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Meditation als Übung des Alltags

Die Instrumente

Arme und Beine und deren Ansatz-„Scharniere“, Schultern und Hüfte, Bewegung – auch das Dehnen! – genießen. Und die Finger? In meiner Situation bedeutet die „Harfenetüde“ auch, das Strecken, Spreizen und Anspannen in der Hand wahrzumehmen.

Die Pianistin Danae Dörken in ihrem Tutorial

Was will ich in dieser Form umschreiben oder benennen? Nur nicht höher einstufen, als es anzusetzen ist, nicht wichtigtuerisch vorbereiten, nicht wie eine Andacht oder Betstunde, nur das Bewusstsein „im Auge behalten“, den Fokus wandern lassen, wenn er wandern will; beobachten, was von selbst geschieht.

Wie der Besen des Zen-Schülers: mit der Tätigkeit des Fegens zusammenwachsen lassen, eins werden, keine Good-Will-Zusatz-Muskeln des Oberkörpers einsetzen, die Banalität der Banane auf dem Frühstückstisch, die mit der Gabel auf dem Teller flüssig geknetet werden kann (nicht mit den Armen, sondern so weit weit möglich vorn, rechts herum und links herum).

Wie komme ich wieder auf Zen? Nur durch alte und erneute Lektüre, hier. Auch durch die ZEIT vom 9. November, die neben dem Schreibtisch liegt und in der ich in Pausen nachlese, was ich vorige Woche unterstrichen habe. Oder in dem dicken Buch, das hinter mir im Regal steht, das von Thomas Metzinger herausgegebene, was ich darin vor Jahrzehnten bemerkenswert fand. Fehl-Alarm bei Ikebana-Ästhetik. Aber es geht nicht um Zen. (Doch! ich komme weiter!)

In der ZEIT verweist er heute auf Karl Friston und hat die Zitationen nachgesehen, zu denen ich jetzt womöglich auch beitrage. Oder? Es geht nicht um mich.

Quelle DIE ZEIT 9.November 2023 Seite 58 Thomas Metzinger: „Meditation wird als irgend so ein Schnuller für Erwachsene betrachtet. Es geht aber um Erkenntnis“ (Interview: Johannes Gernert)

Zitate

„Einfach weitermachen, selbst wenn es nur alle drei Wochen mal ein kleines bisschen schön ist. Selbst wenn Sie oft denken: »Das ist doch alles irgendwie scheiße!« Genau in diesen Momenten einfach total stur weitermachen – die schlechten Gefühle anschauen, den Zweifel spüren, bei der Unruhe verweilen.“  [20 Minuten, zweimal täglich.]

„Und man wirft sich hin, und alle Leute gucken. Das kommt davon, wenn man 30 Jahre zweimal täglich ein Bein in so eine Position dreht, nur weil man gedacht hat, die machen das in Indien auch so. Wenn Sie langjährige Meditationslehrer anschauen: Die sitzen oft alle nur noch auf Stühlen.“

„Sie müssen nur sichergehen, dass Sie kerzengerade auf den Sitzhöckern sitzen, nicht anlehnen. Ich habe auch oft im Büro meditiert und in Zügen und Flugzeugen. Man kann auch beim Autofahren meditieren, wenn man es schon ein bisschen gemacht hat.“

„Die Aufmerksamkeit ganz sanft, aber sehr präzise immer wieder in den Moment zurückbringen. Dann loslassen und im Erleben der Bewusstheit selbst verweilen. Nach ein paar Sekunden von neuen Gedanken weggetragen werden. Sich erinnern, zurückkehren in den Moment.“

„Nehmen wir etwa die »Sammlungs-Meditation«: Sie kehren mit der Aufmerksamkeit immer zu Ihrer Atemempfindung zurück. Wenn etwas Ruhe da ist, die »Einsichts-Meditation«: einfach nur die Gedanken beobachten, wie sie entstehen und vergehen. Die richtige Art, wie man die Aufmerksamkeit lenkt, ist: sanft und präzise, mit einer fast zärtlichen Einstellung. Nicht: Ich richte den Laserstrahl meiner Aufmerksamkeit dahin und brenne diese Gedanken weg, Ganz sanft, so anstrengungslos und unperfektionistisch wie möglich. Aber genau!“

„Es geht aber nicht um Eso-Quatsch, um Sterblichkeitsverleugnung und das, was ich in dem neuen Buch »narrative Selbsttäuschung« nenne – dass man sich selbst eine scheinbar sinnvolle, aber im Grund fiktive Lebensgeschichte erzählt.“

„Der Trick besteht sozusagen darin, ganz einfach den Geist sich selbst wahrnehmen zu lassen und nicht an den immer von Neuem entstehenden Inhzalten zu kleben. Auf einem Retreat hat jemand mal gesagt: Als ob Güterzüge durch den Kopf fahren, nie enden wollende Züge. Ketten von Waggons, wie man die als Kinder immer angeguckt hat. Meine Morgenmeditation war auch wieder so, völlig für die Füße.“

