Zwei Opern haben die verkürzten Salzburger Festspiele mit den freien Sitzen links und rechts neben jedem Zuschauer gestemmt. Dass „Elektra“ zu überwältigen vermochte und jetzt die Così beglücken konnte, ist vor allem den Wiener Philharmonikern zu verdanken. Die haben nicht nur Strauss, sondern natürlich auch ihren Mozart in den Genen. Dass sie mit Joana Mallwitz eine junge, allseits bestaunte Dirigentin akzeptierten und ihrem elegant dirigierten, flott und süffig aus dem Graben perlenden Mozart folgten, wäre normalerweise die Hauptschlagzeile in Sachen Musik. In Coronazeiten gebührt die aber den Musikern, die sich mit Umsicht selbst schützen und engmaschig testen lassen, im Graben aber direkt und im übertragenen Sinnen so zusammenrücken, dass ein beglückend leichter Mozartklang dabei herauskommt. Wenn man sich schon bescheiden muss, dann sind „Elektra“ und diese „Così“ genau die richtigen Statements. Für die Künstler, das Publikum die Jubiläumsfestspiele und natürlich auch für die Politik.
Mit Christof Loy und Joana Mallwitz hat sich ein Gespann in den Dienst der Sache gestellt, dem es gelungen ist, sensibel und mit Geschick die Oper so auf zweieinhalb Stunden einzukürzen, dass man schon genau prüfen muss, um zu bemerken, was fehlt. Mozarts eigenen Pragmatismus wussten sie dabei auf ihrer Seite. Sie haben damit dem Werk nicht geschadet, sondern ihm gedient. Aus diesem gemeinsamen Blick aufs Ganze ist eine selbst für Loys Verhältnisse kongeniale Verschmelzung von Musik und Szene entstanden.
Begünstigt wird dieses konzentrierte Lauschen auf das, was der Text sagt und die Musik meint, durch die Reduktion der Bühne auf eine weiße Wand mit zwei Flügeltüren hinten und einer Freitreppe in den Orchestergraben vorn. Es ist einer von den unaufdringlich magischen Räumen auf die sich Johannes Leiacker versteht. Dazu die (zumindest für die Damen) zeitlose Eleganz der Kostüme von Barbara Drosihn und fertig ist der Raum für das große Experiment mit den Gefühlen, dieser Operation am offenen Herzen. Weil Mozart es gewagt hatte ein einmal gegebenes Treueversprechen auf seine Haltbarkeit zu testen, wenn sich andere sexuelle Begehrlichkeiten regen, galt diese Oper ein ganzes prüdes Jahrhundert lang als lasziv, hatte sich sozusagen in der Schmuddelecke zu schämen.
Das Licht der Emanzipation macht aus diesem „Wer-mit-Wem?“ der zwei Paare ein hochmodernes Stück, dass zumindest die Herzen deren, die über sich entscheiden dürfen, näher angeht. Dass die Frauen am Ende, wenn ihr „Treuebruch“ rauskommt, davon reden, dass sie den Tod verdient hätten, war wohl schon zu Mozarts Zeiten nicht wörtlich zu nehmen. Wie ja die ganze Geschichte hinten und vorne nicht funktioniert, wenn man sie beim Wort nimmt.
Loy verzichtet sogar auf den Mummenschanz der Verkleidung der Männer. Wenn es in der „anderen“ Paarkonstellation funkt, hat sich die Bühnenrückwand geteilt und ein Baum – vermutlich aus dem Mittsommernachtswald – ist zu sehen. Als Don Alfonso diese Verwandlung herbeiführt, bekommt sein Spielmacher eine Shakespearsche Dimension. Der Erzkomödiant Johannes Martin Kränzle ist dafür eine Idealbesetzung. Lea Desandre eine jugendzarte Despina an seiner Seite.
Die Geschichte funktioniert aber im übertragenen Sinne, als Laborversuch. Und sie vermag im psychologischen Detail zu fesseln. Hier leisten Loy und seine Protagonisten Großartiges. Exemplarisch steht dafür die Felsenarie Fiordiligis. Elsa Dreißig singt sie nicht nur großartig, sie spielt sie auch. Mit allen Facetten. Vom Widerstandswillen gegen die Verwirrung der Gefühle, über den aufkommenden Zweifel daran und schließlich das nachgeben. Dieser Kraftakt der Selbsterkenntnis wirft sie am Ende zu Boden! Man hört immer, was sie meint, den Geboten der Moral schuldig zu sein, und sieht, wie sie das fertig macht. Auch die ebenso wunderbar kraftvoll leuchtende Marianne Crebassa als Dorabella, Andrè Schuen als markanter Guglielmo und Bogdan Volkovs geschmeidiger Ferrando haben solche Momente der Verunsicherung. Das sieht man selten so fein ausformuliert wie bei Loy. Da muss am Ende die große Verunsicherung gar nicht ausgestellt werden, da dürfen die Paare mehr oder weniger gereift in ihre ursprüngliche Konstellation zurück. Die Moral von der Geschichte gab es gewissermaßen schon als sie ablief.
Ungetrübter Jubel im Großen Festspielhaus!
NMZ-Autor: Joachim Lange 3.8.2020 (Weiteres hier).
* * *
Zur Erinnerung: ich habe mich immer wieder mit dieser Mozart-Oper beschäftigt; zuletzt am 20. Februar, hier , und plötzlich erübrigt sich alles, vielleicht sogar die Gesamt-Aufnahme von 2002, wenn ich doch das neue „Original“ der Salzburger Aufführung greifbar habe und verinnerlichen kann. All die Szenen, die ich da im Februar verlinkt hatte, lähmen und ärgern mich, sobald ich diese neue szenische und psychologische Wahrheit dagegenhalte. Vielleicht bleibt die Reduzierung der Musik auf die drei Instrumente ein interessantes Experiment. Sage ich mir halbherzig und werfe mich – wie viele andere glückliche Menschen – um so begieriger in das magische Treiben auf der minimalisierten Salzburger Bühne. Vor mir auf dem Bildschirm. Lebensnah und überlebensgroß wie vielleicht nie vorher. Manchmal bleibt die Zeit stehen, und nur die Welt der einen Sängerin breitet sich aus über die weiße Wand im Hintergrund, die Türen, die Seitenwände und über die Rampe hinab in den matt erleuchteten Orchestergraben. Das ist ein Wunder.
Ich stelle mir eine makabre Situation vor: man hätte die Wahl, vor der Hinrichtung noch dreieinhalb Minuten Musik zu hören. Es dürfte nichts aus dem Requiem sein, ich schlage vor: die Abschiedsszene aus „Così fan tutte“, von 27:00 bis 30:22. Bitte!
Und Sie haben recht: da sitzt ja einer am Boden und singt: „Ich sterbe noch vor Lachen.“ Vielleicht… vielleicht… wird alles wieder gut. Aber sehr wahrscheinlich ist das nicht.
Nachtrag 6.8.2020 (DIE ZEIT)
Eine ganz andere Meinung auf dem sehr hohen Niveau einer professionellen Opernbesucherin, für mein Verständnis allzu hoch. Aber dahin führend, dass ich unbedingt auch „Elektra“ sehen und hören will. Sehr interessant die Beurteilung des Dirigenten Welser-Möst (s.a. Kritik an Musikhier).
Die ganze ZEIT-Seite „Salzburger Festspiele“ online hier !
Sieht es wirklich so friedlich aus, wie wir es gerne hätten? Es ist offensichtlich nicht unproblematisch, links der Moslem, rechts der Christ. Aber kein Zweifel, sie spielen und hören einander zu. Es handelt sich um eine Abbildung aus den Cantigas de Santa Maria, und diese Maria genießt zwar im Islam und im Christentum gleichermaßen große Verehrung, – aber … im Judentum? Man lese über Alfonso el Sabio (1221-1284) hier und über Maria hier. Seien wir froh darüber, dass es diese Zeugnisse gibt, aber trotzdem sollte man mehrfach nachfragen, bevor man Schlüsse daraus zieht. Sollte man heute überhaupt noch von Religion reden, wenn es um Musik geht? Im Fall Johann Sebastian Bach (1685-1750) gebe ich gern zu, dass man etwas von Luther und auch vom Pietismus wissen müsste, sogar eine Anzahl von Chorälen verinnerlicht haben sollte. Aber zwischen den eben avisierten historischen Welten gibt es noch einen gewaltigen doppelten Riss, der durch die Geschichte gegangen ist, komprimiert in der Jahreszahl 1492.
Quelle Christian Geulen: Geschichte des Rassismus / C.H.Beck München 2007 / Seite 38
Es gibt nicht viel Anlass, in einem früheren Abschnitt der Geschichte ein Goldenes Zeitalter des friedlichen kulturellen Miteinanders zu unterstellen. Vielleicht von Mensch zu Mensch, aber nicht zwischen organisierten Machtstrukturen. Auf der nächsten Seite dieses Büchleins ist vom ersten wahrhaft ‚globalisierten‘ Wirtschaftssystem der Geschichte die Rede. Gemeint ist der später so genannte „Dreiecks-Sklavenhandel zwischen Europa, Afrika und Amerika“, so zynisch das klingt. Die Folgen waren unterschiedlich, und überall in der Welt gab es Varianten solcher Begegnungen. Vernichtung oder Koexistenz waren nicht die einzigen Alternativen. Die spanischen und portugiesischen Kolonisatoren verhielten sich anders als die nordeuropäischen, mit der (nicht beabsichtigten) Folge, dass sich langfristig nur in Südamerika eine wirklich multiethnische Bevölkerung entwickelte, und so z.B. auch eine wirkliche Symbiose der Musikstile, die etwa zur Genese neuer Tanzformen führte. Volksmusik, – wenn ich das hier schon anführen darf. Und niemand dort hätte andere Ohren gebraucht.
Das hat allerdings nicht unbedingt mit dem Nahen Osten zu tun. Nichts in den verschiedenen Kulturen der Welt ist ohne weiteres 1 zu 1 übertragbar.
Konzentrieren wir uns also auf den ZEIT-Artikel, der sich weit entfernt von diesem Hintergrund in unserer Gegenwart entfaltet, – was soll es bedeuten: Mit anderen Ohren zu hören? All dies ausschalten? Andererseits die Warnung vor Vereinfachung, während sie massiv weitergetrieben wird. Der Rhythmus, essentieller Parameter der orientalischen Musik, kommt in dem Artikel gar nicht erst vor. Und vom Westen heißt es: „Der Gigant der abendländischen Musik, Johann Sebastian Bach, komponierte fast ausschließlich religiöse Musik.“ Das ist nicht wahr, ich muss es nicht aufzählen, von den Brandenburgischen Konzerten über die Goldberg-Variationen bis zur Kunst der Fuge. Da gibt es nun mal nichts, was mit den Meditationen bestimmter Sufi-Orden des Nahen Ostens vergleichbar wäre, die „über Jahrhunderte hinweg die Kaderschmieden klassischer Musik“ gewesen sein sollen. Das Wort klassische Musik ist auch nur ein Etikett, wie Volksmusik oder Kunstmusik. Wenn gesagt wird, dass ein Abend deutscher Musik mit dem Violinkonzert von Brahms und Stücken aus Ludwig Erks Deutschem Liederhort nicht denkbar sei, so steckt darin nur der wahre Kern, dass Brahms diese Sammlung nicht leiden konnte. Aber seine eigene Volksliedersammlung hätte er wohl gelten gelassen, und in jedem Radioprogramm wäre eine Liedergruppe nach seinem Violinkonzert oder vor den vierhändigen Ungarischen Tänzen denkbar.
Es grenzt an fahrlässige Pauschalisierung, aber man muss irgendetwas an Prämissen vorgeben, bevor man uns ein neues Hören empfiehlt; denn dies beginnt nun einmal nicht mit guten Vorsätzen, sondern mit (Geschmacks-)Bildung und knallharten Detailkenntnissen. Beginnen wir also mit besonders breiten Schubladen!
