Auch Rüdiger Lotter spielt e‘. (Gunar Letzbor dagegen nicht.) Was haben sie gelesen, wen haben sie gefragt?

Man muss übrigens wissen, was es mit der dorischen Notation auf sich hat, die Bach an dieser Stelle noch gewählt hat anstelle der später üblichen Notation in g-moll: es gibt nur ein Vorzeichen am Anfang jeder Zeile, das in g-moll übliche zweite Vorzeichen muss an Ort und Stelle jeweils nachgetragen werden, – als sei es von Natur aus nicht gegeben (das gleiche gilt für die lydische Tonart in der Siciliana derselben Sonata).

Kürzlich fragte ich einen Organisten, der umfangreiche Analysen zu den freien Orgelwerken Bachs veröffentlicht hat, darunter auch die sogenannte „Dorische Toccata“ (hier), und erhielt eine recht hochfahrende Antwort:

S.g. Herr Reichow, vielen Dank für den Hinweis auf diese sehr interessante, geradezu paradigmatische Stelle! Ich maße mir an, Ihnen umstandslos folgenden Bescheid zu geben:

Das e‘ muß auf jeden Fall unverändert, ja ich möchte sagen: unangetastet bleiben. Andernfalls wird in diesem teils explizit, teils immanent mehrstimmigen Gefüge die geistreich spannungsvolle Antinomie zwischen der sich hocharbeitenden Unterstimmenlinie d‘-e‘-fis‘-g‘ (die erst danach, erst dann, nicht vorher ihre Kraft verliert und übers es‘ aufs d‘ zurückfällt) einerseits und der in die Tiefe strebenden (nicht sinkenden!) hohen Stimme, die, dort unten eingreifend, für ein ihrer Welt entsprechendes es‘ sorgt, andererseits vollkommen platt gemacht. Folge: Bachs hier aufblitzende, so gern mit scheinbaren Härten an den Grenzen des normalerweise Erlaubten schürfende Genialität wird zu bieder-plausiblem Barock heruntergepixelt.

Wohlgemerkt, wir reden über diese Stelle, Takt 3, Zählzeit 2, bis Takt 4, Zählzeit 1:

Bach BWV 1001 Adagio Takt 3

Wenn ihn der Querstand schon nicht anficht (der offenbar zu den „scheinbaren Härten an den Grenzen des normalerweise Erlaubten“ gehört), so sollte ihn doch wenigstens die Parallelstelle in Takt 16 leicht verunsichern: handelt es sich etwa dort um heruntergepixelten bieder-plausiblen Barock?

Bach BWV 1001 Adagio Takt 14

Ich kann mir kaum vorstellen, dass alle die, die hier mitreden oder sogar auf höchstem Niveau geigespielend mitargumentieren, nicht bemerkt haben, dass die Struktur der Takte 14 bis 22 haargenau der Struktur der Takte 1 bis 9 entspricht. Wieso haben sie aber keine Skrupel anzunehmen, dass Bach einmal diese Harmonie für verbindlich hält, ein andermal jene? (Ich weiß, ich weiß: Phantasie hatte er…)

bach g sonata detail Die beiden rot eingekreisten Stellen sind strukturell „identisch“!

Erinnert sei auch an Robert Schumanns Deutung des fraglichen Taktes in seiner gern geschmähten Fassung mit Klavierbegleitung (Peters-Ausgabe 7309), ihm wird die erste praktische Ausgabe von Ferdinand David (1843) vorgelegen haben:

Bach Schumann Adagio Takt 3f

Nun war der oben zitierte Organist noch nicht ganz am Ende; er fuhr folgendermaßen fort:

Mit den Worten heutiger musiktheoretischer Begriffe gesagt: hier arbeitet die aufsteigende Version der melodischen moll-Tonleiter (g-a-b-c-d-e-fis-g) gegen ihre absteigende, „natürliche“ Version an (g-f-es-d-c-b-a-g), die letztere obsiegt, verdirbt der aufsteigenden das Spiel…  Das ist sehr intelligent, quasi witzig gemacht. Warum das alles einebnen?

Daß Bach hier der für ihn um 1720 noch traditionellen Notationsweise in g-dorisch (anstelle von de facto g-moll) wegen ein b vor dem bewußten e‘ vergessen hat, kann man ausschließen: das Stück ist bekanntlich in einem äußerst sorgfältig und kalligraphisch geschriebenen Autograph überliefert, da kommt so etwas nicht vor, schon gar nicht zu Anfang der Kopierarbeit.

ALLERDINGS: es gibt ja noch ein weiteres Autograph, ferner eine Abschrift von Anna Magdalena sowie zeitnah im Bach-Umfeld gefertigte Abschriften. Es wäre zu überprüfen, wie es dort aussieht, ferner, was die NBA als letztes Wort spricht.

Ich glaube keinen Moment an diese Linieninterpretation, glaube eher an Motive und an Akkordfolgen, gehe aber die drei Text-Blöcke der Reihe nach durch:

Ein solches Spiel, wenn es denn beabsichtigt gewesen sein soll, scheint mir nicht besonders witzig (die eine Tonleiter verdirbt der anderen das Spiel), es gibt ernsteren Stoff, angedeutet in dem Intervall der verminderten Quart, das hier herausragt und in dem Akkord es‘ / d“ / g“ gewissermaßen unter Strom gesetzt wird, auf dem g“ keine Ruhe finden kann, so dass sie eine Oktave tiefer wiederkehren muss, mit dem Ziel, das es‘ selbst über die absteigende Linie zu erreichen und direkt mit der großen Septim d“ zu konfrontieren, so dass sich alles auf der Zählzeit 1 des nächsten Taktes auflösen kann – vorübergehend, wie der Triller auf dem fis“ spüren lässt.

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr es mich stört, wenn der tiefe Ernst des Tones es‘ und die Schärfe des Intervalls der großen Septime es’/d“ (die phrygische Fragestellung!) gemindert würde zugunsten eines „Spiels“, über das ich mitten im Eifer der nachfolgenden Fuga, im Zwischenspiel  der Takte 7 bis 11 durchaus frohlocke:

Bach BWV 1001 Fuga Zwi-spiel Fuga Takt 8 Zählzeit 2 bis Takt 11 Zz 1

Zur Frage der „zeitnah im Bach-Umfeld gefertigte(n) Abschriften“: Mich interessiert besonders die Quelle, die – nach dem Kritischen Bericht der NBA – mit großer Wahrscheinlichkeit auf Zwischenquellen vor 1720 (dem Jahr der Bachschen Reinschrift) zurückgeht, ja, möglicherweise vor 1717, die also vielleicht genau das spiegelt, was Bach von Anfang an oder wenigstens seit Jahren im Ohr hatte – vielleicht sogar dergestalt, dass er nun ein es‘ auch dort sah oder hörte, wo es aufgrund der dorischen Notationsgewohnheit gar nicht mehr stand. So jedenfalls beginnt die alte Abschrift (Abschrift D-B Mus. ms. Bach P 267):

Bach BWV 1001 Adagio Anf Fassung C

Bitte anklicken, damit die Vorzeichensetzung im Akkord auf der dritten Zählzeit der zweiten Zeile wirklich zu sehen ist. Es ist nicht Bachs Handschrift, aber eine Handschrift von großer Zuverlässigkeit. (Siehe dazu auch den neueren Artikel hier.)

Ich will noch eine weitere Quelle zitieren, die aus dem engen Umkreis Joh. Seb. Bachs stammt, sehr interessant, aber nicht immer zuverlässig, mit zahlreichen Korrekturen (und Fehlern) versehen. Eine Abschrift des Bach-Schülers Johann Peter Kellner, datiert auf das Jahr 1726, offenbar aber unabhängig von dem Bachschen Original (1720) entstanden, daher besonders aufschlussreich. Mir scheint ganz am Anfang des Adagios das „es“ als zweites Vorzeichen hinzugefügt, aber vielleicht nachträglich, da das C tangiert wird, im übrigen fehlt es auch in der Fuge. Im Presto steht es wiederum, ist aber wohl ebenfalls nachgetragen, möglicherweise mit einem anderen Stift.

Bach 1001 Kellner Kopie Detail

Ich danke den Mitarbeitern des Bach-Archivs Leipzig für freundliches Entgegenkommen!

***

P.S.