„Mir geht es auch nicht anders als den meisten – da kommt kein Erleuchtungs-Giga-Bingo, und alles ist gut. Es ist viel subtiler. Das, was einen beim Meditieren ja oft vollkommen rausreißt, ist soziale Kognition. Sie haben auf der Arbeit eine soziale Position, Sie habe Ihre Familie, und die mentale Simulation dieser sozialen Situation läuft beinahe permanent. Was glauben Sie denn, warum die Leute, die diesen Weg bis ans Ende gehen wollten, warum die Einsiedler geworden sind, also alle sozialen Interaktionen minimiert haben? Oder Mönche und Nonnen. Warum Retreats im Schweigen und möglichst ohne Blickkontakt stattfinden? Es gibt dafür einfach Rahmenbedingungen.“

Vor allem komplett offline?

… … … … …

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Ja!

Die Verwechselbarkeit der Zen-Einstellung zur Natur mit einem sentimentalen Kitschgefühl hatte schon Alan W. Watts (1961) gesehen und die Toleranzgrenze zum Banalen bewusst herausgehoben:

Das Geräusch vom Scheuern / der Bratpfanne vermengt sich / mit dem Quaken der Laubfrösche. (Ryokan)

  die Formel Nianfo

Um noch einmal zu dem Philosophen Byung-Chul Hang zurückzukehren:

Das Haiku „ist nicht nach innen gekehrt. Im wohnt kein ›Tiefsinn‹ inne. Diese Abwesenheit des ›Tiefsinns‹ macht gerade die Tiefe des Haikus aus. Sie korreliert mit der Abwesenheit der seelenhaften Innerlichkeit. Die helle Offenheit, die ungehinderte Weite des Haiku entspringt dem ent-innerlichten, ent-leerten Herzen, der niemandigen Sammlung ohne Innerlichkeit.“ Han (a.a.O. Seite 80f)

Und zurück zu den Übungen am Instrument, am Musikinstrument, dessen Techniken samt und sonders ins Banale führen, in die schiere Wiederholung.

Was ist Satori? die Erleuchtung, – etwa beim Geist des Geigenspiels? Fragwürdig. Siehe Byung-Chul Han Seite 67, wo er es als Gegensatz des Hegelschen Geistes definiert, dessen Grundzug gerade die Innerlichkeit sei.

*     *     *

Physische Beispiele

Atmen – Liegen – Sitzen – Laufen – (Hängen)

Atmen: die Regel 4 – 7 – 8 = ein – halt – aus / wenn man als dritte Zahl die 11 bekommt, ist plötzlich nicht von Sekunden, sondern von Minuten die Rede und davon wie lange die Atemvorgänge wiederholt werden sollen – das ist für mich falsche Zahlenmagie.

Hängen: beim Rückweg vom Klavier Treppenstufe über dir greifen und „abhängen“! Aber vorsichtig, nur kurz verweilen, mit Zehenkontakt zur Treppe.

Schulter: z.B. https://www.liebscher-bracht.com/routinen/schulter/# hier Manche Musiker sind auch erfahrene Bewegungstherapeuten (geworden), ich halte allerdings mehr davon, professionelle Physiologen zu befragen, wenn es sich um Probleme des Körpers handelt. Zu der Übung des Kopfkreisens kann man sehr unterschiedliche Meinungen hören. Ich persönlich fand diese hier hilfreich, obwohl sie nicht aus der Physiotherapie, sondern aus der Sporterfahrung stammt. Ich glaube dem großen Klavierpädagogen Seymour Bernstein in dieser Frage eben nur bedingt… obwohl alles richtig ist, was da steht. Rot unterstreichen würde ich die Wörter „vorsichtig“ und „unter sanftem Druck“.

Bernstein: Mit eigenen Händen

Mit dem schönen Buch am Klavier aber habe ich das Gefühl, die Übungen halten mich nur auf, als trennten sie mich unnötig von der Musik. Im täglichen Leben wären sie selbstverständlich, ja, denn die Fehler, die man mit Kopf und Schultern macht, stören überall und werden schon im Kleinkindalter „erlernt“: Man zeigte damals, dass man sich richtig Mühe gibt, – nicht dass man erreicht, was man soll, mit geringstmöglichem Aufwand. Als Erwachsener will ich wissen, warum ich in vielem so linkisch geblieben, nein, geworden bin. Durch Mangel an Bewegung. An notwendiger und sinnvoller Bewegung. Mit der Geige in der Hand oder vollends: am Klavier sitzend, will ich Vergeistigung, die angeblich körperlose. Ohne Instrument aber wäre ich ganz und gar Körper, habe ich bis ins Alter den Gebrauch des Körpers zu üben. Auch wenn ich singe und spreche.