Meine Vereinfachung ad hoc
Die Musik wirkt anders auf die Menschen als etwa die Gebrauchsgraphik, wo ein sich wiederholendes Ornament den ganzen Raum füllen darf, ohne dass jemand sagt: die Wände langweilen mich, im Gegenteil, erst so entfaltet diese Kunst ihre belebende oder beruhigende Wirkung, auch – und gerade – als Hintergrund.
Die Musik bedarf der Zeit, macht durch ihre Präsenz fortwährend auf sich aufmerksam. Und da gibt es von vornherein eine Ökonomie der Mittel: Wenn ein Orchester dasitzt, soll es tätig sein; es wirkt deplaziert, wenn zwischendurch eine halbe Stunde lang nur kurze Liedchen mit Lautenbegleitung gesungen werden.
Wenn dagegen ein Trommler eine halbe Stunde untätig bleibt, während der Sitarspieler ein entsprechend großes Solo spielt, entspricht dies dem zugebilligten Rang der Melodie gegenüber dem Rhythmus und zugleich einem Sinn für Steigerung der Mittel, wenn nun beide Spieler zusammenwirken. (Beispiel Indische Musik.)
Und es gibt einen inhaltlichen Anspruch: die endlose Wiederholung einer leicht überschaubaren Melodie, selbst in diversen Abwandlungen, ist einem gebildeten Publikum, das adäquat beschäftigt sein will, nicht zuzumuten. (Ravels Bolero ist eine Ausnahme, zudem wiederholt er eine durchaus nicht leicht überschaubare Melodie, und die Steigerung der Mittel lässt ein in der Ferne – in 15 Minuten – winkendes Ziel erahnen.)
Volksmusik lebt von der Wiederholung, wie auch die einfache Choreographie des Volkstanzes. Das einzelne Lied lebt von den Strophen oder Zeilen mit einem Fortgang des Textes, der Tanz zudem von der hypnotischen Wirkung der Kreisbewegungen und auch vom Wechsel der Tanzarten (Rhythmen), von der Mode, den Bräuchen und der gesellschaftlichen Notwendigkeit.
Kunstmusik lebt von dem sinnvollen Aufbau größerer Gebilde, die Zeit brauchen und den Zeitaufwand lohnen. In der (alten!) klassischen westlichen Musik ist dies bereits in Umrissen vorgezeichnet durch bestehende, erprobte Formen wie Oratorium, Kantate, Sinfonie (Sonate), Konzert für Solo und Orchester und ähnliches, in der klassischen orientalischen durch die Aussicht auf eine große, detaillierte Darstellung eines Maqams (Dastgah, Raga), solistisch oder im Ensemble, auch innerhalb bestimmter Formen (Nouba, Qasida, Tawsih, Taqsim, Daramad).
Die Wahrnehmung solcher Gebilde erfordert Bildung: die Fähigkeit der fesselnden Darstellung (Künstler) und des kennerhaften Nachvollzuges (Publikum).
Es genügt also nicht, (vorläufig) reizvolle neue Farben zum Verwechseln ähnlich wiederzugeben (Weltmusik mit „fremdkulturellen“ Akzenten), exotistische Einzelstücke im exotischen Outfit zu bieten, aneinandergereiht nach mehr oder weniger zufälligen geschmacklichen Erwägungen.
Je mehr man weiß und kennt, desto empfindlicher wird man gegenüber falschen Tönen und geistlosen Imitaten. Auch weltanschaulich oder ethisch, im Umgang miteinander. Dies aufzuzeigen, ist wohl auch der Sinn des ZEIT-Artikels, der aber zugleich mit Illusionen spielt: als sei im Rahmen von Konzerten, die sich an Pop-Sessions orientieren, eine Differenzierung zu lernen, die sonst jahrelanger Übung bedarf.
Was nicht hilft (aber auch nicht schadet): der bloße Wille zur Toleranz, gerade gegenüber dem, was geschmacklich (in der Vermischung) misslungen scheint. Sie braucht keine Begründung. Und es ist sogar unnötig, den anderen Mitmenschen im eigenen Land, andere Ohren zu wünschen.
Die Sorge des ZEIT-Artikel-Autors mag dennoch begründet sein:
Brot backen, Yogi werden, fremde Sprachen entdecken: Das Angebot an virtuellen Bildungsmöglichkeiten während der Corona-Krise ist überwältigend. Von diesem Appetit auf Neues profitiert in Deutschland auch die nahöstliche Musik, deren Bekanntheit durch die Zuwanderung der letzten Jahre ein ansehnliches Niveau erreicht hat. Rasch haben westlich ausgebildete Geiger oder Cellisten syrische Volkslieder oder „arabische Tonleitern“ erlernt, Wohnzimmerkonzerte mit der Kurzhalslaute Oud oder der Kastenzither Kanun werden über Facebook tausendfach geteilt. Das Ganze nennt sich dann „orientalische“, „türkische“ oder „arabische“ Musik und ist fast immer volkstümlich konnotiert. Klänge „aus Tausendundeiner Nacht“ eben.
Er hält das für Marketingstrategien. Man könnte aber auch hier globale Toleranz fordern. Daher ist die Schlussfolgerung interessant, – welcher Gewinn winkt uns?
Was ist der Zweck des ZEIT-Artikels?
ZITAT:
Warum ist es wichtig, dies zu verstehen? Ein klischeefreies Hören nahöstlicher Musik kann dem europäisch geschulten Geist neue Horizonte eröffnen. Diese Musik in ihrem künstlerischen wie historischen Reichtum zu erfahren könnte ein bedeutender Schritt sein bei der Überwindung eines eurozentrischen Weltbildes, das unseren Blick auf Musik und Philosophie genauso verzerrt wie auf Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik. Die Welt mit anderen Ohren zu hören wirkt mindestens so bereichernd, wie sie mit neuen Augen zu sehen.
Also: Bereicherung? Gewiss, man soll den Begriff nicht überfrachten, gemeint ist offenbar das Erleben von geistigen Reichtümern, die man gar nicht im aggressiven Sinn erobert.
Was bringt uns diese Einsicht? Ein klischeefreies Hören nahöstlicher Musik? Was ist mit indischer, vietnamesischer, indonesischer Musik? Wieviel darf es denn sein zur „Überwindung eines eurozentrischen Weltbildes, das unseren Blick auf Musik und Philosophie genauso verzerrt wie auf Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik.“
Soviel auf einmal!? Nach dem Mozart-Effekt eine Art Makam-Effekt. Ich wäre der letzte, der sich darüber nicht freuen würde, könnte aber auch an die von Mantle Hood geforderte Bi- oder gar Multi-Musikalität erinnern. Es bleibt also schier unendlich viel zu tun. Bevor wir auf Philosophie, Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik kommen.
Was für eine Illusion!
Die Toleranz ist nicht alles. Die Intelligenz des Menschen ist auch dazu da, grundsätzliche Differenzen zu erkennen. Deshalb bin ich gleich mit dem Rhythmus gekommen. Ich hätte auch vom Gebrauch der Harmonien anfangen können. Oder davon, dass sie im klassischen Sinn bei uns eigentlich nur noch in Pop und Volksmusik verwendet werden, und dass sie der unversöhnliche Feind der fein ausgebildeten Makam-Ohren sind…
Beides große Erfindungen der musikalischen Menschheit.
Ich hätte auch schreiben können: stimmt mich zwiespältig. Und so bin ich nicht unglücklich, wenn die Wiedergabe des Artikels im Smartphone das obige Titelblatt spaltet. Inhaltlich führt der rückseitige, vergrößerte Text in die richtige Richtung. (Bitte anklicken!)
Mit diesen drei Gestalten kommt auch alles visuell Erschreckende und Bombastische des „romantischen“ Jahrhunderts zum Vorschein, der Anfang der Moderne, der intendierte große Umschwung, der sogenannte Fortschritt, das Gesicht des 19. Jahrhunderts.
Ein kleiner Druckfehler sei vermerkt (sehe ich meist beim Aufschlagen eines Buches) Seite 16: Thomas Mann hat sicher nicht von Wagner als einem „theatroromanischen Kostümfex“ gesprochen. Sondern… ?
Der Preis für diesen Prachtband ist sozusagen nicht erwähnenswert, es ist die Hälfte oder ein Drittel des normalen Kinobesuchs, bietet jedoch großes Kopfkino und für die Länge von 10 Spielfilmen Staunen und Vergnügen. Man sollte aufmerksam die Inhaltsübersicht studieren, auch wenn sie bei mir etwas angegraut aussieht, sie steht auf schneeweißem Grund.
Wer hat das so schön gestaltet? ⇑ Alexandra Matzner / Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publikationen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.
Eine frühe Erinnerung aus dem Bücherschrank meines Vaters (was kannte ich von Brahms? die Klaviertrios in c-moll und C-dur mit seinem „Bielefelder Kammertrio“), die Biographie von Heinrich Reimann, das Original aus dem Jahre 1911.
Ich habe mir dank Brahms den Namen „Max Klinger“ gemerkt (ohne ihn besonders zu mögen, wie etwa Arnold Böcklin – wegen seiner „Toteninsel“), hatte keine Ahnung, dass Klinger hier sich selbst am Klavier dargestellt hat:
Und als ich in den frühen 50er Jahren mit extensiver Karl-May-Lektüre vom Wilden Westen in den ebenso Wilden Osten kam, da begann ich aus Sympathie für Kara Ben Nemsi eine Liste arabischer Sätze zusammenschreiben, in der Annahme, dass ich das einmal brauchen könnte.
Ich folge in meiner Analyse der bewundernswerten Arbeit von Christoph Bergner, die 1984/85 als Dissertation von der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen angenommen wurde. Er schrieb dazu: „Herr Prof. Dr. U. Siegele hat die Arbeit begleitet und gefördert, obgleich sie von anderen Voraussetzungen und Methoden ausgeht und also auch zu anderen Ergebnissen kommt als seine eigenen Arbeiten.“
ZITAT als Ansatzpunkt
Seite 122
Das heißt, ich setze fort, was ich hier begonnen hatte, ohne es mir dort bei Bergner wirklich erschlossen und für Leser nachvollziehbar gemacht zu haben.
Da mir Bergners analytische Studien zur Form der Bachschen Präludien aber nicht nur für diese grundlegend erscheinen, sondern für das Formverständnis Bachs überhaupt, ist es mir unbegreiflich, dass ich sie in der Bach-Literatur kaum irgendwo hervorgehoben finde: in dem großen Werk zur Bach-Interpretation (1990) von Paul Badura-Skoda zum Beispiel mit keinem Wort, bei Alfred Dürr (1998) zwar im Literaturverzeichnis aufgeführt, aber sonst nur gelegentlich erwähnt. Im Fall dieses speziellen Praeludiums, wo es wirklich hilfreich gewesen wäre, entschließt er sich zu einem separaten Weg, der sich bei genauer Prüfung – wie ich finde – als weit weniger sinnlich fassbar erweist, aber auch nicht gedanklich: wenn Taktmengen von 26 Takten neben solchen von 16 oder gar 5 Takten als Formteile wirken sollen, – da kann etwas nicht stimmen!