Falls Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit Recht sagen: „Ich will mehr als diesen einen Ton, es geht mir um das Große und Ganze, um den Satz, die Sonata, alle Sonaten und Partiten, nein, um Johann Sebastian Bach, nochmals nein: um die Musik schlechthin“, so antworte ich: Ja, das alles will ich auch, aber irgendwo muss man doch anfangen. Etwa so hatte ichs mir 1991 vorgenommen,  – das ist nun 25 Jahre her, ungefähr eine Generation: inzwischen haben die damals Geborenen ungeheuer gründlich Geige geübt, können wirklich alles spielen, fangen aber auch schon wieder damit an, den Notentext neu zu lesen, bzw. zu sagen: es gibt die Bachsche Reinschrift, alles andere interessiert mich nicht. Sie legen sich sogar das Facsimile aufs Notenpult. Ach, das aber ist möglicherweise nicht genug.

Nachtrag 18.01.2016 

Mail von Reinhard Goebel, wie immer erfreulich, darin die folgende Botschaft in Kopie:

Lieber Reinhard,
 
ich habe an der Stelle es’ gesetzt – speziell wegen der Parallelstelle in T. 16. Herr Reichow hat das m.E. völlig richtig gesehen: Parallelstellen sind bei Bach in der Regel auch harmonisch stabil. Ein e‘ wäre an der besagten Stelle aber auch aus inneren Gründen seltsam (die ganze Umgebung des Taktes hat ja es; ein Fluktuieren von es nach e und wieder zurück wäre ziemlich sinnlos).
 
Quelle C stellt meines Erachtens keine frühere Version dar. Ich glaube nicht, dass die Werke auf die Zeit vor 1720 zurückgehen.
 
Herzliche Grüße
Peter
 
 
Prof. Dr. Peter Wollny
Direktor Bach-Archiv Leipzig
 

Bemerkenswert: Klassik als Brimborium?

„Epochen der Musikgeschichte“ in ARTE

Ich finde es immer bemerkenswert, wenn der Kulturjournalist Wolfgang Schreiber über Musik schreibt, insbesondere, wenn auch er sich über die Lage der klassischen Musik in der heutigen Medienwelt Gedanken macht. So gestern in der Süddeutschen Zeitung, wo er auf einen Vierteiler im Fernsehen aufmerksam machte. Einer Generation, die noch den Beginn und die Verbreitung des Fernsehens in der Gesellschaft mitbekommen hat, steckt noch die gnadenlose Kritik des großen Musiksoziologen Theodor W. Adorno in den Knochen, schlagwortartig überliefert in der These „Musik im Fernsehen ist Brimborium“. Man kann das nachlesen in einem Spiegelgespräch aus dem Februar 1968: HIER. Schwer zu sagen, wie man sich heute, nach rund 50 Jahren systematischer Unterhöhlung des klassischen Musikgeschmacks, dazu verhalten will. Eine Möglichkeit ist die, journalistisch zu fördern, wenn in den Medien überhaupt noch etwas geschieht zugunsten einer Musik, die ihrem Wesen nach nicht massentauglich konzipiert ist, aber zugleich der regelmäßigen Subvention durch Staat und Öffentlichkeit bedarf. Man versucht den berühmten „Spagat“. So – mit großem Geschick und für jeden Insider durchschaubar – auch im aktuellen Beitrag auf der Seite MEDIEN der Süddeutschen Zeitung:

Die Gefühle der Welt Epochen der Musikklassik: Ein rasanter und gescheiter Vierteiler bei Arte. Von Wolfgang Schreiber. Quelle: Süddeutsche Zeitung 8. Januar 2016 (Seite 27)

Schon der Titel (Gefühle der Welt) orientiert sich an dem Dauerthema der Medien, „große Emotionen“, und beschwört Allgemeingültigkeit, also mindestens „weltweit“. Zudem „rasant“ – gewiss nicht langweilig – und „gescheit“, also nicht reißerisch und dumm popularisierend. Wer will nicht so bedient werden? Und der Artikel beginnt mit Worten, die man zunächst ironisch verstehen mag:

Wie großartig! Fein säuberlich in vier Epochen unterteilt, erscheint uns die Welt der klassischen Musik, wenn sie als  TV-Vierteiler „für junge Zuschauer, Einsteiger und Experten erlebbar, spürbar und verständlich“ serviert wird.

Nein, es ist freundlicher Ernst, der auf eine wohlwollende Inhaltsbeschreibung hinausläuft. Selbst die Moderne bzw. das letzte Jahrhundert kommt offenbar gut dabei weg. „Experiment und Unterhaltung triumphieren in TV-homöopathischer Dosierung.“ Das kann man deuten wie man will.

Und dieses Offenlassen einer Deutung (eines kritischen Urteils), verbunden mit einer leisen Apologetik, hat mich letztlich für den Artikel eingenommen und veranlasst mich, diesen ARTE-Vierteiler auf jeden Fall zu „konsumieren“. Ganz besonders auf Grund des letzten Absatzes, einem Meisterwerk der Diplomatie:

Grobes Fazit von vier Jahrhunderten: Die klassische Musik wird zum Event; was bleibt, sind die großen Komponisten, die Formen, die Gefühle der Welt. Es ist die Quadratur des Kreises. Die vermeintlich elitäre, museale und wirklich verzweigte, in tausend Facetten glitzernde Klassikmusik will im Fernsehen populär werden. Einem Medium, in dem sie ja eigentlich, von Talkshow über Tagesthemen bis Tatort, kaum existiert. Verdienstvoll: An ihren Bildoberflächen wird sie (be)greifbarer als erwartet. Hauptsache, die Musik selbst wird nicht verhökert an Firlefanz und Klischees.

Und wird damit auch nicht … zum Brimborium?

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Zur weiteren Information siehe HIER. Oder man beschränke sich auf die folgenden Texte:

Die Sendereihe wird durch ausführliche Klassik-Sessions mit Cameron Carpenter, Francesco Tristano, Gabriela Montero und Chilly Gonzales ergänzt. Mit ausgesuchten Klangbeispielen, Anekdoten und Analysen führen sie die Internetnutzer in die Musik und ihre Epoche ein.

Epochen der Musikgeschichte – Barock

Wird publiziert am 10.01.2016 – (90 Minuten) Pressetext ARTE:

Die Maxime des Barockzeitalters: „Mach es grandioser, reicher, bunter!“ gilt auch für die Musik. Die Komponisten schaffen ihre Werke zur Ehre Gottes und seiner absolutistischen Stellvertreter auf der Erde. Vivaldi wird zum ersten Star der Musik, Monteverdi erfindet die Oper, Lully feiert den Sonnenkönig, Händel macht Karriere in London – und mit der Musik von Johann Sebastian Bach vollendet sich eine Epoche, die schon weit über den „Barock“ hinausweist.
In dieser Folge zeigt der junge Pianist Francesco Tristano, weshalb die Musikwelt auch vom „Zeitalter des Generalbass“ spricht, wie eine „Fuge“ funktioniert und warum wir heute im „Neobarock“ leben. Interviews mit Musikstars wie Daniel Hope, Anna Prohaska und Alison Bolsom zeigen die auch heute noch ungebrochene Faszination dieser musikalischen Epoche und bringen die populären Werke des Zeitalters wie die „Vier Jahreszeiten“ von Vivaldi zum Klingen.

>> Ausstrahlung am Sonntag, 10. Januar um 17.40 Uhr auf ARTE

Siehe auch HIER.

Was mich skeptisch stimmt: ich sehe eine Reihe von Namen, die nachweislich mit Musik zu tun haben; manche nehme ich ernst, manche weniger, obwohl man auch ihnen eine gewisse Bedeutung für die klassische Musik nicht absprechen kann (Beispiel Cameron Carpenter). Ich sehe aber z.B. nirgendwo einen mir bekannten Namen aus der Musikwissenschaft. Das mag inhaltlich nichts Nachteiliges bedeuten, mindert jedoch das Vertrauen in die Kompetenz des Unternehmens. Ich werde versuchen, die Sache vorurteilsfrei auf mich wirken zu lassen, ohne am Ende die Ausflucht ins Massen-Pädagogische zu wählen: die Sendung war für mich unerträglich, aber „für die Leute“ bestimmt nützlich. (Ich muss keine Rücksichten walten lassen, die für die Presse gelten. Die Klick-Frequenz dieses Blogs ist mir – fast – gleichgültig.)