Der Irrweg: auf dieses Problem zu stoßen, wenn vor mir nicht das Buch, sondern die Noten der „Harfenetüde“ liegen. Zudem die Imagination einer meisterhaften Video-Vorführung mit mustergültigen Bewegungen: ich sollte nicht die speziellen Probleme – links und rechts eine Traube von Tönen, weitgriffig, schnelle Abfolge und jeweils in Sprünge mündend – mit dem allgemeinen der hochgezogenenen Schultern angesichts einer andauernden Schwierigkeit gleichzeitig zu lösen versuchen. Die Noten wollen klingen, produziert, gehört werden, die angezogenen Schultern arbeiten nur antiproduktiv: als Bremsklotz. Den sollte ich separat kennengelernt haben. Er gehört ins tägliche Leben. Zum Körpersein.

Der Geist erinnert sich allerdings besser an Chopin und sein Verhältnis zu den kleinen, ornamentalen Notenwerten, – in geschriebenen Werken sind sie hart erkämpft. Es kommt auf jedes Pünktchen an, auch wenn es nachher wie beiläufig erscheinen soll.

Das Zitat aus George Sands Histoire de ma vie (Paris 1855) stammt aus dem wunderbar reichen und vielseitigen Bildband von Ernst Burger „Frédéric Chopin / Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten“ Hirmer Verlag München 1990  / Die Handschrift der Etüde op.25 Nr.1 ist auf Seite 146 f wiedergegeben und zwar mit folgendem Vermerk:

Die Noten gehören in allen Details zum Stoff der Meditation. Und so kann ich die Bemerkung von Ernst Burger nicht ganz unkommentiert lassen. In dem Autograph fehlt mir dies und das, was mir lieb und teuer ist. Vor allem der allererste Ton, ein Auftakt zur Melodie, das es“. Der kritische Kommentar am Ende meiner Paderewski-Ausgabe gibt mir die Lösung, – soviel Zeit muss sein! Ein Ausschnitt nur, bitte beachten Sie den Anfang des Textes und das Ende zu Takt 1.

Erster Takt der Etüde und viele praktische Anregungen zum Hören und Üben dieser Etüde op.26 Nr.1 siehe im Blog-Artikel http://s128739886.online.de/vorsaetze-beim-ueben-der-harfen-etuede/ →  hier

Täglich steige ich hinab in den Tiefkeller, wo der Flügel steht, mehr als 45 Stufen vom PC, hinab und hinauf, und nach 45 Jahren merke ich, dass ich die drittletzte Treppe ÜBER mir, das ideale Gerät zum Abhängen, bisher nicht erkannt habe. Die Übungen von Liebscher & Bracht haben mir die Augen und Arme geöffnet. Lächerlich. Auch alle Türen für Streck-Übungen. Und überhaupt das aufrechte Steigen von Stufe zu Stufe, freihändig, ohne zu schwanken.

Das alles geht doch ziemlich ins Lächerliche. So darf es auch sein, warum denn nicht? Byung-Chul Han Seite 34:

Am Treppenabgang Platz und Zeit für Kinderbilder:

Delacroix Farbenmusik

Chopin, Salon und Konversation

Zur Aufmunterung: Live (und als „Konserve“ hier) – und Artur Rubinstein op.24 Nr.1 hier.

Was den Stein ins Rollen brachte:

Siehe auch hier. Und hier (nach Kleist-Abschnitt).

ZITAT

Zu Chopins Zeit wurden in Paris etwa 850 Salons geführt, halb private, in großen Häusern übliche Zusammenkünfte von Freunden und Kunstsinnigen, die sich mit gewisser Regelmäßigkeit, wöchentlich oder monatlich, zum Abendessen, Gesprächen und Musik trafen. Wer in diesen Zirkeln der Pariser Großbürger verkehrte, der hatte es zu gesellschaftlicher Reputation gebracht. Am wohlsten dürfte sich Chopin in den Künstlersalons gefühlt haben, wo er unter seinesgleichen verkehrte und Musizieren und Gedankenaustausch intellektuelles Niveau sicherten.