Alfred Dürr
Ich gehe aus von den spärlichen Einzeichnungen oben im Notentext:
Eine vorläufige Aufteilung liegt auf der Hand und wird durch senkrechte rote Striche nach Takt 16 und Takt 32 angegeben, bei Alfred Dürr als „A. Hauptteil“ und „B. Episode 1“ bezeichnet, – was auf den ersten Blick einem Schema entspräche, das aber dann auch irgendwie im weiteren Verlauf durchschimmern müsste. Bach verweigert sich jedoch einer weiteren Periodisierung, es hat keinen Zweck, nach weiteren Perioden dieser Art zu suchen, die womöglich auch durch Kadenzen gestützt würden. Im Notentext sind solche „strukturellen“ Kadenzen des Harmonieverlaufs durch die Silbe Kad in grüner Farbe gekennzeichnet. Aber erlauben uns diese Kadenzen tatsächlich, eine plausiblere Struktur des ganzen Stückes offenzulegen? So, dass wir Proportionen erkennen? Gerade in dem Teil, der uns interessiert, ab Takt 32 bis Ende, besagt die eine Kadenz (?) nach Takt 43 recht wenig, – ist es überhaupt eine? (Korrektur: Kad müsste am Anfang des Taktes stehen. D bezeichnet in diesem Fall nur Halbschluss!) Spätestens hier kommt man auf die Idee, lieber die Motivik und ihre Entwicklung für maßgeblich zu halten. In Takt 32 haben wir eindeutig eine Reprise des Anfangs, wenn auch in der Subdominante fis-moll und mit vertauschten Stimmen: die Melodie von Takt 1 beginnt hier in der Mittelstimme (cis-fis-a) und ist mitsingbar bis in Taktanfang 37 (der dem Taktanfang 5 entspricht). Und nun?
Jetzt haben wir noch rote Einzeichnungen, bei der eindeutigen und bedeutsamen Kadenz in Takt 27 zum Beispiel, und das erlaubt uns, die darauf folgende Motivik (samt Mini-Fugato) ernst zu nehmen, weil sie schön ist und weil sie – vielleicht genau aus diesem Grunde – ab Takt 50 in anderer Tonart wiederkehrt.
Jeder Schüler sieht ein, dass diese Taktgruppen von wesentlicher Bedeutung sind, also 27 bis 32 und später die Wiederkehr in Takt 50 bis 55. Da wird die offenbare Struktur von einer anderen überlagert, wovon wir aber einstweilen nichts ahnen können.
Bis hierher könnten wir uns noch am Text von Alfred Dürr orientieren. Aber der entscheidende Punkt fehlt, und zwar genau der, der ein Aha-Erlebnis auslösen könnte. Da fehlt uns noch ein entscheidender Begriff, der uns veranlasst, mit der Taktzählerei aufzuhören: die Dehnung. Siehe Takt 37 und 45. Und auch das Wort „Vorbote“ (Takt 39) ist interessant.
Aber stellen wir uns zunächst vor (so naiv das anmuten mag): Bach hätte, vom Entfaltungs- und Wiederholungsdrang des Motivs Takt 1 getrieben, den Teil A geschaffen und dann – als Antwort darauf – den Teil B (ausgehend von einer Antwortvariante des Motivs), wobei ihn die dann in Takt 27 neu entdeckte Variante, die den Bass-Aufstieg in die Melodiestimme versetzt und als motivisch relevant enthüllt, in Entzücken versetzt hat (wie auch uns!), also: Bach hätte nun die Formidee gehabt, diese beiden Teile durch einen doppelt langen dritten Teil zu überhöhen, zu überbieten, und ihn durch Rekapitulationen aus Teil A und B, aber vor allem durch die wörtliche (wenn auch transponierte) Zitierung der „entzückenden“ Takte 27 bis 32 mit einer übergeordneten Klammer (in Takt 50 bis 55) zu versehen, und gewissermaßen eine „unendliche Melodie“ zu schaffen, deren Gliederung verborgen bleiben sollte, damit sie unendlich wirkt, – wie hätte er es besser bewerkstelligen können???
Und hier zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass auch die nachfolgende Fuge einer verwandten oder vielmehr komplementären Formidee folgt, angefangen mit dem „allumfassenden“ Thema, das in sich selbst zurückfließt, und später auch in Umkehrung behandelt wird, wobei gleichzeitig – mit dem Signal einer starken Pausensetzung – ein chromatisches (menschliches, leidendes) Thema eingeführt und wenig später durchgeführt wird, so dass eine Doppelfuge entsteht. Das alles entspricht einer großartigen Vision, die insgeheim auch mit dem cis-moll-Ensemble aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers korrespondiert.
Soll man sich wundern, dass Wagner darüber mit Begeisterung spricht? Seit Tagen grüble ich, aus welchem Strudel der unendlichen Melodie im „Rheingold“ mir das Motiv dieses Praeludiums zuweilen auftaucht…
Ich beschränke mich jetzt, statt weiterzuphantasieren, auf die Abschrift des Bergner-Textes und verdeutliche ihn nur drucktechnisch oder durch eckige Klammern, manches oben schon von mir Referierte wird sich inhaltlich wiederholen:
[In] T.33-36 werden T.1-4 aufgenommen und mit Stimmtausch der beiden Oberstimmen auf der S[ubdominante] wiederholt. In T.33/34 tritt zunächst eine neue Oberstimme auf, ab T.35 wird die Vorlage übernommen.
In T.39-42 wird die Oberstimme von T.1-4 wörtlich zitiert, während sich die Harmonisierung ändert. Die charakteristische Akkordbrechung im Baß, mit der ein Neubeginn in diesem Stück stets eingeläutet wird, fehlt in T.39 (vgl. T.1, T.5, T.17, T.33, T.43; in den Oberstimmen T.27, T.50), wodurch die beiden Wiederholungen der ersten vier Takte enger verbunden werden.
In T.43/44 wird nun T.5/6 vollständig wiederholt. Das Zitat der Oberstimme in T.39-42 ist also der Vorbote für die Wiederholung von T.5/6.
Schließlich entsprechen sich auch T.11-16 und T.56-61. T.56-61 wiederholt T.11-16 in der Unterquint, die Oberstimmen werden vertauscht.
Betrachtet man die Abschnitte nach T.32, so sieht man, daß hier ständig Reminiszenzen an den 1. Teil (T.1-16) auftreten. Es werden genau 16 Takte des 1. Teils im letzten wiederholt. 13 andere Takte werden in dieses Gerüst aus Wiederholungen des 1. Teils eingesetzt.
In T.50-55 wird auch ein Abschnitt aus dem 2. Teil (nämlich T.27-32) aufgegriffen. Aber im Unterschied zu T.27-32 ist zwischen T.50 und T.55 kein harmonischer Fortschritt festzustellen. Die Wiederholung setzt auf der D[ominante] ein. In T.52 kehrt sie zur T[onika] zurück und löst sich damit von der Vorlage in T.29. Die Wiederholungen erweisen T.33-62 auch strukturell als Schlußteil.
Aber hinter jenem großangelegten Schluß von 29 Takten stehen eigentlich die 16 Takte, die aus dem 1. Teil übernommen werden. Denn die in diese Wiederholungen eingeschobenen Takte zeigen harmonische Dehnungen. So steht T.37/38 zwischen den beiden Wiederholungen der T.1-4. Aber schon in T.37 (4. Achtel) ist die Tonika erreicht, die dann in T.39 bestätigt wird. Folgende Skizze mag
Ebenso erscheinen T.45-49 als eine Dehnung, die hier durch die ganztaktige, schrittweise fallende Sequenz im Baß dargestellt wird. Die D[ominante], die in T.50 erklingt, hatte die Sequenz in T.45 auch eröffnet. Da auch die T.50-55 (s.o,) keinen harmonischen Fortschritt bringen, läßt sich T.56 an T.44 anschließen. Das sechzehntaktige Grundgerüst ist also auch in der harmonischen Anlage noch zu erkennen.
Der Schlußteil wiederholt Abschnitte aus den vorangegangenen Teilen ubnd kombiniert sie mit einigen neu hinzutretenden Takten. Die Wiederholungen orientieren sich zunächst am Eingangteil. Das ist auch in anderen Präludien begegnet. Hier aber werden diese Wiederholungen mit Material aus dem 2. Teil verbunden. So wird der letzte Teil stark erweitert.
Die betonte Stellung der Dominante (vgl. T.43, T.50, T.56) weist diesen Teil auch harmonisch als Schlußteil aus. Während die Analyse ein proportioniertes Grundgerüst herausarbeiten kann, zeigt doch die jetzige Anlage keine Proportionierung mehr.
Durch die Erweiterung des Schlußteils entsteht aber eine Symmetrie. Sie wird durch die kontrapunktisch dichtesten Abschnitte T.27-32 und T.50-55 dargestellt. Schon Keller hat ihre besondere Stellung bemerkt, als er diese Abschnitte als „Seitensätze“ beschrieb. [Anm. s.u. Keller 131]
Im ersten Fall werden diese Takte (27-32) von jeweils 7 Takten flankiert. Die daraus entstehende Gliederung der Abschnitte nach T.16 deckt sich nun nicht mehr mit den drei Teilen, wie sie oben beschrieben worden sind: 10+6+10 7+6+7. [Von mir nicht zitiert!] Diese Gliederung steht aber im Einklang mit den Kadenzen der einzelnen Abschnitte und mit den schon erwähnten Akkordbrechungen, mit denen die Abschnitte eröffnet werden.
So richtet die Wiederholung von T.27-32 eine Symmetrie auf, die allerdings nicht den Eingangsteil des Stückes umfaßt, während die Wiederholungen aus dem 1. Teil eine proportionale Gestalt entwerfen, die durch die Erweiterungen des Schlußteils aufgehoben und überboten wird.
Quelle Christoph Bergner: Studien zur Form der Präludien des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach / Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft /Herausgegeben von Georg von Dadelsen Band II Hänssler Edition 24.111 / Hänssler-Verlag Neuhausen-Stuttgart 1986 [Zitate Seite 122f]
Die Anmerkung, die sich auf Keller bezog, veranlasst mich die ganze Seite wiederzugeben, zumal sie zeigt, dass ich nicht der einzige bin, der an Richard Wagner denkt:
Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J.S.Bach / Bärenreiter-Verlag Kassel 1965 /Seite 131
Man kann die hier gegebene Gliederung leicht durchschauen, sie erübrigt sich nach der Bergner-Lektüre. Dem „Rheingold“-Motiv, das mir im Kopf herumspukte (gern mit dem Text „Des Goldes Fluch“) bin ich auf die Spur gekommen, als ich den Klavierauszug gerade durchzublättern begonnen hatte. Da ist dieses endlose, gewaltige Es-dur, das auch die Rheintöchter mit viel „Wagalaweia“ ausbaden, leichtflossig erweitern in Richtung As-dur und f-moll, und wieder Es-dur, aber dann – c-moll: „Des Goldes Schlaf / hütet ihr schlecht!“
Meinetwegen nehmen Sie es als Scherz, aber Wagner hat die Praeludien und Fugen geliebt! Und ich auch!
Noch ein Wort zur Fuge cis-moll, WFK II: sie stand nicht – wie Keller meint – ursprünglich in c-moll, die tatsächlich überlieferte (späte) handschriftliche Fassung in c-moll stammt wohl – wie Alfred Dürr korrigiert – von einem Schüler, der sich den Vortrag erleichtern wollte. Darauf sind wir – Bachseidank! – nicht mehr angewiesen, da wir uns lebenslang durch dieses Werk bewegen, wie vom WTK-Autor gedacht: durch alle Tone und Semitonia, so wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend.
Leider bin ich noch immer nicht beim eigentlichen Sinn und Zweck meiner Übungen am Praeludium in cis angekommen, nämlich die rechte Vortragsart zu beschreiben, etwa im Sinne Couperins französisch oder im Sinne der neuen Generation galant, empfindsam oder gar leidenschaftlich, wie es sein Sohn Philipp Emanuel gespielt haben könnte.