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Kurzes Fazit  (post factum):

Die Sendung war von Anfang bis Ende ein Vergnügen!  Gerade der Versuch, immer wieder das Alte und die Moderne zu verbinden, beides als unsere Gegenwart. Wunderbare Bilder und Szenenwechsel zwischen Venedig, Florenz, London (das Haus, in dem Jimi Hendrix wohnte, ein paar Sekunden später das, in dem Händel bis zuletzt gelebt hat), Potsdam. Sehr gute Passagen aus Filmen wie „Der König tanzt“, Heinrich Schütz und die Bedeutung des Westfälischen Friedens. Wunderbar die Szene aus Monteverdis „Orfeo“ und vieles andere. Am wenigsten akzeptabel die Reduzierung Vivaldis bei gleichzeitiger Hyper-Überhöhung (vgl. z.B. hier und hier), völlig unzureichend die Behandlung Bachs: als habe er eigentlich ein Opernkomponist sein wollen, unbefriedigend, aber immerhin ganz nett Francesco Tristanos Versuch, das Prinzip „Fuge“ an der zweiten aus dem Wohltemperierten Clavier zu erklären (warum denn sollen die Stimmen voreinander fliehen?) , unsinnig verkürzt die Geschichte vom „Musikalischen Opfer“: als sei Bach letztlich mit dem Versuch gestrandet, sich gegen den neuen Stil aufzulehnen. Er hat ihn vielmehr selbst virtuos angewandt, wo er ihn wirklich brauchen konnte (siehe H-moll-Messe). Er hat auch durchaus eine Fuge über das (angeblich) „königliche Thema“ improvisiert, wahrscheinlich in der Art des 3-stimmigen Ricercars, nur eben nicht die verlangte 6-stimmige, die er nachgeliefert hat, – nebst der Sammlung verschiedenster Stücke, einer wahren Wunderkammer das alten und des neuen Stils (Triosonate). Man hätte dazu nicht den Flötisten Pahud, sondern den (tatsächlich!) beteiligten Musikwissenschaftler Peter Wollny befragen sollen. Irreführend selbst noch die gutgemeinte Aussage von Laurence Cummings, Bachs Musik sei der direkte Weg zu Gott. Grundsätzlich ist klar: man setzt nur junge und schöne Künstler liebevoll ins Bild, eine blonde Augenweide in der Tat: die britische Trompeterin, deren Name mir entfallen ist. Skurill, aber wohl nicht ganz unmotiviert der Auftritt eines ziemlich intellektuellen Tätowier-Künstlers, der vom Barockgeist besessen ist… Ach so, wir leben ja im Neobarock.

Ansonsten: Wolfgang Schreiber hatte ganz recht!

Nächstes Mal bin ich wieder dabei.

HIER !

Wunderkinder sind uninteressant

Warum gibt es ein Dossier über die zehnjährige Alma Deutscher in der „ZEIT“?

Der Grund ist ganz einfach: weil der Autor kein Musiker ist. Nur darum kann er zum Beispiel fragen:

Wer ist dieses Kind, das im Alter von zehn Jahren in der Lage ist, ein anspruchvolles, fachkundiges Publikum zu verzaubern – Menschen, die in der Hochkultur zu Hause sind? Wer ist dieses Mädchen, das Noten liest, seitdem es zwei ist, das rund um die Welt mit Sinfonieorchestern musiziert, das im Sommer eine Oper zur Aufführung gebracht hat?

Und schließlich kommt die vorläufige Antwort: „Ein Wunderkind. Man könnte meinen, Alma Deutscher sei ein weiteres jener Virtuosenkinder, über die das Publikum staunt wie über Schlangenfrauen im Zirkus.“ Usw.usw. Aber sie sei anders: sie habe „all den anderen Kinderstars etwas voraus: Sie ist eine Klassik-Komponistin in einer Zeit, in der klassische Konzerte etwas für die Alten geworden zu sein scheinen.“ Und weiter:

Britische Medien haben Alma Deutscher mit Mozart verglichen, was sie schon deshalb nicht mag, weil der ein Junge war. Vielleicht spürt sie auch, dass ihr dieser Vergleich mit dem größten Wunderkind der Geschichte schaden kann. Darin liegt eine Übertreibung – aber eben auch die faszinierende Frage: Könnte eine wie Alma tatsächlich einmal die klassische Musik verändern?

Quelle DIE ZEIT 7. Januar Dossier Seite 13 – 15 Alma spielt Sie schreibt Opern und tritt mit Orchestern in der ganzen Welt auf. Sie geht nicht zur Schule, liest aber Bücher über Newton. Alma Deutscher ist zehn Jahre alt. Sie wird gefeiert als ein Wunder – darf sie auch noch Kind sein? Von Uwe Jean Heuser.

Man kann dieses Kind längst in zahlreichen Youtube-Filmen unter die Lupe nehmen und natürlich in Verzückung geraten, wie über jedes hübsche, lebhafte und frühreif wortgewandte Kind. Schließlich ist jedes Kind ein Wunder, dessen sich zumindest alle Eltern sicher sind, besonders das erste, so etwas hatten sie ja bisher nicht. Sie werden darüber zu wahren Kinderkennern! Mein Vorschlag wäre trotzdem, im Fall eines Wunderkindes zuerst die Eltern zu untersuchen. Welche Möglichkeiten haben sie dem Kind neben den musikalischen Künsten angeboten? Dieses Kind ging nicht einmal zur Schule. Oder nur ein einziges Mal, am Einführungstag der Grundschule, und den mochte es nicht: „es war total langweilig“. Da musste fürs Lesen und Schreiben gleich ein Privatlehrer her, Gottseidank nur eine Zeit lang: „Aber jetzt schlägt meine Mutter mir einfach Bücher vor. Ich liebe es zu lesen, über Geschichte, Newton und Darwin. Und natürlich über die großen Komponisten.“

Ich fasse es nicht! Und diese Art Pädagogik will man mit der des großen Leopold Mozart vergleichen, der vor allen Dingen nicht – wie offenbar diese Eltern – Amateur war, sondern ein intelligenter und hochprofessioneller Musiker, der die erste maßgebliche Violinschule der Musikgeschichte geschrieben hat? In einer Welt von 1750 – ohne Kinderpsychologen. Nein, man spricht nicht von den Eltern, sondern von den „Wunderkindern“ und dann auch sofort von dem Mozart. Aber niemand würde heute von diesem kleinen Wolfgang Amadé sprechen, wenn er das zehnte Lebensjahr nicht überlebt hätte, – oder nicht das zwanzigste. Man spricht von Mozart, weil er in entscheidenden Jahren seiner späteren Biographie einen unglaublichen Reifeprozess durchgemacht hat, ganz besonders 1777 bis 1779. Und wer die reifen Werke aus wirklicher Erfahrung kennt, wird keine Zeile aufs Papier bringen, die impliziert, dass die kleine Alma in eine ähnliche Richtung geht, und dies in einer Zeit, „in der klassische Konzerte etwas für die Alten geworden zu sein scheinen.“ Er dürfte vielleicht in aller Vorsicht formulieren, dass Alma eine Art Kinder-Oper geschrieben zu haben scheint, die von Menschen, die meinen, „in der Hochkultur zu Hause“ zu sein, anstandslos als Oper bezeichnet wird.

Es ist durchaus nicht so erstaunlich, dass ein begabtes Kind, das täglich viele Stunden klassische Musik spielt, schließlich auch selbst etwas erfindet, was so ähnlich klingt wie Klassik. Oder wie nachgemachte Klassik. Und das ist dann so klassisch wie zum Beispiel die Schülerkonzerte von Friedrich Seitz, die geschmacklich dem romantischen Salon zuzuorden sind. Es ist ein Arsenal von Versatzstücken, die auf gängigen Motiven und Kadenzen beruhen. Man muss das gar nicht bei Mozart abschreiben, es kommt halt so… „Viele Leute glauben, dass es das Schwierigste ist, eine Idee zu haben,“ sagt Alma. „Ich finde, es ist das Einfachste. Ich muss gar nichts tun.“ Eben.

Was herauskommt, sind Stilkopien und Intuitiv-Klitterungen, die man durchaus loben könnte, wenn man sie als kindliche Experimente und Übungen behandelte. Stattdessen werden sie von einer ahnungslosen Erwachsenenwelt zu frühen Meisterwerken hochgejubelt, das selbstbewusste Kind spricht von der ersten Sinfonie, an der es gerade arbeitet, und mich würde nicht wundern, wenn in Kürze das kindliche Gesamtwerk auf CD herausgebracht wird. Es wäre durchaus im Sinne einer cleveren Vermarktungsstrategie.

Alma Deutscher kann wirklich für ihr Alter sehr schön Geige und Klavier spielen. Man kann auf youtube ihren Vortrag des Bériot-Konzertes (Nr. 9 a-moll) vergleichen mit dem der achtjährigen Julia Fischer, – trotzdem würde ich keine Prognose wagen, was die Zukunft angeht:

Alma: Natürlich würde ich gerne mein Violinkonzert in der Carnegie Hall spielen, aber, nun ja…

ZEIT: Und wenn es ein anderer aufführt?