Quelle Wikipedia Chopin hier

  … ein kleines, neues, übersichtliches, anspruchsvolles und (trotz allem) praktisch anregendes Buch:  Thomas Kabisch „Chopins Klaviermusik. Ein musikalischer Werkführer.“ C.H.Beck München 2021 128 Seiten. ca. 10,00 €

Eine Vorbemerkung oder sogar Vorwarnung erweist sich jedoch als notwendig: Es gibt kein einziges Notenbeispiel im Buch, wodurch die Lektüre keineswegs erleichtert wird: es ist ganz unmöglich, die Analysen zu verstehen, ohne sie Takt für Takt im Notentext dingfest zu machen. Das ist eine schwere Arbeit, für Laien wohl überhaupt nicht zu leisten. Und ich kann im Augenblick auch für mich nicht entscheiden, ob sich das Unterfangen lohnt. Es ist die Übertragung in ein anderes Denken, das sicherlich auf einer abstrakten Ebene „Sinn macht“, das ich mir aber selbst erst wieder in eine Sprache zurückübertragen müsste, die ich als musikalisch empfinden könnte. Am Ende wäre ich gewiss reicher, würde aber keinem Pianisten je diese Art von Studium zumuten. Ich vermute, dass Chopin selbst den Kopf schütteln würde. (Sobald ich Zeit habe, werde ich die Ausführungen über die Klavierkonzerte im Detail es geht nur um Abschnitte der ersten Sätze! – untersuchen und synchron immer wieder mit den klingenden Ereignissen vergleichen; vielleicht ändert sich meine Meinung. Dann werde ich mit öffentlichen Selbstvorwürfen nicht sparen.)

Und noch einmal Kunst, Farben und alles was Chopin betrifft…

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Im folgenden Text ab Mitte „Die Romantik und alles…“ bis auf nächste Seite „…Zeit und Ewigkeit so eins wie hier.“

Quelle René Huyghe: DELACROIX Beck’sche Verlagsbuchhandlung München 1967

Seite 257

Denn auf der einen Seite sieht sich der Mensch gleich der Barke Don Juans in der Endlosigkeit des Ozeans ausgesetzt, der sein Spiel mit ihm treibt und ihn in die Tiefe zieht, wo alle Leidenschaften über ihm zusammenschlagen. Baudelaire hatte sich eines ähnlichen Bildes bedient:

Und meine Seele trieb, hinfällige Gabarre, haltlos auf grausig- unbegrenztem Meer.

Les Fleurs du Mal (Fischer 1962 S.148ff)

Die Barke Don Juans 1839, Salon von 1841

Chopin, gesehen von Delacroix

Soeben erreicht mich auf wundersame Weise folgende Abhandlung (versehen mit dem Hinweis: 110 Minuten Lesedauer ♥ ) :

Philipp Teriete
Frédéric Chopins Méthode de Piano: eine Rekonstruktion –
Zur Ausbildung der »Pianistes Compositeurs« des
19. Jahrhunderts

 *    *    *

Thomas Kabisch:

Verhängnisvoll ist ein Fehler auf Seite 26, wo zweimal die Mazurka op.33 Nr.4 genannt wird, so dass man eine Weile im Dunkeln tappt: denn das erste Mal ist die Mazurka op.33 Nr.2 (!) gemeint, man merkt es nur nicht gleich, weil die Taktzahl-Angaben in beiden Fällen sinnvoll wirken; denn die bezeichneten Abschnitte beginnen in beiden Mazurken „zufällig“ an denselben Punkten, z.B. Takt 49 und Takt 65. Ärgerlich.

Zugleich hatte ich mich aufgrund des Kabisch-Hinweises (Seite 28) auf die Suche nach der empfohlenen Horowitz-Wiedergabe der Mazurka h-moll op.33 Nr.4 begeben (der Youtube-Link gilt nicht mehr). Man schaue stattdessen hier  beim Klavierabend (1987) „Vladimir Horowitz. Goldener Saal, Wiener Musikverein“, man kann dort die Mazurka 33,4 direkt anklicken oder auf 1:08:10 gehen (bis 1:12:57). Wer will, kann versuchen, sich mit Hilfe der obigen Analyse zu orientieren; oder sich auf den Fragesatz zurückziehen, den ich rot markiert habe, :

Die musikalische Analyse erweist das klangliche Minimum der Mazurka als denjenigen Punkt, an dem sie die größte Fülle musikalischer Bedeutung erreicht. Doch was soll ein Ausführender mit dieser Auskunft anfangen?

Die Mazurka endet folgendermaßen:

Kein Zweifel: die Klavierkunst des alten Mannes ist bewundernswert. Es handelt sich um ein großes Live-Konzert! Uns geht es trotzdem nur um Chopin und diese eine Mazurka. In der vorletzten Zeile steht ein langes Diminuendo, aber kein stringendo. Und woher nimmt Horowitz das fortissimo des letzten Taktes? In einer Kopie von Fontana steht dort – ohne dynamische Angabe (!) – das Wort risvegliato (aufgewacht), Rubinstein schläft ebenfalls nicht ein, er erwacht aber auch nicht spektakulär, effekthaschend, sondern – sagen wir – mit einem innigen Abschiedsgruß.