ZITAT
Das bedeutet: auch der Autor des Buches interessiert mich! Er gibt sich nicht damit zufrieden, solche differenzierten Analysen zu schreiben, sondern möchte Bach präziser an seinem geschichtlichen Ort erfassen und beschreibt dafür zunächst „Luthers Musikverständnis“, „Descartes‘ Musicae Compendium“ und „Leibniz‘ Musikanschauung“. Ich habe diesen Anhang früher pflichtschuldig durchgeschaut, aber heute zünden hier ganz andere Ideenkreise, an denen die ungeheure DIFFERENZ Bachs aufleuchtet. Ich zitiere nur ein paar Sätze, die ich mir damals unterstrichen habe, aber heute erst in ihrer Konsequenz erfasse:
Die Bachsche Methode hebt die Mathematik als wesentliche Methode musikalischer Arbeit tendenziell auf, indem sie bewußt musikalischen Überschuß erzeugt, der auf Grund seiner Stellung im architektonischen Zusammenhang ausgezeichnet ist. Während die Klanglichkeit der Musik für die Philosophen nur hinweisenden, sekundären Charakter hat, der erst durch die Mathematisierbarkeit rational zugänglich wird, gewinnt der sinnliche Gehalt der Musik bei Bach eine eigene Bedeutung.
Und im Anschluss an Leibniz, der letztlich auf Übereinstimmung, Harmonie und Schönheit ausgerichtet ist, kommt der bedeutungsschwere, positiv gemeinte Satz:
Gerade solche Übereinstimmung aber erzielt Bach nicht immer. Und die Entwicklung des Wohltemperierten Klaviers II hebt die musikalisch-architektonische Identität immer wieder auf.
Am Ende – wenn vor allem der Begriff der „Sünde“, der im christlichen Sinn längst ausgedient zu haben schien und erst im Blick auf die globalen menschlichen Katastrophen plötzlich hochaktuell ist, angesprochen ist als für Bach zentral , kommt der Satz:
So treten hier markante Differenzen zwischen Bach und Leibniz zutage. „Die Universalität der Musik von Bach ist nicht, wie die Universalität von Leibniz oder von Goethe, die Darstellung einer in sich geschlossenen Einheit“ [Zitat G.Picht 1980]. Bach bricht die Einheit eines in sich geschlossenen metaphysischen Systems immer wieder auf und öffnet sie für neues Geschehen.
In diesem Zusammenhang spielt auch „die Problematik der lutherischen Orthodoxie“ eine Rolle. Man kann da im modernen Sinne weiterdenken, zumal es auch unmöglich war, „da weiterzumachen, wo Bach aufgehört hatte. Der Bruch nach 1750 ist unübersehbar. Für das Zeitalter nach Bach war die Erfahrung musikalischer Universalität nicht mehr mit der Erfahrung einer sinnvoll geordneten Welt zu verknüpfen.“
Damals war ich nicht bereit, mich mit Luthers Gedanken auch nur provisorisch zu beschäftigen; lange Zeit genügte es, seine Haltung zu den Bauernaufständen zu erwähnen. Jetzt habe ich einen Luther-Artikel von Heribert Prantl (SZ 11./12. Juli 2020 „Herr und Knecht“ über „die Freiheit eines Christenmenschen“) ernst genommen und verwahrt, Zitat: „Die Teufeleien von heute heißen Egoismus, Profitismus, Nationalismus und Rassismus“.
Zu erwähnen wäre auch, dass dieser scharfsinnige Bach-Forscher, den ich oft und ausführlich zitiere, nicht in der Musikwissenschaft seine Zukunft gesehen hat, sondern in der praktischen Theologie, bei Veröffentlichung dieser Dissertation war er bereits Pfarrer geworden. Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages mit Respekt einer protestantischen Predigt lausche, die im Internet zu finden ist: hier. (Achtung: externer Link, Länge 31’28, siehe auch Nachbemerkung). Der Grund liegt letztlich auch wieder bei Bach, aber nicht nur in der Tatsache, dass dessen Orgelmusik auf hohem Niveau erklingt, sondern auch in der verbalen Kompetenz des Predigers, der selbst Ungläubige zu fesseln vermag, was ja ebenso für die Textbehandlung der Kantaten und Passionen bei Bach gilt. Man muss nicht resignieren, etwa mit den Worten: eine andere Zeit, geht mich nichts an, mich interessiert nur die Musik, nicht das pietistische Drumherum. Man kann napoleonisch-ironisch zu sich selbst sagen: Jahrhunderte schauen dich an…
Zum Abschluss an dieser Stelle zwei Versionen des Praeludiums BWV 873 am Klavier, aber mehr zum Kennenlernen als zum Verlieben; das eine geht für meine Begriffe zu flott, das andere zu meditativ, beides vielleicht zu pedantisch und in den Ornamenten diskussionsbedürftig, – also gerade recht, um sich nicht festlegen zu lassen.
Nachbemerkung
Es sind inzwischen 4 Tage vergangen, und ich bin nicht mehr bereit, mich weiter auf Luthers Musikverständnis einzulassen. Gerade das entsprechende Kapitel in Bergners ergiebigem Buch überzeugt mich wenig. Richtig ist es, im Zeichen Luthers von der Verwandlungskraft der Musik zu reden. Wenn Bergner fragt: „Aber woher kommt die frohmachende, die Welt verwandelnde Kraft der Musik?“ soll die Antwort lauten:
„Darüber gibt Luthers Sprachverständnis Auskunft. Das Neue, das in Christus geschehen ist, muß der Welt gesagt werden, es muß zu Wort kommen. Das aber kann – nach Luther – die Sprache in besonderer Weise leisten, weil sie in Gleichnissen reden kann.“
Und nun kommt er einer starken Metaphorologie nahe:
Unsere Sprache ist voller gleichnishafter Wendungen: „Der Bapst ist Judas, S. Augustin ist Paulus, S. Bernhard ist eine taube / David ist ein hltzwürmlein / Und so fort / ist die Schrift solcher rede vol / und heißt tropos odder Metaphora ynn der grammatica / wenn man zweyerley dingen / einerley namen gibt / um des wille / das ein gleichnis inn beyden ist/ Und ist denn der selbige name nach dem buchstaben wol einerley wort / aber potestate ac significatione plura … zwey wort, ein altes und ein newes“ (17).
In solcher Gleichnisrede erlangt ein Wort eine neue Bedeutung. Diese neue Bedeutung ist Luther gerade deshalb so wichtig, weil mit ihr ein neuer Bedeutungsbereich erschlossen wird, dem ein neues Sein entspricht.
Quelle Christoph Bergner a.a.O. Seite 147
Man muss den Sinn des Wortes Metapher sehr weitgreifend erfassen, so dass hier tatsächlich ein anderes Leben, „ein neues Sein“ begreifbar wird. Ob es nun in der Sprache, in der Musik oder im virtuellen Raum der Malerei erscheint, wie Susanne K. Langer es in ihrem Buch „Fühlen und Form“ entwickelt, ansetzend bei einer Bemerkung des Malers Odilon Redon:
„Ein weißes Blatt Papier jagt mir Angst und Schrecken ein. […] Ein Blatt Papier entsetzt mich derart, dass ich, sobald es auf der Staffelei ist, sogleich gezwungen bin, mit Kohle, Bleistift oder irgendetwas anderem darauf zu kritzeln, und dieser Prozess verleiht ihm Leben.“
Es ist nun kein Papier mehr, sondern ein Raum. Für die großen Maler ist die Illusion von Raum normalerweise so selbstverständlich, dass sie sogar dann, wenn sie über die reale materielle Oberfläche sprechen, dies nur in Bezug auf das Element des Geschaffenen tun können. Etwa Matisse:
„Wenn ich ein Blatt Papier mit einer bestimmten Größe nehme, werde ich es mit einer Zeichnung versehen, die in einer notwendigen Beziehung zu seinem Format steht. […] Und wenn ich sie auf einem Papier, das dieselben Proportionen hat, aber zehnmal größer ist, wiederholen müsste, würde ich mich nicht darauf beschränken, sie zu vergrößern; eine Zeichnung muss über ein Ausdehnungsvermögen verfügen, das den sie umgebenden Raum lebendig macht.“
Das alles ist natürlich nur metaphorisch gesprochen. Doch auch wenn wir es als Metapher nehmen, was bedeutet es? In welchem Sinn ist es möglich zu sagen, van Goghs gelber Stuhl oder ein Atelierofen seien lebendig? Was tut eine Fläche, wenn sie, wie Alfred Sisley sagte, „manchmal zur höchsten Stufe der Lebendigkeit“ erhoben wird?
Solche vollkommen berechtigten Fragen würden fast jedem Künstler banausisch, ja abwegig erscheinen. Möglicherweise besteht er in vollem Ernst darauf, dass er sich keineswegs einer Metapher bedient habe, dass der Stuhl wirklich lebendig ist und eine belebte Fläche wirklich lebt und atmet usw. Das heißt einfach, dass sein Gebrauch von „Leben“ und „lebendig“ ein stärkerer symbolischer Modus ist als eine Metapher: Es ist ein Mythos.
Quelle Susanne K. Langer: Fühlen und Form / Lizenzausgabe Wissenschaftliche Buchgesellschaft Felix Meiner Verlag Hamburg 2018 (Seite 177f.)
Ich gestehe gern, dass mir – wenn ich von belebten Flächen und Proportionen höre – im selben Augenblick das Bachsche Praeludium als lebendiges musikalisches Wesen vor Augen steht. Die Musik als Metapher, als großes Narrativ – wofür?
Neuerdings werde ich nolens volens in die Richtung einer Metaphorologie von Hans Blumenberg gedrängt, den ich vor vielen Jahren zum ersten Mal mit Begeisterung wahrnahm, als ich sein Buch über die Matthäuspassion kennenlernte.
Ich liebe halt solche nicht enden wollenden, ineinandergreifenden Kreisbewegungen, meinetwegen auch solche Beziehungsgeflechte, die mich in dem Roman von Marquéz irritiert und fasziniert haben: Hundert Jahre Einsamkeit. Und so könnte es einem auch in Blumenbergs Buch über die Metaphern gehen. Ich beginne hier:
In den Zusammenhang der Aufgabe einer »Logik der Phantasie« fällt auch, ja exemplarisch, die Behandlung der ›übertragenen‹ Rede, der Metapher, die bis dahin in das Figurenkapitel der Rhetorik gehörte. Diese traditionelle Einordnung der Metapher in die Lehre von den Ornamenten der öffentlichen Rede ist nicht zufällig: für die Antike war der Logos prinzipiell dem Ganzen des Seienden gewachsen. Kosmos und Logos waren Korrelate. Die Metapher vermag hier nicht die Kapazität der Aussagemittel zu bereichern; sie ist nur Mittel der Wirkung der Aussage, ihres Angreifens und Ankommens bei ihren politischen und forensischen Adressaten. Die vollkommene Kongruenz von Logos und Kosmos schließt aus, daß die übertragene Rede etwas leisten könnte, was das κύριον ὄνομα nicht äquivalent zuwege brächte.
In diesem Booklet der Erstausgabe (bei Intercord 1995) wurden Seiten vertauscht, die richtige Reihenfolge habe ich mit blauer Tinte eingetragen. In der Neuausgabe bei TACET 1999 wurde diese Reihenfolge wiederhergestellt.
Diese CD ist noch erhältlich, siehe bei TACET hier. Neues Impressum:
Wie wieder eins zum andern kam: das Buch, das Bild, der Film, die Musik, der Belting …
Aber wieso auch die Musik?
Noch einmal: die Musik? Wir werden es sehen und hören (Video extern hier) :
Und die Entdeckung des Spiegels? Siehe im folgenden Film ab 38:12 oder ab 47:05 „… durch Beobachtungen mit einer Spiegellinse … wie sollte das ohne optische Hilfsmittel gehen?“
Alhasen im Film schon ab 43:01: „im Bereich der Optik beschäftigte sich Jan van Eyck wissenschaftlich und technisch mit den Theorien Al-Hasins und allgemein mit den arabischen Lehren der Optik, die im 11. Jahrhundert in Kairo entstanden waren; im 15. Jahrhundert waren diese Texte vermutlich schon so weit verbreitet, dass Jan van Eyck sie kannte. Zugang zu ihnen hatte er möglicherweise in seiner Heimat Flandern oder auch auf seinen Reisen nach England, Portugal und Spanien erhalten.“ Das folgende Bild stammt aus dem Buch von Hans Belting:
Dokumentation Frankreich / Belgien 2019 | arteMEDIATHEK
Nach achtjähriger Restaurierung hat die „Anbetung des Lammes“, ein Meisterwerk der Malereigeschichte, seinen ursprünglichen Glanz wiedergewonnen. Das 1432 eingeweihte Monumentalgemälde der Gebrüder Hubert und Jan van Eyck fesselt den Betrachter bis heute durch seinen erschütternden Realismus. Mit einer spektakulären Inszenierung, ergänzt durch Beiträge renommierter Kunsthistoriker und angesehener Maler wie David Hockney, deckt der Film die Hintergründe dieses revolutionären Werkes auf, das den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit markiert.