Alma: Es ist magischer für mich, wenn ich selbst spiele, was ich geschrieben habe.

Quelle ZEIT-Dossier a.a.O. als Abschluss

Hinzugefügt hat der Autor des ZEIT-Dossiers im Kasten unter dem Titel Grenzen der Recherche: „Almas Vater achtete darauf, dass einige Geheimnisse gewahrt bleiben, zum Beispiel ihr Geburtsdatum.“

So hat er doch noch eine Gemeinsamkeit mit Vater Mozart…

Nicht aus dem Handgelenk!

Zur Geigentechnik

Ich beziehe mich auf einen früheren Beitrag mit dem gegenteiligen Titel, aufzufinden hier. Es ist lustig, wie der alte Geigenpädagoge Galamian dem jungen Joshua Bell die richtige Handhaltung beizubringen sucht. Seine Faustregel: Alles was in der Geigentechnik hässlich aussieht, ist falsch. Und wenn das Handgelenk der Bogenhand weiter vorn ist als die Handoberfläche, dann ist das nicht nur falsch, sondern auch hässlich.

Ich finde all dies interessant, zumal hier die gleichen Etüden verwendet werden, die ich immer wieder von A bis Z übe und nützlicher finde als die „großen“ Dont-Etüden op. 35, diese hier – op. 37 – sind instruktiv genug, musikalisch ansprechend, und keine lässt den Probanden unbefriedigt zurück; er kann, wenn er alle geübt hat, leicht von einer zur anderen fortschreiten in ein und derselben Übe-Session. Erstaunlich finde ich, dass der wunderbare Geiger Joshua Bell (*9.12.1967) mit fast 13 Jahren nicht schöner spielt, von Sauberkeit ganz zu schweigen. Aber sein Ernst beeindruckt. Es geht mehr in ihm vor, als äußerlich zum Ausdruck kommt. Wahrscheinlich ist die Lehrsituation (unter Kontrolle der Mutter?) ziemlich einschüchternd, trotz der väterlichen Zuwendung des Meisters.

In seinem Hauptwerk (s.u.) stellt Galamian auch die Haltung und Führung des Bogens wesentlich differenzierter dar:

Galamian Grundlagen  ISBN 3-550-00133-9

Die Anfänge der beiden Etüden, die Joshua B. im Video spielt:

Dont 17 Dont 15

Aus meiner Lieblingsausgabe:

Dont op 37

Das ästhetische Verhältnis zwischen geraden und geschwungenen Linien, das im Bezug auf den Körper des Instrumentes bereits angesprochen wurde (siehe hier), kehrt auch in der Behandlung des Instrumentes wieder, wie es von Galamian in seinem Buch deutlich angesprochen wird.

GALAMIAN Seite 62, Überschrift „Der gerade Strich“:

Der gerade Bogenstrich vom Frosch bis zur Spitze ist die Grundlage der gesamten Bogentechnik. (…)

Das Hauptproblem eines geraden Bogenstriches liegt darin, daß Bewegung in einer geraden Linie natürlicherweise den Gliedmaßen des menschlichen Körpers nicht entspricht. Wie schon erwähnt, entsteht durch das Krümmen eines Gelenkes eine kreisförmige Bewegung. Aus diesem Grunde kann eine gerade Linie nur durch das gut koordinierte Zusammenspiel kreisförmiger Bewegungen entstehen. Diese Tatsache allein erklärt es, warum Anfänger wie auch viele Spieler, die schon ein ganzes Stück über das Anfangsstudium hinaus sind, so große Schwierigkeiten haben, mit Leichtigkeit und Sicherheit einen geraden Strich zu ziehen.

Ich erinnere auch an das prinzipielle Klavier-Problem, eine Tastenreihe, die geometrisch absolut gerade und in allen Tasten „egal“ angelegt ist, mit „inegalen“ Fingern absolut zuverlässig angeschlagen werden muss, während sich zugleich der Winkel der Arme zur Tastenreihe „unberechenbar“ verändert, wenn Töne im Höhen- oder Tiefenbereich der Tastatur eneinandergereiht werden.

GALAMIAN Seite 72 [die Ausnahme] „Der etwas schräge Strich“:

Bis jetzt wurde angenommen, daß der Bogen immer vollkommen parallel zum Steg ist. Es ist jedoch tatsächlich so, daß beim Ziehen eines singenden Tones bei einer nicht zu großen Strichgeschwindigkeit die größte Resonanz erreicht wird, wenn der Bogen in einem äußerst geingen (spitzen) Winkel zum Steg steht, und zwar so, daß die Bogenspitze immer etwas mehr zum Griffbrett hinneigt und der Frosch etwas näher am Köroer des Spielers ist. Der Bogen nimmt so eine ganz geringfügige Drehung im Uhrzeigersinn. Der Winkel der schrägen Richtung ist immer derselbe und ändert sich im Ab- und Aufstrich nicht. Technisch gesehen sollte der Bogen bei beiden Strichen denselben Weg zurücklegen, ab und auf.

Quelle (wie oben abgebildet) Ivan Galamian: Grundlagen und Methoden des Violinspiels / Edition Sven Erik Bergh / im Verlag Ullstein Franfurt/M u. Berlin 2. Auflage 1988 ISBN 3-550-00133-9

Interessant, gerade im Hinblick auf den Winkel des Bogens zur Saite, ist die Aufnahme des „Hora Staccato“ mit Jascha Heifetz. Leider gibt es eine perspektivische Verzerrung im Video, die den Bogen zuweilen fast rund aussehen lässt, dennoch ist unverkennbar, dass einer der weltbesten Techniker unter den Violinvirtuosen beim Staccato im Abstrich – von minderen Geigern besonders gefürchtet – den Bogen extrem schräg zu den Saiten stellt. (Ich kann nicht glauben, dass es eine Notmaßnahme ist.)

Mit Willie Nelson üben – ganz entspannt

Der Zyklus „Shotgun Willie“ – siehe youtube HIER

  • Erster Schritt: Ich bestimme die Tonarten und die Basstöne (pauschal)

1 „Shotgun Willie“ 0:00  D / 3 Takte vorweg II: D… D… G… D… A… D… :II

2 „Whiskey River“ 2:39  G / II: C… C… G… G… D… D… G… G… :II Mittelteil + Wdhlg + M +W

3 „Sad Songs & Waltzes“ 6:43  A / II: A.. E.. A.. A.. I D.. D.. A.. A.. I D.. D.. A.. D.. I A.. A.. E.. A.. … :II M

4 „Local Memory“ 9:50  A / Einltg Rez II D. D. I A. A. I A. A. I E. E. II D. D. I A. A. I D. E. I A. A. II Klav.

5 „Slow Down Old World“ 12:09  A / Einltg II: E.. E.. A.. D.. A.. E.. A.. A..:II E.. E.. A.. A.. H.. H.. E.. E..:II

6 „Stay All Night (Stay a Little Longer)“ 15:02  G /  Einltg in g II: G. G. G. DG I G. G. G. DG :II u.ä.

7 „Devil in a Sleepin‘ Bag“ 17:38 D / Einltg II: D. D. G. G. I D. D. A. A. I D. D. G. G. I A. A. D. D. :II

8 „She’s Not for You“ 20:17  E    FORTSETZUNG FOLGT

9 „Bubbles in My Beer“ 23:32  D /

10 „You Look Like the Devil“ 26:05  D /

11 „So Much to Do“ 29:31  A /

12 „A Song for You“ 32:41  A / ! harm. fis rez.

  • Zweiter Schritt: Ich höre den Melodieverlauf in Relation zum Bass (Gliederung). In welchem Grad schematisch gebaut?
  • Weiterer Schritt: Ich höre das „schmückende Beiwerk“ (Git.einwürfe, Klavier, Zwischenspiele, Chöre).
  • Text: Ich verfolge die Texte im Zusammenhang, das geht am besten, indem man auf die folgende Seite geht http://genius.com/Willie-nelson-shotgun-willie-lyrics – jetzt folgt nur ein screenshot, man sieht rechts unten die jeweiligen Texte, die man auf der originalen Website nach Bedarf anklicken kann, während man die Musik hört. Auf derselben Seite kann man übrigens (unabhängig von youtube) ganz oben auch die Musik anklicken

Shotgun Screenshot 2016-01-06 10.24.50

  • Relation der Stücke im Verlauf. Man beginne einmal mit der Folge Tr. 5 und 6.
  • Frage: Verträgt die Musik eine so konzentrierte Beobachtung? (Sie ist übrigens zum Tanzen gedacht!)
  • Grundvoraussetzung: nicht überheblich denken. Diese Stücke sind anders als klassisch komponierte Musik, aber nicht etwa leichtfertig „nach Schema“ hingeworfen. Sie gehören zu einem authentischen Weltgefühl. (Es ist irreführend, dabei an die deutschen Schlager – die Heimatschnulzen – der 50er Jahre zu denken!)