Nebenbei: Arturo Benedetti Michelangeli (1971) entscheidet sich – wie Horowitz – für ein „Machtwort“ am Schluss. Ich finde es nicht angebracht: nach 5 Takten diminuendo, 6 Takten provokativer (?), resignativer (?) Stagnation auf dem Quintfall g – c (C-dur-Nachklang) wird der Ton C bei einem letzten, weiteren Quintfall akzentuiert, „weil“ er zum letzten Mal kommen soll, dabei umgedeutet wird in einen „Neapolitaner“ von h-moll und mit einer entsprechenden h-moll-Kadenz beantwortet. Eher zärtlich als triumphal. Man vergleiche diesen allerletzten Takt (rhythmische Reminiszenz der 5 wiederholten Takte diminuendo) mit ähnlichen Übergangstakten an anderen Formanschnitten (vor Takt 69 – s.o. aufliegend in den Youtube-Noten, und vor Takt 113) : man erwartet vielleicht wieder ein „gesundes“ forte, aber gerade das dürfte am finalen Ende nicht kommen, ob risvegliato oder nicht. (Rubinstein hat recht! – falls man hier noch rechthaben will…)

Nochmals nebenbei: finde ich verfehlt, ausgerechnet Friedrich Gulda als Chopin-Pianisten zu bemühen, wie es Kabisch tut (ab Seite 109), nur weil es frühe Aufnahmen davon gibt. (Der angegebene Link funktioniert allerdings gar nicht, siehe notfalls hier.)

Es sind ein paar ideologische Momente, die mich beim Lesen der Analysen irritieren und – fast möchte ich sagen – ein bisschen (fast) rühren. 1 die Tendenz, Chopin um jeden Preis der Moderne zuordnen zu wollen, was damit beginnt, dass der Fremdwortgebrauch mindestens mit dem Theodor W. Adornos wetteifern kann. 2 dass man bewusste Folklore-Reminiszenzen gern mit dem Wort „Trällern“  abwertet, 3 lieber von Intervallen spricht als von emotionalen Charakteristiken und die Reduktion auf Minimalismen begrüßt, besonders wenn man sie auf Boulez beziehen kann, 4 dass man sich (etwa in den Klavierkonzerten und den Impromptus) auf die Sinngebung des Ornamentalen anhand partieller Formteile capriziert, da dies offenbar einer Rechtfertigung bedarf.

Der geformte Einzelton zeigt sich, wenn bunt massenwirksame Dramaturgie ausgeschlossen ist, als Kern der Musik. Musik ist Bestimmung des Einzeltons, und der bestimmte Einzelton ist Musik. (Seite 12)

Aber das ist nicht alles, der Rahmen bleibt ungeheuer:

Einerseits Kalkbrenner („Usancen des Virtuosentums“), andererseits Bach (der „Schöpfer einer großen Vielfalt satztechnischer Zustandsformen, die durch kontrapunktisches Denken auch dort geprägt sind, wo auf der Oberfläche eine harmonische Progression oder die Außenstimmen dominieren“). Seite 87

Nachwort 26.01.22

Angesichts des Titels, den ich bei der Planung dieses Artikels voreilig gespeichert hatte, befürchte ich, falsche Erwartungen geweckt zu haben. Zwar würde ich viel geben, Näheres über die Gespräche zwischen Chopin und Delacroix zu erfahren, Nachschriften, Gedächtnisprotokolle. Ich habe auch immer mal über das Novalis-Wort nachgedacht, dass die Ästhetik der einen Kunst auch die der anderen ist, weil es offenbar für Schumann wichtig war. Aber ich habe es nie für richtig gehalten. Das umfangreiche Buch mit dem entsprechenden Titel habe ich nie gründlich durchgeschaut. Ich gehe gern in Ausstellungen, vertiefe mich in Kataloge und „Bilderbücher“, lese interessiert Analysen wie die von Horst Bredekamp oder Kia Vahland, aber nie, wenn ich eine Ausstellung wie die in Düsseldorf mit Bildern von Zurbaran oder Edvard Munch sehe, und zwar gründlich und langsam, wenn auch nicht fachkundig, – nie höre ich innerlich dabei Musik oder denke auch nur an musikalische Vorgänge. Während ich glaube (und in Einzelfällen auch weiß), dass Künstler beim Malen von Klängen inspiriert sind. Deshalb will ich nicht versäumen, auf dieses Werk hinzuweisen, das mir ein gut befreundeter Musiker vor rund 40 Jahren geschenkt hat. Gründe genug, es täglich zu Rate zu ziehen. Das sagt sich leicht, es hat nie längere Zeit aufgeschlagen auf meinem Tisch gelegen. Es könnte daran gelegen haben, dass darin für die Musik Grete Wehmeyer zuständig zu sein schien, die schon in frühen Jahren eine originelle „Nachtmusik im WDR“ über Satie gemacht hat und der ich des öfteren im Kreis um Kevin Volans begegnete; dieser war es auch, der mir die Perlenkunst der Volkskunst in Lesotho nahebrachte, und ähnliche Strukturen wohl auch in seiner Musik realisierte. Aber G.W. war mir endgültig suspekt durch ihren Einsatz für eine neue (krampfhafte) Verlangsamung in der klassischen Musik. Ich erinnere mich an die Nachtmusik-Plakate von Heinz Edelmann, an seine zuweilen sehr sonderbaren Motive der Folkfestival-Werbung  („Brot für die Welt“). Dennoch hätten mich ja wenigstens Namen wie Hans-Heinz Stuckenschmidt oder die WDR-Kollegin Dorothee Eberlein bewegen müssen. Nichts. Meine Schuld. Auch jetzt der Entschluss, das Inhaltsverzeichnis neben die Veranstaltung von 1981 zu legen