Ein Bild kann seine Ausmaße vergrößern oder verkleinern, es wird sie aber niemals in Einzelteile aufteilen, zerteilen, scheiden lassen. Das Sinnliche ist das Unteilbare, ein Intensivum, das sich rein akzidentell an die Extension koppelt. Eben darum, weil die Bilder die Fähigkeit besitzen, sich nicht nach dem Modus der Extension niederzulassen, sind sie überall: in der Luft, auf dem Wasser, auf Glas, auf Holz. Sie leben an der Oberfläche der Körper, ohne sich mit ihnen zu vermischen. Eine Melodie verharrt in der Luft, deckt sich in gewisser Hinsicht mit einer ihrer Eigenschaften, mit einer ihrer Vibrationen, aber darauf reduzieren lässt sie sich nicht. Die Existenz des Sinnlichen wird nicht durch das Vermögen einer spezifischen Materie determiniert, sondern durch das Vermögen der Form, außerhalb ihres natürlichen Habitats existieren zu können.
Diese Eigentümlichkeit verleiht dem Bild-sein einen weiteren paradoxen Wesenszug: Auch wenn ein Bild ut in puncto in seinem Substrat verharrt (also auf nichtextensive Weise), das heißt im Spiegel existiert, als würde es nur einen einzigen Punkt darin einnehmen, behält es die Form oder Erscheinung der Ausmaße eines natürlichen Körpers bei. Es ist weder lang noch breit noch tief, aber es behält die Erscheinung dieser Ausmaße bei, es ist deren ratio cognoscendi oder Erkenntnisgrund. Auch deswegen kann ein Spiegel die Gestalt von Dingen in sich fassen, die viel größer sind als er selbst.
Das Leben der Spiegelbilder, argumentieren schließlich die Scholastiker, determiniert eine vollkommen substanzlose Existenzform: Der Spiegel, der Bilder aufnimmt, verändert weder seine Identität noch seine Natur noch seine Substanz. Er verwandelt sich nicht. Das Sein des Spiegels bleibt unveränderlich, stabil, identisch. Die im Spiegel reflektierte Form hingegen ist immer noch etwas. Aber welchen Seinsmodus hat sie? (…)
Quelle Emanuele Coccia: Sinnenleben Eine Philosophie Edition Akzente Hanser München 2020 (Seite 36f) ISBN 978-3-446-26572-1
Ich wähle Mozart, weil keine Musik leichter zu verstehen ist, man hört hin und weg. Sie ist so leicht, dass man dem eigenen Vergnügen nicht traut. Um bei mir selbst anzufangen: ich misstraue von vornherein den flotten Dreiklangsthemen und behänden Skalen, wogenden Tonleiterausschnitten und Arpeggien, aber auch allen Melodien, die das Frage-Antwort-Spiel anstimmen, das Öffnen und Schließen. Von der Tonika zur Dominante und von der Dominante zur Tonika. Da es aber in Wirklichkeit ganz anders geht, – das Andere etabliert wird, die Erneuerung der Töne -, stimmt bis hierher kein Wort, und Mozart hören bedeutet für mich: Alarmstufe 1. Nichts ist so wie es scheint. Und wenn ich sage: ich war verzaubert, so hat es dafür einige Zeit gebraucht, viele Einzelstücke, die ich geübt habe, vor allem zu hören geübt habe, bis sie mir fremd wurden, Wirkungen, die ich nicht verstanden habe. Auf Anhieb – ja, waren sie alle nur schön.
(Achtung beim Beginn der Musiken: möglicherweise startet es mit Werbung!)
Obiges Video im externen Fenster HIER (Geoffrey Parsons, Klavier)
Zweimal Barbara Bonney. Zwischenfrage: waren die Aufnahmen identisch?
Warum die Concertante für Bläser KV 297b hier folgt, – obwohl sie vielleicht gar nicht von Mozart stammt? Wegen des in jedem Fall schönen Seitenthemas, zu hören ab 1:27. Mir fiel auf, dass es sonst kaum ein (echtes) Mozart-Thema gibt, in dem fünfmal derselbe Ton hintereinander kommt, wie eben in diesem Lied, wo es vom Text her erklärbar wäre: die schlichte Aufzählung der Eigenschaften, fortwirkend im absteigenden Dreiklang samt kleinen Denkpausen, die „blauen, hellen, offenen Augen“: der Blick der Liebe und die Lust, ihn zu erwidern, das sind die zwei Hälften des Themas. Und es ist einfach. „Natur“.
Es lohnt sich, im Concertante-Thema zu beobachten, wie die Tonwiederholung dazu führt, das Verharren etwas dringlicher zu begründen und auszubauen, indem eine Zwischenmodulation eingebaut wird. Also – ab 1:27 !
Ich gehe eigentlich der Frage nach, warum mich dieses Lied besonders bezaubert, obwohl ich es – auf dem Papier – niemals für bedeutend gehalten hätte, – es lebt wie kaum ein anderes von der Interpretation und vielleicht auch noch von dem, was man sich dabei denkt (ja, und sei es im leicht anzüglichen Sinne). Bemerkenswert, dass man sich kaum daran stört, wenn das Lied von einer Frau gesungen wird; vielleicht hat man es auch gerade deswegen goutiert, weil man die Sängerin sogar rollenmäßig distanzierter wahrnehmen kann: sie singt den aus der Sicht eines Mannes geschriebenen Text, lediglich als „lyrisches Ich“.
Ausgerechnet dieses Lied hat den Sprach-Entertainer Roger Willemsen zu Gedanken über Mozart angeregt. Das Buch „Musik!: Über ein Lebensgefühl“ wurde nach seinem Tode zusammengestellt (S. Fischer, 2018):
Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber dies ist ein Gedicht vom Beischlaf – und zwar vom reinen Anschauen – über das Halten, Küssen, Busendrücken bis in die Post-Coitum-Traurigkeit – „ermattet, aber selig“. Aber jetzt hören Sie was Mozart daraus macht. Seine Frühlingsgefühle sind behände, kommen so leicht daher wie der Text, aber dessen zweite Ebene ist nicht mitkomponiert, anders gesagt: Mozart hatte offenbar keine Ahnung, was er da komponiert und hat eher die Natur im Blick als die Triebentfaltung.
Etwas Neckisches trägt sein Lied, es braucht viel Atem, auch Vibrato in der Stimme. Zwar gelingt ihm die Vermählung des Dramatischen mit dem Lyrischen auf engem Raum, aber die Textvorlage ist ihm so wichtig nicht, er komponiert munter über sie hinweg und sucht den eigenen Ausdruck der Musik. So gibt es keine textgebundene wirkliche Variation zwischen der ersten und der letzte – post coitum – Strophe. Hören Sie, was ihm zu den Wörtern „umschattet“ und „düster“ einfällt – Flutlicht. Wie er das „neben dir“ sinnlos wiederholt, wie die ganze letzte Strophe eben nicht das „omne animal post coitum triste“ enthält, sondern eine leichtherzige A-tempo-Stimmung, die über das Lied hinaushetzt, und auch die letzte Seligkeit ist nicht ermattet, sondern Fanfare. Was hätte Hugo Wolf, was hätte Schubert aus dieser Vorlage usw. usf.
Hat er recht? Natürlich nicht, er zeigt eine geschmäcklerische Feinsinnigkeit am unpassenden Objekt. Weiß er etwa, wie man das hätte komponieren sollen, – möglichst mit einem schwermütigeren Ausklang, „den eigenen Ausdruck der Musik“ brauchen wir hier nicht, die Lage ist zu ernst. Wie? und das hat Mozart nicht begriffen? Immerhin hat er auf 9 weitere Strophen von Jacobis Original verzichtet. Und in den hier verbliebenen 4 Strophen soll er noch über Wesentliches hinwegkomponiert haben? Enthält denn das wiederholte „neben dir“ nach dem „selig“ zu wenig Aussage? Lasst uns doch bitte vom Liebestod ein andermal reden…
Wikipedia (leider nur in englisch) ist wieder einmal lesenswert:
Zum Text
Jacobi’s poem consists of 13 four-line stanzas with an A–B–A–B rhyme scheme. Mozart, who found it in the Göttinger Musenalmanach from 1785, used only the first four. The stanzas not used tell how the lovers‘ happiness was cut short by betrayal and death. The „death“ in the third stanza refers to the height of passion after which the lovers release their embrace – la petite mort. From the ancient Greek novelDaphnis and Chloe, Chloe is the name of a shepherdess often used in poetic pastoral settings.
Anm.: Ungeklärt, ob es im Original (Mozart oder Jacobi?) „zitternd dich in meinen Arm“ heißt oder „… in meinem Arm“.
Zur Musik (die hier erwähnten Takte sind im obigen Notentext rot markiert)
The form of the composition is not strophic, but a rondo (A–B–A–C–A′) with a coda. The vocal line is independent from the keyboard accompaniment. Upward leaps in the melody in bars 8, 9, 13 indicate the lovers‘ delight, piano staccato in bars 21 and 23 depicts heartbeats, there are shivers (piano bars 24, 25, voice melisma 35, 36), breathlessness (mid-word rests in bars 41, 43), and fatigue (longer rests in bars 49 and 50, leading to a general pause in bar 51). The coda invokes operatic style in bars 65 to 70, and bars 62 to 65 employ sudden dynamic changes from the Mannheim school. The piano reuses its prelude below the voice in bar 67 and extends it to form a postlude. The first three verses are covered in 39 bars, while the fourth alone takes 30.
Wenn man einen solchen Artikel anfängt und in vielen kleinen Schritten fortführt, erwartet der Leser, die Leserin gewiss ein Ranking: zwei Sängerinnen, deren Leistung gegeneinander abgewogen wird, für diese, gegen jene, und draußen, in der Gesellschaft, wo man selbst in einem Ranking steht, wird daraus ein radikales Urteil, das differenziertere Meinungen unter den Tisch fegt. Man muss das nicht mitmachen, aber bei mir ist es nicht anders, ich könnte mich allerdings schon bei Willemsen länger aufhalten: er entschuldigt sich („bitte nehmen Sie es mir nicht übel“), denn er will das Wort „Beischlaf“ benutzen, und das ist ja nicht falsch; aber der Autor ist darum nicht ehrlicher als der Dichter Jacobi im 18. Jahrhundert. In Krimis sagt man unverblümt „er vögelt meine Frau“; vom „Fremdgehen“ zu sprechen, wird als zu schwach empfunden. Was ich gestern geschrieben habe über eine rollenmäßig distanzierte Sängerin und eine etwas anzügliche Ausdrucksweise, kann man als unzeitgemäß kritisieren. (Ich lese immerhin das 2019 nachgelieferte philosophische Enthüllungsbuch „Die nackte Wahrheit“ von Hans Blumenberg, und es steht in einer langen Reihe seit 1969 Ludwig Marcuses „obszön / Geschichte einer Entrüstung“.) Und heute morgen fiel mir auf, dass ich, über das eine Mozart-Lied sprechend, immer alle andern mitdenke, weil ich nicht zehnmal dieses eine höre, sondern gleich danach die ganze Serie und mir dabei sage: Mozarts Gestaltenreichtum ist es, den ich liebe, und wenn ich seine Lieder rühme, beginne ich vielleicht mit „Sei du mein Trost“ , weil es so ungewöhnlich anfängt und auf „Das Veilchen“ folgt…
Sei du mein Trost
KV 391 (Wien, 1781/82)
Johann Timotheus Hermes (1738-1821)
Sei du mein Trost, verschwieg’ne Traurigkeit!
