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Wiener Klassik vormerken?

Sonntagabend kann man die Fortsetzung der ARTE-Serie „Epochen der Musikgeschichte“ im Fernsehen einschalten oder im Netz abrufen: HIER.

Der Pressetext zur Sendung „Wiener Klassik“ lautet:

Die Zeit der Wiener Klassik ist die Zeit der Revolution, der Befreiung, der Aufklärung. Europa ordnet sich in blutigen Kriegen neu und die Musik Haydns, Mozarts und Beethovens entwickelt sich zu zeitloser symmetrischer Eleganz, beseelt vom Drang nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Haydn entwickelt die Sinfonie als zentrale Gattung der Musik, in Wien wird das Wunderkind Mozart zum Liebling der Musikszene und Ludwig van Beethoven fasst den Freiheitsdrang der Epoche in bisher unerhörte Töne. Mit seiner gewaltigen 9. Sinfonie beschließt er eine Ära der hochfliegenden Hoffnungen, die bald von der Restauration verschluckt sind.
Die venezolanische Pianistin Gabriela Montero führt durch die Epoche der Klassik, und zeigt an kurzen Beispielen, wie die Komponisten gearbeitet haben, warum sie ihre Musik genauso geschrieben haben und wie der Charakter des Komponisten sich in seiner Musik widerspiegelt.

Der Text stimmt mich skeptisch: Gabriela Montero zeigt uns, wie die Komponisten gearbeitet haben? Sie hat den kreativen Prozess Mozarts und Beethovens in der Tasche? Man kann einen Vorgeschmack dazu abrufen, s. folgenden Scan, oberste Reihe Mitte: „Gabriela Montero Studiosession / Wiener Klassik“, erreichbar über den Klick HIER  (runterscrollen).

ARTE Klassik Screenshot 2016-01-17 00.15.02

Mein Fall ist das nicht, – ich fürchte, Improvisationen dieser Art führen uns geradeswegs an Haydn, Mozart und Beethoven v o r b e i . Die Prima-Vista-Elaborate machen uns unfähig, die Essenz wirklich großer Werke aufzuschließen. Alles klingt fortan nach Monteros Kinderspiel. Aber man kann es auch direkt an sich selbst erproben, – etwa mit Beethovens Violinkonzert (2. Reihe, Mitte) oder Haydns Sinfonie mit dem Paukenschlag unter Andris Nelsons (2. Reihe, rechts).

Es sind auch absolut abturnende Beispiele unter diesen Clipsen. Die – Beethoven unangemessene – Albernheit mit den Fingerspielen, auch die „Wiener Klassik als Graphic Novel“: mit Haydn hat das nichts zu tun, und auch Berühmtheiten reden Unsinn (womit ich nicht Leif Ove Andsness meine). Aber warum wird – im Blick auf ein „neues“ Publikum, nicht mal erklärt, warum Sängerinnen oder Sänger (selbst die in der Alten Musik erfahrenen) immer noch unerträglich druckvoll vibrieren, jedenfalls wenn sie Oper singen. Manch ein „Laienhörer“ würde Entlastung finden… Nie in meinem Klassik-Erleben seit den 50er Jahren habe ich diesen Gesang gut gefunden (bis Fischer-Dieskau und vor allem Fritz Wunderlich kamen), – was für eine Erlösung war es damals, anstelle der italienischen Vibratomaschinen endlich Maria Stader mit Puccini zu erleben. Oder (viel später) Frederica von Stade als Cherubino. Es ist vielleicht die Nähe zur „unschuldigen“ Knabenstimme? Aber hören Sie doch heute nur Julia Lezhneva mit einer der schönsten Melodien, die überhaupt je erfunden wurden. (Hier). So klingt es, wenn jemand fast gar nichts macht…

Nachwort post factum: Abbitte, – die Sendung ist viel besser als die vorher zugänglichen Clipse. (Am meisten irreführend: die Comic-Szene mit Haydn als einem seltsamen Kauz an der Abakus-Rechenmaschine.) – Eindrucksvoll immerhin: Gabriela Montero. Aber ihre Formeln für Haydn, Mozart und insbesondere Beethoven sind viel zu einfach. Und immer nur die „Schlachtrösser“ vorführend. – Das Bemühen, keine kondensierten Statements aus dem Off zu präsentieren, sondern möglichst alle Inhalte durch live extemporierte O-Töne zu liefern, hat auch viel Leerlauf und Aneinanderreihung von Halbwahrheiten zur Folge. Andererseits tolle Bilder, Lebendigkeit vor allem durch Opernausschnitte und Szenen aus Spielfilmen, guten oder schlechten, schwer zu sagen. Positiv: dass ein Eindruck enormer Vielfalt zurückbleibt, andererseits: was für eine Sendefläche – 90 Minuten!!!

Darin so Überflüssiges wie das Geschwätz über das Produkt Mozart (in Milliarden ausgedrückt und mit Bill Gates u.a. verglichen). Was bleibt, wenn man den Einzelpunkten auf den Grund geht? Wozu regt sich da jemand über Äußerlichkeiten auf, als sei er „innerlicher“ als der Rummel, den er selbst mit repräsentiert, und erweckt z.B. den Eindruck, als sei das Produkt-Etikett „Amadeus“ völlig aus der Luft gegriffen und eine bloße Kitschkonvention? Das Ruder nach 200 Jahren herumwerfen und „Amadé“ sagen oder „Theophil“? Mag sein, dass der Name Amadeus, den Mozart selbst – wenn auch selten – verwendete, favorisiert wurde, weil man den Klang des Namens Mozart so seriös wie nur möglich inszenieren wollte. Vor allem in der bald – 1798 bis 1806 – explosionsartig verbreiteten Ausgabe: Oeuvres Complèttes de Wolfgang Amadeus Mozart bei Breitkopf & Härtel. Musste man das nicht allgemein für authentisch halten? In allen Heiratsdokumenten Mozarts steht übrigens statt Amadeus der Name Adam, und man weiß wieder nicht, ob es vielleicht ein Scherz war.

Und wenn heute irgendwo die Figur des Don Giovanni als Harlekin inszeniert wird, sollte doch festgehalten sein, dass diese Idee (wenn auch auf Mozart persönlich bezogen) von dem Musikwissenschaftler Martin Geck (2005) stammt.

Die Fernsehsendung ist per Internet abrufbar bis 27. April 2016 um 22h59