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Wunderkinder sind uninteressant

Warum gibt es ein Dossier über die zehnjährige Alma Deutscher in der „ZEIT“?

Der Grund ist ganz einfach: weil der Autor kein Musiker ist. Nur darum kann er zum Beispiel fragen:

Wer ist dieses Kind, das im Alter von zehn Jahren in der Lage ist, ein anspruchvolles, fachkundiges Publikum zu verzaubern – Menschen, die in der Hochkultur zu Hause sind? Wer ist dieses Mädchen, das Noten liest, seitdem es zwei ist, das rund um die Welt mit Sinfonieorchestern musiziert, das im Sommer eine Oper zur Aufführung gebracht hat?

Und schließlich kommt die vorläufige Antwort: „Ein Wunderkind. Man könnte meinen, Alma Deutscher sei ein weiteres jener Virtuosenkinder, über die das Publikum staunt wie über Schlangenfrauen im Zirkus.“ Usw.usw. Aber sie sei anders: sie habe „all den anderen Kinderstars etwas voraus: Sie ist eine Klassik-Komponistin in einer Zeit, in der klassische Konzerte etwas für die Alten geworden zu sein scheinen.“ Und weiter:

Britische Medien haben Alma Deutscher mit Mozart verglichen, was sie schon deshalb nicht mag, weil der ein Junge war. Vielleicht spürt sie auch, dass ihr dieser Vergleich mit dem größten Wunderkind der Geschichte schaden kann. Darin liegt eine Übertreibung – aber eben auch die faszinierende Frage: Könnte eine wie Alma tatsächlich einmal die klassische Musik verändern?

Quelle DIE ZEIT 7. Januar Dossier Seite 13 – 15 Alma spielt Sie schreibt Opern und tritt mit Orchestern in der ganzen Welt auf. Sie geht nicht zur Schule, liest aber Bücher über Newton. Alma Deutscher ist zehn Jahre alt. Sie wird gefeiert als ein Wunder – darf sie auch noch Kind sein? Von Uwe Jean Heuser.

Man kann dieses Kind längst in zahlreichen Youtube-Filmen unter die Lupe nehmen und natürlich in Verzückung geraten, wie über jedes hübsche, lebhafte und frühreif wortgewandte Kind. Schließlich ist jedes Kind ein Wunder, dessen sich zumindest alle Eltern sicher sind, besonders das erste, so etwas hatten sie ja bisher nicht. Sie werden darüber zu wahren Kinderkennern! Mein Vorschlag wäre trotzdem, im Fall eines Wunderkindes zuerst die Eltern zu untersuchen. Welche Möglichkeiten haben sie dem Kind neben den musikalischen Künsten angeboten? Dieses Kind ging nicht einmal zur Schule. Oder nur ein einziges Mal, am Einführungstag der Grundschule, und den mochte es nicht: „es war total langweilig“. Da musste fürs Lesen und Schreiben gleich ein Privatlehrer her, Gottseidank nur eine Zeit lang: „Aber jetzt schlägt meine Mutter mir einfach Bücher vor. Ich liebe es zu lesen, über Geschichte, Newton und Darwin. Und natürlich über die großen Komponisten.“

Ich fasse es nicht! Und diese Art Pädagogik will man mit der des großen Leopold Mozart vergleichen, der vor allen Dingen nicht – wie offenbar diese Eltern – Amateur war, sondern ein intelligenter und hochprofessioneller Musiker, der die erste maßgebliche Violinschule der Musikgeschichte geschrieben hat? In einer Welt von 1750 – ohne Kinderpsychologen. Nein, man spricht nicht von den Eltern, sondern von den „Wunderkindern“ und dann auch sofort von dem Mozart. Aber niemand würde heute von diesem kleinen Wolfgang Amadé sprechen, wenn er das zehnte Lebensjahr nicht überlebt hätte, – oder nicht das zwanzigste. Man spricht von Mozart, weil er in entscheidenden Jahren seiner späteren Biographie einen unglaublichen Reifeprozess durchgemacht hat, ganz besonders 1777 bis 1779. Und wer die reifen Werke aus wirklicher Erfahrung kennt, wird keine Zeile aufs Papier bringen, die impliziert, dass die kleine Alma in eine ähnliche Richtung geht, und dies in einer Zeit, „in der klassische Konzerte etwas für die Alten geworden zu sein scheinen.“ Er dürfte vielleicht in aller Vorsicht formulieren, dass Alma eine Art Kinder-Oper geschrieben zu haben scheint, die von Menschen, die meinen, „in der Hochkultur zu Hause“ zu sein, anstandslos als Oper bezeichnet wird.

Es ist durchaus nicht so erstaunlich, dass ein begabtes Kind, das täglich viele Stunden klassische Musik spielt, schließlich auch selbst etwas erfindet, was so ähnlich klingt wie Klassik. Oder wie nachgemachte Klassik. Und das ist dann so klassisch wie zum Beispiel die Schülerkonzerte von Friedrich Seitz, die geschmacklich dem romantischen Salon zuzuorden sind. Es ist ein Arsenal von Versatzstücken, die auf gängigen Motiven und Kadenzen beruhen. Man muss das gar nicht bei Mozart abschreiben, es kommt halt so… „Viele Leute glauben, dass es das Schwierigste ist, eine Idee zu haben,“ sagt Alma. „Ich finde, es ist das Einfachste. Ich muss gar nichts tun.“ Eben.

Was herauskommt, sind Stilkopien und Intuitiv-Klitterungen, die man durchaus loben könnte, wenn man sie als kindliche Experimente und Übungen behandelte. Stattdessen werden sie von einer ahnungslosen Erwachsenenwelt zu frühen Meisterwerken hochgejubelt, das selbstbewusste Kind spricht von der ersten Sinfonie, an der es gerade arbeitet, und mich würde nicht wundern, wenn in Kürze das kindliche Gesamtwerk auf CD herausgebracht wird. Es wäre durchaus im Sinne einer cleveren Vermarktungsstrategie.

Alma Deutscher kann wirklich für ihr Alter sehr schön Geige und Klavier spielen. Man kann auf youtube ihren Vortrag des Bériot-Konzertes (Nr. 9 a-moll) vergleichen mit dem der achtjährigen Julia Fischer, – trotzdem würde ich keine Prognose wagen, was die Zukunft angeht:

Alma: Natürlich würde ich gerne mein Violinkonzert in der Carnegie Hall spielen, aber, nun ja…

ZEIT: Und wenn es ein anderer aufführt?

Alma: Es ist magischer für mich, wenn ich selbst spiele, was ich geschrieben habe.

Quelle ZEIT-Dossier a.a.O. als Abschluss

Hinzugefügt hat der Autor des ZEIT-Dossiers im Kasten unter dem Titel Grenzen der Recherche: „Almas Vater achtete darauf, dass einige Geheimnisse gewahrt bleiben, zum Beispiel ihr Geburtsdatum.“

So hat er doch noch eine Gemeinsamkeit mit Vater Mozart…