Zuviel Musik?

Fehleinschätzungen, die mit einem Überangebot zu tun haben

Jeder kennt die Situation, dass man sich das vielbändige Gesamtwerk eines Autors zulegt und dann kaum eine Seite darin vollständig liest. Früher, als seine Essays einzeln in Zeitungen oder Magazinen veröffentlicht wurden, hat man sie mit dem Farbstift durchgearbeitet, herausgetrennt und sorgfältig verwahrt. Man wollte sie nicht aus dem Sinn verlieren. Die leichte Verfügbarkeit heute mindert offenbar die Dringlichkeit. Wie oft höre ich noch eine vollständige Mahler-Sinfonie, – die ich früher in Einzel-LPs erwarb und mit gehöriger Ausdauer abnutzte -, nachdem ich mehrere CD-Mahler-Gesamt-Editionen besitze? Und da ich nun alles auf Knopfdruck bekomme, erst recht bei Spotify: Soll ich mir das Finale der Fünften in Erinnerung rufen? Oder lieber mal eben Lulus Todesschrei anspielen? – Ach was, von Popmusik ist die Rede. Von veritablen Gemeinschaftserlebnissen. Oder auch – von der schwindenden Bedeutung der klassischen wie der Popmusik?

ZITAT aus dem SPIEGEL

Tatsächlich setzen uns die Streaming-Dienste fast die komplette Musikgeschichte vor, sie geben uns Zugang zu einem Universum von Songs, wir können alle Lieder der Welt hören, aber am Ende hören wir nichts, weil die Musik selbst beliebig geworden ist und im Kosmos der totalen Verfügbarkeit kaum mehr mit Bedeutung aufgeladen werden kann.

Die Idee, dass Pop ein identitätsstiftendes Erlebnis für ganze Kohorten und Generationen sein kann, ist verloren gegangen. Zwar gibt es noch Popstars, aber niemand schafft heute, was Pop einmal konnte: die Menschen in einer bestimmten Haltung zu vereinen, so wie Elvis oder Bob Dylan, die Stones , die Supergruppen der Siebziger, die Sex Pistols oder Michael Jackson und Madonna. Heute verbindet nicht Popmusik die Menschen , sondern Snapchat, heute tritt im Zweifel eher Twitter eine Revolution los und nicht ein Song von Pharell Williams. Früher, so formulierte es der Autor Jason Tanz im US-Magazin „Wired“, wollten junge Menschen so sein wie der Led-Zeppelin-Gitarrist Jimmy Page. Heute sei ihr Vorbild Larry Page, der Gründer von Google.

QUELLE DER SPIEGEL 1/2016 30 Millionen Lieder Streaming-Dienste wie Spotify oder Apple Music bieten unbegrenzten Zugriff auf die Songs der Menschheit. Nun können alle alles hören und das jederzeit. Aber wer verdient damit überhaupt Geld? Und wie hat das die Musik verändert? Von Philipp Oehmke. (Zitat Seite 110)

Szenenwechsel

Die Süddeutsche Zeitung bringt heute einen Bericht über „Musik im Kopf“. Den Titel kenne ich seit 10 Jahren von Manfred Spitzer, dessen Musik-Kompetenz mir durchaus zweifelhaft erschien. Dieser Artikel ist aber offenbar gut recherchiert und zitiert Fachleute, die ich gern zu weiterer Information verlinke. Aber was mich nervt, ist die Tendenz, Musik immer auf die Emotionen festzunageln. Es handelt sich um – sagen wir – spannende Strukturen. Manchmal erregen sie mich, begeistern sie mich, meistens interessieren sie mich (nur) sehr. Nicht mehr und nicht weniger! Insofern gefällt mir der reduzierende Ansatz des Artikels, der sich auf den amerikanischen Musikästhetiker Leonard B. Meyer bezieht:

Er behauptete 1956 in seinem Buch „Emotion and Meaning in Music“, dass Musik durch die Art, wie sie aufgebaut ist, Emotionen hervorruft: Musik befriedige uns durch ein geschickt komponiertes Wechselspiel mit Spannungsaufbau und Auflösung.

„Beim Musikhören versucht unser Gehirn ständig vorherzusagen, wie die Musik weitergehen wird“, bestätigt Lutz Jäncke, Neurowissenschaftler an der Universität Zürich. „Wie entwickelt sich die Melodie? Wird die Musik lauter oder leiser? Wie verändert sich der Rhythmus? Sobald etwas kommt, das wir nicht erwarten, zum Beispiel ein Rhythmuswechsel, sind wir überrascht. Es entsteht eine Spannung, von der wir erwarten, dass sie später aufgelöst wird, zum Beispiel, wenn die Musik den vorherigen Rhythmus wieder aufgreift.“

Der Effekt ist vergleichbar mit einem Kriminalroman, in dem ein Autor einen sogenannten Cliffhanger einbaut: Ein Ermittler begegnet zum Beispiel einem bewaffneten Mörder. Aber statt einen Zweikampf zu schildern, wechselt der Autor die Szene, um die Spannung zu steigern. Wir lesen schnell weiter, weil wir hoffen, die Auflösung zu erfahren. In dieser Erwartungshaltung steigt sowohl beim Lesen als auch beim Musikhören die Dopamin-Ausschüttung, und unsere Handflächen produzieren Schweiß. Der Musikpsychologe Stefan Koelsch von der norwegischen Universität Bergen konnte in Experimenten nachweisen, dass unser Körper diese Symptome beim Musikhören selbst dann zeigt, wenn wir einen Wechsel in einem Stück nicht bewusst wahrnehmen.

Quelle Süddeutsche Zeitung 2./3. Januar 2016 Musik im Kopf Hören Menschen unbewusst Stücke, die zur Stimmung passen? Oder beeinflussen Lieder die Gefühle? Forscher blicken in das Gehirn, zum das Zusammenspiel von Musik und Emotionen besser zu verstehen. Von Boris Hänssler.

Im weiteren Verlauf geht es auf Stimmungen und subjektives Befinden etc. Ein entscheidender Punkt wäre jedoch:  dass jeder informiertere Musikhörer nicht Musik auflegt, um bestimmten Emotionen nachzuhängen, sondern – weil sie interessant ist. Die Emotion, die sie übermittelt, kann völlig nebensächlich sein. Man greift jedoch die Emotionen heraus, bzw. die dazu passenden Einzelstücke, weil sie leichter handhabbar sind: die Vorsortierung treibt die psychologische Musikforschung vielleicht bereits in eine Richtung, die vom musikalischen Standpunkt aus wenig ergiebig sind. Wozu hat denn eine Sinfonie 4 Sätze, warum changiert jeder Satz in verschiedensten Schattierungen und Techniken? Weil die Stimmungen, die man assoziiert, uns gar nicht in Besitz nehmen sollen, sondern allenfalls das Material bilden, mit dem … gespielt wird. Und das Spiel … fesselt uns. Der eine Contrapunctus aus Bachs „Kunst der Fuge“ ist ganz anders gearbeitet als der nächste, aber der „Ductus“ ist ganz ähnlich, man verfolgt das Spiel der Kräfte und Linien sehr aufmerksam, aber dass meine Handflächen mit der Absonderung von Schweiß reagieren, ist eher unwahrscheinlich. Auch das erhabene Gefühl, das manche Hörer vielleicht verbalisieren, ist relativ unerheblich. Unerheblich ist auch, wenn Lutz Jähncke sich im „Herbst“ der Vier Jahreszeiten von Vivaldi an den „Indian Summer“ in Boston erinnert, „die Herbstzeit mit ihren rotorangen und goldgelben Farben. Ich rieche bei der Musik sogar noch das Laub.“ (a.a.O.) Für andere Hörer ist nur noch entscheidend, dass das Werk bis zum Überdruss abgeklappert ist und für 10 Jahre in den Giftschrank gehört, mit dessen Essenzen man keine Emotion mehr überprüfen sollte.