 

ISBN 3-7913-0727-4

Geige und Klavier

Wie kompatibel sind die Instrumente?

Chopin Bass für Violine y

Chopin Bass für Violine yy

Diese Transkription soll nichts beweisen… außer: mit der linken Klavierhand Chopins kann eine Violine schon beidhändig ziemlich zufrieden sein. Die harmonische Logik stimmt, jeder einzelne Ton hat Sinn. Natürlich ist man dann nicht mehr glücklich mit einer Interpretation, mag sie noch so pianistisch sein, die die linke Hand „beiläufig“ behandelt. Versuchen Sie nur, sie in der Notation mitzulesen und auch zu hören! Gewiss, das ist kein Kriterium. (Aber eine gute Übung!) Hier ist Valentina Lisitza. Ich weiß, es ist eine Zumutung zu verlangen, gleich wieder zurückzuklicken und intensiv aufs Notenbild zu schauen. Aber bitte: es geht um Fortbildung!

Der meistangeklickte Beitrag dieses Blogs ist übrigens der, der David Garrit betrifft, und ich weiß, für wieviel Enttäuschung die Lektüre bei vielen Menschen in unserem Lande sorgt. Ich möchte das in einem Punkt wettmachen, – gleich zu Anfang habe ich dort Julia Fischer erwähnt, werde dort einen Link einfügen, der dann wiederum mittelbar zu einem Talkshowausschnitt mit David Garrett leitet (falls Sie es zulassen, s.u.), vor allem aber – unmittelbar – zu dem Gespräch, das der wirklich ahnungslose, aber wohlmeinende Moderator Kai Pflaume mit Julia Fischer (er nennt sie meist Julia Schäfer) geführt hat. (Wer auch immer: für zuhörende Musiker sind fast alle Moderatoren, die der Künstlerin Fragen zur Musik stellen, nichts als peinlich; unfassbar bewundernswert deren Geduld und Sorgfalt in der Beantwortung auch dämlichster Fragen: ob sie nun von Kai Pflaume, Hajo Schumacher oder Hinnerk Baumgarten kommen, die durchaus vorbereitet sind. Ganz schlimm aber die spontanen, schulterklopfenden Reaktionen auf Live-Musikeinlagen. Die Links folgen am Ende dieses Artikels.)

Besonders interessierte mich, was sie, als eine Geigerin, die auch hervorragend Klavier spielt, über den Wechsel zwischen den beiden Instrumenten sagt. (Eine solche Perfektion in der Beherrschung der zwei „Welten“ habe ich bisher nur 1 Mal erlebt: bei Kolja Lessing, der allerdings auch intellektuell völlig aus dem Rahmen fiel.) Julia Fischer würde bei einem Konzertauftritt mit beiden Instrumenten grundsätzlich zunächst Geige spielen, Klavier erst an zweiter Stelle, einfach, weil das Klavier mehr Kraft erfordert, die Geige aber äußerste Empfindlichkeit in der Feinmmotorik. Auf die Frage, welches Instrument sie wählen würde, wenn sie sich aus irgendeinem Grunde für ein einziges entscheiden müsste, antwortete sie – verblüffend, wenn man visuell erlebt, wie sie als Person eine künstlerische und „physiologische“ Einheit mit ihrer Violine bildet, wie gut sie dieses Körpergefühl auch Schülern zu vermitteln weiß  -, dann würde sie nur noch Klavier spielen. Dabei ist es leicht zu verstehen: sie ist in erster Linie eine große Musikerin. Und das lernt und realisiert man am Klavier, man hat immer das Ganze im Auge und in den Händen: und beide Hände (Arme) werden auf gleiche Weise und mit dem gleichen Ziel ausgebildet: Musik. Die Geige braucht die Fingertechnik der linken Hand und die Bogentechnik der rechten Hand – zwei völlig unterschiedliche Tätigkeiten -, und beide müssen auf höchst komplizierte Weise zusammengeführt und ausbalanciert werden. Deshalb reden die Violinstudenten auch immer noch über Techniken, wenn Klavierstudenten sich schon längst mit der Musik selbst auseinandersetzen. Ich will nicht geringschätzen, dass die violinistische Art, Musik über ein komplizierteres bewegungstechnisches System zu erfahren, – dabei fortwährend Kontakt zum Zentrum der Tonerzeugung an der Saite haltend -, auch unvergleichliche Vorteile bietet; das Klavier aber vermittelt – ohne dass darüber reflektiert werden müsste – von vornherein die harmonisch-melodische Totale der abendländischen Musik, die der Geiger sich durch Reflexion und Phantasie ergänzen muss. (Ganz anders verhält es sich in anderen Kulturen, die von der melodisch-linearen Komponente geprägt sind und als „inneren Kontrapunkt“ allein den Rhythmus – als eine Welt für sich – denken und realisieren, wie die traditionelle iranische oder indische Musik.)