Ich flieh‘ zu dir mit so viel Wunden,
Nie klag‘ ich Glücklichen mein Leid:
So schweigt ein Kranker bei Gesunden.
O Einsamkeit! Wie sanft erquickst du mich,
Wenn meine Kräfte früh ermatten!
Mit heißer Sehnsucht such‘ ich dich:
So sucht ein Wand’rer, matt, den Schatten.
O daß dein Reiz, geliebte Einsamkeit,
Mir oft das Bild des Grabes brächte!
So lockt des Abends Dunkelheit
Zur tiefen Ruhe schöner Nächte.
Man mustert den Himmel, das tiefe Blau, die Wiese am Wanderweg, da ist nichts, was den Frieden stört, hier möchte ich für immer bleiben.
Und dann? die Zeichen der Zeit, einfach in die blaue Tafel geschrappt. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten? Das war voriges Jahr bei Völs in Südtirol. Und es war alles schön, nur gab es dieses Innehalten. Leider von Menschen gemacht.
Am Abend die Erinnerung an den schönen Tag. (Handy-Fotos JR)
Und wenn ich heute, da wir nicht mehr reisen dürfen, den blauen, streifenlosen Himmel mustere, – die Stille da oben wie hier unten. Und als ob er es vor zwei Jahren geahnt habe, hat ein Freund vorgesorgt, er lebt in Freiburg, warum soll er nicht das Freiburger Münster aus einer ungewöhnlichen Perspektive malen. Das ist sein Beruf und seine Berufung.
Weshalb ich das Bild vierfach sehen will? Ich weiß es nicht, vielleicht um der Betrachtung noch etwas Nachdruck zu geben, so wie ich auch empfehle, ein außergewöhnliches Musikstück immer mehrmals zu hören, und nichts anderes dabei zu tun: als HÖREN.
Ich möchte vor allem, dass das Blau des Völser Himmels nicht gleichzeitig ins Blickfeld gerät. Und dass man nachdenkt über das Bauwerk, den „schönsten Turm auf Erden“ (wie ihn Jacob Burkhardt genannt hat), der 116 m hoch ist. Vielleicht auch ein Bild anklickt, wenn der Monitor groß genug ist, es zu fassen…
Jürgen Giersch: 2018, 2 Der Turm des Münsters, 100 x 70
* * *
Oder, frage ich, hat der Künstler im Hauptturm gesessen und einen der Seitentürme ins Zentrum gerückt?
Aber angenommen, es wäre so, und die Verfremdung wäre einen anderen Weg gegangen als gedacht, würde es auch nur einen Gran ändern an der Wirkung des Bildes?
(Und dieses Foto wiederum ist ein Detail aus dem sehenswerten Blog von Michael Mantke hier .)
Nachtrag 10. Mai 2020
Zitat aus einer Mail des Malers Jürgen Giersch, der sich zu diesem Münster-Bild äußert. Ich bin nicht ganz sicher, ob ihn diese Vervierfachung freut. Wenn darin eine leise Kritik steckt, akzeptiere ich das sofort und rate vor allem dazu, das Bild auch einmal in der Realität zu betrachten: bald wird Gelegenheit dazu sein. Und ich bin sicher, auch dort wird man mehrfach in den Raum zurückkehren, um den ersten Eindruck zu vertiefen. Oder zum Münster wandern…
Danke, daß Du es auf Deiner „Bühne“zeigst. Ich habe es soeben angeschaut, das wirkt in vierfacher Gestalt so, als könne man es der einfachen nicht glauben. Zugleich wird es durch die Multiplikation zu einer Art von Angebot: schau mehrmals hin, dazu bin ich da… Ich hatte bei einer Galeristin behauptet, man könne das Münster nicht malen, es ginge nicht, nach einem Kunstwerk ein anderes zu machen. Zuhause aber dachte ich: Wenn schon, dann so, und fertigte aus der Vorstellung eine Skizze……Es ist der Hauptturm, hier gesehen vom Dachfirst aus, er scheint allerdings eher aus Gußeisen gefertigt zu sein. Daß er den Luftraum mit den Kondensstreifen teilen muß und diese auch seinem Gestein schaden – das war eine spätere Idee. Ja, die senkrechten Kondenzstreifen auf Deinen Fotos wirken wie Alarmsignale, aus der Erde aufgestiegen. Übrigens wird das Bild mit ca. 20 anderen in einer Ausstellung zu sehen sein, wir haben den Titel gewählt: Freiburg – Abseits vom Abbild. Es sind Bilder aus der Erinnerung gemalt, für Ortskundige auch an Versatzstücken erkennbar, aber eben auch stark verwandelt. Als Beispiel schicke ich einmal die Blaue Brücke mit (offiziell: Wiwili-Brücke benannt nach den in jenem Ort als Entwicklungshelfer ermordeten Freiburger Sozialarbeitern).
Als Jugendlicher habe ich mich geärgert, wenn jemand mich fragte, wie es bei mir um die Mathematik bestellt sei. Damit habe Musik doch viel zu tun. Das wollte ich auf keinen Fall wahrhaben, und dachte mehr oder weniger deutlich, dass die gemeinte Fähigkeit vor allem mit Gefühl und Leidenschaft zusammengehe. Das hielt ich für etwas sehr Persönliches. Vorbei! Aber was ist jetzt, heute? ohne lange Erklärung: was würde ich zum Thema als erstes sagen? Das Wichtigste, was auch ein Jugendlicher letztlich dabei lernen muss, ist die Fähigkeit, Einsamkeit zu ertragen (alleine üben, gleichzeitig sich selbst wie von außen beobachten), und – Kooperation mit anderen entwickeln (Musik ist gemeinsames Musizieren), also Einsamkeit + Gemeinsamkeit. Und als nächstes würde ich die Begriffe Imagination und Abstraktion nennen.
Vielleicht war das frühe Kanon-Singen zu dritt – mit dem „bim-bam“ – die entscheidende Erfahrung, und nicht der bewegungsbetonte „Bi-ba-butzemann“.)
Man muss sich etwas ( was sich bis dahin nur durch Sehen und Anfassen näher erschloss) intensiv vorstellen können. Man muss sich von der physischen Direktheit loslösen können, mit Klängen zufrieden geben. Wie sage ich das, ohne mich auf Esoterik einzulassen? Abstraktion heißt, die wesentlichen Kräfte hinter (in) den Erscheinungen spüren. Vielleicht hat es doch mit mathematischen, physikalischen Beziehungen zu tun? Ich muss mit anderen zusammenspielen können, sogar wenn ich sie menschlich, ja physisch nicht gut ausstehen kann. Das hat nämlich fast nichts miteinander zu tun. Ich kann Mozart lieben, obwohl ich weiß, dass ich ihn als Freund nicht ertragen hätte. Beethoven ebenso. Und vor allen Dingen nicht: Wagner.
Ein paar Beispiele. Ich las von einer Kulturmanagerin, die auf die Frage nach ihrem schönsten Konzerterlebnis antwortete: das war bei Don Quixote von Richard Strauss, als man gleichzeitig einen genialen Karikaturenzeichner beobachten konnte. Unmöglich, dass sie mit Musik wirklich vertraut ist! Da gibt es ein Solo-Cello, ein Solo-Bratsche, ein Riesenorchester, – man ist doch höchst beschäftigt, mit der Leistung Einzelner und aller Beteiligten. Man hat eine Geschichte im Hinterkopf, meinetwegen eine Vision oder dergleichen. Aber was soll der Quatsch mit der laufenden Visualisierung?
… vorläufige Unterbrechung …
(Klangwechsel… Rhythmus) eigene Musikalität statt Einzelwerke? eine gewisse Erregung. Imagination + Abstraktion: über etwas reden wollen, das nicht da ist.
Die meisten Leute denken nicht viel bei Musik, sie halten es sogar für ein schlechtes Zeichen, wenn man bei Musik reflektiert, wohlgemerkt – nicht über irgendetwas, sondern über die Musik, die man hört. Sie glauben an das, was „aus dem Bauch“ kommt, und schämen sich nicht einmal, diesen Ausdruck zu gebrauchen. Ich würde zur Probe dringender nachfragen: was verstehen wir eigentlich unter „Ausdruck“? Sie glauben doch wohl nicht, dass mehr Wahres zutage tritt, wenn man nicht denkt. Nein, nein, so wollte ich es nicht gesagt haben, das gilt nur bei Musik und vielleicht im gefühlsbetonten Gespräch. Aber wie kommt dann ein sensibler Dichter wie Rilke darauf, dass gerade im Überschwang gern die Ungenauigkeit oder zweckbetonte Verstellung das Wort führt? „Seht euch die Liebenden an, wenn erst das Bekennen begann, wie bald sie lügen.“
Die Gänsehaut ist kein Maßstab, – das könnte ein atavistischer Reflex sein -, wie wenn die Haare sich sträuben, wenn man in eine dunkle Kammer tritt und ein leises unerwartetes Geräusch hört. Nicht einmal das spontane Weinen ist ein zuverlässiges Zeichen für ein inwendiges Gefühl, es könnte aus einem gewissen Selbstmitleid kommen, – man beobachtet sich beim Gefühlhaben, das Innehalten erzeugt schon die Bereitschaft, es mit Bedeutung zu befrachten, besonders wenn man allein ist, und umso mehr verbündet sich eine selbstbezogene Larmoyance mit der Musik, wenn sie vom Bewegungsmodus her geeignet ist. (Es funktioniert nicht beim Radetzky-Marsch.)
Musikalität äußert sich in Aufmerksamkeit, nicht in Gefühlsbereitschaft, man folgt der Musik wie man Geräuschen folgt, einem fahrenden Zug, dem Vogelgezwitscher, dem Plätschern eines Baches, dem leise heulenden Wind in der Fensterspalte, oder eben dem Auf und Ab einer Tonfolge. Eine leicht gesteigerte Aufmerksamkeit würde ich als Erregung bezeichnen, ohne dass sie viel bedeutete, also keine zielgerichtete Erregung. Aber auch keine Entspannung. Diese Mode-Sehnsucht hat natürlich mit Musikalität nichts zu tun, sondern eher mit Reizlosigkeit (Reaktion auf Stress und Überreizung) und mit der Bereitschaft zum Einschlafen.
Musikalität hat mit geschärften Sinnen zu tun, mit Aufmerksamkeit und milder Erregung.
Zum Nachdenken über Musikalität animiert auch das folgende Video, um so mehr, als es interkulturelle Erfahrung erfordert.
Fortwährend werden wir erinnert, keinesfalls vorzeitig auszusteigen. Mangelndes Vertrauen in die Musik? Ich vermute, wir sollen unbedingt die Reaktion des Gurus miterleben.
Wir Außenstehende sind schneller bei der Hand, solche gefühlvollen Inszenierungen der Unechtheit zu verdächtigen, schon indem wir sie als inszeniert empfinden. Ich bin aber sicher, dass diese Rührung anders zu bewerten ist, als etwa (Filmszene!) die Tränen einer Mutter beim Abschied, wenn sie offenbar nur verhindern will, dass der Sohn rechtzeitig zu seiner sterbenskranken Frau zurückkehrt. Ein häufig angewandtes Mittel: erpresserisches Weinen. Es setzt voraus, dass man an die Echtheit glaubt – oder glauben macht: kommt es aus dem Bauch oder aus dem Kopf?
A propos „Sadhguru“: es kann nicht schaden, mehr über ihn zu erfahren: Wikipedia hier. Soviel Kopf darf sein!