Weit ergiebiger scheint mir die Vorgehensweise, die der SPIEGEL-Artikel anregt, gerade durch den nicht weiter spezifizierten Einsatz des Wortes „Bedeutung“.

ZITAT SPIEGEL 1/2016 (a.a.O. S.115)

Der Anspruch […] offenbart sich in dem Begriff, den Ek, Parks oder Iovine für ihre Arbeit reklamieren und den sie zur Sicherheit aus der Kunst geborgt haben: Kuratieren. Das Wort suggeriert, dass Bedeutung erzeugt wird, indem Dinge neu angeordnet werden. Die Aufgabe des Kurators sollen dabei immer weniger die Algorithmen übernehmen, die bei Amazon Bücher empfehlen, sondern menschliche Experten.

Und so strömt diese kuratierte Musik wie eine entwertete, hoch inflationäre Währung in unsere Telefone. Sie kommt aus dem 4G-Stream wie der Strom aus der Steckdose. „Je weiter wir im 21. Jahrhundert voranschreiten“, hat neulich Bill Drummond von dem Technoprojekt The KLF gesagt, „werden wir Musik hören wollen, die nicht immer und überall gehört werden kann. Wir werden anfangen, nach Musik zu suchen, die unmöglich einfach nur ein Soundtrack sein kann.

Während Popmusik als All-you-can-eat-Ware immer wertloser wird, steigt ihr Wert als historisch-museales Phänomen. Gruppen wie Kraftwerk präsentierten überwältigt von der eigenen historischen Bedeutung ihre Alben lieber in Museen: Als brauchte Pop inzwischen diesen institutionellen Rahmen, damit ihm überhaupt noch Sinn zugestanden wird.

Mainstream-Pop aber funktioniert heute am besten, wenn er sich aller Bedeutungen entledigt hat, bar aller Voraussetzungen und Verweise, frei von Referenzen und Ballast. Pop hört auf, Pop zu sein, wenn man ihm das Bezugssystem entzieht. Was bleibt, ist schöne Musik, die die Menschen vereint.

Wie bitte? Habe ich dahin gewollt? Mit all dem Bedeutungs-Ballast meiner Klassik, – die unser aller Klassik ist und eben auch einen Teil der Menschheit …  vereint? Qualitäten aller Länder und Kulturen – seid umschlungen! War es also gemeint, Mein rauschender Freund? Dein Singen, dein Klingen, War es also gemeint? Zur Müllerin hin! So lautet der Sinn.

***

Eine persönliche Erinnerung, die erst zwei Tage alt ist: auf der Rückfahrt von der Nordseeküste – mit einer chaotischen Ausgangssituation in Bensersiel, dann einer höchst konzentrierten Fahrt auf eisglatten Straßen über Esens, Aurich und Leer -, hörten wir endlich Bach: die zweistimmigen und dreistimmigen Inventionen bzw. Sinfonien und dazwischen die Chaconne (Ciacona). Natürlich ebenfalls bestimmte oder unbestimmte Erinnerungen auslösen: das Buch „Musikalische Formenlehre“ von Erwin Ratz, die Grundlagen motivischer Arbeit (auch bei Beethoven!), – und später die Sinfonia in f-moll, assoziierend das reale Üben der Sinfonia in g-moll , zuvor aber vor allem das Üben der Chaconne in Ftan im Unterengadin samt schriftlichem Protokoll 1985 (?), das ich einmal reaktivieren möchte. Und nun diese überwältigende Wirkung, an der einen Stelle, womit ich nicht gerechnet hatte und die ich während der anspannenden Autofahrt auch nicht brauchen konnte. Bloß keine Tränen. Lächerlich und gefährlich. Es geschieht dort, wo man der gewaltigen Anlage des Ganzen zutiefst gewahr wird, nicht erst bei dem Beginn des D-dur-Teils, sondern dort, wo sich die Figurationen in der Höhe zu verirren schienen (sie spielt es im piano!) und in dem „arpeggio“-Abschnitt wieder ins Strömen geraten, also etwa ab Takt 105: der genaue Mittelpunkt des Werkes steht noch bevor (128/129). Man ahnt, was kommen wird: Der ganze Weg in die Innerlichkeit, ins Triumphale (D-dur-Fanfaren!) und zurück ins Tragische.

Bach Jansen Chaconne

Für heute ist es die größte aller Aufnahmen. Aber es kann auch an der extremen Hörsituation mit angespannten Sinnen gelegen haben.

Bach Jansen Cover s.a. hier

Was man Gitarren antun kann

Das Klischee vom Instrument als einem menschlichen Wesen (mit dem Namen eines Pferdes)

Wenn man weiß, wie bedeutende Geiger ihr Instrument behandeln, – wie sie es gleich einem menschlichen Partner hegen und pflegen, in Samt und Seide hüllen, die Temperatur und Luftfeuchtigkeit im Kasten kontrollieren usw. -, verwundert es einen zu erleben, wie ein Volksmusiker, dem sein Instrument ebenfalls etwas bedeutet, damit umgeht. Er liebt gerade auch die Gebrauchsspuren: Fiddler dulden es, dass die Decke unter den Saiten mit weißem Kolophoniumstaub beschichtet ist, sie schneiden sich Dellen ins Griffbrett oder auf die Bogenstange und ähnliches. Gitarristen brennen Monogramme in den Holzkorpus, wie in das Fell eines Pferdes, ritzen Namen in den Lack, klemmen einen elektrischen Tonabnehmer dran, schütten Bier hinein (aus Versehen, will ich hoffen,… aber egal).

Und sie reden glaubwürdig vom warmen Klang und hören etwas tief Menschliches heraus. Willie Nelson ist nur ein Beispiel unter vielen.

Gitarre Willie Nelson

ZITAT

Bei all dem Wahnsinn brachte ich es doch immer noch fertig, Musik zu machen. Im Grund bot mir die Musik sogar eine Zuflucht vor dem ganzen Wahnsinn. Je anstrengender mein Privatleben wurde, desto mehr sehnte ich mich danach, meine wunde Seele mit Klängen zu trösten. Seit jeher war mir der Klang der Instrumente besonders wichtig. Anfangs spielte ich Fender Telecaster und Stratocaster, mit schmalem Hals und schneidend elektrischem Sound. Danach spielte ich eine große Baldwin über einen Aluminium-Amp. Als mir deren Hals durchbrach, habe ich sie gegen eine Martin aus Rosenholz getauscht, eine akustische Gitarre mit dem vollsten, wärmsten Ton, den ich je gehört hatte. Ich ließ mir von Shot Jackson, einem genialen Gitarrenbauer in Nashville, den Tonabnehmer aus der Baldwin in die Martin einbauen. Es funktionierte. Endlich bekam ich den Klang, nach dem ich gesucht hatte. Ich hörte darin etwas Menschliches, das meiner Stimme ähnlich war. Allerdings dauerte es nicht lange, bis ich ein Loch in die Decke geschlagen hatte. Was daran lag, dass klassische Gitarren nicht dafür gemacht sind, geschlagen zu werden. Aber dieses Loch und der Aluminium-Amp – in Würde gealtert mit genau der richtigen Menge an verschüttetem Bier- schienen den warmen Ton noch zu verstärken. Ich nannte meine Gitarre Trigger, in Erinnerung an Roy Rogers und sein geliebtes Pferd.

Als die Produzenten von RCA meinen neuen Sound hörten, hatten sie gleich eine Idee für mich: Sie fanden, ich sei der geborene Folk-Sänger. Nach Bob Dylans Nashville-Album wurde es zu einem Trend, Countrymusik mit Folk-Elementen aufzupeppen.

„Oh, Mann, es gibt kein Entrinnen“, sagte Waylon Jennings, als ich ihn im Studio traf. „Jetzt lassen sie mich schon ‚Mac Arthur Park‚ und ‚Norwegian Wood‚ singen. Inzwischen bezeichnen sie mich als ‚Country-Folk‘. Vorher hieß es ‚Country-Rock’n’Roll‘. Die Penner haben doch von Tuten und Blasen keine Ahnung.“

Gitarre Willie Nelson gedreht

Quelle Willie Nelson mit David Ritz MEIN LEBEN: EINE LANGE GESCHICHTE Aus dem Amerikanischen von Jörn Ingwersen / Wilhelm Heyne Verlag München 2015 (Seite 214 f)

Bilder: Scans vom rückwärtigen Cover des Buches (Ausschnitt)

Ein menschliches Wesen? Man benutzt es, man spricht hindurch, man ramponiert es wie die eigene Stimme, die unter Umständen „gebraucht“ viel überzeugender klingt als „belcanto-geglättet“. Jimi Hendrix zerstörte sogar (s)eine Gitarre, um etwas damit auszusagen.

