Das Schicksal einer Abschrift (Quelle C)
Quelle Mus.ms. Bach P 267 Staatsbibliothek Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Germany (http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/) Vgl. auch den Artikel hier.
Wer auch immer diese Abschrift der „Sonata I ma“ angefertigt hat, er verstand etwas davon, aber derjenige, der sie mit Überschrift versehen hat, zeigt auch einen gewissen Abstand, sonst hätte er (wer auch immer) nicht im Zusatz zur Titelzeile hervorgehoben, dass sie von dem „berümbden Bach“ stammt. Vielleicht gibt die Notiz am Ende des Notenblattes einige Hinweise?
Der vierzeilige Text wurde bereits im ersten Kritischen Bericht (Hausswald 1950) im Detail entziffert:
Dieses von Joh. Sebast. Bach eigenhändig geschriebene / treffliche Werck, fand ich unter altem, für den Butterladen / bestimmtem Papier, in dem Nachlasse des Clavierspielers Palschau / zu St. Petersburg 1814. Georg Pölchau.
Von Bach „eigenhändig geschrieben“ sicher nicht. Aber wer ist der Clavierspieler Palschau, und wer ist Georg Pölchau, der Schreiber dieser Zeilen? Wie kam das Konvolut der Noten, zu denen auch dieses Blatt gehört, nach Petersburg, wo letzterer es auffand?
Georg Pölchau kannte sich aus: geboren 1773 in Kremon bei RIGA, wo er 1785-1792 die Domsingschule besucht hat, gestorben 1836 in Berlin, war einer der größten Notensammler seiner Zeit. Ihm war z.B. der Kauf der Bibliotheken und Nachlässe von N. Forkel und C. Ph. E. Bach geglückt, er besaß zahlreiche Autographe J. S. Bachs. Nach der Heirat (1811) mit einer Frau aus wohlhabenden Hamburger Verhältnissen zog er 1813 mit seiner Familie nach Berlin und konnte sich nunmehr ganz seiner Sammeltätigkeit widmen. Er unternahm dafür zahlreiche Reisen nach Mitteldeutschland, Süddeutschland und Osteuropa. (Siehe MGG 2005 Bd.13)
Der Komponist und Clavecinist Wilhelm Johann Gottfried Palschau ist am 1741 in Kopenhagen geboren und 1815 in St. Petersburg gestorben. Er studierte in RIGA bei Johann Gottfried Müthel, ab 1777 erwarb er sich in St. Petersburg den Ruf eines angesehenen Clavecinisten und Pädagogen. (Nach Alexander Schwab: Migration deutscher Komponisten und Musiker, 2005)
Johann Gottfried Müthel (1728-1788) steht für die direkte Verbindung zu Johann Sebastian Bach. Siehe Wikipedia. Darin:
Zur Perfektionierung seiner musikalischen Fähigkeiten wurde Müthel [1750] ein Urlaub für die Dauer eines Jahres gewährt. Diesen begann er zunächst als einer der letzten Schüler Johann Sebastian Bachs, in dessen Haushalt er auch wohnte. Auch wenn Bach bereits drei Monate nach seinem Eintreffen verstarb, konnte sich Müthel als Kopist des schon erblindeten Meisters intensiv mit dessen Schaffen auseinandersetzen.
Man kann aus den persönlichen und geographischen Zusammenhängen nicht unbedingt schließen, dass Palschaus Bach-Noten aus dem Besitz von Müthel stammen und somit vielleicht aus der unmittelbaren Umgebung J. S. Bachs. Die Vorlage dieser Gebrauchsexemplare – so sagt der Kritische Bericht (1950), der neuere ist mir leider noch nicht zugänglich – kann aber auch nicht Bachs Autograph von 1720 gewesen sein, sondern möglicherweise eine frühere Fassung.
Irritierend ist zudem die Tatsache, dass Pölchau die Noten aus dem Nachlass Palschaus im Jahre 1814 entdeckt hat, dieser aber erst 1815 gestorben ist. Hat er also noch gelebt, als Pölchau die Blätter im Altpapier entdeckte???
Einige ungelöste Rätsel…
Nur nicht in einem Punkt: auch in dieser, Bach gewiss sehr nahestehenden Abschrift steht im Takt 3 dies Adagios (Zeile 2) ein klares b als Vorzeichen vor dem untersten Ton des dreistimmigen Akkords. An dieser Stelle ein E zu spielen, das die Schärfe der Dissonanz verdirbt, sollte man nicht mit einer subjektiven „künstlerischen Entscheidung“ begründen oder gar mit dem Urtext: Bach hat es in seiner Reinschrift von 1720 einzuzeichnen vergessen, weil es so selbstverständlich geworden war.