***

Talkshows mit Julia Fischer, – als Information über das, was die Künstlerin in dieser Situation zeigt und zu offenbaren bereit ist. Aber auch über die Hilflosigkeit (Jovialität, Chuzpe, Kulturfremdheit) der Medienmenschen im Umgang mit Klassik:

HIER Julia Fischer WDR „Anke hat Zeit“  (Anke Engelke) gleich zu Anfang ab 1:03 über den Wechsel zwischen Geige und Klavier, bei 2:47 A.E.: „ich hatte gedacht, das habe mit den Fingern zu tun“ J.F.: „erst Geige, dann Klavier, das funktioniert wunderbar!“ Am Ende Paul Hindemith Solosonate op.11, Nr. 6  „Finale.Lebhaft“ / ab 8:45 bis 13:05 / Studiobeifall bis 13:50 ! Engelke: „Das ist ja zum Weinen schön!“, danach soll J.F. sagen, ob sie es selber schön fand, „auf der Suche nach dem perfekten … Konzert…?“ „Nein. Ich hab mich so gefreut, weil … man kriegt ja nicht immer soviel Sendezeit für 20. Jahrhundert.“ Lachen. Engelke beharrt: „Fandst du’s selber gut? Gab’s so Stellen…?“ – „Ziemlich am Anfang hab ich festgestellt, dass ich mit der Geige mit voller Wucht aufs Mikrofon bin…“

zum Vergleich derselbe Hindemith-Satz als Zugabe im Sinfoniekonzert HIER

HIER  Julia Fischer NDR Fernsehen „DAS!“ vom 07.11.2010 (Hinnerk Baumgarten)

über Suzuki-Methode ab 5:30 / ab 9:20 über Klavier (und Geige)

HIER  Julia Fischer & David Garrett in der NDR Talk Show  März 2013 (Kai Pflaume u.a.)

über Klavier & Geige (Feinmotorik) bei 3:30

HIER  Julia Fischer bei „Typisch deutsch“ DW TV 2013 (Hajo Schumacher)

über Suzuki bei 2:53 / bei 29:28 über Klavier / bei 43:45 Geige oder Klavier?

WIKIPEDIA zu Julia Fischer. Da sie in den Talkshows mehrfach auf ihre Anfänge mit der Suzuki-Methode zurückkommt: hier wird der Name ihres Suzuki-Lehrers erwähnt: sie „erhielt ihren ersten Geigenunterricht mit vier Jahren bei Helge Thelen in Gilching bei München.“ Der Name sagt mir etwas, Ich schaue nach (hier) und siehe da: es trifft zu, er hat damals wie ich bei Franzjosef Maier in Köln studiert, in Lüdenscheid haben wir wenigstens einmal (Mitte der 70er Jahre) zusammen unter Konrad Ameln gespielt. Nichts Weltbewegendes. Aber wenn das nun keine Koinzidenz ist!

Interessant: Julia Fischer unterrichtet das Brahms-Violinkonzert, die technische Qualität der Aufnahme ist nicht gut, das Vorspiel der Schülerin dauert bis 7:23. (Abkürzen sei erlaubt!) HIER. Ab 7:50 Klang der dreistimmigen Akkorde, Haltung der Violine, Übung: Bogen in die Faust nehmen, ab 12:17 Dezimenstelle, Größe der Hand, Empfehlung der „Violin Technique left hand“ von Ruggiero Ricci….

Ich breche die Notizen ab & fahre erst fort, wenn das Werk von Ricci bei mir eingetroffen ist…

Nachtrag 27.07.2015 Es ist so weit… aber erstmal heißt das: etwas üben…

Ricci Left Hand

Die Ausgabe (alles in allem $ 14,94) hat sich gelohnt, sehr nützliche Übungen, besonders die dringende Empfehlung (samt durchgehender Notation): ständig  „drones“ (leere Saiten) mitklingen zu lassen. Für mich ein guter Gedankensprung zur indischen Musik. (Auch als Anregung, Christine Hemann und Doris Keller zu rekapitulieren, siehe unten.) Vorsicht bei der Umsetzung der Dehn-Übungen durch extreme Fingersätze: man braucht das normalerweise nicht, und man kann sich die Hand damit verderben.