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Aber sehen Sie? Hier hatte ich bereits begonnen, den Blick auf die Gitarre zu verfälschen. Typisch Streicher! Nicht von der Gitarre als einem menschlichen Wesen war ja die Rede, sondern davon, dass Nelson im Klang der Gitarre „etwas Menschliches“ hörte, und er gab ihr einen Pferdenamen…

Ganz anders klingt es zum Beispiel, wenn der Besitzer einer guten Violine von seinem Instrument spricht:

Meine Stradivari […] aber singt mit einer fast menschlichen Stimme, wenn ich sie spiele, einer Stimme, die mich an die Stimme einer geliebten Frau erinnert. In solchen Augenblicken spüre ich es ganz deutlich: meine Geige lebt.

Geigen sind ebenso launenhaft wie Frauen. Sie können zärtlich sein, gelangweilt oder feurig. Einen Tag klingen sie besser, den anderen schlechter. Sie reagieren manchmal liebevoll auf sorgliche Behandlung, dann wieder weisen sie einen ab. Man muß sie umwerben; faßt man sie zu hart an, kreischen sie. An feuchten Tagen sind sie deprimiert. Bringt man sie aus der Kälte ins warme Zimmer, müssen sie sich erst eingewöhnen. Bei der geringsten Veränderung – sagen wir dem Absinken des Stegs um den Bruchteil eines Millimeters – brauchen sie wochenlange Erholung. Ich besaß einmal eine wunderschöne Geige von Antonius und Hieronymus Amati aus dem Jahre 1608, die kein grelles Licht ertragen konnte. Man muß halt Rücksicht nehmen auf eine über dreihundertfünfzig Jahre alte Dame mit lieblichem Leib und bezaubernder Stimme.

Quelle Joseph Wechsberg: Zauber der Geige / S. Fischer Frankfurt am Main 1974 (Seite 13 f.)

Natürlich lächelt auch der Klassikgeiger heute über diese Form lyrischer Hyperbolik. Andererseits scheint sie dazuzugehören. Man lese nur Yehudi Menuhins Kapitel „Ein platonisches Verhältnis – der Geiger und seine Violine“:

Ihre Gestalt ist inspiriert von und zugleich symbolisch für die schönste menschliche Form, den weiblichen Körper. Es gibt keine geraden Linien bei der Violine: jede Linie ist geschwungen und gebogen, einschmeichelnd und zart. Wir sprechen von ihren teilen mit Ausdrücken der Anatomie: Kopf, Hals, Schultern , Taille, Bauch, Rücken – und Boden. Der Lack einer Stradivari oder Guarneri erinnert an den Widerschein der Sonne im seidigen Glanz menschlicher Haut. […] Ich habe immer den Kopf meiner Violine geküßt, ehe ich sie „zum Schlafen“ in ihren Kasten zurücklegte. Immer wieder habe ich das schillernde, lebendige Spiel des wundervollen Lackes bewundert, wenn ich den Winkel der Violine zum Sonnenlicht veränderte; diese Durchsichtigkeit und dieses Feuer habe ich stets für das Temperament eines menschlichen Wesens gehalten.

Quelle Yehudi Menuhin / William Primrose: Violine und Viola / Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1982 (Seite 15)

Er hat recht: Es gibt nur die geraden Linien der vier Saiten, alle andern Geraden oder Senkrechten – wie die Zargen – sind von Wölbungen überlagert, während der Gitarren-Körper von den quer laufenden Linien der 18 Bünde ebenso gezeichnet ist wie von den 6 Saiten und dem brutal auf die Decke geklebten Steg, der sie alle halten muss. Klar, dass auch der Wirbelkasten den Gitarrenbauer zu keinen ornamentalen Eskapaden verleitet. Der anatomische Blick mag sich an Zahnrädern und ziselierten Metallplatten freuen.

Was allein den Gitarrenfreund versöhnt, ist zweifellos der Klang. Ich empfehle die TACET-CD „What about his Mr. TARREGA?“ – Die Tracks 19 bis 25 geben Einblicke in Wunder von Schattierungen und Farben… 7 verschiedene Instrumente mit ein und derselben Musik. (Natürlich entsteht der Klang auch nicht ganz ohne eine solchen Künstler: Wulfin Lieske!)

Gitarren Lieske (bitte anklicken)

Quelle (Hier)

Wie Willie Nelson Neues erfand

War es überhaupt „neu“?

Ich habe zunächst in einem anderen Zusammenhang über dieses Buch geschrieben, hier, da ging es mir in erster Linie um die zweifelhafte Lernerfahrung, die Alan Rusbridger anhand der Ballade in g-moll von Chopin protokolliert hat. Willie Nelsons Lebensbericht wollte ich gewissermaßen als Folie aus einer weniger reflektierenden Welt dagegenhalten. Bei weiterer Lektüre merkte ich, dass ich beiden so nicht gerecht werden konnte. Dass ich z.B. über das einzelne „Kulturgut“ von Chopin kaum etwas Neues erfahren kann (es steht schon alles in den Monographien), über die zahlreichen „Kulturgüter“ aber, die Nelson aufzählt, vielleicht eine andere Perspektive vermittelt bekomme, die ich im Traum nicht eingenommen hätte. Um dabei nicht ins Uferlose abzudriften, präzisiere ich meine Motivation für diesen Beitrag:

Ich will erkunden, was einen Song ausmacht, den der Autor und sein Publikum offenbar als völlig gelungen empfinden. Ganz unabhängig von meiner Meinung , – ich habe vielleicht keinerlei „authentischen“ Zugang zu dieser Musik, finde sie melodisch abgedroschen und kann den einen Song nicht recht vom anderen unterscheiden, der Text spielt in einer Welt, die mir gleichgültig ist. Vieles scheint mir banal, allzu häufig taucht mir als positive ästhetische Etikettierung das Wörtchen „entspannt“ auf. Ein Lebensgefühl, das vom Joint geprägt ist, scheint mir suspekt. Ich will aber keinesfalls altfränkisch-analytisch daherkommen, ich will Song für Song hören, und anhand der Hinweise Nelsons verstehen, was seine „Wahrheit“ ausmacht, werde auch die Links einfügen, damit jeder weiß, wovon die Rede ist, aber erst später, damit sich kein Vorurteil verfestigt. Eine kleine Reise also, ganz entspannt.

ZITAT

„Du meinst was Neues?“

„Was Altes, was Neues, was Geborgtes, was Blaues. Ich gebe dir so viel Studiozeit, wie du brauchst. Tu, was dir Spaß macht.“

Ich bin zurück ins Hotel und habe darüber nachgedacht. Wexler beteuerte dauernd, ich bräuchte keinen Produzenten, der mir sagte, was ich tun sollte. Er meinte, ich hätte eine Vision.

„Gib dieser Vision einfach einen Ausdruck“, drängte er. „Das Studio ist deine Welt. Du formst den Klang nach deinen Vorstellungen. Alle großen Künstler machen das so.“

Das hörte ich gern, aber ich spürte auch den Druck. Ich brauchte mindestens noch zwei oder drei neue Songs, um Wexlers Vertrauen in mich zu rechtfertigen. Ich musste mir schnell was einfallen lassen.

An diesem Abend saß ich im Badezimmer und zermarterte mir das Gehirn, um ein paar gute neue Songs zustande zu bringen, alsmein Blick auf einen Spender für Hygienebeutel neben der Toilette fiel. Ich nahm einen heraus, zückte meinen Bleistift und fing an, alles aufzuschreiben, was mir irgendwie in den Sinn kam. Die Worte purzelten nur so heraus.