Neulich habe ich die beiden Zeitungsausschnitte, die man gleich nachlesen kann, in Facebook zu bedenken gegeben. Nachher wurde mir klar, dass für viele Menschen vielleicht gar kein Dilemma entsteht (das mir erwünscht gewesen wäre). Entspannung ist per se etwas Gutes. Und die Matthäuspassion im Konzertsaal gehört für jeden – ober er hingehen würde oder nicht – zur christlich-abendländischen Prestigekultur inklusive Säkularisation.
Dabei gehört zu meiner verschwiegenen Voraussetzung, dass der Leitartikel links (alle Achtung!) von einem Polit-Kommentator stammt (Kurt Kister), die Empfehlung der entspannenden Klassiksendung (o Graus!) von einem echten Musikredakteur, der ein mehrjähriges ernsthaftes Studium der klassischen Musik hinter sich hat.
Was sagt das über die Musikalität dieser Menschen?
Wolfgang Hildesheimer: Warum weinte Mozart? (Idomeneo – Erinnerung, „Familienaufstellung“ u.dgl. … Jedenfalls weinte er wohl nicht wegen der Schönheit der Melodie, sondern wegen der Gewalt der Assoziationen!)
Stichwort „Weinen“ – Ja, oder etwa „weinerlich“? Ich erinnere mich, dass es kürzlich nur zweier Takte von Strauss bedurfte („Ja, du weißt es, teure Seele…“) und? und? War es die bloße Musik? Bevor ich mich noch dem Mozart-Thema zuwenden kann, macht mich Chr.H. auf einen Zeitungsartikel aufmerksam, der mich veranlasst, Ihnen und mir die folgende Aufnahme (und gleichzeitig eine andere) ans Herz zu legen. Darunter steht:
This is posted under Fair Use, strictly for educational purposes.
ZITAT (Wolfram Goertz)
Strauss war ebenfalls ein junger Pianist gewesen, als er sich zum Zwecke des Gelderwerbs der Ballade näherte. Doch weil er nicht der brillanteste Klavierspieler unter Gottes Sonne war, passte er den „Enoch“ geschmeidig seinen Händen an. Als 1961 der damals noch jüngere, nämlich 28-jährige Pianist Glenn Gould auf das vergessene Werk stieß, warf er dem Opus gehässige Worte nach – und nahm es trotzdem für die Schallplatte auf. Gould schrieb: „Die Ballade ist ein Salonepos, und die Musik enthält Strauss‘ aufs Unangenehmste sentimentale Musik.“ Goulds Einspielung mit Claude Rains ist gleichwohl bis heute die berühmteste.
Die neue CD von Ganz und Gerstein aber ist wohl die schönste und ergreifendste. Bruno Ganz, der zweieinhalb Jahre nach der Aufnahme an seiner Krebserkrankung starb, weitet den Text zu einer Hör-Oper, zu einem wunderbar ereignisreichen, wie mit tausend Stimmen gesprochenen Kosmos im Kleinen. Man spürt Ganz‘ Zuneigung zur Titelfigur, aber weinerlich wird er nie.
Mit dem Thema „Melodram“ habe ich mich an anderer Stelle beschäftigt, siehe hier. Josef Kainz im Jahre 1908 – das war nicht so weit weg von „Enoch Arden“ (1896). Gehörte das „Weinerliche“ einmal zu den akzeptablen Mitteln des Vortrags? Wenn der Künstler weiß, dass manche Ausdrucksarten erst begriffen werden, wenn er sie übertreibt? Und er übertreibt schon, weil er auf einer Bühne steht. Fragen Sie Yuja Wang, warum sie nicht in Sack und Asche auftritt, wenn sie so expressiv zu spielen vermag.
Am schönsten ist die Antithese und steigt am höchsten, wenn sie beinahe unsichtbar wird. „Es braucht viel Zeit,“ sagt Gibbon, „bis eine Welt untergeht – weiter aber auch nichts.“ Im ersten thetischen, nicht unfruchtbaren Satze wurde Zeit als bloße Begleiterin einer unbekannten Welten-Parze aufgeführt; – auf einmal steht sie als die Parze selber da. Dieser Sprung der Ansichten beweist eine Freiheit, welche als die schönste Gabe des Witzes künftig uns nähertreten soll.
Ich habe zwei belanglose Veränderungen in diesem Zitat angebracht (man wird sie nicht bemerken), aber es ist genau diese Stelle, die mich zu weiterer Lektüre verführt. Eines Buches, das ich nicht besitze (sondern im Internet aufgeschlagen habe). Schlauberger wissen sofort, wovon ich rede, indem sie unverzüglich einen Halbsatz – z.B. diesen: „Am schönsten ist die Antithese und steigt am höchsten“ – bei Google eingeben, aber ich will ja doch nur, dass man nicht gleich erkennt, aus welcher Zeit der Satz stammt. (Obwohl doch das Wort Parze sofort weit zurück verweist.)
Nur zur Sicherheit, – der bloß thetische Satz wäre wohl dieser: „es braucht viel Zeit, bis eine Welt untergeht“.
Ich weiche der Schwierigkeit Hegels aus, der eigenen Naivität (These-Antithese-Synthese) und denke: mit Witz hat er doch wohl am wenigsten zu tun. Jedenfalls werde ich später zum Ausgangspunkt zurückkehren und vielleicht alles aufklären.
Um mit der Wahrheit (im alltäglichen Sinne) herauszurücken: da ist ein neues Hegel-Buch und damit zugleich ein Bewusstsein (im alltäglichen Sinne), was mir wo am Zugang fehlt und was ich weder ahnen noch ohne weiteres erarbeiten kann. Anspielungen oder Befremdlichkeiten, die mir gleich die ganze – mit Sinn – schwierige Umgebung suspekt machen oder gemacht haben (z.B. die Schädellehre!). Ich zitiere und rücke direkt darunter die Quelle doppelt ans Licht:
Heute, in Zeiten einer grassierenden Pandemie, könnte die Todesursache eines so klugen Mannes interessant sein. Wikipedia schreibt:
Hegel starb 1831. Es werden zwei Todesursachen genannt: Mehrheitlich heißt es, er sei an der in Berlin wütenden Cholera-Epidemie gestorben. Jüngere Forschungen vertreten jedoch auch die Ansicht, Hegel „starb […] wahrscheinlich an einem chronischen Magenleiden und nicht an Cholera, wie die offizielle Diagnose lautete“.
Bei Klaus Vieweg steht in Anmerkung 505 (Seite 787), die Todesursache sei bislang noch ungeklärt. (Neues dazu jedoch von Karl Heinz Götze im Merkur Juni 2020 hier!)
Ich bin dankbar zu erfahren, dass der Text der „Phänomenologie“ (1807) voller Anspielungen ist, die ich unmöglich verstehen kann, weil ich z.B. Jean Paul immer aus dem Weg gegangen bin, obwohl ich gern – Robert Schumann zuliebe – eine Neigung entwickelt hätte. Was weiß ich vom Schachspiel? Auch hier bin ich immer ausgewichen, wahrscheinlich weil ich glaubte, keine Zeit zu haben.
ZITAT
Hegel setzte sich entschieden für ein Ehrendoktorat für Jean Paul ein. Am 18. Juni 1817 wird die Urkunde offiziell an den neuen Doktor der Philosophie und der freien Künste übergeben, begleitet von einem Fackelzug der Studenten. Hegel möchte ein Zeichen für die moderne Poesie und eine moderne Kunstphilosophie jenseits von Romantik und Klassizismus setzen; dafür eignet sich Jean Paul hervorragend. Er gilt erstens neben Hippel als wichtigster Vertreter des von Laurence Sterne begründeten Romantypus, zweitens als ein herausragender Repräsentant des Komischen, eines modernen Humors, der für Hegel höchsten Ausdrucksform freier Kunst – köstliche Exempel sind etwa Schulmeisterlein Wutz, Siebenkäs und die Reise nach Flätz. (Vieweg S.431)
Quelle des Textes am Anfang dieses Artikels: Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“ (1804), deren gesamter Text (Zeno) hier, direkt zur oben zitierten Stelle: hier
Ausgerechnet unmittelbar nach der Entdeckung eines ersten Druckfehlers in Viewegs Hegel-Buch (S.280 „Hegel sticht in ein Nest performativer Widersprüchen des skeptischen Selbstbewusstseins, dessen Worte und Tun widerstreiten.“) muss ich beginnen abzuschreiben (und – recht glücklich – nochmals auf Jean Paul verweisen):
Das skeptische Selbstbewusstsein ‚vergisst‘ den Selbsteinschluss. Man kann ihm den Spiegel vorhalten und ihm sein doppeltes Antlitz zeigen, aber wie der in sein Spiegelbild verliebte Narziss ertrinkt er in dem sein Eebenbild zeigenden See. Die Grundverfasstheit dieser Gestalt, das Relationale, das Duale kehrt Hegel gegen sie und konfrontiert sie mit ihrem eigenen Status. In der Mitte der Phänomenologie als einer grand diablerie, einer großen Höllenfahrt, waltet das Diabolische in reiner Form. Der Teufel, der Zweite aus der Ur-Teilung als Personifikation der Trennung, trifft auf den eigenen Advokaten. Auf einer Wanderung, so Jean Paul, habe der Teufel frecherweise Zweifel an seiner Existenz, Bedenken gegen die von ihm repräsentierte radikale, positivitätslose Negativität angemeldet. Die fürchterliche Waffe des Skeptizismus, die Kanone der Relativität, der Dualität, des Gegen-Satzes, richtet sich nun ‚kanonisch‘ gegen die Relativität selbst. Das skeptische Credo „Alles Wissen ist relativ“ findet konsequente Anwendung. Es muss sich selbst mit ‚einschließen‘, als ein die Allgemeinheit beanspruchender Satz verfängt er sich in den eigenen Fangarmen. Er verfällt der Relativität und muss damit selbst – wie es das skeptische Verfahren verlangt – seinen Gegensatz zulassen: „Alles Wissen ist nicht relativ, ist absolut“. Das Dilemma der doppelgesichtigen Gestalt und damit des Bewusstseins kommt an den Tag: Sobald vom Bewusstsein Wissensansprüche erhoben werden, negiert es sich zwingend selbst; es muss sich selbst aufheben – ein Bumerangeffekt. Durch die reine Negativität hindurch, durch den Teufel als den großen Weltschatten, zeichnet sich das Licht ab. Diese teuflische Ironie findet sich auch im antiken Skeptizismus: Mit der im Haupttropus der Relativität beanspruchten Exklusion des Absoluten – apolytos, nicht absolut – wird gerade die Inklusion der Absolutheit erforderlich. Dies gab einen Impuls für den Aufbau eines absoluten Idealismus.
Quelle Klaus Vieweg: HEGEL Der Philosoph der Freiheit ( C.H.Beck Müncjen 2019) Seite 281
Korrekterweise muss ich erwähnen, dass diese Textpassage nicht verständlich ist ohne Kenntnis der vorhergehenden – sagen wir – 20 Seiten, und gerade jene beflügeln mich, den Text abzuschreiben. Es wäre jedoch sinnlos, daraus eine Kurzfassung herzustellen. Stattdessen gebe ich das ein paar Seiten später entwickelte Bild von der „Wegstrecke“ wieder, samt dem Hinweis auf die „durchfahrenen Sphären“, die mich an Dantes Comedia erinnern.
