Solange ich denken kann, haben Melodien für mich eine Rolle gespielt. Zu allererst im Greifswalder Kindergarten („Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann“, „Häschen in der Grube“ – zutiefst beeindruckend die Zeilen: „Armes Häschen bist du krank, dass du nicht mehr hüpfen kannst“), später oder gleichzeitig die, die meine Mutter sang („Waldeslust“, „Horch, was kommt von draußen rein“), dann vor allem die klassischen Hits , die in meinem Heft „Die Goldene Geige“ standen (oder „Alte Meister für junge Spieler“). Als ich anfing, Klavier zu spielen (oder mitzuhören, was mein älterer Bruder übte), stand alles, was mich beeindruckte in der Dammschen Klavierschule. Unvergesslich der Wutanfall meines Vaters (samt Hilfeversuch meiner Mutter) bei dem Lied „Guter Mond, du gehst so stille“ mit der vertrackten Alberti-Begleitung. Besser funktionierte „Mädchen, warum weinest du“ mit den parallelen Sexten in der rechten Hand. Fast alle Melodien meines imaginären Repertoires standen in dieser alten Schule, manche, die ich heute für die größten halte, habe ich damals nicht als solche erkannt z.B. „Voi que sapete“ aus Mozarts Figaro. Aber bei anderen weiß ich noch genau, was ich mir bei welchem Ton oder welchem Motiv gedacht habe. Zum Beispiel bei der amerikanischen Nationalhymne (deren Text nicht mit abgedruckt war). Auf einen bloßen Dreiklang reagierte ich mit Geringschätzung: so beim Anfang der ersten Zeile, – mir schien, daraus konnte nichts werden. Sobald aber das Fis ertönte, wendete sich die Sache: ich spürte eine Kraft am Werk (die Modulation!), die sich im Sprung auf den hohen Ton (Zeile 2) weiter zu entfalten trachtete. Fehlanzeige, – es ging zurück zum C und dem C-dur-Dreiklang, den wir schon hatten. Eine Enttäuschung, die durch Wiederholung der beiden Zeilen nicht besser wurde. Allerdings blieb eine Erwartungshaltung virulent. Und in der Tat, der hohe Ton zeitigte Folgen: eine Sequenz, die ich natürlich noch nicht benennen konnte, im Grunde kein originelles melodisches Mittel, aber es wirkte. Sehr stark auch, dass sie am Ende der dritten Zeile still stand, um in Zeile 4 den hohen Ton E und das Motiv der zweiten Zeile wieder aufzugreifen, jedoch um es, sobald der Ton C wiederkehrt, mit dem Modulationsmotiv des dritten und vierten Taktes der Zeile 1 „überstürzt“ zusammenzuschließen; ich freute mich, dass es so gewürdigt wurde, und erwartete dank dieser Kurzfassung eine weitere Steigerung, die zweifellos eintrat: wesentlicher Punkt – der dreifache Ton A im zweiten Takt der fünften Zeile:
Es war der Anfang einer Form von Melodie-Typologie, wie ich sie 20 Jahre später bei Marius Schneider studierte („Lieder ägyptischer Fellachen“). Aber ich habe mich damals noch nicht an meine erste, amerikanisch geprägte Erfahrung erinnert. Die ging folgendermaßen weiter: wieder eine Sequenz – diese Methode der zwingenden Abfolge – und wieder eine „Stauung“ ihrer Abfolge verbunden mit dem Prinzip Steigerung: man vergleiche in Zeile 5 die Takte 1+2 mit den Takten 3+4 und ihre Überbietung in der Wendung nach oben, mit dem Ziel des höchsten Tones der ganzen Hymne in Zeile 6, – sowie einem lapidaren Abschluss, der Rückkehr zum C, dem Ziel schon des Dreiklangsgebildes am Anfang der Zeile 1. Es ist nicht mehr banal, es glänzt!
Wozu diese Kindheitserinnerung? (Nebenbei: in der Dammschen Schule stand auch „Deutschland, Deutschland über alles“ über der vertrauten Melodie von Joseph Haydn, – ohne besonderen Eindruck auf mich zu machen.)
Den Anlass verrate ich erst ganz zuletzt. Zunächst interessiert mich die Geschichte des Liedes, die heute so leicht greifbar ist, siehe Wikipedia HIER.
Dort lese ich mit Staunen den Hinweis auf ein populäres englisches Trinklied, „To Anacreon in Heaven“ (hatte ich nicht zwischendurch – aufgrund der marschähnlich punktierten Auftakte – an „Gaudeamus igitur“ gedacht, wo das Viertel des Volltaktes die Punktierung aufweist?): und gehen weiter in Wikipedia nach DORT. Und von dort finden wir zur Musik, die separat behandelt wird HIER. Sogar mit Tonbeispiel. Niemals jedoch hätte ich sie in dieser Form zur Kenntnis genommen: ohne Modulation! Man findet auch noch den Hinweis auf eine youtube-Aufnahme des Trinkliedes, in der ein Chor dem Ziel des Trinkliedes alle Ehre macht … mit Fis oder ohne Fis … wer kann das wissen?