Christine Hemann: Intonation auf Streichinstrumenten / Melodisches und harmonisches Hören / Bärenreiter Basel 1964

Doris Geller: Praktische Intonationslehre für Instrumentalisten und Sänger / Bärenreiter Kassel etc. 1997 / ISBN 3-7618-1265-5

Chopins Modulation verstehen

Impromptu Op. 39 Fis-dur

Chopin Impromptus Thema kl

Die Modulation in Takt 14f zu verstehen, ist nicht ganz einfach, weil wir uns in Fis-dur befinden, einer Tonart mit 6 Kreuzen, und uns hier nach ais-moll bewegen, der Paralleltonart von Cis-dur, wodurch nicht nur die 8 Kreuze von Cis-dur wirksam werden, sondern auch noch die erhöhten Leitetöne der Mollparallele, also zunächst gisis und diesem melodisch angepasst das darunterliegende fisis. Man könnte beim Studium der ersten Seite empfehlen, das Ganze von Fis-dur nach F-dur zu transponieren, was bedeuten würde, alle vorgezeichneten Kreuze wegzudenken und stattdessen ein vorgezeichnetes b vorauszusetzen. Dadurch wird das harmonische Mitdenken erleichtert, andererseits eine neue Schwierigkeit geschaffen, nämlich die innerhalb des Notenbildes wechselnden Vorzeichen auszutauschen. Also machen wir uns ruhig die Schreibarbeit und verbinden sie zugleich mit einer Harmonielehreübung, – vielleicht ohne uns mit der entsprechenden Terminologie zu belasten.

Chopin Impromptu Mod Übung

Kommentar

1) Wir haben die Begleitung der linken Hand in 1a) so weit als eben möglich vereinfacht. In 1b) jedoch dem wirklichen Verlauf angenähert, die „Girlande“ am Ende der Zeile kann nach Belieben entwickelt werden, 1c) entspricht ebenfalls dem realen Verlauf in Chopins Text.

2) Der zweite Takt von 1b) wird durch einen Zwischenakkord ergänzt, statt des Tones „es“ erscheint ein „d“, das „a“ in der Oberstimme wird verlängert, so dass an dieser Stelle ein d-moll-Klang anstelle von F-dur tritt, der Ton „h“ erscheint kühn, erhält aber durch die Anschärfung des „d“ zum „dis“ Verstärkung, Leittonwirkung ist spürbar, das „H“ im Bass vollendet den Eindruck eins dominantischen Klangs, der sich auflösen will: ins „E“ (vielleicht E-dur), das im Verlauf des Taktes selbst in eine Dominante verwandelt wird, die nach a-moll drängt und dies gleich zweimal bestätigt, zuletzt (siehe 1b, letzter Takt) mit dem Aufwand der Girlande. Fast zuviel, es gibt in 1c) geradezu einen Ruck zurück nach F-dur. – Zu erwähnen wäre noch, dass die im zweiten Takt von 2) eingefügte Lösung durch den Ton „d“ suggeriert wurde durch den in 1b) wohlmeinend umgedeuteten Ton „es“ (statt „dis“). Wenn die Melodie nicht den kühnen Ton „h“ anschlüge, könnte der Ton „es“ alias „dis“ durchaus einen anderen Zug ausüben, nämlich den, der in  3) realisiert wurde: man kommt nach g-moll und könnte fortfahren mit der Version 1c) ab zweite Zählzeit und könnte weniger „ruckartig“ F-dur erreichen. Und – der Zauber der Stelle wäre vollständig verloren…

Dieser Zauber hängt offenbar mit dem melodischen Aufstieg f – g – a – h zusammen, der an die lydische Kirchentonart gemahnt, im Abstieg jedoch in eine phrygische Kadenz mündet, mit deren Hilfe das zarteste a-moll erreicht ist, auf dem wir mit Rührung verweilen.

Und jetzt müssten wir eigentlich alles neu formulieren und auch von der seltsam insistierenden Begleitfigur des Anfangs reden, die dann als Kontrapunkt der eigentlichen Melodie fungiert.

PS.

Übrigens liebe ich diese Paderewski-Ausgabe (s.o.), weil mir die Fingersätze und der Druck behagen. Ich verdanke die 10 Bände der Chopin-Gesamtausgabe den zwei Semestern 1960/1961 in Westberlin, als man noch problemlos in den Osten fahren konnte, um im polnischen Pavillon preisgünstig einzukaufen. Vielleicht bin ich nur durch diesen Besitz in späteren Jahren ein solcher Chopin-Verehrer geworden.