Auf der kommenden Wegstrecke bis zum Religionskapitel werden die beiden Pole Gedanke und Gegenstand sowie ihre Einheit durchschritten sowie ihre Einheit fortbestimmt. Die zunehmende Komplexität führt zu einer wachsenden Unübersichtlichkeit der durchfahrenen Sphären. Die sukzessive Überwindung des Dualismus wird in einem die Dualität integrierenden Monismus dargestellt. Die Zweiheit des Subjektiven und Objektiven zeigt sich wie in einer ‚gedoppelten Galerie von Bildern‘, deren eine der Widerschein der anderen ist (GW 9, 170). Es können jetzt rückblickend zwei Hauptreihen freigelegt werden, diejenige des ‚Ich-Pols‘ und diejenige des ‚Gegenstand-Pols‘. Anfänglich stand ein einzelnes Ich einem einzelnen Diesem gegenüber; die erste und unterbestimmte Einheit kennzeichnet der Satz „Ich nehme wahr“. Dann opponierten Wahrnehmender und Ding, Verstand und Spiel der Kräfte als generierte Inter-Objektivität, woraus die Erfahrung der Identität des Gedankens in Form des Verstandes und des Gegenstandes erwuchs. Im Übergang zum Selbstbewusstsein ergab sich die Inter-Subjektivität in Form der wechselseitigen Anerkennung der Selbste, was wiederum die Einheit des Selbstbewusstseins induzierte, eine Einheit, die in ihrer Verdopplung sich mit dem Dualismus des Theoretischen und Praktischen verband. (… bis Seite 296)
Die Transformationsreihen der Gestalten des Bewusstseins verlaufen ‚parallel‘, in komplementärem Wechselspiel entfaltet sich ihre jeweilige Einheit, die Struktur des Geistes in seinen Entwicklungsstadien bis hin zur Aufhebung des Bewusstseinsmodells in der einzig vollständigen Identität, in welcher das Denken sich in seinem ureigenen Element findet.
Quelle Klaus Vieweg: HEGEL (wie vor) Seite 295 f
Während ich dies abschrieb, habe ich durchaus bemerkt, wie wenig von dem rüberkommt, was ich im Zusammenhang mit dem vorausgegangenen Text (ab Seite 259) wahrgenommen habe. Eine besondere Art von Glück. Aber es klingt hier wie eine leere Behauptung, fast lächerlich, wenn ich sage, dass dieses Studium endlich die Kant/Jaspers-Lektüre von damals auf einem neuen Niveau fortsetzt. Nicht zu vergessen: nach vielen Demütigungen. Wohlgemerkt: nicht durch andere, sondern durch diese beiden, Kant und Hegel. Und ich würde es nicht erlauben, dass jemand Trost spendet (oder findet), indem er sagt: Ist doch nicht schlimm, das war halt für eine andere Zeit gedacht. Wir leben inzwischen im Computer-Zeitalter. Und haben z.B. Reckwitz…
Richtig! Stimmt sogar.
* * *
Soweit ich einstweilen sehe, ist nichts wichtiger, als dieses Kapitel recht in sich aufzunehmen. Und nicht zu schnell verstehen! (Daher die – inzwischen getilgte – Überschrift dieses Blogbeitrags: Zeit haben!) Man muss begriffen haben, was es mit dem gern herbeigerufenen „gesunden Menschenverstand“ auf sich hat. Das „realistische Prinzip“. Die tief innerlich gefühlte Unmittelbarkeit. Um es kurz zu sagen: gar nichts! Und wenn jemand erwartet, hier bei Vieweg werde Hegels dunkler Weg endlich hell und leicht gemacht, so sollte er dieses Kapitel mehrfach und immer noch einmal lesen, dann die ähnlichen Stellen bei Hegel selbst, bzw. in der alten Ausgabe der Phänomenologie des Geistes (1921) beginnend mit der Vorrede des Herausgebers Georg Lasson, etwa Seite XCVIII, also Einleitung, Kapitel II. oder aber in Hegels eigener Vorrede, etwa Seite 46 ff, wo es bündig heißt: „Dagegen im ruhigeren Bette des gesunden Menschenverstandes fortfließend, gibt das natürliche Philosophieren eine Rhetorik trivialer Weisheiten zum besten. (…) Letzte Wahrheiten jener Art vorzubringen, diese Mühe könnte längst erspart werden; denn sie sind längst etwa im Katechismus, in den Sprichwörtern u.s.f. zu finden.“
Ich erinnere mich, vor 4 Jahren schon einmal aus dieser Vorrede zitiert habe: da ging es um Kitsch, ja, es gefällt mir immer noch: hier.
Diese Philosophie ist aber keine, die aus einfachen Formeln gewonnen wird, auch nicht aus angeblich Hegelschen à la „These – Antithese – Synthese“, sondern indem man sich buchstäblich selbst auf den beschwerlichen Weg begibt, und das schon oben hervorgehobene Bild des Weges (die „durchfahrenen Sphären“) taucht immer wieder auf, auch als „Odyssee des Gedankens“ (Seite 265) oder als Kapitelüberschrift (Seite 269): „Zur Kartographie des phänomenologischen Weges“. Und ehe die folgende Seite nicht vollständig eingesehen wird, sollte man eigentlich nicht fortfahren. Obwohl man darauf vertrauen kann, dass auch später kurze Rückblenden eingebaut werden, die einem weiterhelfen oder zumindest davor bewahren, in das naive Räsonieren zurückzufallen.
Quelle Klaus Vieweg: HEGEL (wie vor) Seite 271
Man darf sich nicht vorwerfen, immer gleich im Anfang steckenzubleiben; es geht gerade um den Einstieg, der gelungen sein muss, um ihn guten Gewissens hinter sich zu lassen. Oder auch gerade nicht. Kein Pianist, der die Goldberg-Variationen übt, sagt: ich habe jetzt endlich das Thema ad acta gelegt. Dies im Sinn, kehre ich auch gern zur Einleitung meiner alten Ausgabe der Hegelschen „Phänomenologie“ zurück, übrigens der gleichen, die auch Adorno in seinen Vorlesungen benutzt hat. Auch er wird die Einleitung von Georg Lasson gut studiert haben, wenn auch nicht mit Rotstift… Sowohl Lasson wie auch Adorno und Hegel selbst wussten, wie das „populäre Denken“ geht: es ist schon im allerersten Ansatz nicht zu vergleichen.
und weiter:
[Das populäre Denken in das philo]sophische hinüberzuleiten, das gemeine Bewußtsein so über sich selbst aufzuklären, daß es zum spekulativen Erkennen wird, ist nur in dem Sinne möglich, daß man dem populären Denken zumutet, von sich selbst gänzlich abzusehen, und daß man das gemeine Bewußtsein zwingt, von vorherein nicht sich selbst, sondern dem Gedankengang des reinen Begriffs zu vertrauen.
Und schon ist das Alltagsbewusstsein (das „populäre“ oder auch „gemeine“ = allgemein angewendete) zutiefst beleidigt und fängt an über das „spekulative Erkennen“ zu räsonieren, das endlich mal „vom Kopf auf die Füße“ gestellt werden müsse (soviel Marx kennt man immerhin, ansonsten kommt dann gleich die DDR). Ich kopiere jetzt die beiden nächsten Seiten und nehme sie als die notwendigen Etüden, ohne die man fürs erste (ohne Vieweg) vielleicht nicht weiterkommt. (Und mit ihnen auch nicht notwendigerweise, denn irgendwo enden z.B. meine damaligen roten Unterstreichungen im Nirgendwo…)
fürs mehrfache Studium anklicken! Und:
es bleibt eine Zumutung
Angenommen, ich bin wieder steckengeblieben – was tun? Natürlich bin ich zu schnell vorangegangen, und es genügt nicht, halb zu verstehen, weiterzugehen und sich dabei zu ermuntern, der Rest werde sich schon im Nachhinein ergeben. Noch einmal, und viel langsamer, kein einziger Satz bei Vieweg soll unreflektiert zurückgelassen werden. Ich habe – verdammt nochmal! – 35 Seiten vor mir (Seite 271 bis 306), und ganz am Ende beteuert der Autor … „zweifellos hat Hegel mit der Phänomenologie des Geistes, seiner faszinierendsten Schrift, ein Jahrtausendwerk der Philosophie vorgelegt …“- das will ich am Ende bestätigen können, soviel Zeit muss sein.
* * *
Also noch einmal – nachdem ich beim Thema Proust-Erinnerung wieder darauf gekommen bin – von Anfang an, und das wäre früher als eben angegeben, nämlich Vieweg Seite 261, bzw. jetzt schon Seite 262, es geht um Die Struktur des Bewusstseins:
Falls jemand denkend und sprechend Wissensansprüche erhebt, hat das wenigstens zwei basale Implikationen, die aber keine inhaltliche Vorannahme darstellen, erstens den Entschluss, an gerade diesem ernsten Spiel des Wissens teilzuhaben, und zweitens die einfache Grundstruktur des Bewusstseins selbst: Jemand unterscheidet sich von etwas ihm gegenüber Stehendem, einem ‚Gegen-Stand‘, auf den sich die erkennende Instanz bezieht, um Wissen von ihm als Gegenstand zu erlangen.
Den Nucleus dieses Paradigmas des Bewusstseins, die ‚Grundaufstellung‘ dieses Spiels, sieht Hegel im Verhältnis, in der Relation, in der Dualität (Zweiheit von Gedanken und Gegenstand, von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt. Aufgrund der Unterscheidung beider ‚Instanzen‘, beider Pole der Relation, erfolgt logisch die Exclusion (Negation) der jeweils anderen Seite. Das schöne deutsche Wort ‚Gegenstand‘ verweist auf den ‚Gegen-Satz des Bewusstseins‘, auf die dem Gedanken negative ‚Gegenständlichkeit“ und die dem Gegenstand negative ‚Gedanklichkeit‘. Das Bewusstsein impliziert einen Widerspruch zwischen der Selbständigkeit beider Seiten und ihrer Einheit, ihrer Identität als zweier Seiten eines Einen, des Bewusstseins. Die Dualität, das Relationale, die Trennung von Gedanke und Gegenstand, der Widerspruch zwischen zwei eigenständigen Seiten ist dem Bewusstsein wesentlich eingeschrieben und bleibt seine beständige Grundcharakteristik, deren Dynamik ausbuchstabiert werden muss: Der Gegenstand kann erstens als Gegebenheit oder zweitens als Konstruktion verstanden werden. Im Blick auf das Gegebene, Vorgefundene setzt der Realismus ein positives, bejahendes Zeichen, der subjektive Idealismus hingegen ein negatives, im Blick auf die Konstruktion ist es umgekehrt. Den Gegensatz gibt es also in zwei Extremformen: In der ersten befindet sich der Gegenstand außer mir, als unmittelbar vorhandener oder gegebener, der nicht von meinem Wissen herrührt, unabhängig von mir existiert. In der zweiten gilt der Gegenstand nur als eine von mir geschaffene, innere Vorstellung.
Philosophisch gesprochen: Wenn ich mich im ersten Fall urteilend auf die Welt beziehe, so ist diese Welt eine unmittelbare, unabhängig von mir bestehende Gegebenheit – das Prinzip eines ursprünglichen Realismus. Im zweiten Fall setzt das Ich den Gegenstand, die Welt – das Prinzip eines konstruktionistischen, subjektiven Idealismus. Je isoliert befinden sich beide Varianten im Status des bloßen Behauptens, des Meinens, des Glaubens (belief). Das Bewusstsein muss von seiner Natur her notwendig zwischen den beiden Polen ’schwanken‘, zwischen den beiden Seiten in einem Wechselspiel ‚oszillieren‘.
Soweit das ganze Vieweg-Kapitel 3. Die Struktur des Bewusstseins
Ich unterlasse von vornherein Einwände, die auf der Hand liegen, also z.B. „Wie willst Du das denn wissen?“, „das ist doch noch gar nicht deduktiv eingeführt“, scheint mir „irgendwie aus dem Hut gezaubert“; ich vermute aber, dass es in mehreren Anläufen geschieht, und erst aus deren Überlagerungen ergibt sich etwas, das zu einer Methode des Fortschreitens führt; in dieser wird allmählich ein Sinn deutlich, der jedoch noch nicht in jedem kleinen Schritt beweisbar offenliegen kann. Es müsste nun Kapitel 4. Der Zusammenhang der Dimensionen des Programms folgen, und darin müssten sich die eben erwähnten, naheliegenden kritischen Einwürfe quasi von selbst auflösen.