Und jetzt wird’s ernst! Es gibt ja eine Art POPMUSIKETHNOLOGIE; den konkreten Hinweis Hinweis verdanke JMR. (Musik ab 1:11)
Ich sage nicht, dass die übergeordnete Thematik aus europäischer Sicht etwas besonders Anziehendes hat, im Gegenteil, die abstoßenden Momente überwiegen, so dass ich – siehe oben – an ein höheres „ethnologisches“ Interesse in mir appellieren musste. Schon American Football hat keine positivere Ausstrahlung als irgendein gewalttätiges asiatisches Reiterspiel (gibt es das?), als balinesischer Cockfight oder – am untersten Ende der Skala – der alte Solinger Brauch der Hahnenköpper. Ich provoziere. Um mich selber zu beschämen, rekapituliere ich, dass mich zuweilen (!) Boxkämpfe im Fernsehen auf eine atavistische Art fesseln. Und es spielt dabei keine geringe Rolle, dass wir als Kinder von etwa 8-10 Jahren auf der Wiese des benachbarten Bauernhofes geboxt und Kämpfe nachgestellt haben, von denen wir aus dem Radio gehört hatten (Hauptregeln: nicht ins Gesicht, keine Leberhaken!). Namen wie Max Schmeling, Hein ten Hoff, Joe Walcott kursierten in unseren Kommentaren und wurden durch aktuelle Kampfberichte ergänzt. Doch zurück zum Thema. Dies ist der Link, der mir „zugespielt“ wurde und erwartungsgemäß mein Interesse weckte; genauer genommen: es waren die Notationen, die mir einen Erkenntnisgewinn suggerierten. HIER. Moment: zunächst einmal – was ist das für eine Quelle? Keine amerikanische, sondern eine britische, ein Magazin oder „Newsletter“ namens „Popbitch“. Siehe hier.
Zu den Analysen: es ist wichtig zu bemerken, dass man jedes der hervorgehobenen Ornamente auch anders beurteilen kann. Nehmen wir gleich Whitney Houstons Abstieg bei dem Wort ‚hailed‘, er bedeutet eine Schwächung des Tones G, der an dieser Stelle zum ersten Mal auftritt und gerade im Innehalten die Attraktion des Tones As bestätigt, ohne ihr im Moment nachzugeben, es ist ein spannungsvoller, schöner Ton; statt ihn auszukosten, lässt die Sängerin die Melodie herunterfallen auf den Ton Es, dessen Bedeutung sattsam bekannt ist, vom ersten Hymnenton an wurde ihm schon 5 Mal Referenz erwiesen, gerade auch durch den starken Modulationston D beim Übergang vom dritten zum vierten Takt, der dann ganz vom Glanz des Tones ES erfüllt ist. Das erweiterte Ornament in der vierten Zeile suggeriert zwar durch die Steigerung der Tonbewegung eine scheinbar erhöhte Bedeutung, bringt aber durch die Verzögerung des Tones G und die Bevorzugung des ohnehin genug gestärkten Tones ES eine Aufweichung des Melodiegangs C-B-As-G, die man durchaus fahrlässig oder sogar eitel finden könnte. Ein ornamentiertes G hätte mehr Energie gesammelt, die sich auf den As-dur-Dreiklang der nächsten beiden Takte fokussiert, ohne den Ton ES vorwegzunehmen.
Und so weiter. Schlimm auch die Schwächung der Zeile „that our flag was still here“, indem der Modulationston D durch den müden Vorhalt des F ersetzt wird, – vermeidbar etwa, wenn wenigstens eine Aufstiegsfigur mit D (+ Es und F) auf „still“ den Vorhalt aktiviert hätte. Ich erspare mir jedes weitere Wort, wenn man nur den Mut hat, es hier und da der bloß sensuellen Stimmwirkung entgegenzusetzen…
Aber es fehlt uns zu guter Letzt dann doch noch der Auftritt von Idina Menzel, auf den der Popbitch-Beitrag zielte. Hier ist er:
Jetzt könnte die musikethnologische Arbeit beginnen. Aber inzwischen ist meine sportliche Anteilnahme ins Unermessliche gestiegen, ich will wissen, wie das Endspiel ausgegangen ist. Sieger wurden die New England Patriots, schauen Sie hier, und konzentrieren Sie sich, dear Old Germany Compatriots, ganz besonders auf die eine Zeile im Abschnitt „Auszeichnungen und Rekorde“:
Zu den anderen Patriots, denen Historisches gelang, gehörte auch Right Tackle Sebastian Vollmer, der der erste deutsche Super-Bowl-Gewinner wurde.
Ich wende mich stattdessen einem Kapitel zu, in dem Grundlegendes zu verzierungstechnischen Höchstleistungen amerikanischer Kehlen steht: MGG Die Musik in Geschichte und Gegenwart – Allgemeine Enzyklopädie der Musik – Bärenreiter Metzler – Kassel Basel London New York Prag Stuttgart Weimar 1998 – Sachteil Band 8 – „Sacred singing“ von Bernd Hoffmann. Sp 817/818 Schlussabschnitt des Notenbeispiels „Amazing Grace“, Transkription des Gesanges von Aretha Franklin.
ZITAT
Die offene Gestaltungsweise im strophigen Gefüge des von John Newton (1725-1807) getexteten Hymnus zeigt eine ausgefeilte Kantillationstechnik in permanenter Beziehung zur evangelisierenden Gemeinde: Paraphrasierende Wortwiederholungen, spannungssteigerndes Verweilen auf Textmotiven, die Etablierung einer selbständigen Deklamationsebene und die modale Grundstimmung sind prägende Ausdrucksmittel (G. Putschögl 1993, S. 119). Hinzu tritt der äußerst dramatische Effekt calculated stuttering, der in Zusammenhang mit den chanted sermons der schwarzen Kirchen gesehen werden muß.
Bernd Hoffmann (a.a.O. 815) – Näheres zur Geschichte von Amazing Grace hier oder hier.