Shotgun Willie sits around in his underwear
Bitin‘ on a bullet and pullin‘ out all of his hair
Shotgun Willie’s got all his family there

Well you can’t make a record if you ain’t got nothing to say
You can’t make a record if you ain’t got nothing to say
You can’t play music if you don’t know nothing to play
Shotgun Willie sits around in his underwear
Bitin‘ on a bullet and pullin‘ out all of his hair
Shotgun Willie’s got all his family there

Now John T. Floores was working for the Ku Klux Klan
The six foot five John T. was a hell of a man
Made a lotta money selling sheets on the family plan
Shotgun Willie sits around in his underwear
Bitin‘ on a bullet and pullin‘ out all of his hair
Shotgun Willie’s got all his family there

(Seite 257) Musik siehe hier: Shotgun Willie

Quelle Willie Nelson mit David Ritz MEIN LEBEN: EINE LANGE GESCHICHTE Aus dem Amerikanischen von Jörn Ingwersen / Wilhelm Heyne Verlag München 2015

Musik siehe hier / Reihenfolge der Titel:

1 „Shotgun Willie“ 0:00 2 „Whiskey River“ 2:39 3 „Sad Songs and Waltzes“ 6:43 4 „Local Memory“ 9:50 5 „Slow Down Old World“ 12:09 6 „Stay All Night (Stay a Little Longer)“ 15:02 7 „Devil in a Sleepin‘ Bag“ 17:38 8 „She’s Not for You“ 20:17 9 „Bubbles in My Beer“ 23:32 10 „You Look Like the Devil“ 26:05 11 „So Much to Do“ 29:31 12 „A Song for You“ 32:41

***

Ich füge ein, was mir ein guter Freund zur Ermutigung schrieb:

Klar kenne ich Willie Nelson, ein aufrechter Kerl, ein echter „Typ“, Underground in den USA, und immerhin hat er, zusammen mit sagen wir Kristofferson und dann auch Cash Nashville ein wenig entzaubert und eine „bessere“ Countrymusik durchgesetzt. Er ist wie Dylan ja auf never ending-Tour, lebt monatelang in einem umgebauten großen Bus, mit über 80. Bewundernswert. Ich kenne nur einige wenige seiner Alben, aber „Teatro“ liebe ich sehr (ist auch toll poduziert, klingt hervorragend: https://open.spotify.com/album/1OEt5rJZPkKm4zkHLfVYje ), und dieses Red Headed Stranger-Album ist sehr wichtig, und seine Popsong-Adaptionen find ich auch interessant, zum Beispiel auf „Stardust“, oder eben „Always On My Mind“. Er hat auch einige Songs von Townes Van Zandt groß gemacht, Pancho and Lefty etwa. Ich weiß nicht, ob ich sein Buch lesen sollte, sag Du’s mir, ich hatte registriert, daß es herausgekommen ist, habe es aber (noch?) nicht gekauft. Ich bin ja immer bei der „Wahrheit“ skeptisch und dem, was solche Leute zu sagen haben, so sehr ich ihn auch als Musiker und eben als gradlinigen Menschen achte.

ZITAT (weiter im Willie-Nelson-Text!)

Seite 278

Und es war gut, dass ich meinen Willen bekam, denn ich stand kurz vor einem Schreibrausch. Allerdings war mir das damals keineswegs bewusst. Kurz davor zu stehen und tatsächlich loszuschreiben sind zwei völlig verschiedene Sachen. Nachdem ich den Vertrag bei Columbia unterschrieben hatte, machte ich eine Phase durch, in der ich mich irgendwie blockiert fühlte. Vielleicht lag es daran, dass ich ziemlich schnell neues Material raushauen musste.

Um auf andere Gedanken zu kommen, fuhren Collie und ich zum Skilaufen nach Steamboat Springs in Colorado. Es war der Winter 1975. Weil ich mir Zeit nehmen wollte, beschloss ich, mit dem Auto hinzufahren. Das Skilaufen weckte meine Lebensgeister, und die kalte Bergluft tat mir gut. Auf der langen Rückfahrt kam ich um den Gedanken nicht herum, dass es langsam Zeit wurde, meinem müden Hirn ein paar neue Stücke abzuringen. Connie erwähnte beiläufig einen alten Song namens „Read Headed Stranger“, den ich als DJ drüben in Fort Worth gespielt und allen meinen Kindern vorgesungen hatte, als sie klein waren. Für mich war der Song ein alter Cowboy-Film. Ich sah die Geschichte förmlich vor mir. Ich konnte mir diesen alten Prediger gut vorstellen, der seine Frau ermordet hatte und für den Rest seines Lebens durch die Lande zog und nach Trost suchte, den er nie finden würde.

Ich sah den Anfang des Films schon vor mir. Ich hörte die Worte in meinem Kopf.

It was the time of the preacher when the story began
With the choice of a lady and the love of a man
How he loved her so dearly he went out of his mind
When she left him for someone she’d left behind
He cried like a baby he cried [screamed] like a panther in the middle of the night
And he saddled his pony and went for a ride
It was the time of the preacher in the year of ’01
And now the preaching is over and the lesson’s begun. [Text s.a. hier]

Ich ließ mir die Zeit und konzentrierte mich dabei auf die Empfindungen des Predigers. Ich dachte mir, wenn er erfuhr, dass seine Frau ihn verlassen hatte, könnte er bestimmt einen alten Song von Eddy Arnold nachempfinden – „I Couldn’t Believe It Was True“.

Als wir einen Bergkamm erreichten und dort unter uns die Landschaft liegen sahen, hatte ich plötzlich eine Idee, wie sich der Prediger und seine Frau kennengelernt haben könnten.

The bright lights of Denver are shining like diamonds
Like ten thousand jewels in the sky
And it’s nobody’s business where you’re goin‘ or where you come from
And you’re judged by the look in your eye

She saw him that evening in a tavern in town
In a quiet little out-of-the way place
And they smiled at each other as he walked through the door
And they danced with their smiles on their faces [Text s.a. hier]

Der Song „Denver“ wurde Teil der Geschichte, zusammen mit anderen Songs, die zur gedrückten Stimmung der Platte passten. Hank Cochrans „Can I Sleep In Your Arms“ war so ein Song, mit dem sich der Prediger vielleicht in den Schlaf singen würde. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass der Prediger eine schöne alten Ballade von Fred Rose sang, nämlich“Blue Eyes Crying in the Rain“ , die von Hank Williams über Gene Autry bis zu Conway Twitty schon alle gesungen. Es war ein weiteres Lied über verlorene  Liebe, dessen Mantra – „Love is like a dying ember and only memories remain“ – das Thema gut erfasste.

Es gab nur einen eher lockeren Zusammenhang zwischen den Songs, und dann schummelte ich auch noch so etwas wie „Just as I Am“ hinein, ein Kirchenlied, das Bobbie gespielt hatte, als wir Kinder waren. Um die Verzweiflung des Predigers darzustellen, brauchte meine Geschichte ein Gebet. „I looked to the stars, tried all the bars“, hieß es in „Hands on the Wheel“, dem letzten Song des Sets, „and I’ve nearly gone up in smoke.“ Zu guter Letzt hatte der Prediger wieder das Steuer in der Hand. Und er kehrte heim. Heim konnte dabei ein Traum sein. Oder der Tod. Oder einfach nur das Ende des Albums. [s.a. hier)

Als es ans Aufnehmen ging, erwartete man bei Columbia wohl, dass ich nach Nashville, New York oder L.A. fliegen würde, um die Songs in einem hypermodernen Studio mit erstklassigen Begleitmusikern aufzunehmen. Ich dagegen bat Mickey Raphael, uns ein unauffälliges kleines Studio zu suchen. Er erzählte mir vom Autumn Sound in Garland, einem verschlafenen Vorort östlich von Dallas. Ich nahm meine eigene Band mit. Bucky Meadows kam vorbei und spielte Klavier und Gitarre. Wir hielten es schlicht und einfach. Die Arrangements waren schlank. Die Begleitung war spärlich. Wir brauchten für die Songs nur wenige Takes. Ich orientierte mich an alten Alben von Eddy Arnold und Ernest Tubb, bei denen auch nur ein Sänger und eine Gitarre zu hören waren. Das Ganze klang unglaublich entspannt. Ich fand, wir hatten die Geschichte des Predigers genau richtig erzählt.

Als ich bei Columbia unterschrieben hatte, war mir ein Vorschuss von 60.000 Dollar angewiesen worden, um davon eine Platte aufzunehmen, die man mit 40.000 Dollar Kosten veranschlagt hatte. Ich glaube nicht, dass die Sessions im Autumn Sound mehr als 2000 Dollars gekostet haben. Die restlichen 58.000 Dollar nutzte ich, um davon besseres Equipment für unsere Roadshow zu kaufen. So weit, so gut.

Doch als der Oberboss von Columbia die Aufnahmen hörte, sagte er: „Wieso spielst du mir ein Demo vor?“

„Das ist kein Demo“, erklärte ich. „Das ist das fertige Produkt.“

(Seite 281)

Quelle Willie Nelson mit David Ritz MEIN LEBEN: EINE LANGE GESCHICHTE Aus dem Amerikanischen von Jörn Ingwersen / Wilhelm Heyne Verlag München 2015

Lyrics published by
Lyrics © Sony/ATV Music Publishing LLC (Shotgun)

(Fortsetzung folgt)